Einleitung
Acht Wochen nach der Bundestagswahl haben die Unterhändler von SPD und Union am 11. November 2005 ihre Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. Zur Bildung einer Großen Koalition bot sich den beiden Parteien nach dem denkwürdigen Ausgang der Bundestagswahl am 18. September 2005 keine Alternative. So stellen die beiden Wahlverlierer nun die Bundesregierung. Der erste Verlierer war die SPD. Sie büßte am Wahlabend ihre führende Regierungsrolle ein. Rot-Grün wurde abgewählt, Gerhard Schröders Zeit als Bundeskanzler war damit vorbei.
Während die Niederlage der SPD angesichts der Vorgeschichte der Wahl nicht besonders überraschte, kam die Niederlage der Union umso unerwarteter, denn ihr waren elf Siege bei Landtagswahlen in Folge vorausgegangen. Der letzte davon - der CDU-Erfolg in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 - hatte zu der verblüffenden Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen durch Franz Müntefering und Gerhard Schröder geführt. Aber die Union erlebte keine rauschende Wahlnacht. Statt des sicher geglaubten Wahlsiegs fuhr die Union mit 35,2 Prozent der Wählerstimmen ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis auf Bundesebene ein. Damit scheiterte die Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb, obwohl die FDP beachtliche 9,8 Prozent der Zweitstimmen erlangen konnte. Es kam zum politischen Patt.
Vor allem aber: Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Partei innerhalb so kurzer Zeit einen so großen Vorsprung verspielt wie die Union bei der Bundestagswahl 2005. Nach der Landtagswahl in NRW führten CDU und CSU bundesweit in Meinungsumfragen mit bis zu 25 Prozentpunkten vor der SPD. Am Wahlabend blieb nur ein knapper Vorsprung von einem Prozentpunkt übrig. Wie ist so etwas möglich? Diese Frage soll im Folgenden mit Hilfe von Daten aus Meinungsumfragen und mit Inhaltsanalysen der Fernsehberichterstattung untersucht werden.
Wählerinnen und Wähler, Parteien und Massenmedien bilden die Eckpunkte des "Wahlkampf-Dreiecks" (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version). So banal es klingen mag: Um eine Wahl zu gewinnen, müssen eine Partei und ihr/e Spitzenkandidat/in zwei Ziele erreichen. Erstens müssen die eigenen Anhänger mobilisiert werden. In welchem Umfang dies gelingt, entscheidet mit über den Wahlerfolg. Die Mobilisierung hängt unter anderem davon ab, wie stark eine Partei ihre Grundüberzeugungen und ihre Wertebasis im Wahlkampf vermitteln kann und wie stark die für eine Partei zentralen Themen in die Wahlkampfkommunikation gelangen. Hinzu treten weitere Aspekte wie das geschlossene Auftreten der Partei, ihre Abgrenzung vom Hauptkonkurrenten (Richtungswahlkampf) und die Überzeugungskraft des politischen Führungspersonals (Problemlösekompetenz und Leadership-Qualitäten). Zweitens müssen die parteipolitisch ungebundenen Wählerinnen und Wähler überzeugt werden. Verfügen sie über eine hohe formale Bildung und ein ausgeprägtes politisches Interesse, so gelingt die Überzeugung in erster Linie mittels der im Wahlkampf dominanten Themen und der den Parteien bei diesen Themen zugeschriebenen Sachkompetenz. Die ungebundenen Wählerinnen und Wähler mit einer niedrigen formalen Bildung und einem geringen politischen Interesse werden hingegen eher durch Einzelthemen, die sie unmittelbar betreffen, oder durch Stimmungen direkt vor der Wahl beeinflusst.
Themenmanagement im Wahlkampf
Aus der Wahlforschung ist bekannt, dass Parteien und Kandidaten in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer Kompetenz beurteilt werden.
Vor allem wurde einmal mehr ein Medienwahlkampf geführt. Wahlrelevante Eindrücke und Informationen erreichen den Großteil der Wählerinnen und Wähler durch die Berichterstattung der Zeitungen und Zeitschriften, über die zahlreichen Sondersendungen im Fernsehen und vor allem über die Fernsehnachrichten. Letztere werden auch von jenen wahrgenommen, die sich nicht besonders für Politik interessieren. Ähnliches gilt für das TV-"Duell" zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder, das am 4. September zeitgleich in der ARD, im ZDF, auf RTL und in SAT.1 ausgestrahlt und von 21 Millionen Menschen gesehen wurde.
Die verschiedenen Medienwirkungen auf das Wählerverhalten sind inzwischen gut dokumentiert.
Die Medienberichterstattung ihrerseits ist zum einen das Ergebnis journalistischer Selektion und Interpretation, zum anderen das Ergebnis des Verhaltens der Parteien und Kandidaten. Journalisten entscheiden u.a. anhand von Nachrichtenauswahlkriterien wie Prominenz, Konflikt und Negativismus, über welche Themen sie berichten und über welche nicht. Darüber hinaus fließen ihre Sichtweisen in die Interpretation von Ereignissen ein. Mitunter werden Journalisten auf diese Weise von reinen Beobachtern des politischen Geschehens zu politischen Akteuren.
Daraus ergeben sich für den Wahlkampf der Union folgende Konsequenzen. Erstens: Es wäre für die Union günstig gewesen, wenn im Wahlkampf viel über den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftslage kommuniziert worden wäre, denn hier haben die Wählerinnen und Wähler der Union dauerhaft eine größere Kompetenz zugeschrieben als der SPD. Darüber hinaus wäre es für die Union günstig gewesen, wenn die Wählerinnen und Wähler in diesem Bereich einen starken Problemdruck wahrgenommen hätten. Ein professionelles Themenmanagement hätte sich also darauf konzentrieren müssen, die entsprechenden kommunikativen Rahmenbedingungen zu schaffen. Zweitens: Es wäre für die Union ungünstig gewesen, wenn Themen dominiert hätten, bei denen die SPD als kompetenter gilt. Bei der Sozialpolitik war dies der Fall. Ein professionelles Themenmanagement hätte also alles dafür tun müssen, eine solche Themendominanz zu verhindern.
Zu den wichtigsten Kommunikationsregeln für das Themenmanagement zählen u.a.:
Einfach kommunizieren. Auch komplexe Themen sollten auf einige zentrale Punkte reduziert werden. Das, was man politisch plant, muss in nachvollziehbare und kommunizierbare Punkte verdichtet werden. Zu viele Details führen dazu, dass der Kern des Themas nicht mehr erkennbar wird und in der Kommunikation untergeht.
Flexibel und reaktionsschnell sein. Der schönste Kommunikationsplan ist nichts wert, wenn man mit ihm nicht schnell auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren kann.
Durchgängig kommunizieren. Eine Botschaft verpufft, wenn sich an einem Tag viele Repräsentanten einer Partei zu vielen unterschiedlichen Themen äußern. Dann befriedigt zwar jeder sein Ego, die konzentrierte Vermittlung einer zentralen Botschaft ist so jedoch nicht möglich. Durch "Message control" versucht ein professionelles Kommunikationsmanagement daher, die zahlreichen Artikulationsbedürfnisse der verschiedenen Parteirepräsentanten zu bündeln. Allerdings müssen die Repräsentanten dazu auch bereit und in der Lage sein und eine gewisse kommunikative Disziplin an den Tag legen.
Immer alles auf die Kernbotschaft beziehen. Einzelthemen und Einzelaussagen verwirren eher, als dass man mit ihnen Wählerinnen und Wähler überzeugen kann. Es muss daher immer erkennbar sein, was die Kernbotschaft ist und wie sich eine Einzelmaßnahme aus dieser Kernbotschaft ableitet.
Im Folgenden soll anhand der Medienberichterstattung untersucht werden, ob der Wahlkampfleitung der Union ein solches Themenmanagement gelungen ist.
Vertauschte Wahlkampfrollen
Eine alte Wahlkämpferregel sagt, dass Regierungen abgewählt werden und nicht, dass die Opposition gewählt wird. Mit anderen Worten: In der Regel werden Wahlkämpfe über die Konzepte der Regierung zur Lösung derals dringlich angesehen Probleme geführt. Naturgemäß steht hier die amtierende Regierung unter Druck - von ihr werden Konzepte verlangt, da sie sich in einer politischen Gestaltungsposition befindet. Die Oppositionsparteien befinden sich hingegen meist in einer komfortableren Rolle, denn sie können einen Angriffswahlkampf führen und der Regierung Versäumnisse vorwerfen. Es wird versucht, die Regierungsbilanz in wesentlichen Punkten als unzureichend zu charakterisieren und dies mit dem Eindruck zu verbinden, man selbst könne die Probleme des Landes besser angehen.
Wie war dies im Bundestagswahlkampf 2005? Im Juni standen Verfahrensfragen auf dem Weg zur Neuwahl im Mittelpunkt. Die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens von Gerhard Schröder (Vertrauensfrage und "organisiertes Misstrauen" im Deutschen Bundestag) bescherte Rot-Grün Negativschlagzeilen. Hinzu kamen Anzeichen für ein Zerwürfnis der SPD mit dem grünen Koalitionspartner. Die Umfragewerte für die Regierung waren schlecht. Auf der Linken wurde Oskar Lafontaine zur medialen Lichtgestalt. In dieser Phase profitierten die Union und Angela Merkel vom Ansehensverlust Schröders und von der Konfusion innerhalb der SPD. Zu diesem Zeitpunkt war die Stärke der Union "geliehen" - sie ergab sich aus der Schwäche der SPD, nicht aus einer Zustimmung der Bevölkerung zum Unionsprogramm. Angesichts dieser Ausgangslage hätte es sich für die Union angeboten, die rot-grüne Regierung mit einem Angriffswahlkampf unter Druck zu setzen. Thematisch stand die SPD mit der hohen Arbeitslosigkeit, der dramatischen Staatsverschuldung und den Problemen der Rentenkassen und der Pflegeversicherung nahezu auf verlorenem Posten.
Doch statt die rot-grüne Bilanz konsequent zu attackieren, entschied sich die Wahlkampfführung der Union für einen gouvernementalen Wahlkampf. Damit hat sie sich selbst in die Rolle desjenigen begeben, der sich verteidigen muss. Zu diesem fundamentalen strategischen Fehler gesellten sich zahlreiche taktische und handwerkliche Fehler. Angela Merkels Image bekam erste Kratzer - ihre Brutto-Netto-Verwechslung bei der Rentenpolitik brachte sie ebenso in die Defensive wie die Begründung, aus Termingründen könne es kein zweites TV-"Duell" mit Gerhard Schröder geben. Als wenig hilfreich erwiesen sich auch Aussagen von Edmund Stoiber über "frustrierte Ostdeutsche" und von Jörg Schönbohm über die "Verwahrlosung" in den neuen Bundesländern. Beides lenkte von den zentralen Wahlkampfthemen ab und verschaffte der SPD eine Verschnaufpause.
Aufgrund des gouvernementalen Wahlkampfes der Union wurde - anders als bei allen vorangegangenen Wahlen - in den Fernsehnachrichten deutlich häufiger über die Oppositionsparteien berichtet als über die Regierungsparteien (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version). Grundsätzlich könnte dies von Vorteil sein, im konkreten Fall war es aber ein Nachteil. Denn vor allem gegen Ende des Wahlkampfes im August und im September drehte sich die öffentliche Debatte viel stärker um die Regierungspläne der Union als um die Regierungsbilanz von Rot-Grün. Zwar hatte Gerhard Schröder angekündigt, die Bundestagswahl zu einer Volksabstimmung über seine Agenda 2010 machen zu wollen. Doch die Themen der Agenda 2010 - die der SPD bei den vorangegangenen Landtagswahlwahlen geschadet hatten - standen nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Stattdessen gelang Gerhard Schröder eine rhetorische Re-Sozialdemokratisierung der SPD. Es versuchte, die Bundestagswahl zu einer Richtungsentscheidung zwischen "sozialer Gerechtigkeit" einerseits (SPD) und dem "Niedergang des Sozialstaates" andererseits (CDU/CSU) zu stilisieren. Das SPD-Konzept, "Wir reden nicht viel über unser Programm, sondern über das der Union", ging auf. Dabei sprach Gerhard Schröder fast im Alleingang für die SPD. In der Schlussphase des Wahlkampfes entfielen mehr als zwei Drittel aller SPD-bezogenen Aussagen in den Fernsehnachrichten auf den Bundeskanzler. Er konnte so das Bild seiner Partei prägen. Dies gelang seiner Herausforderin Merkel nicht einmal ansatzweise. Sie erreichte lediglich gut ein Viertel aller Unions-bezogenen Aussagen in den Fernsehnachrichten. Dies wäre unproblematisch gewesen, wenn ein geschlossenes Unionsteam, angeleitet durch ein konsequentes Kommunikationsmanagement, als Gegenentwurf zur Alleinstellung Gerhard Schröders aufgetreten wäre. Von Geschlossenheit konnte indes angesichts eines vielstimmigen Chors zahlreicher Unionsvertreter keine Rede sein.
Hinsichtlich der Medienpräsenz unterschieden sich die beiden Parteien also deutlich voneinander. Bezüglich der offenen Bewertung in den Fernsehnachrichten gab es jedoch - anders als in dem bemerkenswerten Ausfall des amtierenden Kanzlers am Wahlabend in der "Berliner Runde" behauptet - keine gravierenden Unterschiede: Mal wurde über die SPD und Gerhard Schröder im Saldo etwas besser berichtet als über die Union und Angela Merkel, mal war es umgekehrt (vgl. Abbildung 3 der PDF-Version). Drei Marksteine im Wahlkampfverlauf fallen gleichwohl auf:
1. Am 11. Juli präsentierten Edmund Stoiber und Angela Merkel das Wahlprogramm der Union. Das Programm sah unter anderem eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 18 Prozent vor. Dieses Vorhaben selbst war jedoch nicht der zentrale Fehler, sondern der Umstand, dass es nicht verständlich genug begründet und auch nicht überzeugend aus einem übergeordneten politischen Konzept abgeleitet wurde. Die unklare Kommunikationslinie führte auch dazu, dass die Wahlkämpfer der Union den Nachfragen und Bedenken der Bürger im Straßenwahlkampf kaum etwas entgegensetzen konnten. Der Unions-Vorsprung bei der Wahlabsicht begann zu schrumpfen.
2. Zunächst konnte sich jedoch die Union wieder erholen, als Angela Merkel am 17. August das "Kompetenzteam" der Union vorstellte. Darin spielte vor allem der Steuerrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof eine herausragende Rolle. Er sollte als Experte für den Steuer- und Finanzbereich den Reformwillen der Union demonstrieren. Zunächst generierte diese Ernennung einen Schub an positiver Berichterstattung. Auch die Wahlabsicht zugunsten der Union nahm wieder zu.
3. Dies änderte sich schlagartig mit dem TV-"Duell" am 4. September, das von Gerhard Schröder zur Attacke auf Paul Kirchhof genutzt wurde. Danach verschlechterte sich das Medienbild der Union merklich. Auch die Wahlabsicht zugunsten der Union begann wieder zu sinken. Die SPD hatte endlich ihr Wahlkampfthema - es war ihr von der Wahlkampfführung der Union in den Schoß gelegt worden: "soziale Gerechtigkeit" versus "soziale Kälte".
Die sich wandelnden Bewertungen der Parteien im Laufe des Wahlkampfes hängen eng mit den sich wandelnden Medieninhalten zusammen. Der Wahlkampfführung der Union gelang es dabei nicht, drei ungünstigen Entwicklungen entgegenzuwirken; teilweise verstärkte sie diese sogar:
1. Das Thema "Arbeitsmarkt" verlor im Wahlkampf kontinuierlich an Bedeutung. Während der Arbeitsmarkt und die Wirtschaftslage vor der Landtagswahl in NRW noch die zentralen Themen in der Berichterstattung waren und die SPD unter Druck setzten, verschwanden sie ab Mai weitgehend aus den Nachrichten (vgl. Abbildung 4 der PDF-Version). Darüber hinaus hellte sich das Bild, das in den Fernsehnachrichten von der konjunkturellen Entwicklung gezeichnet wurde, etwas auf. Damit wurden auch die Einschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Bevölkerung positiver. Es gelang dem Wahlkampfmanagement der Union nicht, die Regierungsbilanz in diesem Themenfeld aggressiv zu attackieren und die wirtschaftspolitischen Erfolge in unionsgeführten Bundesländern (etwa Bayern und Baden-Württemberg) in die kommunikative Waagschale zu werfen. Der Kompetenzvorsprung war also bei der Wahlentscheidung für viele Wählerinnen und Wähler nicht "top-of-the-head".
2. Vor allem in den letzten drei Wochen des Wahlkampfes nahmen Meinungsumfragen in den Fernsehnachrichten immer breiteren Raum ein. Während die Darstellung der Union im Zusammenhang mit Meinungsumfragen im August noch deutlich positiver war als die Darstellung der SPD, hat sich dies nach dem TV-"Duell" drastisch gewandelt. Zwar lag die SPD nach wie vor hinter der Union, aber in der Medienberichterstattung wurden vor allem das Aufholen der SPD und die schrumpfende Mehrheit für Schwarz-Gelb hervorgehoben. Damit verlor die Union ihr Siegerimage und das für den Wahlerfolg notwendige Momentum.
3. Über das Thema "Steuern" wurde zunehmend berichtet, und es wurde immer häufiger mit dem Thema "soziale Gerechtigkeit" verbunden. Die steuerpolitischen Vorstellungen von Paul Kirchhof entwickelten sich zu dem "Killer-Thema" des Wahlkampfes.
Paul Kirchhof: Vom "Glücksgriff"zur Belastung
In der Medienberichterstattung wurde das Thema Steuerpolitik immer wichtiger. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens hat die Union in ihrem Wahlprogramm eine Erhöhung der Mehrwertsteuer angekündigt, um die Lohnnebenkosten zu senken. Zweitens hat die Union mit der Benennung von Paul Kirchhof der Steuerpolitik ein besonderes Gewicht verliehen. Dass die Berichterstattung über dieses Thema zugenommen und die Bevölkerung in der Folge dem Thema eine immer größere Bedeutung beigemessen hat, ist zunächst das Ergebnis eines aus Sicht der CDU/CSU erfolgreichen Agenda-Settings. Allerdings handelte es sich um einen Pyrrhus-Sieg.
Anfangs sah es nach einem gelungenen Themenmanagement aus. Einer der Themenbereiche, in dem der Union von der Bevölkerung ein deutlicher Kompetenzvorsprung vor der SPD bescheinigt wurde, fand breiten Raum in der Medienberichterstattung. Noch im Juli, bereits nach der Ankündigung der Erhöhung der Mehrwertsteuer, schrieben 35 Prozent der Bevölkerung der Union die größere steuerpolitische Kompetenz zu - gegenüber 23 Prozent für die SPD. Im vorangegangenen Monat waren beide Parteien in der Fernsehberichterstattung mit Steuerpolitik eher negativ in Verbindung gebracht worden: Der Anteil negativer Aussagen über die SPD und die Union mit steuerpolitischem Bezug war um 11 bzw. 14 Prozentpunkte größer als der Anteil positiver Aussagen. Danach passierte Ungewöhnliches: Steuerpolitische Vorstellungen der SPD wurden in den Medien praktisch gar nicht mehr thematisiert; der Anteil der Steuerpolitik an der gesamten Berichterstattung über die SPD sank unter fünf Prozent. CDU/CSU wurden hingegen weiterhin mit dem Thema identifiziert - aber weitgehend negativ. Im Juli gab es in den Medien nach wie vor um 14 Prozentpunkte mehr negative als positive Aussagen über die Unions-Steuerpolitik. Im August besserte sich das Bild etwas, um dann aber im September massiv einzubrechen: Der Abstand zwischen positiven und negativen Aussagen in den Fernsehnachrichten betrug nun 27 Prozentpunkte.
Dies hatte zwei Konsequenzen: Zum einen sank die Kompetenzzuschreibung durch die Bevölkerung, die im August in der Folge der Kirchhof-Berufung in das Unionsteam noch von 34 auf 42 Prozent gestiegen war, wieder auf 35 Prozent. Zum anderen aber profitierte von der September-Diskussion über die Steuerpolitik der Union vor allem die SPD. Obwohl über ihr Steuerkonzept gar nicht berichtet wurde, nahm die Bevölkerung die SPD in diesem Bereich zunehmend als kompetent war. Die Kompetenzzuweisung zugunsten der SPD stieg von 23 auf 35 Prozent, so dass sie unmittelbar vor der Wahl mit der Union gleichziehen konnte. Gleichzeitig stieg die Kompetenzzuweisung im Bereich der sozialen Gerechtigkeit für die SPD stark an.
Dieser in Wahlkämpfen sehr seltene Wandel hatte einen Namen: Paul Kirchhof. Der als Hoffnungsträger gestartete Quereinsteiger erfreute sich zunächst großer und wohlwollender medialer Aufmerksamkeit (vgl. Abbildung 5 der PDF-Version). Daran vermochten zunächst auch einige Ungereimtheiten und Ungeschicklichkeiten im öffentlichen Auftreten Paul Kirchhofs nicht viel zu ändern. Es wurde zwar mit gewisser Verwunderung wahrgenommen, dass Kirchhof den Plänen der Union zur Erhöhung der Mehrwertsteuer kritisch gegenüberstand. Und statt Steuervergünstigungen zu reduzieren, wollte er sie radikal streichen (beispielsweise die Pendlerpauschale, die Steuerfreiheit für Sonntags- und Nachtarbeiterzuschläge). Auch schien es merkwürdig, dass er das im Wahlprogramm der Union beschriebene Steuermodell nicht weitgehend genug fand. Er setzte sich stattdessen für eine "Flat Tax" mit einem einheitlichen Steuersatz für alle Bürger ein, was die Parteiführung eilends als weiterführende "Vision", deren Verwirklichung aber keinesfalls in der nächsten Legislaturperiode anstehen würde, entschärfen wollte. Doch da war es schon zu spät. Kein Wunder, dass in einer repräsentativen Meinungsumfrage von Infratest dimap 72 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten, bei der Steuerpolitik der Union wisse man nicht, woran man sei.
Dabei hätten der Parteivorsitzenden die anderweitigen Vorstellungen Kirchhofs bekannt sein müssen. Zumindest wäre es notwendig gewesen, Kirchhof auf die absehbare öffentliche Diskussion vorzubereiten. In einer Wahlanalyse aus der Konrad-Adenauer-Stiftung wird zutreffend bemerkt: "So hatte zumindest außerhalb der Wahlkampfzentrale wohl niemand das Gefühl, der Shootingstar des Kompetenzteams, Professor Kirchhof, sei auf diese Rolle inhaltlich und medial auch nur annähernd adäquat vorbereitet gewesen."
Spätestens an diesem Punkt witterte Gerhard Schröder seine Chance. Auf dem SPD-Wahlparteitag Ende August in Berlin attackierte er den "Professor aus Heidelberg" massiv als "radikal unsozial", denn er wolle die Deutschen zu "Versuchskaninchen" machen: "Wenn ich dann diesen Professor aus Heidelberg höre, wie er sich über Renten verbreitet, der meint - das ist nachzulesen -, man könne die Rentenversicherung doch wie die Kfz-Versicherung organisieren, dann wird darin ein Menschenbild deutlich, das jedenfalls wir aufs Schärfste bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen, und sie müssen anders behandelt werden, als Sachen behandelt werden." Kirchhof wurde fortan als Symbol für nicht kalkulierbare Radikalreformen und für soziale Kälte hingestellt. In den Fernsehnachrichten jener Woche wurde über Kirchhof zwar seltener, aber dafür fast nur noch negativ berichtet. Nach dem TV-"Duell", das Gerhard Schröder für weitere Attacken auf Paul Kirchhof nutzte, nahm die Berichterstattung wieder deutlich zu - der negative Tenor blieb. Viel gravierender für die Union war jedoch, dass damit das Thema "Steuerpolitik" von einem wirtschaftspolitischen zu einem sozialpolitischen Thema gewendet wurde. Fortan ging es erst recht nicht mehr um die Schrödersche Agenda 2010, sondern es ging darum, dass nur die SPD den Sozialstaat "vor massiven unsozialen Radikalreformen bewahren" könne. Die Wahlkampfführung der Union selbst hat die Munition dafür an die SPD geliefert. Besser kann man die sozialdemokratische Basis kaum mobilisieren und unentschiedene Mitte-Wähler in die Arme des politischen Kontrahenten treiben.
Kardinale Fehler im Wahlkampf
Lange Zeit schien der Wahlsieg der Union sicher. Die SPD hatte kein Wahlkampfthema, schien chancenlos und war demoralisiert. Normalerweise kann die Opposition eine solche Wahl nicht verlieren. Ein unprofessionelles Themenmanagement der Wahlkampfleitung der Union brachte die SPD wieder zurück ins Spiel. Dies gilt sowohl für den strategischen wie für den operativen Bereich. Der Wahlkampf wurde emotionslos und mit zu geringer kommunikativer Disziplin geführt. Vor allem aber wurden drei Kardinalfehler begangen: Der erste strategische Fehler bestand darin, statt eines Angriffswahlkampfes auf Rot-Grün einen gouvernementalen Wahlkampf zu führen. Somit lenkte die Union die Aufmerksamkeit weg von der Regierungsbilanz hin zu den eigenen Regierungsvorstellungen.
Den zweiten Fehler beging die Union damit, die eigenen Vorstellungen sehr detailliert darzustellen, ohne sie aus einer übergeordneten, überzeugenden Kernbotschaft abzuleiten, die wirtschafts- mit sozialpolitischen Themen hätte verbinden können. "Sozial ist, was Arbeit schafft" geht zwar als Botschaft in die richtige Richtung, reicht aber bei weitem nicht aus. Der dritte Fehler war es, der SPD ihr Wahlkampfthema frei Haus zu liefern. Durch die Berufung Paul Kirchhofs wurde das absehbare Risiko eingegangen, auf einem sehr sensiblen Themenfeld massiv unter Druck zu geraten. Warum die Wahlkampfleitung dieses Risiko eingegangen ist, bleibt ihr Geheimnis. Wozu es führte, ist hingegen klar: Die SPD konnte ihr Positiv-Thema "Soziales" in der Medienberichterstattung verankern und bei der steuerpolitischen Kompetenz mit der Union gleichziehen. Wofür die Union in der Steuerpolitik stand, blieb den Wählerinnen und Wählern unklar.
Alles zusammengenommen, hat sich die Union selbst geschlagen. Ihr gelang, was der SPD nicht gelungen wäre: den komfortablen Vorsprung in kürzester Zeit auf fast Null zusammenschmelzen zu lassen. So war die Unions-Strategie vor allem eines: Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.