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Ungenutzte Potenziale? Zur Relevanz von Regional- und Lokaljournalismus

Jörg Biallas

/ 11 Minuten zu lesen

Es wird immer schwieriger, mit journalistischen Produkten Geld zu verdienen. Am augenfälligsten ist diese Entwicklung bei regionalen Tageszeitungen zu beobachten: Die Auflagen und damit die Vertriebserlöse sinken; gleichzeitig ist das Anzeigengeschäft besonders in den Rubriken-, also Kleinanzeigenmärkten stark rückläufig. Die wachsende Akzeptanz der Internetangebote ist da ein schwacher Trost. In aller Regel ist der Onlineauftritt einer Tageszeitung nicht einmal kostendeckend, geschweige denn rentabel. Die Konkurrenz kostenloser, lokaler Anzeigenblätter trägt das Ihre dazu bei, den regionalen Tageszeitungen das Leben zu erschweren. Hinzu kommt eine Rundfunk- und Fernsehlandschaft, die ebenfalls den Reiz des Regionalen oder gar Lokalen entdeckt hat. Das alles führt dazu, dass die – seinerzeit traumhaften – Renditen, welche die Verlagshäuser noch in den 1990er Jahren zu erwirtschaften gewohnt waren, nur noch in den Firmenannalen auftauchen.

Ein Stagnieren, gar ein Umkehren dieses Trends ist nicht absehbar. Seit Jahren besteht die große Herausforderung für Verlage und Redaktionen darin, Strategien zu entwickeln, um Leserinnen und Leser zu binden und möglichst neue Klientel zu erschließen. Diese Aufgabe ist umso schwerer zu lösen, als dass das Lesen von gedruckten Zeitungen gerade bei jungen Menschen nicht sehr hoch im Kurs steht. Informationen werden – in aller Regel von vornherein nach den jeweiligen Interessensgebieten selektiert – vor allem aus dem Internet gezogen. Onlineangebote von Tageszeitungen, regionale zumal, werden dafür nur sehr begrenzt genutzt. Die Printtitel sehen sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass die Senioren als treue Leser allmählich aussterben und keine jungen Leser nachwachsen.

Viele Verlagshäuser wollen dieser auf Dauer existenzbedrohenden Entwicklung mit dem Zauberwort "Regionalisierung“ entgegenwirken. Die Erfolgsformel lautet: Das Alleinstellungsmerkmal der regionalen Presse ist die lokale Kompetenz; die nationale, gar internationale Nachricht interessiert allenfalls, wenn sich ein direkter Bezug zum örtlichen Geschehen herstellen lässt. "Wir wiederholen nicht die Tagesschau vom Vorabend“, ist seitdem in vielen Redaktionsstuben ein gängiges Leitmotiv. Praktisch heißt das: Oktoberfest-Prügelei im Nachbardorf statt Bürgerkrieg in Syrien, Verkehrsunfall an der Ecke statt Flugzeugabsturz in Asien, Gemeinderat statt Bundestag.

Ob, wie und unter welchen Umständen diese Strategie aufgeht und wann sie scheitern muss, wird im Folgenden zu beleuchten sein. Dabei ruht der Fokus auf dem Printjournalismus und dessen Internetauftritt. Eine Ausweitung des Themas auf Funk- und Fernsehmedien würde den Rahmen schon deshalb sprengen, weil dann auch ausführlich auf das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem einzugehen wäre, dessen Auftrag, Struktur und Finanzierung aber einen Vergleich mit privatwirtschaftlichem Engagement nur sehr bedingt zulassen.

Tagespresse

Bis in die 1990er Jahre waren regionale Zeitungsredaktionen klar strukturiert. Zum einen gab es den "Mantel“ als einheitliches Cover für alle Lokalausgaben des Titels, um die überregional relevanten Nachrichten des Vortages aufzubereiten. Und zum anderen die Lokalteile mit den Informationen aus dem unmittelbaren Umfeld der Rezipienten. Auf eine Trennung beider Einheiten wurde inhaltlich wie personell strikt geachtet. Galt es als lokaljournalistische Tugend, unter großem Zeitdruck ein hohes Arbeitspensum zu absolvieren und viele Zeitungsseiten möglichst "unfallfrei“ zu produzieren, wurde im Mantel stärker auf saubere Recherche, Textsicherheit, professionelle Präsentation und Feinschliff geachtet. Journalisten, die etwas auf sich hielten, suchten den Weg in den Mantel, während Volontäre und Jungredakteure sich im Lokalen "die Hörner abstoßen“ sollten und langgedienten Lokaljournalisten der Ruf anhaftete, die Karriere verpasst zu haben.

Diese Abgrenzungen sind längst zumindest verschwommen, wenn nicht gar aufgelöst. In vielen Tageszeitungsredaktionen genießen regionale und lokale Inhalte auch im Mantel einen hohen Stellenwert. Damit ist auch das Ansehen der Lokaljournalisten, die regelmäßig Geschichten aus ihrem Umfeld für die Leser im gesamten Verbreitungsgebiet ihrer Zeitung aufbereiten, gestiegen. Vielerorts sind die Mantelredaktionen fast ausschließlich produzierende Einheiten, in denen das Material aus den Lokalredaktionen weiterverarbeitet wird. Dieser Verfahrensweise liegt die aus Befragungen gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass Leser einer Regionalzeitung diese abonnieren oder im Freiverkauf erstehen, weil sie dort Informationen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld erwarten. Das klingt nachvollziehbar. Was aber folgt daraus? Heißt das, dass Ereignisse außerhalb des eigenen "Kiezes“ überlesen werden? Dass beispielsweise allenfalls noch Landes-, aber keineswegs Bundes-, gar Europapolitik ein Publikum findet? Dass der Interessenradius der Leserschaft durch die eigene Stadt- oder Kreisgrenze definiert ist? Nein, eine gut gemachte Regionalisierung bedeutet all das gewiss nicht. Und doch gibt es zahlreiche Beispiele, dass Tageszeitungen den richtigen Ansatz einer dosierten Regionalisierung mit platter Provinzialisierung verwechseln – und sich dann wundern, dass sich noch mehr Leser als zuvor abwenden.

Was aber kennzeichnet eine gut gemachte Regionalisierung? Zunächst die Erkenntnis, die allen journalistischen Handelns zugrunde liegen sollte: Interessant ist, was neu ist und was betroffen macht. Allein: Es muss ansprechend präsentiert werden. Selbstredend wird der tödliche Unfall an der Kreuzung auf dem Weg zur eigenen Arbeit betroffener machen als das Busunglück in Griechenland. Das kann sich aber ändern, wenn letzteres Ereignis zum Anlass genommen wird, beispielsweise die Sicherheitstechnik bei Schulbussen im Verbreitungsgebiet der Zeitung zu recherchieren. Auch wird die Nachricht über die Bundestagsdebatte zur Pflegereform in der Leserschaft auf begrenztes Interesse stoßen. Aber wie steht es eigentlich um den Versorgungsstandard der Pflegeheime vor Ort? Auf einmal stellt sich heraus, dass das vermeintlich ferne Thema tatsächlich ganz nah sein kann.

Intelligente journalistische Aufarbeitung kann also Themen, die weit weg zu sein scheinen, ganz dicht an den Leser heranzoomen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Redaktionen, denen das vorzüglich gelingt. Ebenso häufig ist aber leider zu beobachten, dass Regionalisierung als möglichst boulevardeske Aufmachung lokaler Themen missverstanden wird. Dieses Vorgehen geht häufig einher mit der sträflichen Nachlässigkeit, relevante Nachrichten des Vortages, die außerhalb des eigenen Umfeldes angefallen sind, nicht ausreichend einzuordnen, hintergründig zu erläutern und im schlimmsten Fall dem Leser überhaupt nicht zur Kenntnis zu geben. Wer so handelt, provoziert den Effekt, dass das Publikum sich nicht mehr umfassend informiert fühlt und den Drang entwickelt, sich anderweitig mit Nachrichten versorgen zu müssen. Das mündet oft in einen Prozess, an dessen Ende nicht selten die Abbestellung des angestammten Abonnements steht.

Das Geheimnis einer spannenden regionalen Tageszeitung besteht in der Kunst, Themen immer wieder aufs Neue so zu komponieren, dass für die breite örtliche Leserschaft ein interessantes Nachrichtenpotpourri entsteht. Das Lokale und das Regionale konkurrieren dabei, auf einem Podest der besonderen Relevanz stehend, mit der Flut geografisch entfernter liegender Themen. Gegen die meisten dieser Themen werden sich die lokalen Ereignisse durchsetzen. Aber nicht zwangsläufig und schon gar nicht, wenn der vermeintliche Reiz der Region nur darin besteht, dass Nichtigkeiten aufgeblasen werden mit der Begründung, entscheidend sei ausschließlich der lokale Bezug. Ganz abgesehen davon erwarten Leser eine "ganzheitliche Betreuung“: Alle wichtigen Nachrichten gehören, sorgsam gewichtet, ins Blatt. Und: Tageszeitung ist ein Kompass durch das Leben ihrer Leser. Dazu gehört das Hinterfragen, Einordnen, Kritisieren – nicht nur von Ereignissen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld der Leserschaft. Viele erwarten eine Meinung ihres Blattes zu den wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Vorgängen. Die Behauptung, das sei schon deshalb nicht mehr Aufgabe einer regionalen Tageszeitung, weil andere, etwa überregionale Titel diesen Service auf höherem Niveau anbieten können, führt in die Irre: "Der Leser“ will wissen, wie "sein Kreisanzeiger“ relevante Vorgänge einordnet.

Regionale Internetangebote

Viele regionale Tageszeitungsverlage haben inzwischen beachtliche Internetauftritte. Deren Inhalte sind oft an diejenigen des Printproduktes gekoppelt: Identische oder zumindest vergleichbare Texte stehen außer in der Zeitung auch im Internet. Das Zeitmanagement ist dabei sehr unterschiedlich geregelt. Manche Verlagshäuser setzen auf online first und bedienen das Internet vor dem Erscheinen der Zeitung. Andere versuchen, mit Anreißertexten im Internet Appetit auf das gedruckte Produkt anzuregen. Und immer mehr Redaktionen organisieren den Onlineauftritt als vollkommen selbstständige Einheit und betonen damit die Vorzüge, die dieses Medium der gedruckten Zeitung voraus hat: Internet ist schnell, direkt, interaktiv – und damit ein vorzügliches Instrument der Nachrichtenübermittlung.

Diese Erkenntnis hat sich in vielen Verlagshäusern allerdings erst mit Zeitlupeneffekt durchgesetzt. Die deutschen Verleger haben die Potenziale, die ihnen das Internet als Geschäftsmodell eröffnet, viel zu spät erkannt. Das hatte zu tun mit finanzieller Saturation durch glänzende Druckgeschäfte, aber gewiss auch mit dem Umstand, dass regionale Verlage sich ihrer Erfahrungen beim Engagement zur Einführung des lokalen privaten Hörfunks und Fernsehens besannen, welches nicht selten als Finanzflop endete. Hieraus resultierte eine grundsätzliche Skepsis gegenüber neuen Medien. Im Laufe der Jahre haben Internetanbieter diese Lücke mancherorts genutzt, um in einen Markt einzubrechen, der eigentlich innerhalb des abgesteckten Claims der Regionalverlage verortet war. Mit Lokalnachrichten machten diese Initiativen den Verlagen oft mit kleinen Mitteln große Konkurrenz. Das schmerzte die journalistischen Platzhirsche, weil noch mehr Kraft und Geld für den eigenen Internetauftritt aufgewendet werden mussten, um das Kerngeschäft, die Vermittlung von regionalen Informationen, nicht mit anderen teilen zu müssen.

Die meisten Verlage haben mittlerweile erkannt, dass das Internet die Bühne ist, auf die sich auch der regionale und lokale Journalismus mehr und mehr verlagert. Die stationären oder mobilen Onlineauftritte der regionalen Tageszeitungen sind aufwändig gemacht und genügen allen Anforderungen, die Nutzer an ein modernes Internet stellen. Allein: Damit ist kein Geld zu verdienen. Jedenfalls noch nicht und keineswegs in dem Ausmaß, wie Entwicklungs- und Betriebskosten es eigentlich hergeben müssten. Erste zarte Versuche, regionale Onlineangebote gebührenpflichtig zu gestalten, gibt es, jedoch ist ihnen ein überzeugender Erfolg bisher nicht beschieden. Stattdessen hat sich die groteske Situation entwickelt, dass Regionalverlage erheblich in ihre Onlineauftritte investieren müssen, um gut aufgestellt zu sein, wenn – was alle hoffen – der Startschuss für das große Geldverdienen fällt. Gleichzeitig wird ihr Kerngeschäft, der Verkauf von Tageszeitungen, immer unattraktiver. Betriebswirtschaftlich führt das dazu, dass viele Verlage zur Kompensation Geschäftsideen entwickeln, die mit der Branche allenfalls noch am Rande zu tun haben. Weil es aber nur begrenzt gelingt, mit dem Verkauf von Wanderkarten und Kaffeetassen die Verluste durch den Auflagenschwund der Tageszeitung aufzufangen, muss gespart werden – nicht zuletzt auch in den Redaktionen.

Das wiederum hat trotz aller Beteuerung des Gegenteils ganz unmittelbar nachteilige Auswirkungen auf die Qualität journalistischer Inhalte. Natürlich gilt es, diesen Effekt zu verschleiern. Welcher Kaufmann würde schon zugeben, dass sein Produkt, in diesem Fall die Zeitung, zwar Jahr für Jahr verlässlich teurer wird, die Qualität aber ebenso beständig abnimmt? Also werden Sprachregelungen bemüht, die beruhigen sollen. Am gebräuchlichsten ist es, "Synergieeffekte“ ins Spiel zu bringen: Einheiten werden zusammengelegt, Arbeitsprozesse angeblich optimiert, Mitarbeiter anders eingesetzt. Am Ende steht eine verschlankte und mithin preiswertere Redaktion, die aber, so wird jedenfalls kommuniziert, viel effektiver arbeite. Betriebswirtschaftlich ist dieses Vorgehen nachvollziehbar, ja wahrscheinlich in vielen Fällen unabdingbar. Es mag auch Einzelfälle geben, in denen die Formel "schlanker = besser“ tatsächlich funktioniert. In den meisten Fällen werden die Leistungen einer personell geschwächten Redaktion die journalistische Qualität der Zeitung oder des Internetauftritts aber nicht steigern.

Anzeigenblätter

In Deutschland hat sich eine Anzeigenblattkultur entwickelt, die seit Jahren auf wachsende Auflagenzahlen und beständige Leserakzeptanz verweisen kann. Noch in den 1980er und 1990er Jahren wurden Anzeigenblätter, die flächendeckend kostenlos an Haushalte verteilt werden, wegen eines seinerzeit tatsächlich sehr amateurhaft betriebenen Journalismus in den meisten Redaktionsstuben nicht ernst genommen. Dies hat sich inzwischen geändert: Eine Ursache für die bundesweit immer weiter sinkenden Auflagenzahlen regionaler Tageszeitungen liegt darin begründet, dass die Qualität der Anzeigenblätter in journalistischer Hinsicht sehr viel besser geworden ist und manchem als – kostenlose – Alternative zum Abonnement einer örtlichen Tageszeitung dienen, zumal in vielen Regionen durchaus mehr als ein Titel wöchentlich auf dem Treppenabsatz liegt. Hinzu kommt, dass das regionale Angebot über Fernseh-, Hörfunk- und Internetnachrichten komplettiert wird. So muss niemand ein Informationsdefizit befürchten, wenn keine Regionalzeitung abonniert ist.

Aus einem belächelten Anbieter ist also über die Jahre ein ernsthafter Konkurrent für die regionale Tageszeitung erwachsen. Dieser Umstand wird schon dadurch deutlich, dass die meisten Regionalverlage, offen oder versteckt in Beteiligungsmodellen, selbst Anzeigenblätter herausgeben, die sie gegründet oder von anderen Anbietern übernommen haben. Zwar wird so eine Konkurrenz zu dem Verkaufsprodukt des eigenen Hauses etabliert, der Gewinn aus dem Vertrieb der Anzeigenblätter ist aber so verlockend, dass dieser Effekt in Kauf genommen wird.

Anzeigenblätter haben den etablierten Lokaljournalismus auch inhaltlich beeinflusst. Zum einen haben sie gezeigt, dass durchaus auch sublokale Themen bei entsprechender Aufbereitung eine Bereicherung für den Leser sein können. Das Straßenfest, die Mitgliederversammlung der Kleintierzüchter und das F-Jugend-Fußballspiel waren im Lokalteil der Tageszeitung, wenn überhaupt, oft nur eine Meldung. Das Anzeigenblatt berichtete von diesen Ereignissen auf einmal mit einem Seitenaufmacher und mehreren Fotos. Unter dem Gesichtspunkt der publizistischen Qualität war das selten eine Bereicherung. Es wurde aber zum Erfolgsmodell, weil sich die Menschen in einem nicht gekannten Ausmaß im Blatt wiederfanden. Dieses Modell haben etablierte Lokalredaktionen seinerzeit in einem stärkeren Ausmaß kopiert, als die handelnden Personen es heute zugeben. Die berühmte "Leser-Blatt-Bindung“ hatte, sozusagen zufällig, in der Lokalzeitung eine neue Dimension erfahren.

Hinzu kam der Umstand, dass zu Beginn des Booms der Anzeigenblätter journalistische Qualität zweitrangig war, weil für gute Texte kein Geld zur Verfügung stand. Deshalb haben kostenlose Amateurbeiträge großen Raum eingenommen. Machart und Inhalte wiederum haben zu Leserreaktionen geführt, die ebenfalls abgedruckt wurden. Die Redaktion war froh, die Seiten preiswert zu füllen. Somit hat sich eine, presserechtlich mitunter durchaus fragwürdige, Debattenkultur entwickelt, die aber in etablierten Lokalredaktionen so nicht bekannt war. Dort blickten Redakteure nicht selten mit Arroganz auf ihre Leserschaft herab. Die satten Auflagenzahlen hatten über die Jahrzehnte ein hochnäsiges Gefühl der Unangreifbarkeit etabliert.

Die Anzeigenblattkultur ist unmittelbar keine qualitative Bereicherung für die deutsche Presselandschaft. Allerdings haben die kostenlosen Publikationen den regionalen und lokalen Zeitungsjournalismus mittelbar durchaus beeinflusst – und nicht nur nachteilig. Und ganz nebenbei haben Anzeigenblätter übrigens bewiesen, was Journalisten bislang höchstens hinter vorgehaltener Hand zugegeben hätten: Auch Anzeigen sind Lesestoff. Ein Argument, das Verlegern und Verlagsgeschäftsführern, die Tageszeitungsredaktionen ohnehin gern auf vergleichsweise gute Geschäftsergebnisse der Anzeigenblätter hinweisen, zusätzlich in die Hände spielt.

Fazit und Ausblick

Ganz offensichtlich hat der Journalismus in Deutschland die Relevanz des Regionalen und Lokalen erkannt. Besonders regionale Tageszeitungen definieren ihre Rolle stärker als ein "Heimatmedium“ und grenzen sich damit inhaltlich stärker von überregionalen Titeln ab. Oft geht diese Abgrenzung aber auf Kosten einer nachrichtlichen Vollversorgung, weil den Ereignissen vor Ort ohne ausreichende Reflexion des Leserinteresses automatisch mehr Bedeutung zugeschrieben wird. Richtiger wäre es, Nachrichten auf das Ereignis bezogen zu werten und dem Leser beispielsweise zu erklären, welche Auswirkungen ein Beschluss des Europäischen Parlamentes auf ihn in seiner Gemeinde hat.

Zu beobachten ist, dass der Zwang zum Regionalen mit einem Hang zum Provinziellen einhergeht. Der Schritt zur Boulevardisierung, also der überzeichneten Darstellung vergleichsweise nichtiger Anlässe, ist da rasch getan. Dies führt zu einem Verlust an Seriosität und damit zu einem Imageschaden, der schwer zu reparieren sein dürfte. Finanzieller Druck, verursacht vor allem durch Konkurrenz aus dem Internet, aber auch in kleinerem Ausmaß durch Anzeigenblätter, belastet regionale Tageszeitungen erheblich. Die Verlage reagieren darauf mit Sparprogrammen, die kaum zur Qualitätssteigerung beitragen und somit ungeeignet sind, die Auflage wenigstens in die Nähe einer Stabilisierung zu bringen. Während für Onlineauftritte viel Geld und Kraft investiert werden, wird gedruckten Zeitungen vielerorts eine düstere Zukunft prophezeit.

Ist das realistisch? Die Zahlen lassen keinen anderen Schluss zu. Oder vielleicht doch? Was ist, wenn die Begeisterung für das gedruckte Wort, die auf dem Buchmarkt seit Jahren zu beobachten ist, auch den Zeitungsmarkt erreicht? Wenn das Lesen, Nachlesen und Wiederlesen auf dem Papier eine Renaissance erfährt? Wenn der Reiz des Flüchtigen dem Charme des Beständigen erliegt, auch bei jungen Menschen? Wenn Zeitungen in zehn Jahren kein Massenprodukt, wohl aber fester Bestandteil einer bürgerlich-elitebewussten Lebensführung sind? Wenn auch regionale Titel so attraktiv sind, dass wenige deutlich mehr Geld als heute für eine gut gemachte Zeitung auszugeben bereit wären? Dann wäre es gut, wenn auch im Lokal- und Regionaljournalismus noch Printprodukte, die von gewinnbringender Information und intelligenter Auseinandersetzung geprägt sind, existierten. Gewiss, es gibt Zeitungen, die das erkannt haben und auch im Lokalen auf Qualität setzen. Andere haben diesen Anspruch längst aufgegeben und damit schon heute das eigene Totenglöckchen geläutet.

Geb. 1962; Leiter Parlamentskorrespondenz des Deutschen Bundestages und Chefredakteur der Wochenzeitung "Das Parlament“ sowie des Nachrichtendienstes "heute im bundestag“, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. E-Mail Link: joerg.biallas@bundestag.de