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Der politische Kurswechsel in Pakistan | Islam | bpb.de

Islam Editorial Der 11. September: Neues Feindbild Islam? Die vielen Gesichter des Islamismus Einige Thesen zum Islamismus als globaler Herausforderung Islam und islamistische Bewegungen in Zentralasien Der politische Kurswechsel in Pakistan Die Taliban und die Frauenfrage

Der politische Kurswechsel in Pakistan

Andreas Rieck

/ 24 Minuten zu lesen

Nach den Terroranschlägen vom 11. September erklärte Pakistan seine Bereitschaft, den USA "volle Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus" zu gewähren. Dieser Schritt bedeutete eine Zäsur in der pakistanischen Außenpolitik.

Einleitung

Abgesehen von Afghanistan ist bisher kein islamisches Land von den Folgen der Terroranschläge des 11. September so stark betroffen wie Pakistan. Während jedoch das afghanische Talibanregime nach Jahren hinhaltender Ausflüchte den vollen Preis für seine Unterstützung des extremistischen Netzwerks von Bin Laden bezahlt hat, schwenkte die pakistanische Führung rechtzeitig auf einen Kurs "voller Unterstützung der Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" ein. General Pervez Musharraf, seit Oktober 1999 Militärmachthaber ("Chief Executive") und seit Juni 2001 selbst ernannter Präsident Pakistans, ist dafür ein hohes politisches und persönliches Risiko eingegangen. Er hat sich nicht nur den Zorn der zahlenstarken und größtenteils gewaltbereiten islamistischen Szene seines Landes zugezogen, die sich schon seit Jahren immer stärker mit den Taliban und Bin Laden solidarisiert hatte, sondern er hat sich auch gegen den Strom eines auch unter den gemäßigten Pakistanern und den großen säkularistischen Parteien verbreiteten Antiamerikanismus gestellt. Zwar wurde sein Kurswechsel von den USA und ihren Verbündeten mit diplomatischer Aufwertung Pakistans und Zusagen für großzügige neue Kredite und sonstige finanzielle Hilfen honoriert, aber der amerikanische Bombenkrieg in Afghanistan wurde zu einer schweren innenpolitischen Belastung. Mit dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes und dem Vormarsch der Nordallianz hat Pakistan zudem einen - zumindest vorübergehenden - erheblichen Verlust an Einfluss und Prestige in seinem Nachbarland hinnehmen müssen und ist als Bündnispartner des Westens scheinbar weniger wichtig geworden.

Für eine nachhaltige Befriedung Afghanistans wird Pakistans Kooperationsbereitschaft dennoch unerlässlich bleiben. Menschen, Waffen und Waren aller Art passieren seit den achtziger Jahren fast ungehindert die 2 200 Kilometer lange gemeinsame Grenze, woran sich in absehbarer Zeit wenig ändern wird. Es gibt mehr paschtunische Staatsbürger in Pakistan (15-20 Millionen, ohne afghanische Flüchtlinge) als in Afghanistan (geschätzte 10-12 Millionen), und zwischen ihnen besteht ein enges Netzwerk verwandtschaftlicher Beziehungen, kommerzieller Verbindungen (sowohl Schmuggel als auch legaler Handel) und politisch-religiöser Solidarität. Auch nach dem Scheitern des Taliban-Projekts wird Pakistan sein Gewicht im Sinne paschtunischer Interessen in Afghanistan in die Waagschale werfen können.

Im Übrigen hat Pakistan durch eine Befriedung Afghanistans und das in Aussicht gestellte internationale Engagement für den Wiederaufbau sehr viel zu gewinnen: Es bleibt unverzichtbares Transitland für die meisten Hilfs- und Investitionsgüter, und diese Rolle würde noch bedeutender, wenn die Verkehrswege nach Zentralasien über Afghanistan geöffnet und ausgebaut würden. Auch für eine seit 1995 geplante Gas-Pipeline von Turkmenistan nach Pakistan könnten die Arbeiten aufgenommen werden. Die Flüchtlinge in pakistanischen Lagern, deren Zahl in den letzten Monaten wieder auf über zwei Millionen angewachsenen war, könnten größtenteils zurückkehren, und mit wachsender Kaufkraft könnte Afghanistan ein wichtiger Absatzmarkt für pakistanische Waren werden.

Eine Konsolidierung des neuen Kurses von Musharraf, der eine sieben Jahre alte verfehlte Afghanistanpolitik aufgegeben hat, dürfte darüber hinaus auch erhebliche positive Folgen für die pakistanische Innen- und Kaschmirpolitik haben. Unter dem Druck indischer Kriegsdrohungen hat Musharraf Ende 2001 begonnen, die Macht und die Freiräume der islamistischen Parteien einzuschränken, die in den letzten zwei Jahrzehnten fast zu einem Staat im Staate geworden sind. Dies bedeutet eine Abkehr vom bisherigen Konfrontationskurs in Kaschmir nach sich ziehen, wo Pakistans Militär seit 1989 denselben religiösen Parteien und Gruppen eine zentrale Rolle zugewiesen hatte.

I. Die islamistische Szene in Pakistan

In keinem mehrheitlich muslimischen Land genießen religiöse Parteien bis heute so viele Freiheiten wie in Pakistan - und dies schon seit Jahrzehnten. Zwar ist das Land bisher in 26 von den 54 Jahren seit seiner Unabhängigkeit von Militärs regiert worden, aber selbst dies hat einem in der islamischen Welt fast beispiellosen politischen Pluralismus wenig Abbruch getan. Während die politische Macht stets in der Hand einer Klasse von Großgrundbesitzern, Industriellen, hochrangigen Bürokraten und Militärs blieb, die in der Regel verächtlich auf "die Mullahs" herabgeblickt haben, konnten die Geistlichkeit und islamistische Ideologen ihren sozialen und politischen Einfluss kontinuierlich ausbauen. Ihr wichtigster Hebel war und blieb die Staatsideologie, der zufolge Pakistan "für den Islam" geschaffen wurde. Wenn auch die eigentliche Triebkraft der Bewegung, die 1947 zur Teilung des Indischen Subkontinents und Gründung Pakistans führte, die Sorge der säkularisierten muslimischen Elite vor einer Marginalisierung durch die Hindu-Mehrheit war, musste dieselbe politische Elite auch nach der Unabhängigkeit stets dem Ziel der "Verwirklichung des islamischen Staates" Lippendienste erweisen. Der ständige Rückgriff auf den Islam als einigendes Band war allein schon wegen chronischer Spannungen mit der übermächtigen Indischen Union und ethnischer Konflikte innerhalb Pakistans erforderlich.

Schon in den fünfziger Jahren konnte die Geistlichkeit ihren Einfluss unter anderem während der sich acht Jahre lang hinziehenden Auseinandersetzungen bis zur Verabschiedung der ersten Verfassung des Landes geltend machen. In den sechziger Jahren trotzte sie dem Militärmachthaber Ayub Khan Zugeständnisse ab, und bei den Wahlen vom Dezember 1970 - den ersten landesweiten freien Parlamentswahlen - erzielten einige religiöse Parteien immerhin einen Achtungserfolg gegen Dhulfiqar Ali Bhutto. Dies waren die Jama' at-i Islami (JI), eine von religiösen Autodidakten und Intellektuellen dominierte Kaderpartei mit einem zumindest teilweise modernistischen Konzept des "Islamischen Staates", die dem traditionalistischen Volksislam verbundene Jam‘iyat al-Ulama-i Pakistan (JUP) und das Sprachrohr der streng orthodox-hanafitischen Geistlichkeit, die Jam'iyat al-Ulama-i Islam (JUI). Daneben gab es eine Reihe kleinerer islamischer Organisationen, die zwar nicht bei den Wahlen antraten, aber in ihren jeweiligen Nischen völlige Freiheit religiöser und politischer Propaganda genossen.

Bhutto, der mit Slogans vom "Islamischen Sozialismus" die Wahlen in Westpakistan gewonnen hatte und nach der Sezession von Ostpakistan die Macht übernahm, war ein Gegner der islamistischen Parteien, bediente sich aber in seinem Streben nach einer Führungsrolle in der Drittwelt-Bewegung mit Vorliebe (pan)islamischer Rhetorik. Unter seiner Regierung wurde mit der "Exkommunikation" der Ahmadiyya-Sekte 1974 auch das bis dahin größte Zugeständnis an die Islamisten gemacht. Diese waren schon im Frühjahr 1977, als die ersten Wahlen nach 1970 stattfanden, so weit erstarkt, dass sie Bhutto seinen (mutmaßlich durch Wahlfälschung erzielten) überwältigenden Wahlsieg mit anhaltenden Straßenprotesten streitig machen konnten. Monatelange Unruhen, die vor allem von der JI, JUP und JUI geschürt wurden, bereiteten den Weg für den Putsch Zia ul-Haqs und dessen Versuch einer "Islamisierung" Pakistans mit den genannten Parteien als zeitweiligen Juniorpartnern.

Unter dem elf Jahre währenden Regiment Zia ul-Haqs beschleunigte sich der Machtzuwachs islamistischer Parteien und Gruppen. Er förderte die religiöse Lobby zur Stärkung seiner eigenen Legitimität und als Gegengewicht zur Pakistan People's Party (PPP) des 1979 hingerichteten Bhutto. Mit dem Erlass islamisierter Strafgesetze (ab 1979) und der Zakat-Ordonnanz von 1980 erfüllte er einige zentrale Forderungen der sunnitischen Geistlichkeit und schuf ihr neue Pfründe im staatlichen Apparat, während auch ihr ideologischer Einfluss in den Streitkräften ausgeweitet wurde. Der islamistische "Marsch durch die Institutionen" wurde besonders durch einen Erlass von 1982 gefördert, der die Abschlusszertifikate religiöser Schulen (madrasas) mit Magisterabschlüssen in Arabisch und Islamwissenschaft an staatlichen Universitäten gleichsetzte. Zusammen mit der politisch motivierten finanziellen Förderung von madrasas durch arabische Staaten trug dies zu deren rasantem quantitativem Wachstum bei. Nach einer aktuellen Schätzung soll die Zahl der Schüler an heute rund 20 000 solcher madrasas in Pakistan auf fast 3 Millionen (bei einer Gesamtbevölkerung von 140 Millionen) angewachsen sein.

Ein wesentlicher Faktor war ferner der als Jihad titulierte Widerstandskampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan (1979-1989), an dessen Erfolg Pakistan entscheidenden Anteil hatte. Pakistan diente nicht nur als Rückzugs- und Versorgungsraum für die afghanischen Mujahidin und deren arabische und sonstige islamische Hilfstruppen, sondern auch die pakistanischen religiösen Parteien und madrasas entsandten Tausende von Freiwilligen zur Beteiligung an diesem Kampf. Zusammen mit der massiven Zufuhr von Waffen an die Mujahidin über pakistanisches Staatsgebiet - von denen viele im Land blieben - führte dies zu einer rapiden Militarisierung der islamistischen Szene in Pakistan und deren Verquickung mit dem Drogenhandel und anderen Formen der organisierten Kriminalität, was in Pakistan seither als "Kalaschnikow-Kultur" umschrieben wird. Zum Paradebeispiel dieser neuen Form islamistischer Gewalttätigkeit wurde die 1984 gegründete Anjuman-i Sipah-i Sahaba, eine militant-sunnitische Gruppe, deren erklärtes Ziel die religiöse Exkommunikation und politische Entrechtung der schiitischen Minderheit in Pakistan (ca. zehn Prozent der Bevölkerung) ist. Unter den Schiiten entstand bereits 1979 eine stark von der Islamischen Republik Iran beeinflusste neue Organisation (Tahrik-i Nifadh-i Fiqh-i Ja'fariya, TNFJ), die sich ihrerseits ab 1984 radikalisierte, allerdings in Opposition zum Regime von Zia ul-Haq. Saudi-Arabien, der Irak und andere arabische Staaten unterstützten seinerzeit die sunnitischen religiösen Parteien und deren Netzwerk von madrasas nicht zuletzt zur Bekämpfung des iranischen Einflusses in Pakistan.

Nach dem Tod Zia ul-Haqs und der Rückkehr zu freien Wahlen Ende 1988 schlossen sich JI, JUI, JUP und andere islamistische Gruppen zunächst mit der Pakistan Muslim League (PML) von Nawaz Sharif zu einer so genannten Islamisch-Demokratischen Allianz (IDA) zusammen. Die IDA gewann 1988 die Provinzwahlen im Pand-schab und 1990, nach der vorzeitigen Amtsenthebung Benazir Bhuttos, auch landesweit. Sie zerfiel aber schon 1991/92 wegen Unzufriedenheit der religiösen Parteien mit Sharifs halbherzigem "Shariat Bill" und seiner proamerikanischen Außenpolitik. Bei den erneut vorgezogenen Wahlen von 1993 traten die islamistischen Parteien in drei miteinander rivalisierenden Allianzen ohne säkularistische Bündnispartner an und gewannen nur neun von 217 Mandaten in der Nationalversammlung. Da das in Pakistan praktizierte Mehrheitswahlrecht ihre Chancen zusätzlich einschränkte, boykottierten JI und JUI die Wahlen vom Februar 1997 ganz und erklärten stattdessen unverhohlen ihre Absicht, mit Hilfe einer "islamischen Revolution" an die Macht zu gelangen.

Trotz ihres schlechten Abschneidens bei Wahlen gewannen die islamistischen Parteien Pakistans in den neunziger Jahren weiterhin an Macht, vor allem durch ihre Fähigkeit, sukzessive Regierungen mit Agitation auf den Straßen unter Druck zu setzen. Die JI bediente sich dabei zusehends populistischer Propaganda gegen die "Ausbeuter" und "Feudalisten" der herrschenden politischen Klasse, während die JUI in den madrasa-Studenten eine ständig wachsende, ideologisch indoktrinierte Gefolgschaft fand. Tausende solcher Studenten und andere pakistanische Anhänger der JUI beteiligten sich seit Anfang 1995 auch alljährlich an den Feldzügen der Taliban im afghanischen Bürgerkrieg. Der schnelle Aufstieg der Taliban zur Vormacht in Afghanistan erweckte Begehrlichkeiten bei ihren pakistanischen Gesinnungsgenossen, die sogar gleichnamige Nachahmerorganisationen in Teilen der North West Frontier Province (NWFP) bildeten.

Ein wichtiges Thema für politische Agitation fanden Pakistans Islamisten in den neunziger Jahren auch im so genannten Kaschmir-Jihad, der Ende 1989, ein halbes Jahr nach dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan, eingesetzt hatte. In dem zwischen Pakistan und Indien seit der Unabhängigkeit umstrittenen Kaschmir war es trotz zweier Kriege um dessen Zughörigkeit (1947/48 und 1965) bis dahin relativ ruhig geblieben. Die erste Organisation, die 1989 mit Anschlägen im indisch kontrollierten Srinagar begann, war die säkularistische Jammu and Kashmir Liberation Front (JKLF), die jedoch bald von Ablegern der islamistischen Parteien Pakistans in den Hintergrund gedrängt wurde, darunter als wichtigste die mit der JI liierte Hizb ul-Mujahidin, , die der JUI nahestehende Harakat ul-Mujahidin, deren Ableger Jaish-i Muhammad und die vom wahhabitischen Markaz ad-Da'wa wal-Irshad aufgestellte Gruppe Lashkar-i Tayyiba . Wie schon im "Afghanistan-Jihad" der achtziger Jahre spielte Pakistans Militär über seinen Geheimdienst ISI eine zentrale Rolle bei der Organisation sowie finanziellen und logistischen Förderung des "Kaschmir-Jihad". Diese Politik hat zwar Indiens Truppen in Kaschmir von Jahr zu Jahr größerem Druck ausgesetzt, hat aber auch den islamistischen Parteien im eigenen Land weitere Freiräume und die Chance zur Mobilisierung zusätzlicher bewaffneter Gefolgschaft verschafft. Deren Führer haben in den letzen Jahren oft genug unverblümt ausgesprochen, dass sie den "Kaschmir-Jihad" als Vehikel einer späteren Machtübernahme im eigenen Land ansehen.

Eine weitere negative Folge der "Jihad-Kultur" in Pakistan war der rasante Anstieg religiös motivierter Gewalt, besonders zwischen Sunniten und Schiiten, in den neunziger Jahren. Eine Reihe der gefährlichsten terroristischen Gewalttäter des "sectarianism" haben dabei nach Bedarf Zuflucht im Machtbereich der Taliban in Afghanistan gefunden, wo bis zum September 2001 auch mehrere Ausbildungslager für die in Kaschmir operierenden Guerillas bestanden haben. Die zunehmende Verquickung der drei letztgenannten Organisationen des "Kaschmir-Jihad" sowohl mit dem Taliban-Regime als auch mit dem Netzwerk von Usama Bin Laden wurde ab 1998 zu einer erheblichen innen- und außenpolitischen Belastung für Pakistan.

II. Pakistans Entfremdungvon den USA 1990-2000

Die jahrzehntelange Allianz Pakistans mit den USA (anfangs im Rahmen des Baghdad-Pakts und später der CENTO) erreichte ihren Höhepunkt in den achtziger Jahren, als das Land eine unverzichtbare Rolle im Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan spielte. Schon 1990, ein Jahr nach dem sowjetischen Abzug, nahmen die USA jedoch Pakistans seit den siebziger Jahren bestehendes Programm zur Entwicklung von Atomwaffen zum Anlass, um Sanktionen gegen das Land zu verhängen. Die Auslieferung bereits bezahlter F-16-Kampfflugzeuge wurde gestoppt und amerikanische Wirtschaftshilfe stark eingeschränkt, während die USA den Druck auf Pakistan verstärkten, sein Atomwaffenprogramm auf dem Stand von 1989 einzufrieren und - zusammen mit Indien - den internationalen Atomteststopvertrag zu unterzeichnen. Zwar hatte Indien schon 1974 erste Testexplosionen durchgeführt, aber es war vor allem die Sorge vor einer "islamischen Bombe", die amerikanische Gegenmaßnahmen auf den Plan rief. Anhänger von Dhulfiqar Ali Bhutto, der das Schlagwort von der "islamischen Bombe" geprägt und angekündigt hatte, Pakistan würde die Bombe bauen, selbst wenn seine Bürger dafür "Gras essen" müssten, kolportierten nach seinem Tod eine angebliche Drohung Henry Kissingers, man werde an ihm "ein furchtbares Exempel statuieren".

Während des Kriegs der von den USA geführten internationalen Allianz gegen den Irak Anfang 1991 erlebte Pakistan eine bis dahin beispiellose Welle von antiamerikanischen Demonstrationen, die von den islamistischen Parteien organisiert wurden. Zwar hatte die Regierung Sharif Truppen nach Saudi-Arabien entsandt und hielt loyal zur antiirakischen Koalition, aber selbst der damalige Generalstabschef Mirza Aslam Beg beschuldigte die USA, "die Tragödie von Karbala erneut zu inszenieren" . Die Begeisterung der pakistanischen Straße für Saddam Hussein flaute nach dessen Niederlage ab, aber antiamerikanische Ressentiments waren seit 1990 keinesfalls mehr auf Sympathisanten der islamistischen Parteien beschränkt, sondern setzten sich auch unter der schweigenden Mehrheit der Pakistaner fest.

Während die USA an Rückhalt in der pakistanischen Öffentlichkeit verloren, blieben die Führer der PPP und PML, die zwischen 1988 und 1999 jeweils zweimal die Regierung stellten, unter starkem amerikanischem Einfluss, nicht zuletzt wegen ihrer Abhängigkeit von alljährlichen neuen Krediten des Internationalen Währungsfonds. Benazir Bhutto zeigte sich während ihrer zweiten Amtszeit als Ministerpräsidentin (1993-1996) besonders kooperativ, konnte aber etliche von den USA gewünschte Maßnahmen nicht durchsetzen. So scheiterten eine Reform des Blasphemiegesetzes (1994) und angekündigte Maßnahmen zur staatlichen Kontrolle der madrasas (Anfang 1995) am Widerstand der religiösen Lobby. Nawaz Sharif erwies im Gegensatz zu Benazir Bhutto den Islamisten häufig Lippenbekenntnisse, betrieb aber eine pragmatische, an wirtschaftlichen Interessen orientierte Politik. So führte er nach seinem überwältigenden Wahlsieg 1997 sogar wieder den Sonntag anstelle des Freitag als wöchentlichen Feiertag ein. Als jedoch im Mai 1998 Indien erneut Atomtestexplosionen durchführte, konnte aller Druck des US-Präsidenten Clinton auf Sharif diesen nicht davon abhalten, innerhalb von 17 Tagen mit pakistanischen Tests nachzuziehen. Dies hatte neue Sanktionen zur Folge, gleichzeitig zeigte sich jedoch auch, dass die USA Pakistan keinesfalls "fallen lassen" konnten. Gerade dessen neuer Status als islamische Atommacht zwang die USA zu größerer Vorsicht, um nicht einem Abgleiten des Landes in den radikalen Islamismus Vorschub zu leisten.

Seit die nukleare Bewaffnung der Rivalen Indien und Pakistan zur vollendeten Tatsache geworden ist, haben die USA ein großes Interesse, deren Konflikt um Kaschmir zu entschärfen. Ein ermutigender Schritt in diesem Sinn war der Besuch des indischen Ministerpräsidenten Vajpayee in Lahore und die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung mit Sharif im Februar 1999. Er wurde jedoch von Pakistans Militärführung konterkariert, die wenig später Dutzende von der indischen Armee im Winter geräumte Stellungen in den Bergen entlang der Line of Control im Kargil-Distrikt besetzen ließ. Sie konnten von Indien auch in wochenlangen schweren Kämpfen ab Mai 1999 nicht zurückerobert werden. Angesichts einer drohenden Eskalation des Grenzkriegs zitierte Clinton Anfang Juli 1999 Nawaz Sharif nach Washington, wo ihm eine Erklärung abgenötigt wurde, dass Pakistan auf einen Abzug der "kaschmirischen Mujahidin" (tatsächlich handelte es sich um reguläre pakistanische Gebirgstruppen) aus den strategischen Stellungen hinwirken werde.

Das Scheitern der so genannten "Operation Kargil" wurde Sharif von den Islamisten als Verrat und "Kuschen vor den USA" angelastet, und gegenseitige Schuldzuweisungen zerrütteten seine Beziehungen zur Militärführung. Einen sich abzeichnenden Putsch suchte Sharif noch durch weitere Zugeständnisse an die USA abzuwenden, unter anderem mit grünem Licht für ein Kommando-Unternehmen gegen Bin Laden in Afghanistan und mit scharfen Stellungnahmen gegen das Taliban-Regime. Tatsächlich warnte das US-Außenministerium im September 1999 vor einem Regierungswechsel in Pakistan "mit unkonstitutionellen Mitteln", wenn auch vergeblich.

Nach dem Putsch vom 12. Oktober 1999 gab es in der US-Administration unterschiedliche Meinungen über die angemessene Haltung zum neuen Machthaber Musharraf, aber Clinton blieb auf Distanz. Im März 2000 war er nahe daran, Pakistan bei seiner seit langem geplanten Südasienreise zu schneiden. Der Besuch wurde dann auf wenige Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit reduziert, und anstelle einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Musharraf bestand Clinton auf einer Live-Ansprache im pakistanischen Fernsehen, die fast den Charakter einer Standpauke hatte. Clinton warnte Pakistan eindringlich vor einem selbstzerstörerischen Konfrontationskurs in Kaschmir und machte keinerlei Hoffnungen auf eine amerikanische Vermittlerrolle zwischen Pakistan und Indien, solange nicht beide Staaten dies wünschten. Zuvor hatte er einen einwöchigen Staatsbesuch in Indien in betont herzlicher Atmosphäre absolviert.

Die Annäherung zwischen den USA und Indien seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hat sich in den späten neunziger Jahren beschleunigt. Beide Staaten entdeckten eine Reihe von Gemeinsamkeiten, allen voran die Sorge vor einem wachsenden islamischen Extremismus. Als dessen neues Zentrum identifizierte der Annual Report on International Terrorism des US-Außenministeriums im Mai 2000 Südasien bzw. speziell Afghanistan und Kaschmir. Einzig politische Opportunität verhinderte, dass auch Pakistan auf die Liste der "Förderstaaten des Terrorismus" gesetzt wurde. Pakistans Versuche, dem afghanischen Taliban-Regime internationale Anerkennung zu verschaffen, wurden jedoch immer aussichtsloser, je mehr seit den Anschlägen in Ostafrika vom August 1998 das Problem Bin Laden die amerikanische Afghanistanpolitik dominierte. So setzten die USA Ende 1999 UNO-Sanktionen gegen die Taliban durch, die Ende 2000 noch wesentlich verschärft wurden. Gleichzeitig erhöhten sie den Druck auf Pakistan, seinen Einfluss bei den Taliban für eine Auslieferung Bin Ladens geltend zu machen.

III. Musharraf und die Islamisten,Oktober 1999 - August 2001

Nach seiner Machtübernahme im Oktober 1999 rechtfertigte Musharraf diese in erster Linie mit einem drohenden wirtschaftlichen Kollaps Pakistans und der Korrumpierung seiner staatlichen Institutionen, die Sharif zu verantworten habe. Anders als Zia ul-Haq verzichtete er auf jede Anbiederung an die religiöse Lobby, vielmehr beunruhigte er diese frühzeitig, indem er Kemal Atatürk, der für Pakistans Islamisten geradezu ein rotes Tuch darstellt, als eines seiner Vorbilder nannte. Im April 2000 verkündete Musharraf einige liberale Leitlinien zur Menschenrechtspolitik, unter anderem eine Reform des Blasphemiegesetzes, die höhere Hürden für Anklagen wegen Blasphemie setzen sollte. Die von Musharraf eingesetzte Zivilregierung kündigte bis zum Frühjahr 2000 noch eine Reihe weiterer Maßnahmen an, welche die Interessen der islamistischen Parteien und ihrer Förderer berührten, wie staatliche Aufsicht über die madrasas und Diversifizierung ihrer Lehrpläne (um den Absolventen mehr Berufschancen zu eröffnen), die Unterbindung von militärischer Ausbildung an madrasas, Verbote von in militanten "sectarianism" verwickelten Organisationen und eine umfassende Entwaffnung der Bevölkerung.

Indem die Regierung gleichzeitig erstmals energische Schritte gegen Steuerhinterziehung und den Warenschmuggel über die afghanische Grenze ergriff, provozierte sie gemeinsame Gegenreaktionen der islamistischen Parteien und der mit diesen liierten Händler- und Schmugglerlobby, ein Bündnis, das schon 1977 Bhutto zu Fall gebracht hatte. Nachdem die Islamisten mit Streiks und Demonstrationen einen Rückzieher Musharrafs in Sachen Blasphemiegesetz erreicht hatten, stellten sie im Mai 2000 fünf weitere Forderungen: (1) die Einbeziehung spezieller islamischer Bestimmungen der Verfassung von 1973 in die im Oktober 1999 von Musharraf erlassene Provisional Constitutional Order; (2) die Beibehaltung des getrennten Wahlverfahrens für Muslime und Nichtmuslime bei den angekündigten Distrikt- und Kommunalwahlen; (3) die Wiedereinführung des Freitags als wöchentlicher Feiertag; (4) die Maßnahmen gegen "antiislamische Aktivitäten" von NGOs; (5) die Garantien der Regierung, dass die Freiräume der madrasas und der so genannten Jihadi-Gruppen nicht angetastet würden.

Die beiden erstgenannten Forderungen des MYC wurden in den folgenden Monaten erfüllt. Im Übrigen war Musharrafs Regierung zwar nicht bereit, gegen Hunderte überwiegend vom westlichen Ausland finanzierte NGOs vorzugehen, die von den Islamisten einer "Verschwörung gegen den Islam" bezichtigt wurden, weil sie sich z. B. für die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten einsetzten, aber auch ihre ersten Schritte zur Reform und Kontrolle der madrasas und Entwaffnung der Bevölkerung zeigten nur bescheidene Resultate. So verweigerten die Direktoren der meisten madrasas bereits das Ausfüllen von Fragebögen über ihre Finanzierungsquellen, die im Herbst 2000 verteilt wurden. Die geplante Einsammlung von Handfeuerwaffen kam in der paschtunisch besiedelten NWFP nicht über ein paar eher symbolische Erfolge hinaus, und die Jihadi-Gruppen konnten ungebremst Freiwillige für den Kampf in Kaschmir rekrutieren und militärisch ausbilden.

Die Führer aller maßgeblichen islamistischen Parteien verweigerten auch die Zustimmung zu Musharrafs innenpolitischem Vorzeigeprojekt, dem so genannten Devolution of Power Plan. Stattdessen polemisierten sie zusehends selbstbewusster gegen Musharrafs "illegitimes Regime" und forderten noch energischer als PML, PPP und andere politische Parteien eine sofortige Rückkehr zu freien Wahlen. Der JI-Führer Qazi Husain Ahmad ging so weit, die so genannten Jihadi-Generale - d. h. die mit den Islamisten sympathisierenden Hardliner innerhalb der Militärführung - aufzufordern, Musharraf abzusetzen, falls er unter dem Druck der USA zu große Zugeständnisse hinsichtlich Kaschmirs machen würde. Eine neu gegründete Tanzim ul-Ikhwan, die sich vor allem aus ehemaligen Angehörigen der Armee rekrutierte, drohte gar "mit 300 000 Mann die Hauptstadt zu stürmen", falls nicht bis zum 24. Dezember 2000 in ganz Pakistan die Shari'a implementiert würde.

Während Musharraf solche Ausfälle seitens der Islamisten ungeahndet ließ, konsolidierte er seine innenpolitische Position mit den Kommunal- und Distriktwahlen, die ab Januar 2001 nach dem neuen System des Devolution of Power Plan durchgeführt wurden. In einem Interview Ende März 2001 legte er ausführlich seine politischen Ambitionen für die Zeit nach dem Oktober 2002, der vom Supreme Court im Mai 2000 festgesetzten Frist für die Rückkehr zu einer gewählten Zivilregierung in Pakistan, dar. Spätestens zu diesem Zeitpunkt bestand kaum noch Zweifel an seinem Vorhaben, sich selbst zum Staatspräsidenten zu ernennen, das er am 20. Juni 2001 in die Tat umsetzte. Den unmittelbaren Anlass hatte seine Einladung durch den indischen Ministerpräsidenten geliefert, die damit für die Gastgeber protokollarisch leichter wurde. Musharraf erreichte auf dem Gipfeltreffen in Delhi und Agra (14.-16. Juli) zwar keinerlei indische Konzessionen bezüglich Kaschmirs, aber allein schon seine "Rehabilitierung" als Gesprächspartner und die damit verbundene diplomatische Aufwertung waren aus seiner Perspektive ein großer Erfolg.

Schon vor diesen Ereignissen redete Musharraf den religiösen Parteien in einer Weise ins Gewissen, wie es seit Ayub Khan kein pakistanischer führender Politiker mehr gewagt hatte. Bei der jährlichen "National Seerat Conference" anlässlich des Prophetengeburtstags (5. Juni 2001) überraschte er die anwesenden Würdenträger mit beißender Selbstkritik anstelle salbungsvoller Worte. So stellte er dem eigenen Bild vom Islam als perfektem Gesellschaftsmodell und Religion der Toleranz die tatsächliche Rückständigkeit und wirtschaftliche Schwäche Pakistans und die in seiner Gesellschaft grassierende Korruption, Heuchelei und Gewalttätigkeit gegenüber. Pakistan solle sich zuerst bemühen, mit dem Rest der Welt Schritt zu halten, bevor es "anderen seinen Willen aufzwingen" könne; bloße militärische Macht ohne wirtschaftliche Basis könne nichts erreichen. Musharraf griff auch direkt die islamistischen Hardliner an, die mit ihren großspurigen antiindischen Parolen nur die Situation der indischen Muslime verschlechtern würden, und beschuldigte sie, für den "Kaschmir-Jihad" gesammelte Spenden in die eigenen Taschen zu stecken. Seine Absicht, sich nicht länger von muslimischen Extremisten Pakistans die Kaschmirpolitik diktieren zu lassen, war schon im Februar 2001 deutlich geworden, als der Innenminister das Sammeln von Spenden für den Jihad auf öffentlichen Straßen und Plätzen verbot.

IV. Der 11. Septemberals Chance für Musharraf

Unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington machte die amerikanische der pakistanischen Regierung unmissverständlich klar, dass in Sachen Bin Laden und Afghanistan fortan "andere Spielregeln gelten" würden. Die seit Jahren vorgebrachten Ausflüchte, Afghanistan sei ein souveränes Land und Pakistan habe nur begrenzten Einfluss auf das Talibanregime, würden nicht länger hingenommen. Vielmehr müsse Pakistan sich schnell entscheiden, ob es in dem angekündigten weltweiten Kampf gegen den Terrorismus auf der Seite der USA stehen wolle oder auf der Gegenseite. Konkret verlangten die USA Zustimmung zur Nutzung des pakistanischen Luftraums, logistische Hilfe und Geheimdienstinformationen über das Netzwerk Bin Ladens in Afghanistan.

Musharraf fand auf diese Herausforderung überraschend schnell eine Antwort. Schon am 13. September versicherte er der US-Botschafterin Chamberlain "volle Unterstützung", die bei einer Sitzung seines Kabinetts und des Nationalen Sicherheitsrats am 15. September bekräftigt wurde. Mit der Entsendung einer vom ISI-Chef General Mahmud Ahmad geführten Delegation nach Qandahar (17.-18. September) wurde noch ein letzter Versuch unternommen, das Talibanregime zum Einlenken zu bewegen und so vor einem amerikanischen Angriff zu bewahren, aber nach dessen Scheitern waren für Musharraf die Würfel gefallen. In einer Fernsehansprache vom 19. September rechtfertigte er seine Entscheidung, die Taliban ihrem Schicksal zu überlassen, mit einer "drohenden Katastrophe für Pakistan", dessen nationale Interessen Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müssten. Indien, das den USA sofort jegliche Hilfe angeboten hatte, suche von der Situation zu profitieren, und selbst Angriffe auf Pakistans "strategische Einrichtungen" seien nicht auszuschließen. Andererseits habe Pakistan jetzt eine Chance, "wieder als verantwortliche und ehrenhafte Nation dazustehen und seine Probleme zu verringern". Die Mehrheit der Bevölkerung würde einen rationalen Kurs unterstützen, während nur eine Minderheit "emotional reagieren" würde oder die Situation missbrauchen wolle.

Die Entscheidung Musharrafs war vor allem ein Zeichen von großem persönlichen Mut, aber auch von einer realistischen Einschätzung der Chancen und Risiken. Noch im Mai 2000 hatte er erklärt, die Anerkennung des Talibanregimes (seit 1997) sei im Interesse der nationalen Sicherheit Pakistans, das "die Paschtunen auf seiner Seite haben müsse" . Seit dem 11. September und der Weigerung der Taliban, die Forderungen der USA zu erfüllen, war ihm klar, dass deren Regime nicht mehr zu retten sei, und er sprach dies auch frühzeitig offen aus . Es wurde zwar vermutet, dass Teile des ISI sich nicht an Musharrafs neue Direktiven gehalten und die Taliban weiterhin mit Waffen und Munition versorgt haben, aber mit der Entlassung bzw. Versetzung einiger als Hardliner geltenden Generale konsolidierte er seine Position in den Streitkräften. Gleichzeitig begannen pakistanische Stellen mit Hilfestellung für eine sich heranbildende paschtunische Alternative zu den Taliban.

Wie sich inzwischen gezeigt hat, fielen die Reaktionen der pakistanischen Islamisten schwächer aus als befürchtet. Sie konnten zwar einige Tausend zusätzliche Freiwillige für den bewaffneten Kampf auf Seiten der Taliban mobilisieren, waren aber nicht in der Lage, Musharrafs Regime ernstlich herauszufordern. Zu Protest- und Solidaritätsdemonstrationen brachten sie selbst nach Beginn des amerikanischen Bombenkriegs nie mehr als 25 000 Menschen in einer Stadt auf die Straße (davon viele Halbwüchsige), und einige ihrer Führer konnten ohne große Komplikationen unter Hausarrest gestellt werden. Musharraf brauchte nicht einmal die Streitkräfte einzusetzen, um die Lage unter Kontrolle zu halten, sondern konnte sich mit einem für pakistanische Verhältnisse mäßigen Polizeiaufgebot begnügen.

Tatsächlich hat Musharraf genau das getan, was die liberale Presse in Pakistan seit einem Jahrzehnt gefordert hat, nämlich "den Bluff der Kleriker auffliegen lassen". Die radikalen Islamisten haben durch den unrühmlichen Zusammenbruch der Taliban nicht nur ihre größte "Inspiration" der letzten Jahre verloren, sondern sich selbst als "Papiertiger" entlarvt. Dies wird nicht ohne Konsequenzen für ihre Freiräume und für die politische Kultur in Pakistan bleiben. So brachte die Regierung schon Anfang Dezember ihre seit langem geplanten Maßnahmen zur Modernisierung und Kontrolle der madrasas erneut auf die Tagesordnung. Mit der Verhaftung der Führer und Hunderter von Mitglieder der "Jihadi-Gruppen" Lashkar-i Tayyiba und Jaish-i Muhammad seit Ende Dezember sind weitere Schritte zur Bekämpfung des radikalen Islamismus vollzogen worden. Sie erfolgten zwar unter starkem Druck Indiens, sind aber schon vor dem Anschlag vom 13. Dezember in New Delhi erwartet worden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 1958-1969 Ayub Khan; 1969-1971 Yahya Khan; 1977-1988 Zia ul-Haq; seit Ende 1999 Musharraf.

  2. Diese führten 1971 zur Sezession des früheren Ostpakistan als Bangladesh. Im verbliebenen (West-)Pakistan gehören Rivalitäten zwischen den dominierenden Pandschabis und den Volksgruppen der Sindhis, Paschtunen, Muhajirs (Zuwanderer aus Indien) und weiteren ethnischen Minderheiten zum politischen Alltag.

  3. Vgl. Leonard Binder, Religion and Politics in Pakistan, Berkeley 1961; Shaukat Ali, Pakistan. A Religio-Political Study, Islamabad 1997, S. 1-50.

  4. Vgl. S. Ali, ebd., S. 77-80.

  5. Sie wurde 1941 von dem Journalisten Abul A‘la Maududi gegründet. Vgl. Seyyed Vali Reza Nasr, The Vanguard of the Islamic Revolution: The Jama‘at-i Islami of Pakistan, Berkeley 1994; ders., Maududi and the Making of Islamic Revivalism, Oxford 1996.

  6. Vgl. Mujeeb Ahmad, Jam"iyat Ulama-i Pakistan 1948-1979, Islamabad 1993.

  7. Vgl. Sayid A. S. Pirzada, The Politics of the Jamiat Ulema-i-Islam Pakistan 1971-1977, Karachi 2000.

  8. U.a. die Jam"iyat-i Ahl-i hadith, Sprachrohr der im 19. Jahrhundert entstandenen Sekte der Ahl-i hadith (dem wahhabitischen Islam nahestehend), und die Majlis-i Tahaffuz-i Khatm-i Nubuwwat, ein bereits 1952 zur Bekämpfung der Ahmadiyya-Sekte gegründetes Bündnis radikal-sunnitischer Gruppen und Kleriker.

  9. Vgl. S. Ali (Anm. 3), S. 133-137, 152-154.

  10. Millenaristische Bewegung, gegründet 1889 im Pandschab von Mirza Ghulam Ahmad (1835-1908). Wird wegen dessen Verehrung als Prophet von den meisten Muslimen als häretisch abgelehnt. Vgl. Kleines Islam-Lexikon, München 2001.

  11. Vgl. Munir D. Ahmed, Ausschluss der Ahmadiyya aus dem Islam. Eine umstrittene Entscheidung des pakistanischen Parlaments, in: Orient, 16 (1975) 1, S. 112-143.

  12. Bhutto war wenige Monate nach Zias Putsch festgenommen und des Mordes an einem oppositionellen Politiker angeklagt worden; vgl. Syed Afzal Haidar, The Bhutto Trial, 2 Bde., Lahore 1996.

  13. Vgl. S. Jamal Malik, Islamisierung in Pakistan 1977-84. Untersuchungen zur Auflösung autochtoner Strukturen, Stuttgart 1989; Charles H. Kennedy, Islamization of Laws and Economy. Case Studies on Pakistan, Islamabad 1996.

  14. Vgl. S. J. Malik, ebd., S. 250-264.

  15. Vgl. Newsline (Karachi), November 2001, S. 42-44.

  16. Eine gute Insider-Darstellung der Rolle des pakistanischen Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence) bei der Zuteilung von Waffen an die Mujahidin geben Mohammad Yousaf/Mark Adkin, The Bear Trap. Afghanistans Untold Story, Lahore 1992.

  17. Vgl. Muhammad Qasim Zaman, Sectarianism in Pakistan: The Radicalization of Shi‘i and Sunni Identities, in: Modern Asian Studies, 32 (1998) 3, S. 689-716. Die TNFJ schwenkte seit Ende 1988 auf einen gemäßigten Kurs ein und benannte sich 1992 in Tahrik-i Ja‘fariya Pakistan (TJP) um. Als radikales schiitisches Pendant zur Sipah-i Sahaba entstand im selben Jahr die Organisation Sipah-i Muhammad.

  18. Der im Mai 1991 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete Enforcement of Sharia Act sah eine Erhebung der islamischen Sharia zum "obersten Gesetz des Landes" vor, blieb aber ohne nennenswerte Konsequenzen. Wichtige Bereiche wie die parlamentarische Demokratie, die verfassungsmäßigen Rechte der Frauen und die Wirtschaftspolitik waren von seiner Wirksamkeit ausdrücklich ausgenommen.

  19. Vgl. I. A. Rehman, Rout of the Mullahs, in: Newsline (Karachi), Oktober 1993, S. 44-46.

  20. Die JKLF wurde 1977 von dem pakistanischen Staatsbürger Amanullah Khan in London gegründet und ab 1986 einige Jahre lang vom ISI bewaffnet und militärisch ausgebildet. Sie tritt für einen von Indien und Pakistan unabhängigen Staat Kaschmir ein.

  21. Die Hizb ul-Mujahidin wurde 1989 gegründet und fordert die Angliederung ganz Kaschmirs an Pakistan. Bis heute gilt sie als die Widerstandsgruppe mit dem größten Rückhalt in der kaschmirischen Bevölkerung.

  22. Die Harakat ul-Mujahidin organisierte bereits in den achtziger Jahren die Entsendung pakistanischer und arabischer freiwilliger Kämpfer nach Afghanistan. In den neunziger Jahren wurde sie zwischenzeitlich in Harakat ul-Ansar umbenannt, nahm aber wieder den alten Namen an, nachdem die USA die Harakat ul-Ansar 1998 auf die schwarze Liste terroristischer Organisationen gesetzt hatten.

  23. Jaish-i Muhammad wurde im Frühjahr 2000 von dem Pakistaner Mas‘ud Azhar gegründet, der nach sechsjähriger Haft in Indien Ende 1999 durch die Entführung einer Maschine der Indian Airlines nach Qandahar freigepresst worden war.

  24. Die 1993 gegründete Lashkar-i Tayyiba rekrutiert überwiegend Freiwillige aus dem pakistanischen Pandschab und hat sich in den letzten Jahren durch besondere Brutalität, aber auch durch den Wagemut ihrer Operationen in Kaschmir und selbst in Delhi ausgezeichnet. Das erklärte Ziel der Organisation ist nicht nur die "Befreiung" Kaschmirs, sondern die Wiedererrichtung islamischer Herrschaft in ganz Indien.

  25. Hierbei handelte es sich überwiegend um Mordanschläge und andere terroristische Akte, die seit 1990 bis heute rund Tausend Tote gefordert haben; vgl. M. Q. Zaman (Anm 17).

  26. Vgl. Pakistans Bin Laden Imbroglio, in: Herald (Karachi), März 2001, S. 30-35.

  27. CENTO: Central Treaty Organization - Verteidigungsbündnis der Türkei, des Iran und Pakistans mit den USA, 1958-1979.

  28. Dawn (Karachi), 31. Januar 1991. (Beim heutigen irakischen Ort Karbala starb 680 n. Chr. der von den Schiiten als Imam und "größter aller Märtyrer" verehrte Husain Ibn Ali mit seinen Getreuen im Kampf gegen die Armee des Kalifen Yazid).

  29. Das seit britischer Zeit bestehende Blasphemiegesetz (Sektion 295 des Pakistan Penal Code) war unter der Herrschaft von Zia ul-Haq wiederholt erweitert und verschärft worden und sieht seit 1991 obligatorisch die Todesstrafe für die Beleidigung des Propheten Muhammad vor. Dies hat zu einer Reihe von falschen Anklagen wegen Blasphemie geführt. Vgl. Aamer Ahmed Khan, The Blasphemy Law. The Bigots Charter?, in: Herald (Karachi), Mai 1994, S. 45 f.

  30. Die Einführung des Freitags als wöchentlicher Feiertag war im Mai 1977 eine der letzten Amtshandlungen von Dhulfiqar Ali Bhutto gewesen, um die islamistische Opposition zu beschwichtigen.

  31. Vgl. The Great Kargil Debacle, in: Newsline (Karachi), Juli 1999, S. 20-40.

  32. Vgl. Nasim Zehra, Sharif agreed to US plan, in: Gulf News vom 1. Juni 2000.

  33. Vgl. Dawn (Karachi) vom 23. April 2000.

  34. Vgl. Andreas Rieck, Pakistan 2000, in: Thomas Koszinowski/Hanspeter Mattes (Hrsg.), Nahost Jahrbuch 2000, Opladen 2001, S. 132-140, hier S. 135.

  35. Vgl. An Unholy Alliance?, in: Newsline (Karachi), Juni 2000, S. 18-27.

  36. Vgl. A. Rieck (Anm. 34), S. 135.

  37. Vgl. die Reportage "Inside Jihad", in: Newsline (Karachi), Februar 2001, S. 20-34.

  38. Ein im August 2000 verabschiedetes Gesetzeswerk, das die Macht der zivilen Bürokratie zugunsten gewählter so genannter Distriktregierungen beschneidet. Wahlen nach dem neuen System fanden zwischen Januar und Juli 2001 in allen 106 Distrikten Pakistans statt.

  39. Vgl. Dawn (Karachi) vom 21. Dezember 2000. Der Anlass waren positive Reaktionen Musharrafs auf einen von Indiens Ministerpräsident Vajpayee verkündeten Waffenstillstand in Kaschmir und die Aufnahme von Verhandlungen hinter den Kulissen; vgl. A. Rieck (Anm. 34), S. 137.

  40. Vgl. Nadeem Iqbal, The Invisible Army?, in: Newsline (Karachi), Januar 2001, S. 54-56.

  41. Vgl. Herald (Karachi), April 2001, S. 52-61.

  42. Vgl. Zaffar Abbas, Pakistans New President, in: ebd., S. 62-65.

  43. Vgl. ders., Man on a mission?, in: Herald (Karachi), Juli 2001, S. 34. Vgl. auch den Kommentar CE‘s plain speaking, in: Dawn (Karachi) vom 8. Juni 2001.

  44. Dawn vom 20. September 2001.

  45. Dawn vom 26. Mai 2000.

  46. Nämlich in einem BBC-Interview am 1. Oktober, noch eine Woche vor Beginn der amerikanischen Angriffe; vgl. Dawn vom 2. Oktober 2001.

  47. Betroffen waren der ISI-Chef Mahmud Ahmad und die Generäle Mohammad Aziz und Muzaffar Uthmani, zwei wichtige Mitputschisten vom Oktober 1999; vgl. Zahid Hussain, General Reshuffle, in: Newsline, Oktober 2001, S. 24.

  48. Vgl. Titelgeschichte "End of Jihad", in: Herald, Dezember 2001.

Dr. phil., geb. 1954; 1976-1983 Studium der Islamwissenschaft, Politologie und Iranistik; 1984-1987 Referent am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) in Beirut (Libanon); seit 1989 am Deutschen Orient-Institut Hamburg.

Anschrift: Deutsches Orient-Institut, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg.
E-Mail: arieck@doihh.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zum Libanon, Iran, Pakistan, Afghanistan und allgemein zum politischen Islam.