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Prof. Dr. Riem Spielhaus, Universität Göttingen, Wenn Mitdiskutieren verbieten verboten ist | Fachtagung: "Streiten lernen. Wer streitet mit wem und wie?" | bpb.de

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Prof. Dr. Riem Spielhaus, Universität Göttingen, Wenn Mitdiskutieren verbieten verboten ist

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Als Replik auf Graus Impulsvortrag analysierte Riem Spielhaus die demokratische Streitkultur aus einem migrationspädagogischen Standpunkt.

Riem Spielhaus verdeutlichte Aspekte diskursiver Ausgrenzung. (© Ast/Juergens)

Als Replik auf Graus Impulsvortrag nahm Riem Spielhaus, Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen an der Georg-August-Universität Göttingen, das Streiten aus einer didaktisch-pädagogischen und migrationstheoretischen Perspektive in den Blick.

Zu Beginn ihres Vortrags griff sie einen Gedanken der US-amerikanischen Pädagogin Vivian Gussin Paley auf, demzufolge es bereits in der frühkindlichen Pädagogik wichtig sei, dass Betreuende der Ausgrenzung einzelner Kinder im Kindergarten oder im freien Spiel in reflektierenden Gruppengesprächen entgegenwirken sollen. Paleys Gedanke sei, dass es für ein demokratisches Zusammenleben wichtig sei, alle Mitglieder einer Gemeinschaft einzubinden, wozu wesentlich gehöre, die dafür nötigen Regeln ebenso gemeinsam zu erarbeiten. Spielhaus zufolge sei dieser noch recht junge pädagogische Ansatz aus den 1990er Jahren einer der Vorläufer der Demokratiebildung im frühkindlichen Bereich, der in der politischen Bildung bisher nur rudimentär erforscht sei.

Diskursive Ausgrenzungsmuster

Darauf aufbauend erklärte Spielhaus, dass man Paleys Ansatz auch auf die allgemeine Demokratietheorie transferieren könne. Für eine plurale, demokratische Gesellschaft sei es unverzichtbar dem sogenannten Silencing – der bewussten oder unbewussten Ausgrenzung bestimmter Stimmen und Gruppen – präventiv zu begegnen.

Spielhaus vertrat die These, dass in derzeitigen politischen Debatten strukturelle diskursive Ausgrenzungsmuster zu beobachten seien. Das zeige sich unter anderem dadurch, dass bestimmten sozialen Gruppen die Legitimität abgesprochen werde, sich zu einem bestimmten gesellschaftspolitischen Thema zu äußern. In Demokratien gebe es derzeit das Problem struktureller Ausgrenzung. Neben diskursiven Ausgrenzungsmustern gehören dazu auch eine mangelnde Repräsentation von bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppen in Politik und Wirtschaft.

Spielhaus plädierte dafür, dass die Existenz von vielfältigen Meinungen, Haltungen und Positionen von liberalen Gesellschaften anerkannt werden müsse. Im Zentrum stehe also die Frage, wie weltanschauliche Pluralität funktioniere und zu realisieren sei. Spielhaus konkretisierte diese Frage anhand gegenwärtiger Kontroversen in der schulischen Bildung. Zu einem pluralen Religionsunterricht gehöre es beispielsweise, Schüler/-innen nicht nur Wissen über verschiedene Religionen zu vermitteln, sondern daraus auch gemeinsame Schlüsse für das Zusammenleben zu ziehen.

Aus pädagogischer Sicht bestehe die Herausforderung darin anzuerkennen, dass Religionen nicht nur eine bestimmte Lebensweise bezeichnen, sondern kulturelle Paradigmen mit einem jeweils eigenen Wahrheitsanspruch seien. Spielhaus zufolge verkompliziere dies insbesondere gesamtgesellschaftliche Debatten über die Religionsfreiheit.

Repräsentation anderer Narrative

Darüber hinaus werde die Kompetenz, den Wahrheitsanspruch von anderen zu respektieren, auch in der historischen Bildung relevanter. In einer pluralistischen Gesellschaft müsse sich die historische Bildung darauf verständigen, neue Perspektiven auf die Geschichte und andere narrative Deutungsansprüche anzuerkennen.

Für Spielhaus bedeutete das, diese Narrative in Schulbüchern, Museen und anderen Bildungsinstitutionen zu repräsentieren. Für die pädagogische Arbeit folge daraus ein neues Maß an Sensibilisierung für auftretende Divergenzen: Als Beispiel nannte Spielhaus eine Diskussion zwischen einem türkischen und einem armenischen Schüler über den Genozid an den Armeniern. Lehrkräfte müssen sich hier fragen, wie sie sich positionieren.

Ähnlich aktualisierungsbedürftig sei die Vermittlung des Ersten Weltkrieges: Wegen seiner globalen Dimension und seines enormen Einflusses auf die politische Entwicklung in der Türkei und in Nordafrika müsse die Vermittlung des Ersten Weltkrieges alternative, beispielsweise postkoloniale Geschichtsnarrative miteinbeziehen. Ziel sei es, die Hegemonie bestimmter historischer Narrative bereits in der Schulbildung abzubauen. Im Zentrum müsse immer die Frage stehen, welche Regeln sich aus der Gegenüberstellung verschiedener (Geschichts-)Narrative für das demokratische Zusammenleben schlussfolgern lassen und diese Regeln müssen, so betonte Spielhaus nachträglich, gemeinsamen erarbeitet werden.

von Niko Gäb

Fussnoten