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Der Eventfilm als geschichtspolitisches Melodram

Andreas Dörner

/ 13 Minuten zu lesen

Historisch-politische Eventfilme sorgen seit der Jahrtausendwende in der deutschen Medienkultur für hohe Einschaltquoten. Mit ihren großen Reichweiten sind sie zu einem wichtigen Agendasetter und Faktor der politischen Kultur geworden.

Einleitung

Geschichte hat im Zeitalter der medialen Eventkultur alles Altehrwürdige und Verstaubte verloren. Sie wird zum Medienereignis, das den Zuschauern intensive emotionale und ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Historische Figuren, gleich ob real beglaubigt oder frei erfunden, agieren hier als Helden mit Kultpotential. Mit ihnen kann sich das heutige Publikum identifizieren und so in vergangene Welten eintauchen: das heißt historische Ereignisse sinnlich erfahren. Triumph und Niederlage, Opfer und Verrat, Reichtum und Armut vergangener Zeiten werden im Verlauf der filmischen Als-ob-Welten zur aktuellen Wirklichkeit.



Hierzulande hat sich seit einigen Jahren vor allem das Fernsehen um eine solche "Verlebendigung" von Geschichte gekümmert. Es hat, so Edgar Wolfrum, "die Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen". Dies betrifft zum einen die Alltagsgeschichte, wenn in sogenannten "Living History"-Formaten in Schwarzwaldhäusern das Leben um 1900 nachgestellt wird oder wenn junge Menschen eine Bräuteschule im Stil der 1950er Jahre besuchen. Zum anderen bereiten Dokumentarmagazine, marktführend noch immer die Produktionen von ZDF-Haushistoriker Guido Knopp, die großen Züge der Geschichte unterhaltsam und Quoten steigernd auf. Das interessanteste Phänomen sind jedoch die populären Eventfilme, die seit der Jahrtausendwende das deutsche Fernsehprogramm bevölkern und beste Quoten für die Sender erzielen. In diesen wird vor allem die jüngere Geschichte thematisiert, von der Zeit des Nationalsozialismus mit Krieg, Holocaust, Flucht und Vertreibung ("Dresden", ZDF, 2006; "Die Flucht", ARD, 2007; "Die Gustloff", ZDF, 2008) über die Nachkriegszeit der Berliner Luftbrücke ("Die Luftbrücke - Nur der Himmel war frei", Sat. 1, 2005) und der Hamburger Sturmflut 1962 ("Die Sturmflut", RTL, 2006) bis hin zur deutsch-deutschen Geschichte und Wiedervereinigung (u.a. "Der Tunnel", Sat. 1, 2001, "Die Frau vom Checkpoint Charlie", ARD, 2007; "Die Prager Botschaft", RTL, 2007). Hatte sich das klassische Dokudrama, das hierzulande vor allem durch die Produktionen von Horst Königstein und Heinrich Breloer geprägt ist, noch um einen Brückenschlag zwischen dokumentarischer Rekonstruktion und Verlebendigung von Geschichte bemüht, so wird in den Eventfilmen eine weitgehende Fiktionalisierung der Historie in einem dennoch historisch beglaubigten Rahmen geleistet. Das neue Ereignisfernsehen setzt seine Akzente eindeutig im Bereich der Unterhaltung, und gerade deshalb ist es in der Lage, als "Politainment"-Phänomen auch politisch-kulturelle Relevanz zu entfalten.

Die Reichweiten der Filme sind mit teilweise über zehn Millionen Zuschauern so hoch wie sonst nur bei Sportübertragungen oder Ausnahmeformaten wie "Wetten, dass...?". Sie erreichen vor allem auch das unterhaltungsorientierte, politisch kaum interessierte Publikum. Die Eventfilme sind damit zu einem wichtigen Faktor der politischen Kultur Deutschlands geworden.

Die Eigenschaften des Formats

Was ist das Erfolgsgeheimnis jenes Formats, das zuerst den privaten Anbietern und später zunehmend auch den öffentlich-rechtlichen Sendern regelmäßig so hohe Quoten beschert hat? Um dies zu verstehen, muss der Blick sowohl auf die Struktur der Filme als auch auf ihre Marketingstrategien in einer heiß umkämpften Aufmerksamkeitsökonomie gerichtet werden.

In gewisser Hinsicht sind die Eventfilme ein Symptom der Amerikanisierung des deutschen Fernsehens. Sie knüpfen in Machart und Marketing deutlich an erfolgreiche Kinoproduktionen aus den USA an, in denen die unterhaltsame Mixtur aus historisch relevantem Setting und Unterhaltungskino vorgeführt wurde. Das paradigmatische Modell stellt dabei die Hollywood-Produktion "Pearl Harbor" dar (2001, Regie Michael Bay). Hier wird mit dem verheerenden Angriff japanischer Streitkräfte auf den amerikanischen Militärhafen in Hawaii im Jahre 1941 ein traumatischer Punkt im kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten aufgegriffen. Der aufwändig produzierte, 132 Millionen Dollar teure und 176 Minuten lange Spielfilm zeigt, wie sich auch im Angesicht einer militärischen Niederlage der Heroismus des Einzelnen und der Gemeinschaft bewähren kann. Die Erzählung des Films dreht sich um die eng befreundeten Kampfflieger Rafe und Danny. Rafe wird bei der Luftschlacht um England abgeschossen und für tot erklärt. Der trauernde Danny verliebt sich später in die Freundin des vermeintlich Gefallenen, die Krankenschwester Evelyn. Als Rafe unverhofft zurückkehrt, kommt es zu heftigen Irritationen der Männerfreundschaft. Erst in den folgenden Kriegshandlungen beim Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und bei einem Vergeltungsangriff amerikanischer Bomber auf die Hauptstadt Tokio wird die Freundschaft erneuert. Der sterbende Danny gesteht Rafe schließlich, dass Evelyn von ihm schwanger sei, und beschwört ihn, sich um Frau und Kind zu kümmern, was dieser nach der Rückkehr in die Heimat auch tut. Der Film war mit einem Einspielergebnis von ca. 449 Millionen Dollar ökonomisch ausgesprochen erfolgreich.

Die wesentlichen Erfolgsfaktoren, die sich am Beispiel von "Pearl Harbor" erkennen und problemlos auf die deutschen Eventfilme übertragen lassen, sind:

1. Wahl eines politisch-historisch relevanten Themas, das im öffentlichen Gedächtnis der Bezugsgesellschaft noch präsent ist. Pearl Harbor im Kontext des Zweiten Weltkriegs zählt ohne Zweifel neben dem Unabhängigkeitskampf und der Staatsgründung, dem Sezessionskrieg und der Niederlage in Vietnam zu den identitätsbildenden Ereignissen in der US-amerikanischen Geschichte. In den deutschen Eventfilmen werden unter anderem die Zerstörung Dresdens, die Flucht aus den deutschen Ostgebieten, die Berliner Luftbrücke und die Hamburger Sturmflut, Mauerbau und Mauerfall neu in Szene gesetzt. Jedem Zuschauer ist klar, dass es um historisch Wichtiges geht. Eine solche Thematik ist auch geeignet, öffentliche Debatten anzustoßen und somit die Agenda und den Themenhaushalt der Medienkultur zu beeinflussen. Dieser Einfluss kann bis in die Bildungsinstitutionen hinein reichen, wenn ein historisches Thema neu aufgegriffen und über den Film im Unterricht anschaulich behandelt wird. Die Glaubwürdigkeit der filmischen Erzählung wird durch die Herstellung von Authentizität unterstützt. Dies geschieht etwa durch minutiöse Rekonstruktionen der Schauplätze und die Stimmigkeit aller Details bei Kostümen, Frisuren und Requisiten. Um den Realitätsgehalt zu beglaubigen, kommt teilweise auch Archivmaterial mit historischen Originalaufnahmen zum Einsatz.

2. Eine Kombination aus fiktionalen und nichtfiktionalen Elementen: Typisch für den historisch-politischen Eventfilm ist, dass die Erzählung sich gleichzeitig in einem nichtfiktionalen makropolitischen und einem fiktionalen mikropolitischen Strang entfaltet: Auf der Makroebene spielen sich Kriege, Katastrophen und andere markante Ereignisse ab. Es agieren kollektive Akteure, und das Geschehen folgt in der Regel den Grundlinien, die dem öffentlichen Wissen über die Ereignisse entsprechen: Japanische Flugzeuge greifen den Kriegshafen Pearl Harbor an, alliierte Bomber zerstören Dresden, Flüchtlingsströme ziehen aus Angst vor der Roten Armee gen Westen. Die eigentliche Verlebendigung der Geschichte erfolgt jedoch durch die mikropolitische Fiktion. Die erfundenen Einzelschicksale ermöglichen es den Zuschauern, sich zu identifizieren und in die historische Welt "einzutauchen". Geschichte wird von einem abstrakten Wissen in eine erlebbare Als-ob-Welt transformiert.

3. Eine melodramatische Struktur des Films, die geeignet ist, das Unterhaltungsbedürfnis insbesondere der weiblichen Zuschauerschaft zu bedienen. Das Melodrama zählt ohne Zweifel zu den bewährten, ökonomisch erfolgreichen Konzepten in der Geschichte des populären Films. Es gilt traditionell als das "leichte", weniger anspruchsvolle Parallel-Genre zur Tragödie, das sich durch einfach und klar konturierte Charaktere sowie eine vereinfachte Merkmalsverteilung von "gut" und "böse", "stark" und "schwach", "männlich" und "weiblich" auszeichnet. An der Stelle von komplexen inneren Konflikten und Ambivalenzen stehen im Melodram starke Emotionen, die durch eine klare, pathetische Bildsprache (beispielsweise mit häufigem Einsatz von Nah- und Großaufnahmen) sowie eine intensive musikalische Gestaltung gesteuert werden. Das Melodram stellt weniger Fragen, als dass es moralisierende Antworten gibt. Und ungeachtet gewisser tragischer Momente, etwa des Opfertodes einzelner Protagonisten, arbeitet das Format stets mit dem Happy End des Sieges für die gute Sache und mit der überlegenen Moral der Helden. Daher wirkt das Melodrama am Ende in der Regel Trost spendend und Sinn stiftend.

Das typische Modell, das im Anschluss an "Pearl Harbor" mit leichten Variationen nahezu alle Eventfilme aufweisen, ist die Liebesgeschichte in einer Dreieckskonstellation: Eine junge Frau steht in ihrer Liebe zwischen zwei Männern. Dieses in zahllosen Melodramen erprobte Modell fungiert als Traggerüst des gesamten Films, der sich in den meisten deutschen Produktionen über zwei Teile von je 90 Minuten erstreckt - verbunden durch einen "Cliffhanger", der die Spannung bis zur Fortsetzung aufrecht erhalten soll.

4. Special Effects und Elemente des Actionkinos, die geeignet sind, das Unterhaltungsbedürfnis insbesondere der männlichen Zuschauerschaft zu bedienen. Die Produzenten greifen gern auf den Genre-Rahmen des Kriegs- und Katastrophenfilms zurück, der zahlreiche Gelegenheiten bietet, aufwändige Special Effects einzubauen. So weist "Pearl Harbor" im zweiten Teil des Films lange Sequenzen mit spektakulären Detonationen, Feuerwänden und Stunt-Szenen sowie atemberaubenden Flugmanövern auf. Die digitale Kinotechnik ermöglicht es den Zuschauern, sich in nie gekannter Intensität als Helden oder Opfer in Extremsituationen hineinzuversetzen. Der Film macht hier - ohne jedes Risiko für Leib und Leben - Realitätsdimensionen zugänglich, die den meisten Zuschauern sonst Zeit ihres Lebens erspart oder vorenthalten bleiben. Zugleich sorgen die Special Effects für zusätzliche Aufmerksamkeit in einem umkämpften Markt. So warb RTL offensiv mit den für das deutsche Fernsehen ungewöhnlich hohen Produktionskosten des Zweiteilers "Die Sturmflut" (ca. acht Millionen Euro), die vor allem in die spektakulären Effekte investiert wurden.

5. Prominenz: Event-Filme erzielen durch prominente Akteure vor allem vor, mitunter aber auch hinter den Kameras erhebliche Vorteile im Kampf um Marktanteile. Dies zeigt sich auf Ebene der Schauspieler nicht nur in den Hauptrollen, sondern gerade in den Nebenrollen, die mit prominenten Darstellern besetzt werden. Die Besetzungslisten der deutschen Eventfilme lesen sich regelmäßig wie ein Who's Who der ersten Garde deutscher Fernsehschauspieler. Die Besetzung wird somit zu einem Bestandteil des Marketings und stellt sicher, dass der Eventfilm tatsächlich zu einem Event, zu einem weithin wahrgenommenen Ereignis in der Medienkultur werden kann.

6. Umfangreiche PR- und Werbemaßnahmen: Der Eventfilm wird aufwändig in der Medienöffentlichkeit lanciert. All jene Aktionen, die wir vom neueren Hollywood-Blockbuster kennen, kommen hier zum Einsatz: Werbeanzeigen, Plakatwerbung und Teaser und Trailer, eine umfangreiche PR mit Berichten, Interviews und "Making Ofs" im Vorfeld, festliche und prominent besetzte Premierenfeiern. Bemerkenswert und neu ist, dass diese Charakteristika des erfolgreichen Kinos beim TV-Eventfilm auf das Medium Fernsehen übertragen werden.

7. Das utopische Gefühl einer geglückten politischen und privaten Existenz: Die Botschaft des Films "Pearl Harbor" ist einfach und unübersehbar. Es ist ein ungebrochener Appell für militärisches Heldentum und Patriotismus. Entscheidend ist jedoch, dass sie ein großes Heilsversprechen enthält, das sich ähnlich schon in einer langen Tradition von politischen Filmen in den USA findet: Der opferbereite Einsatz für die Gemeinschaft geht einher mit der Erfüllung des privaten Glücks in Liebe, Freundschaft und Familie. Diese Formel ermöglicht es, Egoismus und Altruismus, private und politische Existenz, Liebesromanze und historisch-politisches Drama zu einer Synthese des sinnhaft geglückten Lebens zu montieren. Auch die deutschen Eventfilme lassen das Publikum die Utopie einer Welt fühlen, in der eine solche umfassend erfüllte Existenz noch erfahren werden kann.

Die Relevanz für die politische Kultur

Versteht man unter politischer Kultur die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Werte und Normen, Vorstellungen, Gefühle und Normalitätserwartungen, die das Alltagsleben in einer Gesellschaft prägen, dann ist unmittelbar einsichtig, dass politische Kultur und populäre Medienkultur auf das engste miteinander zusammenhängen. Auf der einen Seite spiegeln sich in den Medienprodukten die Selbstverständlichkeiten einer politischen Kultur wider, weil jeweils der Erwartungshorizont des Publikums berücksichtigt werden muss, um erfolgreich zu sein. In dieser Hinsicht verstärken die Medien vorhandene "Normalitäten" und stellen Elemente der politischen Kultur auf Dauer. Abstrakte Werte und Normen werden durch konkrete Geschichten mit lebendigen Akteuren veranschaulicht und modellhaft vorgeführt. So werden beispielsweise Normen wie Zivilcourage und Ziviler Ungehorsam, die insbesondere seit 1968 und den Protestbewegungen der 1980er Jahre verbreitet sind, durch das konkrete Beispiel einer Krankenschwester vorgeführt, die sich den Anordnungen des Militärs widersetzt, um das Leben einer Deserteursfrau zu retten, und dabei das eigene Leben riskiert ("Dresden"). Hier wird nicht von Werten und Normen gesprochen, sondern diese werden in einer dramatischen Szene gezeigt und so erlebbar gemacht. In ähnlicher Weise haben auch zahlreiche "Tatort"-Filme und Folgen der Dauerserie "Lindenstraße" den Bestand eines breiten Konsenses in der bundesrepublikanischen Bevölkerung gegen Alt- und Neonazismus gesichert. Auf der anderen Seite sind Medienprodukte aber immer auch Bestandteil einer politischen Deutungskultur, in der die tradierten Vorstellungsmuster reflektiert, in Frage gestellt und verändert werden können. Persistenzsicherung einerseits, verändernde Deutungspolitik andererseits sind die beiden Seiten einer Medaille.

Diese beiden Seiten treten auch bei der politisch-kulturellen Dimension der Eventfilme zutage. Zunächst zeigt sich, dass die Filme durch ihre unterhaltsame Machart in der Lage sind, politisch-historische Sujets an ein Publikum heranzutragen, das sich sonst mit solchen Themen kaum freiwillig auseinandersetzen würde. Geschichtswissen und Geschichtsinteresse sind heute insbesondere bei den jüngeren Generationen sehr gering ausgeprägt, wobei sich der Abwehrreflex gegenüber allen Formen institutionalisierter politisch-historischer Bildung vor allem bei den geringer Gebildeten zeigt. Mit den Filmen werden auch diese Publikumsgruppen erreicht. Und es gelingt zudem, die Thematik über den bloßen Filmevent hinaus auf die mediale Agenda zu setzen und so, beispielsweise über Talkshows und Dokumentationen, auch Anschlusskommunikation beim Publikum anzuregen. Politisch-kulturelle Wissensbestände und Vorstellungsmuster können auf diese Weise stabilisiert werden.

Der emotionsbetonte Weg, den die Melodramen anbieten, eröffnet zudem einen Zugang, der dem analytischen Bildungsfernsehen weitgehend verschlossen bleibt. Wie wichtig diese emotionale Ebene ist, wurde 1979 mit dem Phänomen der Miniserie "Holocaust" im deutschen Fernsehen vorgeführt. Von vielen Kennern belächelt, gelang es dem Hollywood-Melodram erstmals, in der breiten Öffentlichkeit eine neue, bis in die Familien hineinreichende Form der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und Schuld zu ermöglichen. Dass damit analytische Defizite einhergingen, die auch den Zugang der Eventfilme prägen, liegt auf der Hand. Dennoch können Bemühungen der historisch-politischen Bildung beim Filmerlebnis ansetzen und die Erfahrung als Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema nutzen.

Gleichzeitig sind unterhaltsame Melodramen jedoch auch Elemente von Geschichtspolitik. Dies zeigt sich vor allem in den neueren Produktionen, wo neben den tradierten, gleichsam "politisch korrekten" Formen des Gedenkens neue Aspekte betont werden: So wird darin vor allem die Rolle der deutschen Bevölkerung als Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung thematisiert. Produktionen wie "Dresden", "Die Flucht" und "Die Gustloff" stellen das Leid der Deutschen in den Vordergrund, auch wenn sie dabei stets bemüht bleiben, den Schuldzusammenhang nicht auszublenden. Die Akzente haben sich verschoben, und die Quotenbringer erweisen sich hier gleichzeitig als geschichtspolitische Versuche der Korrektur tradierter Bilder der Vergangenheit. Dies korrespondiert mit öffentlichen Debatten, wie sie kürzlich beispielsweise über die Moralität des alliierten Bombenkriegs oder über das geplante Zentrum für Flucht und Vertreibung in Berlin geführt wurden.

Einen vorläufigen Höhepunkt dieser neuen "Victimisierung", in der die Leiden der deutschen Bevölkerung in der Folge eines selbst verschuldeten Kriegs herausgearbeitet werden, stellt die Verfilmung der Tagebücher einer als "Anonyma" schreibenden deutschen Frau dar (Anonyma - Eine Frau in Berlin, 2008). Dieser Film thematisiert erstmals in Form eines Spielfilms drastisch ein schweres Trauma vieler Frauen der Kriegsgeneration: die unzähligen Vergewaltigungen insbesondere durch russische Soldaten. Dieses Trauma hat gerade im letzten Jahrzehnt viele Psychotherapeuten in Deutschland beschäftigt, weil langfristig verdrängte Erinnerungen bei vielen betroffenen Frauen im Alter wieder zutage kommen. Der Film zeigt, wie eine junge Journalistin ebenfalls zum Vergewaltigungsopfer wird und auf unkonventionelle Weise mit ihren Verletzungen zu überleben versucht. Er macht aus dem scheinbar sehr privaten Problem, das aus politischen wie sozialen und psychischen Gründen über lange Zeit weitgehend tabuisiert war, ein Thema der öffentlichen Auseinandersetzung.

Die Botschaft "Wir sind Opfer!" geht dabei einher mit der Aussage "Wir sind Helden!", mit einem neuen Trend zur Heroisierung. Die deutsche Krankenschwester und die Marinehelferin, die sich für Kriegsgefangene und Verfolgte einsetzen und dabei mit zivilem Ungehorsam gegen die Regeln des Terrorregimes vorgehen ("Dresden", "Die Gustloff"), stehen für diesen neuen Heroismus ebenso wie die adelige Gutsbesitzerin, die den Flüchtlingstreck anführt und dabei für den Schutz "ihrer" Zwangsarbeiter kämpft ("Die Flucht"). Die Deutschen erscheinen in diesen, interessanterweise oft weiblichen Figuren als ein Volk, das in diesem Sinne zumindest auch positive Beispiele moralischen Handelns in schuldhafter Zeit vorweisen kann. Diese Heldendramen lassen sich sehr gut mit dem neueren Heroismus der (Ost-)Deutschen verbinden, der eine Diktatur durch friedlichen Protest zum Zusammensturz brachte. Im Oktober 2008 strahlte Sat. 1 mit "Wir sind das Volk - Liebe kennt keine Grenzen" erneut einen Event-Zweiteiler zum Thema aus, der in bewährter Manier Liebesmelodram und politischen Heroismus verknüpft. Der Widerstand gegen das DDR-Regime wird in einen Kontext gestellt, in dem Widerstand und Heroismus von Deutschen auch in der Zeit des "Dritten Reichs" gezeigt werden.

Die Eventkultur im deutschen Fernsehen stiftet hier also Verbindungslinien, die deutsche Vergangenheiten insgesamt in ein verändertes, positiveres Licht setzen. Ob sich hier mit Bezug auf die NS-Zeit ein großer geschichtspolitischer Revisionismus mit problematischen Folgen für die politisch-kulturelle Identität abzeichnet oder aber lediglich eine Normalisierung, die einen differenzierteren Umgang mit der eigenen Vergangenheit ermöglicht, wird sich erst in Zukunft seriös beantworten lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Edgar Wolfrum, Neue Erinnerungskultur. Die Massenmedialisierung des 17. Juni 1953, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2003) 40 - 41, S. 33 - 39.

  2. Vgl. Monika Weiß, Der große TV-Eventfilm. Ästhetik und politische Semantik eines neuen Genres, Magisterarbeit am Insitut für Medienwissenschaft der Universität Marburg 2008 (unveröff.); zum Phänomen des Ereignisfernsehens und zu seiner Abgrenzung gegenüber traditionellen Formen der Geschichtsvermittlung siehe u.a. Thomas Fischer, Geschichte als Ereignis. Das Format Zeitgeschichte im Fernsehen, in: Fabio Crivellari u.a. (Hrsg.), Die Medien der Geschichte. Konstanz 2004, S. 511 - 529; und Tobias Ebbrecht/Matthias Steinle, Dokudrama in Deutschland als historisches Ereignisfernsehen - eine Annäherung aus pragmatischer Perspektive, in: MEDIENwissenschaft, 24 (2008) 3, S. 250 - 255.

  3. Die meisten dieser Filme wurden von der Firma teamWorx produziert. Deren Chef, der Regisseur und Produzent Nico Hoffmann, kann ohne Zweifel als Vorreiter des Genres in Deutschland bezeichnet werden.

  4. Vgl. Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001.

  5. Vgl. grundlegend dazu Georg Frank, Die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München-Wien 1998.

  6. Vgl. M. Weiß (Anm. 2), S. 93ff.

  7. Vgl. dazu Thomas Elsaesser, Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama, in: Christine Gledhill (Hrsg.), Home Is Where the Heart Is, London 1987, S. 43 - 69; und Peter Brooks, Die melodramatische Imagination, in: Christian Cargnelli, Michael Palm (Hrsg.), Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien 1994, S. 35 - 63.

  8. Vgl. Andreas Dörner, Politische Kultur und Medienunterhaltung, Konstanz 2000, S. 232.

  9. Vgl. ders., Politische Kulturforschung, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 2003, S. 587 - 609.

  10. Zum Konzept der Geschichtspolitik vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 - 1990, Darmstadt 1999.

Dr. phil. habil., geb. 1960; Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, Institut für Medienwissenschaft, Wilhelm-Röpke-Str. 6A, 35039 Marburg/Lahn.
E-Mail: E-Mail Link: doerner@staff.uni-marburg.de