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Journalismus in Zeiten der Pandemie von Thomas Krüger

/ 8 Minuten zu lesen

"Der Lokaljournalismus ist in der Corona-Krise über sich hinausgewachsen" – Thomas Krüger auf dem European Publishing Congress am 15.6.2021

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
lieber Hans Oberauer!

Geschlossene Schulen und Kitas, Restaurants und Geschäfte, die vor dem finanziellen Ruin stehen, Homeoffice statt Büro, Kurzarbeit und keine Aussicht auf einen normalen Badeurlaub im warmen Süden. Die Corona-Pandemie mit ihren Konsequenzen wie Kontaktbeschränkungen, Reisewarnungen und vollen Intensivstationen in den Kliniken hat das gesamte gesellschaftliche und politische Leben und auch die Menschen selbst verändert. Immer einen Schritt zurück, statt zwei auf andere zugehen. Das war und ist schwierig für viele Menschen und natürlich auch für Sie als Journalistinnen und Journalisten.

Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf die Arbeit von Medien, egal ob Print, Online, Hörfunk oder Fernsehen, denn die Erwartungen und Anforderungen an die Berichterstattung sind enorm gewachsen. Die Bürgerinnen und Bürger, junge wie ältere, wollten ständig und möglichst in Echtzeit über die sich dauernd ändernden Regeln und Hintergründe informiert werden.

Diese Aufgabe ist schwierig und die Umstände erforderten schnelles Umdenken und Handeln. Verlage mussten die Arbeit im Homeoffice organisieren, fast komplett digital arbeiten und gleichzeitig die neue und sich ständig ändernde Situation beschreiben, einordnen und analysieren. Eine echte Mamutaufgabe!

Als Bundeszentrale für politische Bildung / bpb liegt uns der Lokaljournalismus als Grundpfeiler unserer Demokratie besonders am Herzen. – Deshalb werde ich heute auch vor allem über ihn sprechen – Umso erfreuter bin ich, dass eben dieser Lokaljournalismus in der Corona-Krise an vielen Orten über sich hinausgewachsen ist und viele Punkte in Sachen Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Relevanz verbuchen konnte.

Lokaljournalistinnen und Lokaljournalisten haben mit ihrer Berichterstattung zudem einen erheblichen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geleistet. Begriffe und Werte wie Heimat, Nachbarschaft und Solidarität erhielten einen neuen Stellenwert, den die Lokalzeitungen anhand vieler Geschichten herausgearbeitet haben.

Sie haben vielerorts eben nicht das Virus und die Behandlungsmethoden in den Mittelpunkt gestellt, Fragen, die ohnehin im Wissenschaftsressort besser aufgehoben wären. Sondern es ist mit vielen Storiesgelungen, die Auswirkungen der Pandemie auf das soziale und wirtschaftliche Leben vor Ort aufzuzeigen und damit den bloßen Zahlen ein Gesicht zu geben.

Das ist durch Berichte und Serien im Print realisiert worden, aber auch und gerade digital haben die Lokalzeitungen neue und kreative Formate entwickelt haben.

Die erfolgreiche Berichterstattung in den lokalen und regionalen Medien zeigte sich daran, dass sie mehr als die reinen Informationen aufzeigte, die Lokaljournalisten präsentierten zunehmend auch Lösungswege, stellten Menschen und Schicksale aus der Region vor und boten konkrete Lebenshilfe an.

Neben all diesen Entwicklungen hat die Pandemie auch massive Auswirkungen auf den Lokaljournalismus selbst. Die Krise hat fundamentale Veränderungen in der redaktionellen Praxis mit sich gebracht: der größte Teil der Redaktionen arbeitete im Homeoffice, der Workflow musste größtenteils auf online umgestellt oder telefonisch abgewickelt werden, wodurch sich die Abstimmungsprozesse entsprechend verlängert haben.

Gleichzeitig haben es große Teile der Medienhäuser geschafft, endlich muss man sagen, in der Pandemie den großen Schritt geschafft, weg vom Terminjournalismus hin zum Themenjournalismus und zur Autorenzeitung. Journalistinnen und Journalisten waren gezwungen, "echte” Themen vor Ort zu recherchieren und damit die Zeitung zu füllen.

Eine Entwicklung, die innovative Chefredaktionen und auch das Lokaljournalistenprogramm der bpb seit vielen Jahren vorantreiben, hat durch die Corona-Krise einer längst überfälligen Entwicklung eine echte Dynamik verliehen. Innovative Chefredaktionen haben die Corona-Pandemie auch als Chance begriffen, um die Digitalisierung, die Transformation und eine Reform von Arbeitsprozessen und Workflows voranzutreiben, was von vielen Redaktionen bisher vernachlässigt wurde:
Lokalredaktionen haben gemerkt, dass die Zeitung, ePaper und Online-Angebot auch dann entstehen, wenn nicht alle Akteure vor Ort sind. Und: die Zeitungen werden genauso gut wie vorher. Im Gegenteil, gerade in der Krise sind viele Redaktionen zur Höchstform aufgelaufen und haben bewiesen, wie leistungsfähig attraktiver, moderner und nutzwertiger Lokaljournalismus ist.

Die teilweise in den vergangenen Jahren mühsam vorangetriebene Erkenntnis, Reporterinnen müssen nicht im Büro sitzen, sondern können durchs Homeoffice schneller und flexibler vor Ort recherchieren und arbeiten, ist in unzähligen Köpfen nun angekommen.

Dadurch eröffnen sich weitere Chancen, um einem Trend entgegen zu wirken, der sich seit Jahren abzeichnet: Journalismus als Berufsfeld ist weniger attraktiv denn je, es fehlt an Personalentwicklung und Karrierechancen und die Arbeitszeiten finden in der jüngeren Generation, in der Werte wie Work-Live-Balance stetig an Bedeutung gewinnen, keine Begeisterung. Neue Rahmenbedingungen können zu flexibleren Lösungen führen und somit den Job attraktiver für Menschen mit Familie und Kindern, sowie für Menschen mit Beeinträchtigungen zu machen. Wir stehen somit an einem endscheidenden Wendepunkt, der von immenser Bedeutung ist: Journalismus kann auf diese Weise werden und die der Menschen besser abbilden.

Außerdem haben gerade lokale Medien während der Pandemie noch mehr als zuvor schon in Online-Formate investiert, es gibt umfängliche und besonders nutzwertige Datenjournalismus-Projekte, aber ein Bereich hat enorm zugelegt: das Format Podcast. Ich beobachte hier eine unglaubliche Vielfalt an Themen von Wirtschaft über Sport, Kultur bis hin zum beliebten Crime-Podcast über die spektakulärsten Kriminalfälle in der Region. In Deutschland gibt es von Kiel bis Kempten inzwischen unglaublich was auf die Ohren – mit jeder Menge kreativer Formate.

Die Pandemie hat uns aber auch einmal mehr in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass und warum die Digitalisierung so wichtig für unser Leben, aber auch für die Redaktionen ist. Das Problem "junge Zielgruppen" ist dabei unglaublich stark in den Fokus geraten: Die junge Generation hat zunehmend den Bezug zum Medienhaus vor Ort verloren und ist kaum zu einem Abschluss eines Zeitungs-Abos bereit. Obwohl sie Abo-Modellen gegenüber generell sehr aufgeschlossen sind – Amazon Prime, Spotify, Sky und Netflix finden alle ihr Millionen-Publikum.

Wen erreichen Medienhäuser mit ihren Produkten? Die Jungen sind im Moment durch rein nachrichtlich-journalistische Angebote, die immer noch das Kerngeschäft der meisten Verlage ausmachen, schwer zu erreichen und noch schwerer zu binden. Die JIM-Studie 2020 weist für die 12- bis 19-Jährigen sieben Prozent tägliche Nutzung eines Online-Angebots einer Tageszeitung aus. Also eher wenig, um nicht zu sagen, zu wenig
Und die Zielgruppe befindet sich beinahe ausschließlich im Netz. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mitbewerber dort sehr stark und mächtig sind. Das muss also umso mehr ein Grund für die Macherinnen und Macher lokaler und regionaler Medien sein, sich die Frage zu stellen bzw. sich der Frage zu stellen: "Wen erreichen wir noch?" Lassen Sie uns darüber offen und ehrlich diskutieren.
Zwar versuchen die Medienhäuser auf Social Media wie Instagram vor allem ein jüngeres Publikum anzusprechen: Das ist richtig, nur fehlt oft die Kompetenz und Konsequenz, die Möglichkeiten und Grenzen dieser Angebote zu verstehen und zu bearbeiten. Denken Sie auch andere, vielfältige digitale Formate, wie zum Beispiel die eben beschriebenen Podcasts. Mit ihnen kann man sich neue, andere Leser erschließen, die dann durch den Podcast bestenfalls auch auf andere Inhalte der Medienmarke stoßen und diese ebenfalls konsumieren. Eine Diversifikation der digitalen Formate reagiert somit auf eine heterogene potentielle Leserschaft. Nur wer ein breites Produktportfolio hat, wird viele Zielgruppen ansprechen können.

Durch etwas persönlichere Aufbereitung von Themen – Instagram oder auch Newsletter – kann man Leser nochmal neu oder anders an die Produkte binden: Denn so lernen sie die Redakteure näher "kennen" und entwickeln im idealen Fall eine engere Bindung zu den Produkten.

Daneben gibt es weitere Herausforderungen für den Journalismus, die sich verstärkt auf lokaler Eben bemerkbar machen: Lokalredaktionen sind immer wieder Angriffen ausgesetzt, sei es digital oder auf Recherche und das, obwohl sie zuverlässig während der Pandemie ihre regionale Stärke optimal ausspielen konnten: indem sie zum Beispiel nur die aktuellen Zahlen und News rund um Corona aus der Region aufbereitet haben.

Hier kann ich nur mahnen und warnen: Denn ein Angriff auf (Lokal)-Journalismus ist auch ein Angriff auf die Demokratie. Denn vor allem Lokaljournalismus kann und soll sicherstellen, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger eine Meinung von gesellschaftspolitischen Geschehnissen bilden können. Ist diese Informationsgrundlage nicht gegeben oder wird gestört, ist ein demokratisches Miteinander gefährdet. Diskussion ist nur möglich, wenn es einen "common ground" an Fakten gibt, die alle anerkennen.

Das Thema Glaubwürdigkeit ist in diesen Zeiten von größter Bedeutung: Immer wieder erleben Lokaljournalisten Vorwürfe der "Lügenpresse” oder "Fake News”. Sich dem erfolgreich entgegenzustellen fordert von Redaktionen mehr denn je, ihre Arbeitsweise transparenter und zugänglicher zu gestalten, und den Dialog mit den Lesern, besonders den Kritikern, gezielt zu suchen. Egal ob digital oder analog: Die Lokalzeitung kann ihren Lesern eine Stimme geben und beugt so dem Abgleiten in Populismus und Frustration vor.

Lokaljournalisten und Lokaljournalistinnen müssen Kontext liefern zu all den politischen Ereignissen, die sich zurzeit überschlagen. Gleichzeitig muss all denen eine Stimme gegeben werden, denen wir in den vergangenen Jahren nicht genug zugehört haben. In der Krise haben wir viele Ungleichheiten in unseren Gesellschaften wie im Brennglas gesehen. Diese müssen benannt und Lösungen diskutiert werden. Bei politischen Kontroversen wird häufig die "Gegenposition" diskreditiert. Es ist wichtig, dass (Lokal-) Zeitungen Meinungsvielfalt darstellen und so die Demokratie verteidigen.

Gleichzeitig wachsen vielerorts die Wissensresorts im Journalismus, weil die Nachfrage so groß ist. Denken Sie nur an den Corona-Podcast vom NDR oder auch an die vielen tollen datenjournalistischen Stücken in den Onlinemedien. Vermutlich wusste der Durchschnittsbürger noch nie so gut Bescheid über eine Impfung wie in diesem Sommer. Es zeigt sich also, dass viele Menschen bereit sind, sich auf komplexe Themen und Inhalte einzulassen, wenn diese gut aufbereitet werden. Hier liegt eine Chance und Verpflichtung, auch in anderen Themenfeldern wie dem Klimawandel wissenschaftliche Erkenntnisse für viele Menschen verständlich und greifbar zu machen. Denn Wissenschaftsjournalismus wird immer wichtiger für die Demokratie je komplexer unsere Wirklichkeit wird. Nur wenn Bürgerinnen und Bürger verstehen können, welche Daten eine Corona-App sammelt, was Aerosole sind oder welche Vor- und Nachteile eine Impfung für Sie hat, können Sie mitdiskutieren und selbst mündig entscheiden, wie Sie sich verhalten.

Deswegen ist Journalismus so wichtig und Lokaljournalismus umso mehr. Ohne Lokaljournalismus ist demokratische Meinungsbildung und Äußerung NUR sehr eingeschränkt möglich. Wer nicht weiß, was vor Ort passiert, kann dagegen auch nicht protestieren, Änderungsvorschläge einbringen und Themen überhaupt erst diskutieren.

Die bpb engagiert sich seit fast 50 Jahren im und für den Lokaljournalismus und das mit gutem Recht. Damals wie heute gilt unser Motto: Je qualitätsvoller der Lokaljournalismus, desto besser die Demokratie. Die lokalen und regionalen Medien sind einer unserer wichtigsten Partner in der politischen Bildung. Heute und in Zukunft!

Vielen Dank!

– Es gilt das gesprochene Wort –

Fussnoten