Das Reformprogramm des "Prager Frühlings"
Am 5. April 1968 verabschiedeten die tschechoslowakischen Kommunisten ein Reformprogramm, mit dem sie einen "Sozialismus mit menschlichen Antlitz" schaffen wollten. Die Reformen markieren den Beginn des Prager Frühlings.
Jahrelang galt die sozialistische Tschechoslowakei als eines der konservativsten sozialistischen Regime in Osteuropa – bis zum Frühjahr 1968: Ein Reformprogramm sah die Aufweichung des absoluten Herrschaftsanspruchs der Kommunistischen Partei (Komunistická strana Československa, kurz: KSČ) vor und sollte Meinungs- und Versammlungs- und Pressefreiheit garantieren. Sogar Reisen ins westliche Ausland wurden erlaubt. "Der Prager Frühling war eine wunderbare Wandlung von der großen Enttäuschung zur größten Hoffnung", sagte der 2011 verstorbene tschechische Schriftsteller Arnošt Lustig in einem Interview 2008.
Ihren Anfang nahmen die Reformen mit der Wahl des Slowaken Alexander Dubček zum neuen Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei (Komunistická strana Československa, kurz: KSČ) am 5. Januar 1968. Zuvor war Antonín Novotný Erster Sekretär der Partei und tschechoslowakischer Präsident in Personalunion gewesen. Novotný hatte sich 1967 u.a. gegen die Stationierung sowjetischer Raketenbasen positioniert. Er blieb tschechoslowakischer Präsident, neuer Parteichef aber wurde Dubček. Am 5. April 1968 verabschiedete die KSČ das über 60-seitige Aktionsprogramm mit dem Titel "Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus". Es gilt das wichtigste programmatische Dokument des sogenannten Prager Frühlings.
Der Name "Prager Frühling" ist eine Anspielung auf die "Tauwetter"-Periode, die in der teilweise nach dem Tod Stalins 1953 in Osteuropa eingesetzt hatte.
Die Reformansätze 1968
Bereits vor 1968 gab es in der Tschechoslowakei Personen in der KSČ, die etwa wirtschaftliche Reformen anregen wollten und die Altlasten des Regimes aus stalinistischer Zeit beklagten. Ota Šik, Mitglied im Zentralkomitee der KSČ, arbeitete Anfang 1968 bereits an einem Konzept für eine Wirtschaftsreform, das später Teil des Aktionsprogramms werden sollte und als Versuch eines "dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Kommunismus bekannt wurde.Ausgehend von einer deutlichen Kritik des Stalinismus entwickelte die Führung der KSČ in ihrem „Aktionsprogramm“ einen umfassenden Reformansatz. Oft zitiert wird dabei die Losung vom "Sozialismus mit menschlichen Antlitz", die an eine Textstelle des Aktionsprogramms angelehnt ist.
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Schwerpunkte des Aktionsprogramms
1. Entwicklung des Gesellschaftsmodells der "sozialistischen Demokratie"
2. Verzicht auf den absoluten Herrschaftsanspruch durch die KSČ
3. Bekenntnis zu einer weitgehenden Pressefreiheit
4. Einräumung von Bürgerrechten
5. Gewährung von Reisefreiheit
6. Stärkung des Parlaments, Auflösung von Machtzentren
7. Ausgleich zwischen Tschechen und Slowaken
8. Vereinbarkeit von Sozialismus und Unternehmertum sowie Wirtschaftsreformen
9. Abschaffung der Zensur in Kunst und Kultur
In der Tschechoslowakei selbst stößt die Reformpolitik auf Begeisterung, besonders bei der jüngeren Generation, die hofft, dass ihr Land dem politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Sowjetunion entrinnen kann.
Die Sowjetunion, die anfangs noch die Wahl Dubčeks begrüßt hatte, wendet sich im Laufe des Jahres 1968 gegen den neuen Kurs in der Tschechoslowakei . Im "Warschauer Brief" vom 15. Juli 1968 fordern die UdSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien und die DDR die Führung der KSČ zu einer Kurskorrektur auf. "Die vom Imperialismus unterstützte Offensive der Reaktion gegen Ihre Partei und gegen die Grundlagen der Gesellschaftsordnung der CSSR birgt nach unserer festen Überzeugung die Gefahr in sich, dass Ihr Land vom Wege des Sozialismus abgedrängt wird und folglich die Interessen des ganzen sozialistischen Systems bedroht werden", schrieben die sozialistischen Bruderländer an die Adresse Dubčeks.
Kaum einen Monat später, am 21. August 1968, rollten Panzer des Warschauer Pakts Richtung Prag. Der Traum von einem "dritten Weg" war vorbei. Trotz des zivilen Ungehorsams der Bevölkerung gewinnen die Soldaten der Warschauer-Pakt-Staaten die Oberhand. Blutig schlagen sie den friedlichen Protest in Prag nieder und ersticken die Reformbewegung im Keim. Dubcek und andere führende Parteimitglieder werden nach Moskau entführt. Dubcek wird gezwungen, das "Moskauer Protokoll" zu unterschreiben. Es sieht die Aufhebung fast aller Reformprojekte sowie die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei vor und markiert das Ende des Prager Frühlings.
Mehr zum Thema im neuen bpb-Dossier Prag 1968
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