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Die Aktualität eines Idealisten | Schiller | bpb.de

Schiller Editorial Friedrich Schiller Die Aktualität eines Idealisten Ein Weltbürger, der keinem Fürsten dient Friedrich Schiller in Deutschland und Europa Mein Schiller-Jahr 1955

Die Aktualität eines Idealisten

Norbert Oellers

/ 22 Minuten zu lesen

Schillers Idealismus gründete auf dem Glauben, dass durch die heitere Kunst der Welt zu helfen sei. Dieser Idealismus sollte von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Einleitung

Als der 25-jährige Friedrich Schiller im Jahr 1784 seine Zeitschrift "Rheinische Thalia" öffentlich ankündigte, resümierte er mit einigem rhetorischen Aufwand seine bisherige poetische Laufbahn und sparte dabei nicht mit Selbstkritik, die er allerdings mit den Verhältnissen, denen er von 1773 bis 1780 als Zögling der "Militär-Akademie" des württembergischen Herzogs Carl Eugen ausgesetzt gewesen war, zu begründen suchte: "Neigung für Poesie beleidigte die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark, wie die erste Liebe. (...) Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein Herz in eine Idealenwelt aus - aber unbekannt mit der wirklichen, von welcher mich eiserne Stäbe schieden - unbekannt mit den Menschen (...) - unbekannt mit Menschen und Menschenschicksal mußte mein Pinsel notwendig die mittlere Linie zwischen Engel und Teufel verfehlen (...)."

Als Schiller diese Sätze schrieb, hatte er sein Jugendwerk bereits hinter sich: die eine Epoche der deutschen Literatur abschließenden Sturm-und-Drang-Dramen "Die Räuber", "Die Verschwörung des Fiesko zu Genua" und "Kabale und Liebe", dazu zahlreiche Gedichte, zum Teil schwülstige Liebesgedichte, mächtig auftrumpfende Hymnen und Oden, die pathetisch von antithetischen Spannungen zwischen Diesseits und Jenseits, Tod und Ewigkeit, Hinfälligkeit und Glücksbegehren handeln.

Das Jugendwerk

Dramen und Gedichte des jungen Schiller sind tatsächlich zum großen Teil Ausdruck einer gedachten "Idealenwelt", die den Verfasser allerdings nur insofern als Idealisten ausweisen, als er, wie er selbst berichtete, in strikter Opposition zu der ihm unbekannten Wirklichkeit stand. Damit lässt sich kein wie auch immer zu definierender Idealismus Schillers reklamieren.

Dass "Kabale und Liebe" (1784) wie auch die vermutlich zur gleichen Zeit entstandenen Gedichte "Freigeisterei der Leidenschaft" und "Resignation" schon sehr viel mit der nicht nur aus der Literatur erfahrenen Wirklichkeit zu tun haben, lässt auch diese Werke allenfalls, wenn überhaupt, auf Umwegen als "idealistisch" verstehen: als Absage an eine Welt der Korruption und Gottferne, in der die Sehnsucht nach dem Besseren, nach wahrer Liebe und Gerechtigkeit geweckt wird.

Doch Schiller war noch weit davon entfernt, der Dichtung eine Aufgabe zu erteilen, wie er sie über ein Jahrzehnt später in seiner Abhandlung "Ueber naive und sentimentalische Dichtung" (1795) formulierte: in einer durch den Geschichtsprozess "sentimentalisch" gewordenen, unnatürlich zerrissenen Zeit die Kluft zwischen erfahrener Wirklichkeit und einem ausgedachten Ideal jenseits dieser Wirklichkeit darzustellen - elegisch oder satirisch.

Schillers Jugendwerke haben mit seinem späteren Idealismus nicht viel zu tun. Und doch sind auch sie (wenigstens die Dramen) hoch aktuell geblieben. "Die Räuber" (von denen Schiller in späterer Zeit, ebenso wie von "Fiesko", "Kabale und Liebe" und den frühen Gedichten, keine gute Meinung hatte) bleiben attraktiv als Demonstration eines kraftgenialischen Übermuts der Räuberbande mit ihrem Anführer Karl Moor und der "herzverderblichen Philosophie", die dessen jüngerer Bruder Franz so faszinierend zu behaupten weiß. In dem Drama berühren sich die Extreme in den beiden Hauptfiguren, dem die Realität verkennenden, idealistisch sich gebärdenden Karl und dem materialistischen Zyniker Franz; denn sie verfolgen dasselbe Ziel: Herrschaft abzuschaffen, um Herrschaft auszuüben.

"Fiesko" (das viel zu wenig auf dem Theater zu sehende "republikanische Trauerspiel") ließe sich ebenfalls mühelos in die Dramenliteratur des 20. (und vielleicht auch des 21.) Jahrhunderts einfügen: Die Handlung ist kaum verständlich, noch weniger wahrscheinlich, und sie kann auch getrost als nebensächlich angesehen werden; denn andere Qualitäten des Stücks sind wichtiger als die nur lose mit der "wirklichen" Geschichte verknüpfte Handlung: die hoch fliegende Sprache (besonders der Titelfigur), die zugespitzten Dialoge, die großen Gesten, das Mit- und Gegeneinander von Liebe und Gewalt, von Verbrechen, Intrigen und hohen Gesinnungen, deren Summe die Einzelheiten des Geschehens, das sich auf 75 Auftritte verteilt, in den Hintergrund treten lässt.

Und "Kabale und Liebe"? Das "bürgerliche Trauerspiel" beweist seine Aktualität dadurch, dass es in den Schulen und auf dem Theater so präsent geblieben ist wie kaum ein anderes Stück Schillers. Es ist dessen erster und einziger Versuch, soziale, also politische Verhältnisse seiner Zeit dichterisch vorzustellen. Verhandelt wird der in vielen Jahrhunderten nicht unübliche Fall einer Liebesbeziehung zwischen Personen ungleichen Standes, ein Fall, der bekanntlich tödlich endet, wobei die Schuld nicht allein den Herrschenden, den Vertretern des korrupten Feudalabsolutismus, aufgehalst wird, sondern auch den Unterdrückten, die als Gottesordnung akzeptieren, was doch nur faules Menschenwerk ist. Das mag so gelten - einmal für immer? Den Grund für die anhaltende Beliebtheit der ziemlich "historischen" und eigentlich etwas antiquierten Tragödie hat Schiller weitblickend in seinem Brief vom 8. Februar 1784 an den Theaterregisseur Gustav Friedrich Wilhelm Großmann angegeben: "Ich darf hoffen, daß es [das Stück, N.O.] der teutschen Bühne keine unwillkommene Acquisition seyn werde, weil es durch die Einfachheit der Vorstellung, den wenigen Aufwand von Maschinerei [!] und Statisten, und durch die leichte Faßlichkeit des Plans, für die Direction bequemer, und für das Publicum genießbarer ist als die Räuber und der Fiesko."

Bewusst "idealistisch" wollte Schiller - nach seiner Stuttgarter und Mannheimer Zeit - zum ersten Mal mit seinem "Don Karlos" (1787) sein. Auch dieses Drama hatte das Glück, beliebt zu bleiben, weil immer wieder die zentrale Aussage des Marquis von Posa: "Geben Sie Gedankenfreiheit (...)" als für alle Zeiten gültige Forderung galt und des Königs Erwiderung: "Sonderbarer Schwärmer!" meist als Zeichen seines Misstrauens gegenüber jedermann und seines unkorrigierbaren Herrscherwillens verstanden wurde, auch wenn sich für den Potentaten Mitleid rühren sollte - weil er ja so einsam ist. Das Stück, geschrieben in einer oft betörenden Sprache (zum ersten Mal benutzte Schiller hier den shakespearischen Blankvers), kennt fast nur Verlierer: Karlos, Posa, Philipp, dessen Gemahlin Elisabeth (deren Schicksal allein die Charakterisierung "tragisch" verdient), auch Eboli, die intrigante Hofdame, und nur einen Gewinner: die schaurige Inquisition als Werkzeug der die Geschichte dominierenden Kirche.

Ludwig Börne hat 1818 nach dem Besuch einer "Don Karlos"-Aufführung davon gesprochen, dass ihn der "vierstündige Unterricht in Dingen der Weltweisheit auf deutsche Art vorgetragen" ermüdet habe, aber er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er "eines der Meisterwerke deutscher Dichtkunst" gesehen habe. Und so hat jede Generation im Prinzip geurteilt: Das viel zu lange Stück, das zugleich politisches, Familien- und Freundschafts-Drama ist, enthält genügend Substanz - poetische vor allem, aber auch politische -, um immer wieder mit Gewinn studiert und, nach geschickter Kürzung, aufgeführt zu werden. Ist es, mit seinem Plädoyer für die Freiheit der Völker und aller Individuen, dasDrama eines fortwirkenden Idealismus? Schiller selbst hat sich in seinen "Briefen über Don Karlos" (1788) gewohnt selbstkritisch geäußert und besonders Marquis Posa getadelt, der Karlos als bloßes Mittel zum Zweck der Befreiung Flanderns gebraucht habe. Dadurch werden seine beherzigenswerten Weltweisheiten tatsächlich ins Zwielicht gerückt - weil der Dichter in seinem Idealismus noch nicht gefestigt war. Hinsichtlich des Ideengehalts in seinem "Don Karlos" sollte nicht zur Seite geschoben werden, was der Dichter, beschäftigt mit "Wallenstein", am 21. März 1796 an Wilhelm von Humboldt geschrieben hat: "Vordem habe ich wie im Posa und Carlos [!] die fehlende Wahrheit durch schöne Idealität zu ersetzen gesucht, hier im Wallenstein will ich es probieren, und durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealitaet (...) entschädigen." Der Anspruch, "diebloße Wahrheit" (die der Geschichte, der Menschenschicksale) durch Poesie vermitteln zu können, ist der Ausweis des Schillerschen Idealismus, wie er sich nach 1790 entwickelt hat - nach ersten poetischen Bekundungen einer die Wirklichkeit transzendierenden Weltanschauung in den Gedichten "Die Götter Griechenlandes" und "Die Künstler" und nach mehrjährigen Geschichtsstudien (1787 - 1791). Erst dann wurde Schiller zu dem philosophischen und poetischen Idealisten, den die Nachwelt gefeiert und missachtet, verkannt und verstanden, auf jeden Fall nie völlig vergessen hat.

Schon 1788, in dem Gedicht "Die Götter Griechenlandes", und dann ein Jahr später in dem Gedicht "Die Künstler" hat Schiller, vielleicht unter dem Einfluss des ihm gerade erst ein wenig bekannt gewordenen Kant, eine Geschichts- und Kunstauffassung vertreten, die von der seiner "klassischen" Zeit nicht wesentlich unterschieden ist: In jenem Gedicht wird zum ersten Mal mit aller Schärfe die Ansicht geäußert, dass der Riss, der durch die Welt geht - diese in Jenseits und Diesseits, Ideal und Wirklichkeit, Erscheinung und Wesen trennend -, seine Ursache in dem Verlust einer vorchristlichen Welt des Glücks, der ungeteilten Natur, der Schönheit habe: Arkadien als Einheit des Menschlichen und Göttlichen, am Ende auseinander gefallen durch die Lehre des Christentums ("Einen zu bereichern, unter allen, / mußte diese Götterwelt vergehn"), so dass nur die Sehnsucht nach dem Verlorenen bleibe: "Kehre wieder, / holdes Blüthenalter der Natur!"

Wie das Vergangene an das Gegenwärtige und Zukünftige geknüpft werden könne, behandelt das zweite große Gedicht jener Zeit, "Die Künstler", in dem Schiller einen Gang durch die Weltgeschichte unternimmt, um zu zeigen, dass der Mensch seine Würde immer nur dann bewahrt habe, wenn er sich als Kulturwesen oder sogar als Künstler verstanden habe. Damit sich seine Hoffnung auf eine künftige Welt der Schönheit und Wahrheit erfülle, müssten sich vor allem die Dichter ihrer Aufgabe bewusst bleiben: "Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, / bewahret sie! / Sie sinkt mit euch! Mit euch wird die Gesunkene sich heben!" Nach der Veröffentlichung der "Künstler" schwieg der Dichter Schiller sechs Jahre.

Idealismus des Klassikers

Es bedurfte vermutlich des Ausbruchs der schweren Krankheit Anfang 1791 (einer Krankheit, die 14 Jahre später zu seinem Tod führte), um Schiller den Weg zum Idealismus des Klassikers zu bahnen, durch den er sich seine bleibende Zeitgenossenschaft sicherte, auch wenn er im Laufe der Jahrzehnte viel zu leiden hatte unter seinen Interpreten. Auf dem Krankenbett begann Schiller mit dem intensiven Studium der Hauptwerke Kants, der "Critik der Urtheilskraft" zunächst, dann der "Critik der practischen Vernunft"; mit den Grundzügen der "Critik der reinen Vernunft" machte er sich auch genauer bekannt, als es vorher geschehen war.

Schiller war von dem Königsberger Weisen fasziniert, glaubte aber dennoch, dass er ihn in Details präzisieren und überbieten könne. So entstanden die großen Abhandlungen "Ueber Anmuth und Würde" (1793), "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen" (1794/95) und "Ueber naive und sentimentalische Dichtung" (1795). Am 17. Dezember 1795 teilte Schiller dann seinem nicht sonderlich philosophischen Freund Goethe zu dessen Freude mit: "Es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe." Auf diesen Entschluss folgte eine rege poetische Tätigkeit Schillers - bis zu seinem Tod.

Schiller als der Dichter des deutschen Idealismus - das ist ein Mythos, der im 19. Jahrhundert entstand und gepflegt wurde und dessen Folgen bis weit ins 20. Jahrhundert zu beobachten waren, nicht immer zum Vorteil des Mythisierten. Der Dichter fiel schon bald nach seinem Tod in die Hände der politischen Moralisten und in die der moralisierenden Philosophen. Dass Wolfgang Menzel etwa, eine Art Literaturpapst der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in seiner ersten, viel gelesenen Geschichte der deutschen Literatur (1828) von Schiller als dem "größten unter den poetischen Idealisten" sprach, gründete auf seiner unerschütterlichen Überzeugung, dass Schiller als Mensch einem Ideal sehr nahe gekommen sei - der reine, tugendhafte, nach Weltverbesserung und Menschheitsbeglückung strebende Dichter, dessen "Ideale (...) Kinder seines glühenden Herzens, und getheilte Strahlen seines eigenen Feuers" gewesen seien. Menzel, ein erbitterter Gegner des als schwächlich und sittenlos apostrophierten Goethe, hat, geleitet von moralischen und nationalen Interessen, das Ansehen Schillers auf eine Basis gestellt, auf der er sich in den folgenden Jahrzehnten immer unangefochtener behauptete: auf die Basis außerästhetischer Ansichten und Argumente, mit denen Schiller als edel und tugendhaft förmlich ausgestellt wurde - als ein Seher, ein Herold, ein Apostel.

Von der vermeintlichen Idealität des Menschen Schiller wurde immer wieder der Schluss auf den Idealismus des Dichters gezogen, am erregtesten im Schiller-Jahr 1859, in dem zum Beispiel der angesehene Schriftsteller und Kritiker Karl Gutzkow (einer der 1835 "verbotenen" Jungdeutschen) mit religiöser Inbrunst ausrief: "Edler Schiller! Tritt in deiner würdevollen Gestalt aus den unbestimmten Dämmerungen der enthusiastischen Begeisterung dieser Tage und erleuchte dein Volk und die Welt über die wunderbare Schwingung, die dein Geburtsfest dem öffentlichen Geiste Deutschlands gegeben! (...) Der Geist der Tat, der befreienden, erlösenden, lebenschaffenden Tat ist es ja, der das deutsche Volk aus Schillers Leben und Dichten wie mit Riesenarmen, stählend und entflammend, umfängt (...)." So und ähnlich ging es weiter (bis hin zu Thomas Manns berühmter Schiller-Rede von 1955). Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde mit einem derart idealisierten idealistischen Dichter oftmals ziemlich kurzer Prozess gemacht. Er galt vielen als antiquiert.

Und auch dies wurde nicht mehr ernst genommen: dass Schiller der Repräsentant des deutschen Idealismus sei, wie es Hegel angenommen hatte, der in seinen ästhetischen Vorlesungen sagte, Schiller sei es gelungen, das Wesen der Kunst als die Einheit "des Allgemeinen und Besonderen, der Freiheit und Nothwendigkeit, der Geistigkeit und des Natürlichen" vollkommen zu erfassen. Und Hegels Schüler Friedrich Wilhelm Hinrichs war dieser Spur gefolgt und hatte in einem dreibändigen Werk über Schiller (1837 - 1839) dargetan, wie der Dichter nichts Geringeres erreicht habe, als "das Werden des Ideals zur Wirklichkeit", die "Verwirklichung der Freiheit in allen Gestalten des Lebens" poetisch zu konkretisieren. Über eine solche Einschätzung wäre Schiller höchst verwundert gewesen, und nicht weniger natürlich darüber, dass lange Zeit sein Bild unter den Gelehrten, in mancherlei Variationen zwar, aber nicht grundsätzlich verschieden, dieser - weniger ästhetischen als geschichtsphilosophischen - Vorstellung entsprach. So kam es, nicht zuletzt unter dem Eindruck des in finsteren Zeiten offensichtlich mühelos missbräuchlich manipulierten "Nationaldichters" Schiller, zu einer Entaktualisierung des Dichters, die in einigen Kreisen von Gebildeten bis heute nicht widerrufen worden ist. Es scheint, als werde es auch in Zukunft nicht an Schriftgelehrten fehlen, die das Thema Schiller für sich abgeschlossen haben und glauben, damit Ballast abgeworfen zu haben. Oder: Das Regietheater verzerrt den "teutschen Shakespeare" (wie 1781 einer der ersten "Räuber"-Kritiker den Verfasser nannte) nach eigenem Gutdünken bis zur Unkenntlichkeit, und das heißt in der Regel: bis jede Idealismus-Spur getilgt ist.

Zeitenbruch und Elysium

Wer die Aktualität Schillers als zweifelsfrei behauptet, macht nicht selten den Fehler, auf moralische Forderungen von anscheinend zeitloser Gültigkeit das Augenmerk zu richten. Doch was ist damit gewonnen, auf die Ansicht des jungen Schiller zu verweisen, das Theater müsse "die Laster [der Herrschenden, N.O.] vor einen schrecklichen Richterstuhl" reißen? Ist das "idealistisch"? Doch so wenig wie das Distichon "Würde des Menschen", an dem ja nichts auszusetzen ist und das mit Brechts "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" so schön übereinstimmt: "Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst." Und daran zu erinnern, dass Schiller in seiner akademischen Antrittsrede 1789 gefordert hat, der wahre Historiker dürfe kein bloßer Brotgelehrter, sondern müsse ein philosophischer Kopf sein, ist in Zeiten universitärer Not sicher nicht überflüssig, kann aber kaum geeignet sein, die Aktualität des Schiller'schen Idealismus zu bekräftigen.

Was aber ist das für ein Idealismus, der mit dem Namen Schiller verknüpft werden kann und dessen Aktualität außer Zweifel stehen sollte? Er hat sich erst in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts ausgebildet, in den meisten der theoretischen Schriften, und dann, naturgemäß modifiziert, in seinen Dichtungen, den Dramen und einigen Gedichten. In der Abhandlung "Ueber naive und sentimentalische Dichtung", einem der originellsten ästhetischen Werke der deutschen Literatur, das zusammen mit Friedrich Schlegels wenig später erschienenem Aufsatz "Ueber das Studium der Griechischen Poesie" so etwas wie die Magna Charta der klassischen und romantischen, besser: der klassisch-romantischen und damit modernen Literatur darstellt, hat Schiller von der geteilten Welt gesprochen, von dem Riss, der sich auch in der Kunst, besonders in der Dichtung zeige. Danach gehört der naive Dichter einer längst vergangenen arkadischen Zeit an, in der die menschlichen Vermögen noch nicht getrennt waren, in der Kunst und Natur, Religion und Wissenschaft, Anschauen, Denken und Handeln eine unreflektierte Einheit bildeten. Der Zeitenbruch veränderte die Bedingungen auch der Dichter, die nun nicht länger Natur sein (und sie so "bewahren") konnten, sondern fortan bestimmt waren, die Natur zu "suchen". Sie wurden sentimentalisch, das heißt, in ihnen fielen die Anschauung (die Empfindung) und das Denken auseinander, so dass sie über den Eindruck der Erscheinungen reflektieren und die Auseinandersetzung über die Kluft zwischen der Wirklichkeit und einem ausgedachten Ideal zu ihrem Hauptgeschäft machen mussten, in der Erwartung, dass sich diese Kluft einmal, am Ende der Zeiten, werde schließen lassen, nicht zuletzt durch ihre Kunst. Den Ort des geschichtslosen Zeitalters nannte Schiller "Elysium".

Die Werke des sentimentalischen, des modernen Dichters behandeln notwendigerweise "den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale", und zwar entweder elegisch oder satirisch; in allen Fällen wird die gemeine Wirklichkeit der Dinge dargestellt, aber stets um eines "inneren idealischen Gegenstandes" willen. Die höchste Form der sentimentalischen Dichtung ist für Schiller die Idylle. Deren Begriff ist der "eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freyen Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, kurz, es ist kein andrer als das Ideal der Schönheit auf das wirkliche Leben angewendet. Ihr Charakter besteht also darinn, daß aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale, der den Stoff zu der satyrischen und elegischen Dichtung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben sey (...)." Dies, so lässt sich leicht denken, kann nur gelingen jenseits der Geschichte.

Die Frage, ob es in Elysium überhaupt einer Dichtung, die immer nur idyllisch sein kann, bedarf, beschäftigte Schiller nicht; hingegen kam ihm während der Arbeit an der Abhandlung der Gedanke, er könne selbst seine sentimentalischen, durch die geschichtlichen Verhältnisse gesetzten Schranken überspringen - ein wahrhaft idealistischer, ja ein verstiegener, aber deswegen nicht unsinniger Gedanke. Er wolle sich selbst an einer Idylle versuchen, schrieb Schiller Ende November 1795 an Wilhelm von Humboldt: "Denken Sie Sich (...) den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freyheit, lauter Vermögen - keinen [!] Schatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen - Mir schwindelt ordentlich, wenn ich an diese Aufgabe denke - wenn ich an die Möglichkeit ihrer Auflösung denke. Eine Scene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse! Ich verzweifle nicht ganz daran, wenn mein Gemüth nur erst ganz frey und von allem Unrath der Wirklichkeit recht rein gewaschen ist." Idealistischer war Schiller nie. Da er sich nicht vom Unrat der Wirklichkeit reinwaschen konnte, blieb die Idyllendichtung, der er die Überschrift "Die Vermählung des Herkules mit der Hebe" gegeben hatte, Utopie. Mit ihr wollte er sein kurz zuvor geschriebenes Gedicht "Das Reich der Schatten" (das er später "Das Ideal und Leben" nannte) überbieten, wollte das Reich der absoluten Schönheit, das in diesem Gedicht wie eine biblische Verheißung behandelt wird, als wirklich zeigen.

Dass Leben, Wirklichkeit und Geschichte durch die Kunst zu transzendieren oder wenigstens auszuhalten seien, blieb Schillers Überzeugung bis an sein Lebensende. In dem Ende 1799 geschriebenen Gedicht "Nänie", das beginnt: "Auch das Schöne muß sterben", wird im letzten Distichon diese Sonderstellung der Kunst knapp begründet: "Auch ein Klaglied zu seyn im Mund der Geliebten ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab." Und in dem eineinhalb Jahre später entstandenen Gedicht "Am Antritt des neuen Jahrhunderts" heißt es abschließend: "In des Herzens heilig stille Räume / Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, / Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang."

Die Grundlage für seine idealistische Kunstauffassung hatte Schiller in seinen Briefen "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" gelegt, einer 1795 in den "Horen" erschienenen Abhandlung, die auf den so genannten "Kallias"-Briefen an Freund Körner und den Briefen an den Erbprinzen von Augustenburg basieren; in ihnen finden sich viele bemerkenswerte Ansichten, die bis zum heutigen Tag diskussionswert, also aktuell sind.

Seine Gegenwart, so Schiller, sei gekennzeichnet durch einen entsetzlichen Verfall von Sitte, Recht und Ordnung; es stünden sich die Depraviertheit der Herrschenden und die Rohigkeit der Masse antagonistisch gegenüber, und zu helfen sei nur, wenn eine Besinnung auf die Wurzel der Kultur durch die Gebildeten erfolge, mit dem Ziel, die Kunst als Helferin aus den elenden Zuständen zu fördern. Der Künstler wird an seine eigentliche Aufgabe erinnert: "Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und dem Bedürfniß." Er müsse, als Repräsentant der wahren Menschheit, bestimmt sein durch "die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seyns, d. i. die Freyheit". (Was Schönheit sei, steht in dem "Kallias"-Brief vom 8. Februar 1793: "Freiheit in der Erscheinung".) Die Tätigkeit des Künstlers ist gebunden an konkrete Inhalte, denen er durch die Form eine prägende Bedeutung zu geben vermag.

Um Stoff- und Formtrieb geht es eine Weile in Schillers Abhandlung; beide Triebe sind zwar notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen der Künstlerschaft. Der Künstler beweist seine Superiorität, indem er die beiden Triebe in ihren jeweiligen Grenzen hält und sie durch den Spieltrieb vermittelt, in dem sie "vereinigt" wirken. Auf spielerische Weise wird "Form in die Materie und Realität in die Form" gebracht und dadurch die Sittlichkeit mit der Sinnlichkeit versöhnt. Schiller, der alles daran setzt, das System der Schönheit als objektiv notwendig und gesetzmäßig wirkend zu erweisen, erklärt, was er unter Spiel versteht: "was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt". Im 15. der insgesamt 27 Briefe wird die Dignität des Spiels als Signatur der Kunst in den oft zitierten Satz gefasst: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Damit ist das Ideal der Schönheit über die Wirklichkeit hinaus bestimmt - "in dem möglichstvollkommensten [sic] Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form".

Zur glückenden Vermittlung zwischen Empfinden und Denken, Stoff und Form bedarf es, wie Schiller angibt, einer "freyen Stimmung", die einen "Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit" ermöglicht. Dieser Zustand des autonomen Subjekts wird als "ästhetischer Zustand" bestimmt - als Bedingung für die Hervorbringung des Kunstschönen im freien Spiel, durch das erreichbar wird, was in Schillers idealistischem Credo diesen Ausdruck findet: "In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun. (...) Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt." Schiller weiß, daß er - nicht anders als bei der Bestimmung der sentimentalischen Idylle - von einem Ideal spricht, von einer Utopie, die freilich als durchaus konkret angesehen werden soll. Es geht ihm darum, dass die noch unvollkommene Kunst dieses Ideal nicht aus den Augen verliert, dass sie den ästhetischen Zustand vorbereitet, in dem die Menschen dermaleinst ganz frei, damit auch ganz sittlich und alle staatlichen Einrichtungen durch seine Bürger ästhetisch sein werden.

Kunst und Freiheit

Schillers große Abhandlung ist hoch spekulativ und nicht frei von Widersprüchen. Doch liegt die Aktualität der hier behandelten Probleme auf der Hand. Die Gebrechen der Schiller-Zeit sind die späterer Zeiten. Stets war es um die Autonomie des Menschen nicht sonderlich gut bestellt, und das interesselose Wohlgefallen am Schönen ist und bleibt ein schwer erfüllbares Postulat wie das des nur im Spiel sich beweisenden Menschen. Aber auch wenn ein ästhetischer Staat nicht in Sicht ist, sollte der Künstler ihn anstreben. Es kann nicht sein, dass die Kunst, die keine unmittelbaren moralischen und politischen Zwecke verfolgt, darauf verzichtet, den Menschen in Freiheit setzen zu wollen, das bloß physisch Sinnliche wie das bloß vernünftig Sittliche zu transzendieren. Das Postulat wird nie obsolet sein: dass die Schönheit zur Erkenntnis der Wahrheit wie zur Erfüllung moralischer Pflichten ohne jeden Zwang führen solle. Dadurch kann sie den Menschen frei machen, ihm die Möglichkeit des Spiels (in welchem Sinn auch immer) geben, so dass er sich gegen die Widerstände, die Natur und Geschichte stets aufs Neue setzen, wenigstens zeitweise behauptet; dass er die Kunst erfährt als promesse de bonheur, als Lebens-, als Überlebensmittel in einer entfremdeten Welt. Es kann nicht in Frage gestellt werden, dass der Künstler auch unserer Tage mit Schillers schöner Bestimmung aus seinen ästhetischen Briefen etwas anfangen kann: Er präge das Ideal "in die Spiele seiner Einbildungskraft, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit".

Die zuweilen geäußerte Auffassung, dass Schillers idealistisches Konzept der ästhetischen Erziehung ins Leere ziele, ist angesichts der Weltverhältnisse, wie sie sich in den vergangenen beiden Jahrhunderten entwickelt haben, nicht unverständlich. Doch die Hoffnung, die Beschäftigung mit dem Schönen werde, ohne gleich den harmonischen Menschen und eine ästhetisch bestimmte Gesellschaft hervorzubringen, zur Hebung des moralischen Niveaus, vielleicht zur Wahrheitsfindung und zur Beförderung der "Glückseligkeit" beitragen - diese Hoffnung sollte nicht fahren gelassen werden.

Wer nach Schillers Aktualität und seinem idealistischen Schönheitsverlangen sucht, wird mühelos auf dem Feld seiner klassischen Dramen (von "Wallenstein" bis "Wilhelm Tell") fündig. Dabei ist es keineswegs so, dass, wie aufs Einfachste immer wieder versichert und geglaubt wird, diese Dramen in ihrem Inhalt ein idealistisches Menschen- und Geschichtsbild vermittelten, sondern Schiller war (mit unterschiedlichem Erfolg) bemüht, die furchtbaren Ereignisse, die er - mit Ausnahme des "Wilhelm Tell"-Geschehens - zum Gegenstand (zum "Stoff") seiner Stücke wählte, durch die "Form", das heißt durch Sprache, Stil, Komposition und Figurenkonstellation, zu "vertilgen", der Versicherung im "Wallenstein"-Prolog eingedenk: "Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." Schiller war, spätestens seit der die Französische Revolution bestimmenden Terreur (genau: seit der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793), von der zernichtenden Gewalt der Geschichte zutiefst überzeugt, und in seinen Tragödien hat er dieser Überzeugung aufs Entschiedenste Ausdruck verliehen. Als Antwort auf die Schrecken, die er in Vergangenheit und Gegenwart wahrnahm, mobilisierte er die Kunst, deren Schönheit zur Erkenntnis der dringend benötigten Wahrheit beitragen sollte.

Bei der Arbeit am "Wallenstein" sah sich Schiller wieder vor dieses Problem gestellt: Wie lässt sich die Geschichte, die ja im Wesentlichen von der "gemeinen Wirklichkeit der Dinge" handelt, so darstellen, dass sie nicht idealistisch überhöht, sondern in ihrer "Eigentlichkeit", als zufällig und gleichzeitig vernichtend, erscheint? Wie konnte Wallenstein beizukommen sein, der, wie Schiller schon am 21. März 1796 an Humboldt schrieb, "nichts Edles" habe und deshalb nicht idealisiert werden dürfe? Er wollte es auf eine neue Weise versuchen, schrieb er im selben Brief: "Es ist erstaunlich", heißt es da, "wieviel realistisches schon die zunehmenden Jahre mit sich bringen, wieviel der anhaltendere Umgang mit Göthen und das Studium der Alten (...) bey mir nach und nach entwickelt hat." Mit der "realistischen Wende" verband sich für Schiller eine neue Bestimmung dessen, was als wahr zu gelten habe: nicht mehr das jenseits aller Erfahrungen sich verbergende Wesen der Erscheinungen, sondern der erkennbare (auch konstruierbare) Zusammenhang des Seienden mit seinem Grund und seinen Wirkungen. Im "Wallenstein"-Prolog wird versprochen, dass die Muse "das düstre Bild / Der Wahrheit [gemeint ist die historische Wirklichkeit, N.O.] in das heitre Reich der Kunst" "hinüberspiele". Die heitere, die überlegene Kunst kann, indem sie über die Wirklichkeit einen Schleier breitet, deren Wahrheit zur Erscheinung bringen, da sie, die Kunst, das Wahre mit dem Schönen aufs Engste verbindet.

Es sei dahingestellt, ob Schillers realistischer Blick auf die Realitäten der Wallenstein-Tragödie deren Kern aufdeckt oder ob sich nicht doch - vor allem in der Figur des erfundenen Max Piccolomini - manch Idealistisches jenseits dieser Realitäten in den Vordergrund drängt. Doch ist kaum zweifelhaft, dass Schiller die Gräfin Terzky zu seinem Sprachrohr macht, wenn er sie dem von "den Wohnungen der ewgen Freude" schwärmenden Max antworten lässt: "Doch muß ich bitten, einge Blicke noch / Auf diese ganz gemeine Welt zu werfen, / Wo eben jetzt viel Wichtiges geschieht." Max ist der aus der Geschichte Gefallene, der phantastische, realitätsblinde Idealist, dem nur der Tod bleibt und der allen seinen Pappenheimern das Leben nimmt. Das ist wahrlich kein Empfehlungsbrief für den von dem Jüngling repräsentierten Idealismus. Gegensätzlich (sehr realistisch!) ist Thekla, deren Liebe ganz auf das Diesseits gerichtet ist und deren Verse rühren, weil sie so schön und auch wahr sind.

Es geht in der "Wallenstein"-Trilogie nicht um die Poetisierung oder Idealisierung historischer Ereignisse oder einzelner Figuren, sondern um die Poesie, die das Schreckliche bannen, die über das Schreckliche hinausweisen soll. Um diese Absicht zu unterstreichen, hat Schiller den Feldherrn auf gemeine Weise umbringen lassen und ihn dadurch einem grandiosen Finale entzogen. Sein Ende ("unglaublich! abscheulich! der Tod siegt über das Leben! Dies ist nicht tragisch, sondern entsetzlich", urteilte Hegel) soll verdeutlichen, dass große Individuen bestimmt sind, vom Schauplatz ihrer Taten in den Tod getrieben zu werden - wie und von wem auch immer.

Und grundsätzlich nicht anders sind die beiden folgenden Tragödien Schillers zu sehen. Weder "Maria Stuart" noch "Die Jungfrau von Orleans" sind idealistisch überhöhte Darstellungen historischer Geschehnisse, sondern sie sind Demonstrationen von Ausweglosigkeiten. Dort: Die Geschichte lässt nicht zu, dass zwei Herrscherinnen gleichen Rechts überleben, hier: Gott lässt den Menschen in Schuld fallen, wenn er sich von diesem abwendet (und dann folgerichtig dieser von jenem), auch in dem extremen Fall, dass er, der Mensch, sich liebend einem Mitmenschen zuwendet. Die Himmelfahrten Marias und Johannas sind nur Trost für diejenigen, die glauben können. Gegen die Verzweiflung angesichts der notwendigen Untergänge setzt der Dichter die Hoffnung auf die Wirkung des Schönen seiner Kunst.

Am weitesten ist diese Tendenz in der "Braut von Messina" getrieben, in der die unwahrscheinliche und ziemlich sinnlose Handlung die Möglichkeit eröffnen soll, sich ganz auf die Darstellungsweise, auf das poetische Sprechen in höchsten Tönen zu konzentrieren. "Die wahre Kunst", sagt Schiller in der Vorrede zu der Tragödie, "hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der That frei zu machen, und dieses dadurch, dass sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln, und das Materielle durch Ideen zu beherrschen." Das ist ein wahrhaft idealistisches Kunst-Bekenntnis, von dem zu wünschen ist, dass es seine Aktualität behauptet.

"Wilhelm Tell" ist seit jeher so beliebt, weil es als Freiheitsdrama Vorbildcharakter zu haben scheint. Seine Aktualität ist schwerlich mit seiner Kunstfertigkeit zu begründen, sondern hängt mit der in dem Schauspiel demonstrierten politischen Haltung (die Schiller selbst nicht unproblematisch war) und also mit seiner vielfältigen Verwendbarkeit zusammen. Der Dichter hat in seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt am 2. April 1805 selbstkritisch angemerkt, mit "Wilhelm Tell" habe er vielleicht "einen Seitenschritt" gemacht, "indem es mir begegnet seyn kann, den materiellen Forderungen der Welt und der Zeit etwas eingeräumt zu haben". Unter dem Gesichtspunkt seiner seit einem Jahrzehnt verfochtenen idealistischen Kunstphilosophie kann dieses letzte Drama Schillers sogar als Seitensprung bezeichnet werden. Gegen den Verdacht, selbst "materiell" geworden zu sein, hat der vom Tode Gezeichnete im selben Brief an Humboldt den Satz gesagt: "Am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge."

Schillers Idealismus gründete auch am Ende seines Lebens auf dem festen Glauben, dass durch das Schöne, durch die heitere Kunst der Welt zu helfen sei. Dieser Idealismus sollte von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Dr. phil., geb. 1936; bis 2002 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; seit 1991 alleiniger Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe. Rüngsdorfer Straße 11, 53173 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: n.oellers@uni-bonn.de