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Verschwörungstheorie “Islamisierung“

Jenny Stern

/ 4 Minuten zu lesen

Durch die gezielt gesteuerte Einwanderung von Muslimen erfolge eine komplette „Islamisierung“ Europas … so zumindest die Theorie. Wie stichhaltig ist diese in der Gesellschaft weit verbreitete These?

"Such den Sündenbock": Die Nachmittagsshow auf wahrewelle (© Turbokultur/bpb)

"In Deutschland schreitet die ‚Islamisierung‘ voran" oder "Im Jahr 2050 wird Deutschland ein muslimischer Staat sein": Auf rechten Blogs und in sozialen Netzwerken kursieren viele solcher Behauptungen. Wissenschaftlich haltbar sind sie nicht.

Das Szenario dieser Verschwörungstheorie ist bedrohlich: Der Islam breitet sich angeblich in Europa aus und stülpt der christlich-westlichen Gesellschaft eine fremde, barbarische Kultur über. Solch düstere Prophezeiungen zum vermeintlichen "Untergang des Abendlandes" finden sich im Internet zuhauf, sei es in Facebook-Gruppen gegen den "Volkstod" oder auf Youtube-Videos zur "schleichenden Islamisierung Europas".

Will man den Darstellungen dort glauben, wird Deutschland im Jahr 2050 ein muslimischer Staat sein. Beweise für diese Entwicklung wollen die Anhängerinnen und Anhänger der Thesen bereits erkannt haben: Die geführten Diskussionen um Kopftücher, muslimischen Religionsunterricht oder Schweinefleisch in Schulen würden bezeugen, dass eine "Islamisierung" bereits in vollem Gange sei. Doch schaut man sich die verbreiteten Thesen genauer an, bleibt nicht viel Substanzielles übrig.

Neu ist das Schlagwort der "Islamisierung" nicht. Es wird ebenso im historischen Kontext verwendet, wenn es um die territoriale Ausbreitung des Islam in seiner Geschichte geht. Laut dem "Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe" nutzen es Rechtsextreme heutzutage aber als propagandistischen Kampfbegriff, um eine Stimmung der Angst zu erzeugen: Sie wollen eine "Islamisierung" als angebliche Bedrohung für die westlich-europäische Welt heraufbeschwören – und das auf eine stark vereinfachende und hetzerische Weise. Dahinter steckt das Szenario einer drohenden "Überfremdung" und "Umvolkung", wie sie in rechtsextremen, aber auch rechtspopulistischen Kreisen verbreitet wird.

Die Verschwörungstheorie funktioniert auf zwei Ebenen: Zum einen will sie vermitteln, dass sich Musliminnen und Muslime angeblich dazu verabredet hätten, Europa einzunehmen – durch Zuwanderung, aber auch über eine höhere Geburtenrate. Zum anderen weisen die Anhängerinnen und Anhänger immer wieder auf kulturelle Veränderungen in der Gesellschaft hin. Diese Idee baut auf einem rassistischen Verständnis der Welt auf, in der - vereinfacht gesagt - Menschen verschiedener Kulturen nicht miteinander vermischt werden sollen. Das Narrativ will einen Gegensatz zwischen "Wir" und "die anderen" konstruieren und wertet alles Fremde ab. Dass kultureller Austausch auf beiden Seiten auch eine Bereicherung bieten kann, wird völlig verkannt. So berücksichtigt die These zum Beispiel von vornherein keine muslimischen Deutschen, Musliminnen und Muslime also, die in Deutschland geboren wurden. Sie würden in beide Kategorien fallen, die die Anhängerinnen und Anhänger der "Islamisierungs"-These so strikt voneinander trennen wollen.

Die islamfeindliche Organisation Pegida nutzt seit ihrem Entstehen im Jahr 2014 dieses Bild für ihre Zwecke und führt es gleich im Namen: "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes". Die Wortwahl bleibt aber keinesfalls auf das rechte Spektrum beschränkt: Auch in konservativen Parteien wird die These einer "Islamisierung" in Teilen vertreten und einige Politiker warnen in ihren Reden ausdrücklich vor solch einer scheinbaren Gefahr.

Die "Islamisierungs"-These ist im Gegensatz zu vielen anderen Verschwörungstheorien also keine abgedrehte Vorstellung einiger "Spinnerinnen und Spinner". Sie reicht bis in die Mitte der Gesellschaft und schlägt sich auch direkt in einer steigenden Islamfeindlichkeit nieder. Die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung messen zum Beispiel alle zwei Jahre die rechtsextremen Einstellungen in der Bevölkerung und kommen zu dem Schluss, dass "40% aller Befragten meinen, die deutsche Gesellschaft würde durch den Islam unterwandert". In Norwegen führte der Rechtsterrorist Anders Breivik die "Islamisierungs"-These sogar an, um die beiden Attentate in Oslo und auf der Insel Utøya zu begründen, bei denen er insgesamt 77 Menschen tötete. Musliminnen und Muslime bezeichnete er als Gefahr, vor denen er sein Land angeblich schützen müsse.

Wie viele Musliminnen und Muslime tatsächlich in Deutschland leben, ist nicht einfach zu beantworten. Denn die Religionszugehörigkeit wird offiziell gar nicht erfasst. Valide Zahlen zur muslimischen Bevölkerung in Deutschland stammen aus einer Hochrechnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Demnach lebten Ende 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland – bei 82,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ein Anteil von 5,4 und 5,7 Prozent.

Die Religionszugehörigkeit erschlossen sich die Forscherinnen und Forscher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge dabei indirekt über das Herkunftsland. .Das heißt, es werden Personen miteinbezogen, die selbst oder deren Eltern aus einem muslimisch geprägten Herkunftsland stammen, also deutsche und in Deutschland lebende ausländische Staatsangehörige. Der Pressesprecher des Statistischen Bundesamts Klaus Pötzsch hält eine Vorausberechnung für die muslimische Bevölkerung deshalb für problematisch: "Die Ausgangsbasis, anhand derer man die Daten für die Zukunft hochrechnet, ist mehr als unsicher."

Weitere Schätzungen zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung von Musliminnen und Muslimen hat das Pew Research Center, ein US-amerikanisches Meinungsforschungsinstitut durchgeführt. Auf der Grundlage nationaler Daten haben die Forscherinnen und Forscher hochgerechnet, dass ihr Anteil in Europa bis zum Jahr 2050 auf zwischen 7,4 und 14 Prozent steigen könnte. Dabei werden Szenarien mit keiner, mittlerer und hoher Einwanderung berücksichtigt. Letzteres wäre der Fall, wenn die Migration aus den Jahren 2014 bis Mitte 2016 anhalten würde. Für Deutschland kommen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Pew Research Center für 2050 auf einen möglichen Bevölkerungsanteil von 8,7 bis 19,7 Prozent. Aktuelle Hochrechnungen des BAMF zeigen aber, dass die Anzahl der Asylanträge 2016 einen Höchststand erreicht hat und mittlerweile wieder sinkt: Zwischen Januar und Dezember 2016 zählte das BAMF 745.545 Erst- und Folgeanträge auf Asyl. Im gesamten Jahr 2017 nahm das Bundesamt insgesamt 222.683 Asylanträge entgegen. Im laufenden Jahr 2018 waren es 63.972 Anträge.

Seriöse Vorausberechnungen bieten verschiedene Szenarien für die Zukunft an, erheben jedoch niemals den Anspruch, sie vorherzusagen. Fakt ist: Eine "Islamisierung" ist statistisch nicht belegbar. Häufig werden bei der Verbreitung dieser Thesen willkürliche Zahlen ohne Quelle genannt, die teilweise gar nicht erfasst wurden. Die Urheberinnen und Urheber schießen sich auf eine feste Zahl ein und wollen damit Panik schüren.

Fussnoten

Jenny Stern ist Redakteurin und Autorin bei BR24. Davor arbeitete sie für die ARD-Faktenfinder der Tagesschau, die Süddeutsche Zeitung, die Deutsche Presse-Agentur (dpa) und die Frankfurter Rundschau.