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Vor 50 Jahren: "Radikalenerlass" | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 50 Jahren: "Radikalenerlass"

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Am 28. Januar 1972 einigten sich Bund und Länder auf den sogenannten Radikalenerlass. Daraufhin wurden Bewerberinnen und Bewerber sowie Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik jahrelang auf ihre Verfassungstreue hin überprüft.

Mehr als 10.000 Demonstranten, Betroffene des Radikalenerlasses sowie zahlreiche Jugendorganisationen, demonstrieren am 11.02.1978 in Dortmund gegen Berufsverbote. (© picture alliance / Klaus Rose | Klaus Rose)

Am 28. Januar 1972 einigte sich die Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) darauf, dass Bewerberinnen und Bewerber sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst fortan auf ihre Verfassungstreue hin überprüft werden sollten. Der unter dem Titel "Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen" gefällte Beschluss ging als sogenannter Radikalenerlass in die Geschichte der Bundesrepublik ein.

Die in den Beamtengesetzen festgelegten Verpflichtungen für Staatsdienerinnen und Staatsdiener wurden als "zwingende Vorschriften" definiert. Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst waren demnach verpflichtet, "jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" einzutreten. Dies galt nicht erst ab dem Eintritt in den Staatsdienst, sondern bereits für die Ausbildung oder das Studium.

Ablehnung von „Verfassungsfeinden“ für den Staatsdienst

Bewerberinnen oder Bewerber, die "verfassungsfeindlichen Aktivitäten" nachgingen oder Mitglied von Organisationen mit verfassungsfeindlichen Zielen seien, sollten grundsätzlich für den öffentlichen Dienst abgelehnt werden. Staatsbedienstete, bei denen solche Aktivitäten bekannt wurden, sollten aus dem Dienst entfernt werden. Die Ministerpräsidenten und regierenden Bürgermeister konnten sich allerdings nicht darauf verständigen, was genau unter "verfassungsfeindlichen Aktivitäten" zu verstehen sei. Sie einigten sich schließlich darauf, dass die Zugehörigkeit einer Bewerberin oder eines Bewerbers zu einer "Organisation, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt", Zweifel an der Verfassungstreue rechtfertige.

Wer ein Verfassungsfeind sei und wer nicht, musste dem Beschluss zufolge im Einzelfall überprüft werden. Die Länder übernahmen die Einigung vom 28. Januar in der Folge weitgehend. Die Entscheidung darüber, welche Organisation oder Tätigkeit als "verfassungsfeindlich" angesehen wurde, lag bei den zuständigen Einstellungsbehörden. Diese richteten sogenannte Regelanfragen an die Verfassungsschutzämter, ob "verfassungsfeindliche Aktivitäten" von Bewerberinnen und Bewerbern bekannt seien. Lagen entsprechende Erkenntnisse vor und die betreffende Person konnte diese in sogenannten Anhörungsgesprächen nicht ausräumen, wurde ihre Einstellung in den öffentlichen Dienst abgelehnt. Betroffene hatten dann zwar die Möglichkeit dagegen juristisch Einspruch zu erheben, die Verfahren zogen sich jedoch oft über Jahre hin.

Millionen Regelanfragen beim Verfassungsschutz

Allein bis 1976 kontrollierten staatliche Arbeitgeber fast eine halbe Million Bewerberinnen und Bewerber auf ihre Verfassungstreue und lehnten 430 von ihnen ab. Von 1972 bis 1991 sollen Schätzungen zufolge bis zu 3,5 Millionen Regelanfragen zur Sicherheitsprüfungen für Anwärterinnen und Anwärter des öffentlichen Dienstes an die Verfassungsschutzbehörden gestellt worden sein.

Wie viele Frauen und Männer jedoch tatsächlich nicht eingestellt oder entlassen wurden, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Schätzungen zufolge soll es bundesweit zu rund 11.000 Verfahren im Zusammenhang mit dem “Radikalenerlass“ gekommen sein. In etwa 1.250 Fällen sollen Bewerberinnen oder Bewerber abgelehnt und nicht eingestellt worden sein. Im gleichen Zeitraum wurden ungefähr 260 bereits verbeamtete oder angestellte Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst entlassen.

Der überwiegende Großteil der vom Radikalenerlass betroffenen Beamten und Angestellten waren angehende oder aktive Lehrerinnen und Lehrer (80 Prozent). Auch Hochschullehrerinnen und -lehrer (rund 10 Prozent) gerieten ins Visier der Behörden. Auch bei Justizangestellten (ca. 5 Prozent) gab es zahlreiche Fälle. Mitunter waren zudem neben dem Militär oder der Polizei auch ehemals staatliche Betriebe wie die Bahn oder die Post betroffen.

Das Wort vom "Berufsverbot" ging um und fand sogar Aufnahme in fremde Sprachen. Besondere Brisanz gewann die Diskussion um den "Radikalenerlass" dadurch, dass der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik nur zu einem Teil "Hoheitsträger" wie Regierungsbeamte, Berufsoffiziere und Polizisten umfasst, von denen erwartet werden muss, dass sie "aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung" eintreten. Den überwiegenden Teil des öffentlichen Dienstes machten Arbeiter, Angestellte und Beamte aus, die solche hoheitlichen Aufgaben nicht wahrnehmen mussten, sondern bei der Bahn, der Post und in der Krankenpflege Dienstleistungen erbrachten.

kurz erklärtMäßigungsgebot

Das sogenannte Externer Link: Mäßigungsgebot im Beamtenrecht sieht eine Neutralitätspflicht der Beamtinnen und Beamten vor, die auch auf den privaten Bereich Auswirkungen hat. Für Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst gilt dieses Mäßigungsgebot nicht. Das Mäßigungsgebot bedeutet aber kein generelles Verbot politischer Betätigung außerhalb des Amtes. Vielmehr soll es als Ergänzung zur Regelung im Beamtengesetz, wonach Beamtinnen und Beamte dem ganzen Volk und nicht einer Partei dienen, sicherstellen, dass Beamtinnen und Beamte ihr Amt unparteiisch und gemeinwohlorientiert ausführen. Auch Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in jedem Arbeitsverhältnis, auch außerhalb des öffentlichen Dienstes, die allgemeine Treuepflicht, sich für die Interessen des Arbeitgebers einzusetzen und alles zu unterlassen, was dem Arbeitgeber abträglich sein könnte. Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sind dem Gemeinwohl verpflichtet und müssen ihre Aufgaben unparteiisch erfüllen, auf das Wohl der Allgemeinheit Rücksicht nehmen und das Ansehen der Verwaltung wahren.

Fokus auf Linksextremismus

Das Gesetzes-Paket richtete sich explizit auch gegen Rechtsextremisten . Im Fokus standen jedoch überwiegend Anhängerinnen und Anhänger sowie Mitglieder der vom Verfassungsschutz als linksextrem eingestuften Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die als eine Art Nachfolgeorganisation der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gilt, sowie andere kommunistische Organisationen wie verschiedene sogenannte K-Gruppen (z.B. Kommunistischer Bund Westdeutschland, KBW). In seltenen Fällen gerieten auch SPD-Mitglieder, etwa aus Sicht des Verfassungsschutzes weit linksstehende Jungsozialistinnen und -sozialisten (Jusos) sowie einzelne Mitglieder des Sozialistischen Hochschulbundes ins Visier der Behörden.

Bereits 1950 hatte die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in einem Erlass verfügt, Gegnerinnen und Gegner der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" aus dem Staatsdienst zu entlassen. Der sogenannte Adenauererlass richtete sich vor allem gegen linke und kommunistische Organisationen. 1956 verbot das Bundesverfassungsgericht die KPD .

In den 1960er-Jahren rückten Teile der Studierendenschaft im Zuge der sogenannten 68er-Bewegung stärker nach links. 1967 rief der Studentenführer Rudi Dutschke zum "Marsch durch die Institutionen" auf, um das bundesrepublikanische System von innen heraus zu verändern. Aus dem Umfeld der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der späten 1960er und frühen 1970er Jahre entstanden auch linksterroristische Organisationen wie die Rote-Armee-Fraktion (RAF ), die mit terroristischer Gewalt einen Systemwechsel herbeiführen wollte.

Zugleich leitete die ab 1969 regierende Koalition aus SPD und FDP einen Kurswechsel in der Ostpolitik gegenüber den sozialistisch geführten Staaten des Warschauer Paktes ein. Willy Brandt setzte dabei auf einen "Wandel durch Annäherung ". Die SPD-Führung grenzte sich ab 1970 massiv gegenüber Linksradikalen in der Bundesrepublik ab und untersagte ihren Mitgliedern die Zusammenarbeit mit der DKP und ihr nahestehenden Gruppen.

Juristische Urteile und Abschaffung des Erlasses

Im Mai 1975 bestätigte das Bundesverfassungsgericht das Recht der Behörden, Bewerberinnen und Bewerber abzulehnen, wenn sie einer von den Sicherheitsbehörden als verfassungsfeindlich eingestuften Partei angehörten, selbst wenn die Partei nicht verboten war. Eine Jurastudentin hatte geklagt, weil ihr das Referendariat und damit das für den Berufsabschluss notwendige Zweite Staatsexamen verweigert worden war. Das Gericht stellte jedoch klar, dass der Staat den Bewerbern den Abschluss der Ausbildung ermöglichen müsse.

Im Laufe der 1970er-Jahre stieß der Radikalenerlass auf immer mehr Unmut in der Bevölkerung, vor allem bei jungen Menschen . Aufgrund zunehmender Kritik aus dem In- und Ausland schwächte die mittlerweile von Helmut Schmidt (SPD) geführte Bundesregierung 1976 die Regelungen auf Bundesebene erstmals ab. Ab 1979 verabschiedete der Bund neue Richtlinien. Nur beim Vorliegen konkreter Verdachtsmomente sollten Informationen zu einer Person beim Verfassungsschutz angefragt werden, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sei. Die SPD-regierten Länder hoben den Radikalenerlass in der Praxis ab Ende der 1970er-Jahre sukzessive auf. Hamburg stellte ab 1979 keine Regelanfragen mehr. 1985 setzte das Saarland den Erlass offiziell außer Kraft. In den folgenden Jahren rückten auch die damals Unions-geführten Länder vom Radikalenerlass ab, zuletzt Bayern im Jahr 1991.

1995 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR ) einer niedersächsischen Lehrerin Recht, die entlassen worden war, weil sie DKP-Mitglied war. Die Entlassung verstoße gegen das Recht auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention, so das Urteil. Die Klägerin wurde daraufhin rehabilitiert. Sie musste wiedereingestellt und die entgangenen Dienstbezüge samt Pensionsansprüchen nachgezahlt werden.

Aufarbeitung und gegenwärtige Debatten um Regelanfragen

Das EGMR-Urteil fachte eine Debatte um Entschädigungen und Entschuldigungen für Betroffene des Radikalenerlasses an. Niedersachsen setzte 2017 als erstes Bundesland eine Beauftragte "zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer Rehabilitierung" ein. Das Berliner Abgeordnetenhaus forderte den Senat der Stadt im Juni 2021 dazu auf, den Radikalenerlass in West-Berlin "wissenschaftlich aufarbeiten" zu lassen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), selbst Betroffener des Erlasses, gestand im Januar 2022 ein, dass den Betroffenen Unrecht widerfahren sei und schloss eine Entschuldigung bei den Betroffenen nicht aus.

Zugleich gibt es gegenwärtig auch eine Diskussion über die Notwendigkeit von verdachtslosen Regelanfragen bei den Verfassungsschutzbehörden für bestimmte Berufsgruppen im öffentlichen Dienst. In manchen Bundesländern wie etwa in Bayern werden diese für Polizei- und Justizanwärterinnen- und anwärter in Teilen praktiziert. Mittlerweile liegt der Fokus der Untersuchung der Verfassungstreue von Staatsbediensteten verstärkt auf islamistischen und rechtsextremen Gesinnungen.

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