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Die Krise der "sozialen Stadt" | Kommunalpolitik | bpb.de

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Die Krise der "sozialen Stadt"

Hartmut Häußermann

/ 24 Minuten zu lesen

Die soziale Ungleichheit in den großen Städten nimmt als Folge des ökonomischen Strukturwandels zu. Zusammen mit Veränderungen im System der Wohnungsversorgung bilden sich neue sozialräumliche Strukturen heraus.

I. Ausgrenzung und Segregation

Seit etwa einem Jahrzehnt werden in den USA und Europa neue Strukturen sozialer Ungleichheit beschrieben und diskutiert, die gegenüber den bisher bekannten Formen von Benachteiligung und Diskriminierung eine neue Qualität darstellen. Entsprechend haben die politischen Instanzen mit neuen Maßnahmen und Programmen zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung reagiert. In Frankreich gibt es ein Antisegregations-Gesetz und ein Ministerium für städtische Integration, in England sind die sozialen Probleme in den Innenstädten seit langem Anlass für spezielle Förderungsprogramme - inzwischen richtet sich die politische Aufmerksamkeit auch in Deutschland auf städtische Konflikte und Problemlagen, die nicht mehr mit einem schlechten Zustand von Häusern und Wohnungen erklärt werden können, sondern vielmehr Resultate eines sozioökonomischen und sozialräumlichen Strukturwandels der Großstädte sind. In einigen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hessen, Hamburg und Berlin) wurden in den letzten Jahren Prozesse der sozialräumlichen Konzentration von ökonomisch marginalisierten Gruppen beschrieben und spezifische Programme für eine städtische Intervention in "Krisengebieten" entwickelt. Inzwischen hat auch die Bundesregierung diese Probleme wahrgenommen und das Programm "Soziale Stadt" aufgelegt, das nun im ersten Jahr des dritten Jahrtausends in seiner ganzen (bescheidenen) Breite anlaufen wird.

Ausgrenzung

Anlass für diese Programme ist nicht lediglich die Zunahme von Armut und sozialer Deprivation, sondern die Herausbildung neuer Ungleichheitsstrukturen, die mit Begriffen wie "Spaltung der Stadt" oder "Ausgrenzung" benannt werden. In den Städten gibt es eine wachsende Armutsbevölkerung, wie aus der Zunahme der Zahl von Sozialhilfeempfängern und aus dem wachsenden Anteil von Dauerarbeitslosen an der hohen Arbeitslosigkeit abgelesen werden kann. Zwischen 10 und 20 Prozent der Großstadtbevölkerung sind von Einkommensarmut betroffen .

Gegenüber den traditionellen Formen von Armut stellt Ausgrenzung einen Prozess dar, in dem Individuen oder Haushalte sich von den durchschnittlichen gesellschaftlichen Standards der Lebensführung entfernen bzw. entfernt werden: in ökono-mischer Hinsicht, indem sie keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt mehr finden; in institutioneller Hinsicht, indem sich zwischen ihnen und den politischen bzw. sozialstaatlichen Institutionen unüberwindliche Schranken aufbauen; in kultureller Hinsicht, wenn Stigmatisierung und Diskriminierung zum Verlust des Selbstwertgefühls und zum Verlust der moralischen Qualifikation führen, die für ein integriertes Leben Voraussetzung sind; und schließlich in sozialer Hinsicht, wenn durch soziale Isolation und das Leben in einem geschlossenen Milieu die Brücken zur "normalen" Gesellschaft verloren gegangen sind.

Verschiedene Bevölkerungsgruppen sind von Ausgrenzungsprozessen auf verschiedene Weise betroffen: Bei einem Teil der Arbeitslosen verfestigt sich die Arbeitslosigkeit, was sich in steigenden Zahlen von Dauerarbeitslosen zeigt. Wachsende Abstiegsrisiken sind auch mit dem Wandel der Familien- und Haushaltsstrukturen verbunden, weil angesichts immer kleiner werdender Familien und der Zunahme von individualisierten Lebensformen die Auffangmöglichkeit durch die informellen Netze von Familie und Verwandtschaft geringer werden; daher gehören die alleinerziehenden Mütter zu den Gruppen, die häufig von dauerhafter Armut bedroht sind. Zuwanderer und ethnische Minderheiten können Ausgrenzungsprozessen ausgesetzt sein, weil bei ihnen fehlende politische Rechte und ökonomische bzw. soziale Randständigkeit zusammentreffen .

Der Ausgrenzungsprozess erreicht seinen Höhepunkt, wenn Individuen oder Haushalte in allen vier genannten Dimensionen weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt sind, und wenn dies mit einer "inneren Kündigung" gegenüber der Gesellschaft zusammentrifft, die sich in Resignation, Apathie und Rückzug äußert. Von der Gesellschaft im Stich gelassen, erwarten die Betroffenen auch nichts mehr und verhalten sich entsprechend.

Neben den sozialen Risiken ist in jüngerer Zeit in unseren Städten die Herausbildung von sozialräumlichen Konstellationen zu beobachten, die selbst zur Ursache für Benachteiligung und Ausgrenzung werden können: eine schärfere soziale Segregation, durch die sich die marginalisierte Bevölkerung in bestimmten Quartieren konzentriert. Neben der subjektiven Abkoppelung kann soziale Isolation auch das Ergebnis von räumlicher Ausgrenzung sein. Oft bringt die eine Form der Ausgrenzung die andere mit sich.

Segregation

Marginalisierung und Ausgrenzung kann durch eine räumliche Konzentration von Personen und Haushalten, die in ähnlicher Weise verarmt, diskriminiert und benachteiligt sind, hervorgerufen, beschleunigt und verstärkt werden. Das ist die zentrale Aussage von wissenschaftlichen Analysen und Theorien, die in der neuerlich sich wieder verstärkenden sozialen Segregation in den Großstädten die Gefahr sozialer Desintegration sehen. In den USA hat Julius W. Wilson mit seiner Behauptung, mitten in den Großstädten entstehe eine "new urban underclass" heftige Debatten ausgelöst . In Europa waren es die Studien über die innerstädtischen Altbaugebiete in Großbritannien und über die Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus am Rande der französischen Großstädte , die räumliche Exklusionsprozesse auch in den Wohlfahrtsstaaten Europas nachgewiesen haben.

Ausgrenzungsprozesse durch eine stärkere soziale Segregation in den Großstädten ergeben sich aus dem Zusammenwirken von drei Veränderungen, die aus dem ökonomischen und sozialen Wandel der Großstädte resultieren:

a) Auf dem Arbeitsmarkt gehen in den Städten die Erwerbsmöglichkeiten für unqualifizierte Arbeiter verloren, weil Industriearbeitsplätze in großer Zahl abgebaut wurden; der wachsende Dienstleistungsbereich nimmt nicht genug bzw. nicht die auf, die infolge der Deindustrialisierung arbeitslos geworden sind.

b) Aufgrund der Finanznot der Städte, die sich aus dem steigenden Finanzbedarf für Sozialtransfers bei sinkenden Steuereinnahmen ergibt, werden soziale Leistungen reduziert bzw. zumindest nicht in dem Maße ausgebaut, wie es angesichts wachsender Notlagen nötig wäre.

c) Durch den Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung und angesichts steigender Wahlmöglichkeiten beim Wohnstandort für Haushalte mit einem stabilen Einkommen lösen sich die sozial gemischten Quartiere auf und eine stärkere Sortierung der Wohnbevölkerung nach Einkommen, Lebensstil und Nationalität in verschiedenen Quartieren greift Platz. Quartiere, in die die Verlierer des sozio-ökonomischen Wandels abgedrängt werden, können so zu Orten sozialer Exklusion werden.

Sozialräumliche Polarisierung

Auch wenn in den meisten Quartieren der Großstädte von solchen Entwicklungen wenig zu spüren ist, so wandeln sich doch andere Quartiere umso rascher mit um so negativeren Begleiterscheinungen. Das ist ein Resultat der sozialräumlichen Polarisierung, die aus der Überlagerung der größer werdenden sozialen Ungleichheit mit dem Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung in den großen Städten folgt. Die sozialräumliche Struktur einer Stadt ergibt sich aus der unterschiedlichen Attraktivität von Wohnquartieren, aus den Standortpräferenzen und der Kaufkraft der privaten Haushalte sowie aus der Art und Weise, wie die Wohnungen auf die Bevölkerung verteilt bzw. wie der Bevölkerung die Wohnungen zugeteilt werden. Je weniger Einfluss der Staat auf die Zuteilung von Wohnungen hat, desto direkter entscheiden Marktprozesse. Auf dem Markt unterscheiden sich die Preise der Wohnungen einerseits nach Qualität und Lage und andererseits - was für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist - nach dem sozialen Milieu bzw. dem Prestige, das sich in der Wahrnehmung der Wohnungssuchenden mit einem bestimmten Gebiet verbindet. Für soziale Exklusivität muss eine höhere Miete bezahlt werden, und daher haben die Mieter und die privaten Vermieter die soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft eines Quartiers sehr genau im Auge. Eine deutliche soziale Profilierung von Wohngebieten entspricht der Logik des Wohnungsmarktes.

Unter Großstadtpolitikern herrscht Einigkeit darüber, dass die soziale Segregation in den Städten seit einigen Jahren wieder zunimmt - zumindest am unteren Rand der Sozialskala. In allen Städten kennt man heute Gebiete, in denen sich soziale Probleme und Konflikte so häufen, dass über Abhilfe nachgedacht werden muss. Früher hat man in den Großstädten von "sozialen Brennpunkten" gesprochen - ein Sprachgebrauch, den man inzwischen vermeidet, weil er die Sicht unterstützt, es handele sich um punktuelle Probleme, die man rasch - gleichsam mit einer Feuerwehr - löschen könne. In den sechziger Jahren - in einer von Wirtschaftswachstum und Arbeitskräftemangel geprägten Umwelt - mag dies eine adäquate Beschreibung gewesen sein, heute jedoch geht es um strukturelle Prozesse, die nicht mit kurzfristigem Aktivismus gestoppt oder umgedreht werden können.

II. Die Ursachen

Die Ursachen für die Herausbildung von problembeladenen Quartieren liegen in einer wachsenden sozialen Ungleichheit der Bevölkerung bei gleichzeitiger Deregulierung der Wohnungsversorgung. In einer Periode, in der sich die Ungleichheit der Bewohner nach Einkommen und ethnischer Zugehörigkeit stärker ausfächert, wird die Wohnungsversorgung stärker dem Markt überlassen, und damit spiegelt sich soziale Ungleichheit, die zunimmt, deutlicher in der sozialräumlichen Struktur der Städte.

Die soziale Entwicklung in den westlichen Großstädten - von Berlin bis New York - wird seit einigen Jahren mit Begriffen wie Dualisierung bzw. Spaltung gekennzeichnet. Damit wird ein Wandel der Sozialstruktur der Großstädte benannt, der sich aus dem ökonomischen Strukturwandel, der Denationalisierung von ökonomischen Regulierungen und aus dem Abbau sozialstaatlicher Fürsorge ergibt.

Neben der großen Zahl von Arbeitslosen haben auch manche Beschäftigten Einkommensverluste hinzunehmen, so dass die Realeinkommen eines großen Teils der Bevölkerung sinken. Auf der anderen Seite gibt es aber (in den sog. unternehmensorientierten Dienstleistungen, zu denen z. B. EDV, Werbung, Marketing, Unternehmensberatung und Kommunikationsdienste gehören) auch eine wachsende Zahl von Stadtbewohnern, die sehr hohe Einkommen beziehen. Wir haben es also mit einer Spreizung der Einkommensverteilung und - weil die mittleren Segmente quantitativ an Bedeutung verlieren - mit einer Polarisierung der Einkommensstruktur zu tun . Werner Hübinger hat gezeigt, dass etwa 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der "Wohlstandsschwelle" leben, also unterhalb jenes Einkommensniveaus, das nicht zu spürbaren Notlagen führt .

Noch ist die Tatsache nicht ins breite Bewusstsein von Stadtbewohnern und Stadtpolitikern gedrungen, dass der Anteil von Bewohnern, die im kulturellen und/oder rechtlichen Sinne Zuwanderer sind, laufend zunimmt - selbst dann, wenn kein einziger Zuwanderer mehr über die Grenzen nach Deutschland gelangen kann. Denn die Zuwandererbevölkerung ist jünger, lebt häufiger in Familien und hat deshalb häufiger Kinder. Die kulturelle Heterogenität der Stadtbevölkerung wird also zunehmen, die Anteile von Bewohnern mit einem nichtdeutschen kulturellen Hintergrund werden in allen Großstädten in einigen Quartieren sehr hoch sein. Gleichzeitig verringert der ökonomische Strukturwandel aber gerade jenes Beschäftigungssegment, das in der Vergangenheit die meisten Zuwanderer aufgenommen hat: die unqualifizierte Arbeit in den Fabriken. Die Großstadtbevölkerung wird also heterogener, und die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird schärfer. Sie wird in Zukunft wohl vor allem über Qualifikationen ausgetragen.

Selektive Mobilität

In den Großstädten bilden sich Quartiere heraus, in denen sich die "Überflüssigen" konzentrieren: die marginalisierten Einheimischen und die diskriminierten Zuwanderer, die in den "besseren" Vierteln keine Wohnung (mehr) finden . Zur Konzentration trägt zusätzlich die Abwanderung von Haushalten, die am ja immer noch vorhandenen Wohlstand in unserem Lande teilhaben, aus diesen Quartieren bei. Sie streben an Wohnstandorte, die am Rande oder außerhalb der Großstädte ("im Grünen") liegen. Die Gründe dafür sind die mangelhaften Umweltqualitäten in den dichten Großstadtgebieten, der Wunsch nach privater Grünfläche um das Haus (insbesondere dann, wenn Kinder zum Haushalt gehören) - und schließlich immer häufiger der Wunsch, sich von Nachbarn distanzieren zu können, deren Kultur und Lebensgewohnheiten man nicht mag. Für jeden freiwillig abgewanderten Haushalt zieht einer nach, der wegen seines Einkommens oder wegen kultureller Diskriminierung keine andere Wahl hat.

Diese selektiven Wanderungsprozesse waren in den vergangenen Jahren auch in den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus zu beobachten, und zwar in West und Ost. In den alten Bundesländern wurden vor allem die Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau und die Belegungspraxis der Wohnungsämter für die "einseitigen" Sozialstrukturen verantwortlich gemacht, in den neuen Bundesländern passt sich die Verteilung der Bevölkerung nach Einkommen und Lebensstil allmählich westlichen Mustern an . Problembeladene Nachbarschaften bilden sich nicht nur in den innerstädtischen Altbaubeständen, sondern auch in den seit den sechziger Jahren errichteten Neubau-Großsiedlungen am Stadtrand. Konnte früher - bei der Konzipierung von Stadterneuerungsprogrammen - von einer Identität von schlechten, erneuerungsbedürftigen Wohnungen und einer sozial marginalisierten Bewohnerschaft ausgegangen werden, so gilt diese Gleichung heute nicht mehr. Die soziale Marginalisierung wohnt überall. Die Probleme sind unabhängig vom Zustand der Bausubstanz, und es wäre daher falsch, sie mit baulichen Mängeln in Verbindung zu bringen.

Kulturelle Konflikte sind besonders heftig in den Schulen, wenn die Anteile von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache den Status einer Minderheit übersteigen. Ob berechtigt oder nicht, die Sorge der Eltern um die Bildungszukunft ihrer Kinder führt zur Abwanderung derer, die über die materiellen Voraussetzungen dafür verfügen, wenn die Schule sich nicht in der Lage zeigt, mit den wachsenden Anforderungen einer multikulturellen Schülerschaft produktiv umzugehen. Die Schulsituation ist für Haushalte mit Kindern ein wesentlicher Grund dafür, die gemischten Quartiere zu verlassen und sich in einem Wohnquartier niederzulassen, wo die soziale Homogenität größer ist. An dieser Abwanderung beteiligen sich im Übrigen integrierte und aufstiegsorientierte Zuwanderer-Haushalte ebenso wie einheimische; es wäre also zumindest voreilig, die Anlässe mit "Ausländerproblemen" gleichzusetzen.

Das Ende des sozialen Mietwohnungsbaus

Im 19. Jahrhundert hat sich die soziale Ungleichheit, die damals besonders groß war, in einer krassen sozialen Sortierung der Bevölkerung in den Städten niedergeschlagen. Die "Wohnungsfrage", die sich in den Verelendungsgebieten der Fabrikarbeiter deutlich stellte, war ein Kernbestandteil der übergreifenden "sozialen Frage", zu deren Lösung Vorschläge aus allen politischen Lagern kamen . Eines der herausragenden Ziele der sozialen Stadt- und Wohnungspolitik, die dann nach dem Ende der Kaiserzeit in den zwanziger Jahren in den Großstädten tatsächlich praktiziert wurde, war der Abbau dieser Segregation und der Aufbau von Wohnquartieren, in denen, wie es später hieß, "die breiten Schichten des Volkes" in besseren Wohnungen leben konnten. Die neuen Wohnungen sollten von hoher Qualität, aber auch bezahlbar für Haushalte mit geringeren Einkommen sein. Dies wurde durch die Beteiligung von Stadt und Staat an der Baufinanzierung ermöglicht - ein Modell, das ab den dreißiger Jahren "Sozialer Wohnungsbau" genannt wurde. Wichtigstes sozialpolitisches Ziel der Intervention war es, zwischen Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt einen Puffer einzubauen, der die Gleichung "Wer arm ist, muss auch schlecht wohnen" außer Kraft setzen sollte.

Ende der achtziger Jahre hat die Bundesregierung dann verkündet, dass es nicht mehr notwendig sei, den sozialen Mietwohnungsbau weiter zu fördern, so dass inzwischen ein Prozess der rapiden Schrumpfung dieser Bestände eingesetzt hat. Da jährlich über 100 000 Wohnungen aus den Sozialbindungen herausfallen, neue jedoch kaum gebaut werden, ist der Bestand von 4 Mio. Sozialwohnungen (1980) auf inzwischen 1,9 Mio. gefallen, und er wird innerhalb weniger Jahre auf einen Restbestand absinken. Die Wohnungsbaugesellschaften, die sich in öffentlichem Eigentum befinden, sind von der Politik aufgefordert, Wohnungen zu verkaufen, um die Eigentumsquote im Lande zu erhöhen. Dabei werden in der Regel die attraktivsten Bestände privatisiert und die Bestände, die für die Aufnahme der bedürftigsten Mieter bereitgestellt wurden, werden quantitativ verringert und räumlich konzentriert - und wirken damit stigmatisierend. Die Erfahrungen aus Großbritannien sollten eigentlich davor bewahren, die gleichen Fehler auch in Deutschland zu machen .

Die Modernisierung von Altbauwohnungen verringert zudem das Angebot an billigen Wohnungen im privaten Sektor. Während also die Zahl derjenigen Haushalte wächst, die aufgrund ihrer Einkommenssituation sich am normalen Wohnungsmarkt nicht adäquat versorgen können, schrumpft das Angebot, das genau für diese Situation entwickelt worden war. Das kleiner gewordene Angebot an Sozialwohnungen konzentiert sich räumlich in den jüngeren Beständen, die am Rande der Großstädte errichtet worden sind. Diese können deshalb die Ghettos des 21. Jahrhunderts werden .

Der Fahrstuhleffekt

Sozial selektive Weg- und Zuzüge sind nur eine Variante der Entstehung einer Konzentration von problembeladenen Haushalten, die andere ist eine Folge der Arbeitsmarktkrise. Dafür gibt es in den Großstädten heute viele Beispiele: Gebiete, in denen vorwiegend gering qualifizierte Industriearbeiter gewohnt haben ("Arbeiterviertel"), erleben einen kollektiven Abstieg dadurch, dass die Fabrikarbeitsplätze verschwunden und die Arbeiter arbeitslos geworden sind. Plakativ formuliert: Aus einem Arbeiterquartier wird dann ein Arbeitslosenquartier. Die Kaufkraft nimmt ab, die sichtbare Armut nimmt zu, Läden werden geschlossen bzw. verändern ihr Angebot in Richtung Billigstwaren, und insgesamt verschlechtert sich das "Klima".

Die Abbildung zeigt, wie beide Varianten den Weg zur Entstehung von ausgegrenzten Orten bzw. von Orten der Ausgrenzung weisen können. Soziale Ungleichheit setzt sich - wenn es keine sozialstaatliche Intervention gibt - in sozialräumliche Segregation um; diese führt zu sich selbst verstärkenden Prozessen sozialer Selektion, an deren Ende Quartiere stehen, die von einer kumulativen Abwärtsentwicklung betroffen sind: Mit jeder Stufe der Verschärfung der sozialen Probleme verlassen diejenigen Haushalte, die noch über Wahlmöglichkeiten verfügen, die Quartiere, womit dann die Konzentration und Dichte sozialer Problemlagen weiter zunimmt. Das ist ein Prozess der "Abwärtsentwicklung", der sich selbst laufend verstärkt, wenn er nicht durch koordinierte Anstrengungen von Bewohnern, Eigentümern, Gewerbetreibenden und Stadtpolitikern unterbrochen wird.

III. Ist Segregation überhaupt ein Problem?

Nicht jede Form sozialer Segregation wird als ein soziales Problem gesehen. Das wird rasch deutlich, wenn man an die sehr exklusiven Wohngebiete der Reichen denkt, die es in jeder Großstadt gibt, die extrem segregiert sind, die aber weder für die Sozialämter noch für Stadtplanungsämter als besonders problematisch gelten.

Auch die räumliche Segregation von Zuwanderern stellt nicht per se ein Problem dar. Die "ethnischen Kolonien", die es in jeder großen Stadt gibt, können für die Zuwanderer einen Schutzraum darstellen, in dem sie sich auf der Grundlage der Anerkennung ihrer mitgebrachten Identität mit der neuen Heimat auseinandersetzen können . Ge-biete mit einer hohen Konzentration von Bewohnern einer bestimmten Nationalität können insofern Übergangsorte darstellen, die nach innen sehr gut integriert sind, aber dennoch Brücken bilden können, die die Integration in die Aufnahmegesellschaft erleichtern. Sie ermöglichen sozusagen eine behütete Erfahrung mit Rückzugsgarantie.

Dieser integrative Charakter einer ethnischen Kolonie kann sich aber ändern und in sein Gegenteil verkehren - das ist abhängig von der Dauer der Existenz einer solchen Subkultur, insbesondere aber davon, ob die Bewohner freiwillig oder erzwungen in einem solchen Ghetto leben. Bei unfreiwilliger Konzentration führt die Kolonie zu erzwungener Isolation.

IV. Ist das Problem neu?

Es gehört zur Struktur von Großstädten, dass sich in ihnen an verschiedenen Orten Subkulturen bilden, in denen verschiedene Lebensstile und auch verschiedene Verhaltensnormen ein bestimmtes Milieu bilden. Dieser kulturelle und soziale Pluralismus von Großstädten ist Teil ihrer emanzipatorischen Kultur, weil es keine einheitliche, von irgendeinem Zentrum aus definierte Norm gibt, wie man zu leben habe. Insofern waren und sind Großstädte immer auch ein "Mosaik aus kleinen Welten", wie es der amerikanische Stadtforscher Robert Park in den zwanziger Jahren formulierte . Ebenso wie die ethnischen Kolonien können solche Subkulturen oder Milieus durchaus eine integrative Funktion haben, indem sie Identitäten stabilisieren und eine Vermittlungsinstanz zur dominanten Kultur darstellen, die desintegrative Wirkungen bestimmter Verhaltensweisen abschwächt oder aufhebt.

Von Stadtsoziologen wurden insbesondere im Rahmen der Stadterneuerung in den siebziger Jahren die Subkulturen bzw. die Milieus in den Sanierungsgebieten als bewahrenswert beschrieben, die durch Stadtsanierung zu zerstören die Stadtgesellschaft nicht das Recht habe. Die Bedeutung dieser Kultur wurde durch die Lebendigkeit informeller Beziehungen belegt, durch Prozesse einer sozialen Integration auf nachbarschaftlicher Basis auch dort, wo die Systemintegration versagt hatte (im Fall von Arbeitslosigkeit, sozialer Diskriminierung oder unverschuldeter Not). Schließlich wurden gerade von Sozialwissenschaftlern die Subkulturen in den Sanierungsgebieten als Milieus beschrieben, die eine besondere Solidarität beinhalten, die das Potential einer "Gegenwehr" haben und die schließlich eine Basis für den "antikapitalistischen Klassenkampf" bieten könnten .

Demgegenüber wurde die Stadtsanierung aber auch damit begründet, dass die Quartiere "rückständige Viertel" seien , weil das Leben in solchen Quartieren bedeute, in einem Milieu mit einer Infrastruktur gefangen zu sein, das von den Lebenschancen, die die Gesellschaft bietet, ausschließt. Um dies zu vermeiden, so wurde die Argumentation fortgesetzt, müssten die Viertel beseitigt werden - also jene Gehäuse der Ärmlichkeit, die als der physische Kern der Benachteiligung gesehen wurden.

Die Quartiere, von denen heute die Rede ist, wenn von der Konzentration sozialer Probleme gesprochen wird, sind im Gegensatz zu diesen historischen Milieus keine kulturell einheitlichen, sondern sehr heterogene und sehr konfliktreiche Milieus. In ihnen wohnen aus den unterschiedlichsten Gründen marginalisierte einheimische Bewohner zusammen mit Zuwanderern, die noch keinen tragfähigen Zugang zur Aufnahmegesellschaft gefunden haben. Diese Subkultur wird nicht durch eine integrierende und richtungweisende Theorie zusammengehalten, wie sie der Marxismus für die Arbeiterquartiere dargestellt hat.

Hinzu kommt, dass es inzwischen unmöglich und unglaubwürdig geworden ist, wenn Planer oder Stadtpolitiker behaupten, sie könnten eine Entwicklungsperspektive aufweisen, die zweifellos auch diejenigen einschließe, die bisher an den Rand der Stadtgesellschaft gedrängt worden sind. Das heißt: Der Glaube an eine einheitliche und "richtige" Modernisierungsperspektive ist verloren gegangen. Es gibt keine mobilisierende und organisierende theoretische Perspektive für die Benachteiligten mehr. Gleichzeitig hat die Bedeutung intermediärer Instanzen (z. B. Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Sportvereine) abgenommen, d. h., dass auch in den Milieus, von denen hier die Rede ist, eine Individualisierung voranschreitet, die allerdings gänzlich andere Perspektiven und Folgen hat als jene, die in den Hymnen der postmodernen Soziologie dargestellt werden. Je höher der Anteil von marginalisierten Personen und Haushalten in einem Quartier, desto stärker ist die soziale Distanz zur übrigen Stadt, und sie wird durch die räumliche Distanzierung noch verstärkt. Die sozialräumliche Konzentration kann dann dazu führen, dass ein problembeladenes Quartier zu einem Ort der Ausgrenzung wird.

V. Welche Effekte kann die soziale Segregation haben?

Anlass für eine Diskussion über die räumliche Konzentration von sozialen Problemen bzw. von Haushalten, die mit besonderen Problemen behaftet sind, ist die Vermutung, dass sich die Konzentration von Benachteiligten zusätzlich benachteiligend für diese auswirke, dass aus benachteiligten Quartieren benachteiligende werden oder dass "arme Nachbarschaften ihre Bewohner ärmer machen" . Die Tatsache, so die These, dass man in einer bestimmten Gegend wohnt, ist selbst ein Faktor der Benachteiligung; soziale Ungleichheit wird damit nicht nur befestigt, sondern verschärft.

Diese Behauptung ist nicht unumstritten, zumindest ist sie in Deutschland bisher nicht überzeugend nachgewiesen worden, sie gehört aber zum selbstverständlichen Argumentationsreservoir derjenigen, die die räumliche Konzentration von Armen oder sozial Marginalisierten bekämpfen - und damit befindet man sich oft in einer unfreiwilligen Koalition mit sozialtechnischen oder sogar fremdenfeindlichen Ansätzen. Das darf jedoch nicht vom Denken abhalten.

Benachteiligende Effekte eines Quartiers kann man sich auf verschiedene Weise vorstellen:

- Einerseits so, dass durch die vorherrschenden Überzeugungen und das dominante Verhalten der Bewohner eine "abweichende Kultur" entsteht, die auch diejenigen prägt, die ihr bisher nicht angehörten. Soziales Lernen führt zu Verhaltens- und Denkensweisen, die die Mitglieder einer solchen Kultur immer weiter von den Normen und Verhaltensweisen der Gesellschaft entfernen. Dadurch erleiden sie Nachteile, weil sie z. B. Chancen auf dem Arbeitsmarkt auch dann nicht mehr ergreifen können, wenn diese objektiv wieder gegeben sind. In der konservativen amerikanischen Version ist dies die zentrale Bestimmung der "underclass", die durch negative Verhaltensweisen und diese rechtfertigende Einstellungen charakterisiert sei.

- Andererseits zeichnen sich benachteiligte Quartiere durch Eigenschaften aus, die entweder die Lebensführung beschwerlich machen und/oder die Handlungsmöglichkeiten ihrer Bewohner objektiv einschränken. Dabei geht es um physisch-materielle Merkmale eines Quartiers (z. B. Qualität als Wohnort, die Erreichbarkeit von sozialen Einrichtungen) sowie um seine institutionelle Ausstattung mit privaten und öffentlichen Dienstleistungen.

- Eine dritte Dimension der Wirkungen stellt das negative Image eines Quartiers dar, das aufgrund eigener Erfahrungen oder aufgrund von Vorurteilen dem Quartier aufgestempelt wird und das dann nach innen (gegenüber seinen Bewohnern) und nach außen (als Stigmatisierung der Bewohner) Effekte entfaltet, die die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner erheblich einschränken. Bekannt sind die Beispiele, daß Arbeitssuchende sofort abgewiesen werden, wenn sie eine bestimmte Adresse als Wohnort nennen.

VI. Das Quartier als sozialer Raum

Das Quartier als Lernraum

In einer Nachbarschaft, in der vor allem Modernisierungsverlierer, sozial Auffällige und sozial Diskriminierte das Milieu bestimmen, können abweichende Normen und Verhaltensweisen dominant werden, "normale" gesellschaftliche Rollen hingegen sind nicht oder immer weniger repräsentiert. Dadurch werden interne Rückwirkungen erzeugt, die zu einer noch stärkeren Dominanz der abweichenden Normen führen, und von dieser geht nun ein Konformitätsdruck aus. Sowohl durch sozialen Druck wie durch Imitationslernen werden diese Normen immer stärker im Quartier verbreitet; die Kultur der Abweichung wird zur dominanten Kultur. Kinder und Jugendliche haben gar nicht mehr die Möglichkeit, andere Erfahrungen zu machen, und werden so gegenüber der "Außenwelt" sozial isoliert.

Beispiele dafür gibt es genug: Wenn Kinder oder Jugendliche überhaupt niemanden mehr kennen, der einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nachgeht, entwickeln sie keine Vorstellung davon, dass pünktliches und regelmäßiges Aufstehen sowie die Aufrechterhaltung einer äußeren Ordnung (Selbstdisziplin) eine Lebensmöglichkeit darstellen, die mit gewissen Vorteilen verbunden sein kann. Oder wenn Jugendliche in ihrem Umkreis niemanden mehr kennen, der mit "normaler" Erwerbstätigkeit seinen (bescheidenen) Lebensunterhalt verdient, hingegen einige, die sich mit illegalen Aktivitäten ohne großen Aufwand eine spektakuläre Lebensführung ermöglichen und die sich obendrein über einen mühseligen Schulbesuch lustig machen - welche Handlungsalternativen bieten sich da? Die Einschränkung der Erfahrungswelt insbesondere von Jugendlichen und Kindern durch die fehlende Repräsentation von sozialen Rollen, die ein "normales" Leben ausmachen (z. B. Erwerbstätigkeit, regelmäßiger Schulbesuch etc.), stellt eine Benachteiligung dar, weil sie die Möglichkeiten sozialen Lernens beschränkt und einen Anpassungsdruck in Richtung von Normen und Verhaltensweisen erzeugt, die von der übrigen Gesellschaft mit Ausgrenzung beantwortet werden.

Das Quartier als soziales Netz

In der Arbeitslosigkeit verengen sich die ohnehin schon vergleichsweise kleineren Netze von Unterschichtsangehörigen weiter: Nach dem Verlust von Kontakten, die mit dem Arbeitsplatz verbunden waren, ist der Rückzug ins Private ein Ausweg bei Selbstzweifeln und Resignation; auch werden Kontakte vermieden, die jene Lebensweise repräsentieren, die man selbst nicht mehr führen kann; Armut schließt von Aktivitäten aus, die mit Geldausgaben verbunden sind - all dies sind Reaktionen, die in der Arbeitslosenforschung hinreichend belegt sind .

Die sozialen Netzwerke werden enger und homogener, und dadurch verändert sich ihre Qualität. Lose geknüpfte Netzwerke, die aber sozial heterogen sind, sind weit produktiver und ertragreicher als eng geknüpfte soziale Netze, die (gerade deswegen) sozial homogen sind. Wenn daher ein Haushalt aufgrund von Einkommensverlusten seinen Wohnstandort wechseln und in ein "benachteiligtes" Quartier ziehen muss, sinken seine Chancen für eine Selbstbehauptung, denn er kennt dann nur noch Leute, die ähnliche Probleme wie er selbst haben. Räumliche Mobilität wird durch soziale Abwärtsmobilität erzwungen und verstärkt diese zusätzlich. Die vergleichsweise engen Nachbarschaftsbeziehungen in problembeladenen Quartieren, denen unter fürsorgerischer Perspektive besonderer Respekt entgegengebracht wird, sind hinsichtlich der Informations- und Interaktionschancen, die sie bieten, als ausgesprochen defizitär einzustufen. Das soziale Handeln ist auf ein benachteiligtes Milieu beschränkt.

Verlust sozialer Stabilität

Der Verlust an integrierten Gruppen (Familien, Erwerbstätige, Qualifizierte) verringert die soziale Stabilität im Quartier, weil es keine ausreichende Zahl von Aktivisten in quartiersbezogenen Institutionen, Vereinen, Initiativen usw. mehr gibt. Familien mit Kindern kümmern sich in der Regel stärker um die Qualität ihrer Wohnumwelt als mobilere und ortsunabhängigere Bewohner. Wenn Familien abwandern, gehen konfliktmoderierende Potentiale verloren, und auch die Gelegenheiten zu Begegnungen und Interaktion werden geringer - insbesondere im Bereich Sport, Freizeit und Jugendarbeit. Gegenseitige Ablehnungen und Vorurteile können dann jenseits von Erfahrung gepflegt und verfestigt werden, was insbesondere in jenen Quartieren ein besonderes Problem ist, wo die Zahl der ethnischen Minderheiten groß ist.

Verlust der Anerkennung

Zu diesen Wirkungen kommen mögliche materielle Nachteile hinzu, die dadurch entstehen, dass die Infrastrukturversorgung bei sinkender Kaufkraft und abnehmender Nachfrage nach kulturellen Gütern schlechter wird. Dann müssen weitere Wege für die Versorgung mit solchen Gütern oder Dienstleistungen bewältigt werden, was rasch sehr teuer werden kann. Hinzu kommen nachteilige Wirkungen von Stigmatisierungsprozessen, die sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Außenwahrnehmung negativ beeinflussen und zu dem Gefühl beitragen, "den Anschluss zu verlieren". Da die Einschätzung, von der Gesellschaft im Stich gelassen bzw. abgehängt worden zu sein, zu einer wachsenden Distanz zum politischen System führt, ist die (niedrige) Wahlbeteiligung ein möglicher Indikator für die Identifizierung von Gebieten, in denen die soziale Ausgrenzung bereits weit fortgeschritten ist - wenn nicht aus Protest die Verbreiter von ausländerfeindlichen Parolen gewählt werden.

VII. Zusammenfassung

Durch sozial selektive Migration und durch die Verarmung der Bewohner können in einem Quartier Prozesse in Gang kommen, die zu einer kumulativ sich selbst verstärkenden Spirale der Abwärtsentwicklung ("Fahrstuhleffekt") führen. Dadurch entsteht ein soziales Milieu, das eine Umwelt für soziales Lernen darstellt, in der nur noch eine begrenzte Realitätswahrnehmung möglich und der Verlust von "moralischen Qualifikationen" wahrscheinlich ist, die aber Voraussetzung für eine Reintegration in die Erwerbstätigkeit wären. Durch Migrationsprozesse bildet sich ein Milieu der Benachteiligung immer stärker heraus; diejenigen, die keine Möglichkeit zur Wahl eines anderen Wohnstandorts haben, passen sich diesem Milieu langsam an. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen werden kaum noch mit positiven Rollenmodellen konfrontiert und geraten - auch durch Anpassungsdruck - in einen Sozialisationsprozess, dessen Ergebnis Verhaltensweisen sind, die ein Entkommen aus dem Milieu der Benachteiligung unwahrscheinlicher machen.

Diese "inneren" Prozesse werden verstärkt durch Veränderungen des "äußeren" Milieus: Die Verwahrlosung von Gebäuden, Straßen und Plätzen sowie die Degradierung der Versorgungsinfrastruktur haben eine weitere Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls zur Folge und verstärken die Neigung zu Rückzug und Resignation. Die Mobilen verlassen solche Quartiere und schwächen damit die sozialen Kompetenzen und die politische Repräsentation des Quartiers - denn z.B. um eine wirksame Nachbarschaftsinitiative zu gründen, bedarf es einiger sozialer Kompetenzen.

So entstehen "Ghettos ohne Mauern" , Orte der sozialen Ausgrenzung. Aus dem Strudel multipler und kumulativer Benachteiligung, der mit dem unfreiwilligen Wohnen in solchen Quartieren verbunden ist, gibt es nach einer gewissen Zeit kein Entkommen mehr. Die Bewohner sind mit ihren Quartieren ausgegrenzt, wenn nicht eine solidarische Stadtgesellschaft Prozesse der sozialen Stabilisierung einleitet und die Reintegration der Quartiere und ihrer Bewohner dauerhaft unterstützt. Die frühere Einschätzung, sozialräumlich segregierte Quartiere seien Orte einer emanzipatorischen Kultur, ist heute wohl kaum mehr zu begründen.

Die Modernisierungsperspektive der siebziger und achtziger Jahre erlaubte eine Klassifikation der Wohn- und Lebensbedingungen in den Sanierungsgebieten als "rückständig", weil der Einbezug auch der Armen und Marginalisierten in den sich aufwärts bewegenden "Fahrstuhl" ökonomischen Wachstums und kultureller Modernisierung fraglos möglich erschien. Bei dem Problem, wie mit segregierten Quartieren umzugehen sei, stellte sich nur die Frage, ob der Integrationsprozess durch staatliche Intervention beschleunigt werden solle oder nicht. Anders ist die Situation heute: Die Integrationsprozesse sind prekär geworden; statt quasi-automatischer Integration ist die Perspektive für die Marginalisierten heute eher die Ausgrenzung. Der "Fahrstuhl" ist nicht mehr groß genug, alle mitzunehmen.

Die Quartiere können sich, wenn der Prozess der sozialen Entmischung erst ein gewisses Niveau erreicht hat, nicht mehr selbst helfen. Sie sind mit den Integrationsproblemen tatsächlich überfordert, weil die sozialen Kapazitäten zur gleichen Zeit erodieren, in der die Integrationsprobleme zunehmen. Ohne eine stabilisierende Unterstützung würden sie sich weiter "nach unten" entwickeln, selbst wenn die Eigenart der Subkultur heute als bewahrenswert angesehen wird. Daher sind Ansätze einer integrierten Quartierspolitik notwendig, die sich auf das Quartier als sozialen Raum richten und die Entwicklung und Stabilisierung der meistens noch vorhandenen Potenziale fördern. Die Bewohner, die Gewerbetreibenden und die Eigentümer müssen in die Lage versetzt werden, eine Perspektive für ihr Quartier zu entwickeln, an die sie deshalb glauben können, weil diese auch von ihrem eigenen Handeln abhängig ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese Entwicklung ist in ihren Grundzügen bereits in den achtziger Jahren erkennbar gewesen; vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Neue Urbanität, Frankfurt/Main 1987.

  2. Vgl. Hans-Jürgen Andreß, Leben in Armut, Opladen - Wiesbaden 1999.

  3. Vgl. Peter Bremer/Norbert Gestring, Urban Underclass - neue Formen der Ausgrenzung auch in deutschen Städten?, in: PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 27 (1997) 106.

  4. Vgl. Julius William Wilson, The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy, Chicago 1987; ders., The Declining Significance of Race: Blacks and Changing American Institutions, Chicago 1978.

  5. Vgl. Christopher Jencks/Paul E. Peterson, (Hrsg.), The Urban Underclass, Washington 1991.

  6. Vgl. François Dubert/Didier Lapeyronnie, Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft, Stuttgart 1992.

  7. Im europäischen Diskurs, insbesondere im Sprachgebrauch der Institutionen der Europäischen Union hat sich der Begriff "Exclusion" durchgesetzt, dessen Vorteil darin besteht, dass er in den meisten Sprachen der EU unmittelbar verstanden wird und benutzt werden kann. Wir verwenden die Begriffe "Ausgrenzung" und "Exklusion" synonym. Vgl. Hartmut Häußermann, Armut in den Städten - eine neue städtische Unterklasse?, sowie Martin Kronauer, "Soziale Ausgrenzung" und "Underclass". Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung, und Walter Siebel, Armut oder Ausgrenzung?, alle in: Leviathan, 25 (1997) 1.

  8. Vgl. Susan S. Fainstein/Ian Gordon/Michael Harloe (Hrsg.), Divided Cities. New York ß London in Contemporary World, Oxford 1992.

  9. Vgl. dazu das Beispiel Hamburg bei: Monika Alisch/Jens Dangschat, Armut und soziale Integration, Opladen 1998, S. 125-134. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie ist vermutlich generell mit einer stärkeren Einkommensdifferenzierung verbunden; vgl. ferner Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Dienstleistungsgesellschaften, Frankfurt/Main 1995.

  10. Vgl. Werner Hübinger, Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/99, S. 18-26.

  11. Empirische Analysen finden sich in der Berliner Untersuchung "Sozialorientierte Stadtentwicklung", herausgegeben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Berlin 1998; für Hamburg vgl. M. Alisch/J. Dangschat (Anm. 9), S. 111 ff.

  12. Während in den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus in westlichen Städten die kulturelle Heterogenität, die durch die wachsenden Zahlen von Zuwanderern entsteht, als ein Teil der Ursachen für die Abwanderung gesehen wird, wohnen bisher in den Großsiedlungen der ostdeutschen Städte nur wenige Zuwanderer. Haushalte mit steigendem Einkommen finden dort für eine nicht sehr viel höhere Miete inzwischen im Neubau ein sehr viel attraktiveres Wohnungsangebot.

  13. Vgl. Clemens Zimmermann, Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter. Geschichte des Wohnens, Bd. 3, Stuttgart 1997.

  14. Vgl. Ray Forrest/Alan Murie, Selling the Welfare State. The Privatization of Public Housing, London 1988.

  15. Eine vom Gesamtverband der Wohnungswirtschaft e. V. (GdW), in dem überwiegend die ehemals gemeinnützigen und/oder öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften repräsentiert sind, in Auftrag gegebene Studie trägt den Titel "Überforderte Nachbarschaften" und beschreibt die "soziale und ökonomische Erosion in den Großsiedlungen" in Westdeutschland. Vgl. Manfred Neuhöfer, Überforderte Nachbarschaften. Eine Analyse von Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und die Wohnsituation von Migranten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/98, S. 35-45. Die Situation in den ostdeutschen Großsiedlungen wird dagegen noch als vergleichsweise harmlos dargestellt. Auf innerstädtische Probleme geht der GdW nicht ein, weil sich dort keine großen Bestände seiner Mitglieder befinden.

  16. Vgl. Michael Krummacher, Zuwanderung, Migration, in: Hartmut Häußermann (Hrsg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen 1998; Wilhelm Heitmeyer, Versagt die "Integrationsmaschine Stadt"? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: ders./Rainer Dollase/Otto Backes (Hrsg.), Die Krise der Städte, Frankfurt/Main 1998.

  17. Vgl. Dazu Rolf Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur, Frankfurt/Main 1990.

  18. Vgl. den Überblick zur sozialwissenschaftlichen Diskussion der sechziger und siebziger Jahre bei Ulfert Herlyn, Wohnquartier und soziale Schicht, in: ders. (Hrsg.), Stadt- und Sozialstruktur, München 1974.

  19. Vgl. Katrin Zapf, Rückständige Viertel, Frankfurt/Main 1969.

  20. Vgl. Jürgen Friedrichs, Do Poor Neighbourhoods Make Their Residents Poorer? Context Effects of Poverty Neighbourhoods on Residents, in: Hans-Joachim Andreß (Hrsg.), Empirical Poverty Research in a Comparative Perspective, Ashgate 1998.

  21. Vgl. zuletzt Martin Kronauer/Berthold Vogel/Frank Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt/Main 1993.

  22. Vgl. Henner Hess/Achim Mechler, Ghetto ohne Mauern, Frankfurt/Main 1972.

  23. Vgl. dazu Monika Alisch (Hrsg.), Stadtteilmanagement. Voraussetzungen und Chancen für die soziale Stadt, Opladen 1998.

Dr. rer. pol., geb. 1943; seit 1993 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit W. Siebel) Neue Urbanität, Frankfurt/M. 1987; Dienstleistungsgesellschaften, Frankfurt/M. 1995; (Hrsg.) Großstadt, Soziologische Stichworte, Opladen 1998.