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Bauernproteste in Indien | Hintergrund aktuell | bpb.de

Bauernproteste in Indien Ein Land in Aufruhr

/ 4 Minuten zu lesen

In Indien protestieren seit einen halben Jahr Bauern gegen die Regierung. Anlass ist eine geplante Agrarreform, die den Handel mit Agrarprodukten liberalisieren will. Auch die massive Corona-Welle kann die Proteste nicht aufhalten.

Landwirte nehmen an einer Protestveranstaltung auf dem Getreidemarkt von Amritsar im indischen Bundestaat Punjab teil. (© picture alliance / Xinhua News Agency | Javed Dar)

Nicht zum ersten Mal kommt es in Interner Link: Indien zu Bauernprotesten. Doch die Demonstrationen gegen die jüngste Agrarreform, bei denen seit November immer wieder Hunderttausende auf die Straße gehen, sind die massivsten in der jüngeren Geschichte des Landes. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde Ende Januar erreicht. Am 26. Januar, dem Tag der Republik, stürmten Bauern das Rote Fort in Delhi, einen historisch bedeutenden Ort aus dem 17. Jahrhundert.

Die Fronten im Streit sind verhärtet. Die seit 2014 regierende Interner Link: hinduistisch-nationalistische BJP-Regierung von Premierminister Interner Link: Narendra Modi geht entschieden gegen die Proteste vor. Sie erließ Internetsperren und ging gegen unliebsame Berichterstattung durch Journalisten vor. Im Lauf der Proteste gab es zahlreiche Festnahmen sowie Verletzte und sogar Todesfälle.

Landwirte wehren sich gegen die Liberalisierung des Agrarmarktes

Der Unmut der Landwirte, der von zahlreichen Oppositionsparteien unterstützt wird, richtet sich gegen eine aus drei Gesetzen bestehende Landwirtschaftsreform. Das umstrittene Gesetzespaket hatte das Interner Link: Parlament bereits im September 2020 beschlossen. Umstritten ist vor allem das Gesetz, das eine massive Marktliberalisierung vorsieht. Damit soll privaten Investoren der Zugang zum Agrarmarkt erleichtert werden.

Premierminister Narendra Modi und die BJP

Seit 2014 wird Indien von Premierminister Narendra Modi und seiner hinduistischen-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) regiert. Die ersten fünf Jahre war Modi in einer Koalitonsregierung auf die Unterstützung verbündeter Kräfte angewiesen, doch bei den Parlamentswahlen 2019 gelang es seiner Partei die absolute Mehrheit zu erringen.
Die BJP wurde 1980 gegründet. Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 hatten Hindu-Nationalisten zunächst keine tragende Rolle in dem asiatischen Land gespielt. Ab 1998 gelang es der BJP dann erstmals mehrere Jahre den Premierminister zu stellen. Die staatstragende Partei des Landes war aber über Jahrzehnte hinweg die Kongresspartei INC (Indian National Congress ), die bei den Wahlen 2019 eine desaströse Niederlage erlitt, von der sie sich bis heute nicht erholt hat.

Die Opposition war zuletzt zersplittert

Modi regiert mit einem stark auf seine Person zugeschnittenen Politikstil. Der heute 70-Jährige hat Politikwissenschaften studiert und wurde früh Berufspolitiker. Er ist seit 1971 Mitglied der Rashtriya Swayamsevak Sangh ("Nationale Freiwilligenorganisation"), einer radikal-hinduistische Kaderorganisation. 1985 wurde er Mitglied der BJP. Dort belegte er früh führende Positionen und war maßgeblich für den Aufstieg der Partei verantwortlich. Von 2001 bis 2014 war er mit kurzer Unterbrechung Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat.
Unter seiner bisherigen Ägide als Regierungschef kam es zu einer starken Polarisierung des politischen Systems. Seine hindu-nationalistische Regierung steht seit Jahren in der Kritik, Hass gegen Minderheiten zu schüren, insbesondere gegen Muslime. Beobachter beklagen zudem ein immer autoritäreres Vorgehen gegen die Opposition, Nichtregierungsorganisationen und Journalisten beklagen eine Gefährdung der Pressefreiheit.

Wirtschaftspolitisch hatte die BJP in der Vergangenheit Erfolge vorzuweisen. Auch wurde unter ihrer Ägide die Infrastruktur auf dem Land ausgebaut. So sind mittlerweile viele Dörfer an das Straßen- oder Stromnetz angeschlossen.

Das bisherige System ist aus Sicht der Regierung ineffektiv. In Indien werden verschiedene landwirtschaftliche Produkte wie Reis und Weizen bisher in staatlich kontrollierten Großmärkten gehandelt. Fällt der Preis unter ein bestimmtes Mindestniveau, greift der Staat ein und zahlt den Erzeugern die Differenz.

Angst vor einem Preisdiktat der Konzerne

Künftig sollen die Bauern ihre Ware ohne den staatlich kontrollierten Handel und dessen Mittelsmänner direkt an Privatfirmen verkaufen dürfen. Die Regierung hofft, dass die Erzeuger auf dem freien Markt höhere Gewinne erzielen können und so mehr Geld aus der Privatwirtschaft in die Landwirtschaft und deren Modernisierung fließt.

Die Landwirte hingegen haben Angst vor massiv sinkenden Preisen. Eine große Zahl von Kleinbauern sieht sich nicht in der Lage, mit den Agrarkonzernen auf Augenhöhe zu verhandeln und befürchtet massive Einkommensverluste. Eine Befürchtung, die auch viele Experten teilen. Sie warnen vor einer weiteren Verschlechterung der Lebenssituation vieler Landwirte. Schon im heutigen System staatlich kontrollierter Märkte mit Preisgarantien kämpfen viele Kleinbauern um ihr wirtschaftliches Überleben. Die neue Gesetzeslage könnte die Lage der Kleinbauern erneut deutlich verschlechtern. Preisabsprachen zwischen den privaten Investoren und fehlende staatliche Garantiepreise könnten vor allem für die Kleinbauern zu massiven Problemen führen.

Schon mit den bislang erfolgten Liberalisierungen in der Landwirtschaft hat Indiens Landbevölkerung schlechte Erfahrungen gemacht. Bauernvertreter verweisen etwa auf das Beispiel Bihar. Der Bundesstaat hat seinen Markt bereits weitgehend liberalisiert - mit dem Ergebnis, dass die Landwirte für ihre Waren 25 bis 30 Prozent weniger erhalten, als vor der Reform.

Ein Fünftel der Landwirte lebt unter der Armutsgrenze

Die Landwirtschaft trägt in Indien zwar nur zu 15 bis 18 Prozent der Wirtschaftsleistung der größten Demokratie der Erde bei. Doch in diesem Sektor arbeiten je nach Schätzung zwischen 40 bis 60 Prozent der 1,3 Milliarden Einwohner. Die indische Landwirtschaft ist bislang sehr kleinteilig strukturiert: Über 80 Prozent der indischen Landwirte besitzen weniger als zwei Hektar Land. Sie sind kaum in der Lage, ihre Produkte irgendwo anders als auf lokalen Märkten anzubieten .

Die indische Landwirtschaft befindet sich seit Jahren in einer Krise. Viele Bauern haben schon heute große wirtschaftliche Probleme. Und nicht wenige sind angesichts stagnierender Erträge und steigender Kosten für Saatgut und Dünger massiv verschuldet. Rund ein Fünftel lebt unter der Armutsgrenze. Die Selbstmordrate unter indischen Bauern ist seit Jahren hoch.

Die Krise der indischen Landwirtschaft ist auch eine ökologische Krise

In den 1960er- und 1970er-Jahren modernisierte Indien seine Landwirtschaft. Denn in der einstigen britischen Kolonie war es in der Vergangenheit immer wieder zu Hungersnöten gekommen. Bei der Reform wurde der Staat zum bestimmenden Akteur im Agrarsektor. Im Rahmen der Industrialisierung wurde im Anbau auf immer weniger Pflanzenarten gesetzt - wie etwa Reis oder Weizen.

Viele Jahre wurde durch diese sogenannte Grüne Revolution die Nahrungsproduktion in den wasserreichen Teilen Nordindiens massiv angekurbelt. Monokulturen waren die Folge. In den indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana etwa setzten früher nur wenige Bauern auf Reis, heute wird dort kaum noch etwas anderes angebaut. Zudem sind in vielen Gebieten die Böden durch falsche Bewirtschaftung mittlerweile ausgelaugt.

Probleme macht auch der immer größere Wassermangel. Der Grundwasserspiegel sinkt vielerorts seit Jahren. Hinzu kommt ein Verlust landwirtschaftlicher Flächen durch fortschreitende Urbanisierung. Verschärft werden diese Probleme durch den Klimawandel, der häufigere Überschwemmungen, Zyklone und Dürren zur Folge hat. Fachleute warnen, die Deregulierung des Agrarmarktes könne neben den sozialen Spannungen auch die ökologischen Probleme noch weiter verschärfen.

Noch keine Einigung in Sicht

In Kolkata, im indischen Bundesstaat West Bengalen, haben sich Studierende dem Protest gegen die Landwirtschaftsgesetze von Präsident Modi angeschlossen. (© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Jit Chattopadhyay)

Durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs am 12. Januar wurden die drei strittigen Gesetze vorläufig außer Kraft gesetzt. Damit sollte Zeit für die Verhandlungen zwischen den protestierenden Bauern und der Regierung geschaffen werden. Die Regierung hat die Reformen daraufhin um bis zu 18 Monate verschoben, doch von einem Einlenken scheint sie weit entfernt.

Die Entwicklung ist für Ministerpräsident Modi durchaus gefährlich. Eines der zentralen Wahlversprechen der BJP von 2014, war eine Einkommensverdoppelung für die Landwirte innerhalb von fünf Jahren. Davon ist nichts geblieben, die drohenden Reformen verschärfen den wirtschaftlichen Druck auf den Agrarsektor. Die Landwirte mit ihren Familien sind noch immer eine wichtige Wählergruppe im Land. Und zunehmend solidarisieren sich auch Bürger in den Städten mit ihnen. Wenn die BJP diese Kernwählerschaft verliert, ist ihr Machterhalt gefährdet.

Anhaltende Proteste trotz Corona-Pandemie

Obwohl die Corona-Pandemie Ende April mit mehr als 300.000 täglichen Neuinfektionen, überlasteten Krankenhäusern und täglich mehr als 3.000 Toten in Indien wütet, gehen die Massenproteste der Landwirte weiter. Viele Bauern sehen in den Landwirtschaftsgesetzen eine größere Bedrohung ihrer Existenz, als durch die Pandemie. Damit geht die Protestwelle in den sechsten Monat, ein Ende ist noch nicht abzusehen.

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