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Zeitpolitik im schwedischen Bildungswesen | Vor- und Grundschule | bpb.de

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Zeitpolitik im schwedischen Bildungswesen

Lisbeth Lundahl

/ 12 Minuten zu lesen

Seit den 1920er Jahren sind der Ganztagsunterricht an den allgemeinen Schulen und die Zeitpolitik des Bildungswesens in Schweden kaum mehr in Frage gestellt worden.

Einleitung

Ausgehend von Gösta Esping-Andersens Theorie des Wohlfahrtssystems ist Bildungspolitik als Aspekt der Sozialpolitik zu betrachten. Die skandinavischen Länder werden oft als hervorragendes Beispiel für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten genannt, die sich durch Vielseitigkeit, wirtschaftliche Transfers auf höchster Ebene sowie soziale Sicherheit auszeichnen. Dieses Gesellschaftsmodell setzt Vollbeschäftigung und ein hohes Maß an innergesellschaftlicher Solidarität voraus. Im Gegensatz dazu stehen liberale wohlfahrtsstaatliche Regierungsformen, etwa die USA und Großbritannien, mit Eigenverantwortung und Marktlösungen als Grundpfeiler. Konservative Sozialstaaten schließlich, etwa Frankreich, Österreich oder Deutschland, akzeptieren die Existenz eines traditionell gewachsenen, starken Staates, bewahren aber Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung des Individuums. Familie und Kirche sind in diesem System zentrale Institutionen; der Staat greift erst dann ein, wenn die Familie nicht (mehr) in der Lage ist, für ihre Mitglieder zu sorgen.



Folgende Faktoren können den Zeitrahmen der Bildungspolitik beeinflussen: In einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat ist der Staat relativ stark, sozialdemokratische Parteien sind einflussreich, und Bildung hat einen hohen Stellenwert und zahlreiche Funktionen; nach Möglichkeit werden beachtliche Summen in alle Bereiche des Bildungswesens investiert. Der Bedarf an Kindern und Frauen als Arbeitskräfte sowie die Macht von Arbeitsmarktverbänden werden als weitere entscheidende Faktoren erachtet. In skandinavischen Ländern müssen die Sichtweise der gut organisierten und mächtigen Sozialpartner in Bezug auf Bildung, die Berufstätigkeit von Frauen sowie die Kinderbetreuung berücksichtigt werden.

Bildungspolitik und Zeitpolitik

In diesem Abschnitt sollen verschiedene Ansätze der schwedischen Bildungspolitik vorgestellt werden, die sich auf das Volksschulwesen der vergangenen hundert Jahre beziehen. Die Tabelle fasst die Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche in diesem Zeitraum für die schulpflichtigen Jahre (Klassen 1 - 6) zusammen. Dabei fällt die bemerkenswerte Stabilität über lange Zeit hinweg auf; ein Schüler der 6. Klasse hatte für den Großteil des vergangenen Jahrhunderts wöchentlich 34 bis 35 Unterrichtsstunden.

Die ersten Jahre (1900 - 1945): Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Schweden ein sehr armes, von der Landwirtschaft geprägtes Land. Die Qualität der sechsjährigen Volksschulausbildung, die sich hauptsächlich an Bauern- und Arbeiterkinder richtete, unterschied sich in ländlichen Gegenden erheblich von der in Städten. Der Schulbesuch war nicht vorgeschrieben, Hausunterricht war erlaubt, und es bestand eine Vielfalt an Schulformen. Mobile Schulen, Teilzeitschulen, so genannte Minimalkurse und Gemeinschaftsunterricht für Kinder verschiedener Alterstufen waren in ländlichen und dünn besiedelten Gebieten verbreitet. Da viele Kinder bei der Feldarbeit unabkömmlich waren, dauerte ein Schuljahr vier bis fünf Monate, und der Schultag war höchstens fünf Stunden lang. Dem einheitlichen Stofferteilungsplan von 1900 folgend wurden die schwächsten Schulformen abgeschafft. Nicht mehr Armut, sondern nur ein langer Schulweg galt noch als ausreichender Grund, so genannte Ausnahmeschulen zu akzeptieren. Im Jahre 1914 besuchten über 30 Prozent aller Grundschüler Schulen mit Teilzeitunterricht (z.B. nur jeden zweiten Tag); 1920 waren es bereits unter 25 Prozent.

In den 1910er und 1920er Jahren waren die Gemeinden gezwungen, die Zustände an den Grundschulen zu verbessern. Ausschlaggebend war die Anstellung vollzeitbeschäftigter Schulinspektoren, deren Aufgabe in der Qualitätssicherung des Unterrichts, der Schulbücher, der Gebäude, der Hygienebedingungen und anderer Aspekte des Bildungssektors bestand. Konservative Gruppierungen begegneten dieser Entwicklung mit Feindseligkeit. In einer Reihe von Artikeln, die 1921 unter dem Titel "Luxuriöse Bildung der Bürger" veröffentlicht wurden, argumentierte ein Sprecher der neuen "Volksbewegung", dass Ganztagsunterricht und der Bau von "Schulpalästen" die Wirtschaftlichkeit armer Gemeinden zerstören und Kinder zu unnötiger Schulbildung zwingen würde. Als sich die Wirtschaft Anfang der 1920er Jahre von der Rezession erholte, verlor die Bewegung jedoch an Dynamik.

In den 1930er Jahren änderte sich die demographische und sozioökonomische Situation erheblich. Immer mehr Schweden lebten in Städten, und die Zahl fest angestellter Beschäftigter überschritt die der Bauern. Im Jahr 1935, einer Zeit sinkender Geburtenraten, veröffentlichten die Wissenschaftler und führenden Sozialdemokraten Alva und Gunnar Myrdal ihr Buch "Krise in der Bevölkerungsfrage". Es war sehr einflussreich und umstritten insofern, als darin erstmals die Unterstützung von Familien und Müttern vorgeschlagen wurde, etwa in Form staatlicher Kinderbetreuung. Die Myrdals argumentierten, dass die Kosten und Pflichten der Kindererziehung nicht allein bei den Familien liegen dürften. Die Vorschläge sahen unter anderem die gebührenfreie Gesundheitsversorgung, kostenlose Schulspeisungen, Kindergärten und Nachmittagsbetreuung vor. 1937 wurde die Grundschuldauer um ein siebtes Jahr verlängert. Ein weit reichendes Programm führte zur Rationalisierung und Schließung kleiner Dorfschulen, woraufhin der Teilzeitunterricht ganz verschwand.

Staatliche Kontrolle über das Bildungswesen (1945 - 1975): Das "schwedische Modell" erreichte seinen Höhepunkt in den ausgehenden 1950er und in den 1960er Jahren. Es bestand aus drei Hauptkomponenten: der Rationalisierung und Umstrukturierung von Produktionsprozessen, einer aktiven Arbeitsmarktstrategie sowie einer homogenen Lohnpolitik. Vergleichende Korporatismusstudien haben Schweden einen hohen Rang eingeräumt.

Den in den 1930er Jahren einsetzenden familienfreundlichen Grundsätzen (z.B. Regelung des Mutterschutzes und verbesserte Sozialwohnungen für bedürftige Großfamilien) folgte eine Reihe von Reformen, die den raschen Ausbau von Kindertagesstätten vorsahen. Derartige Neuerungen wurden als Antwort auf zurückgehende Geburtenraten eingeführt und waren auf den Umstand zurückzuführen, dass viele arme Frauen außer Haus arbeiten mussten. (Auch die familienfreundlichen Reformen in den 1960er Jahren gingen auf die Notwendigkeit zurück, Frauen für den Arbeitsmarkt zu gewinnen.) 1946 wurde die Einführung kostenfreier Schulmahlzeiten in allen Grundschulen beschlossen. Die Reform setzte sich für die Kindergesundheit ein und förderte die Erwerbstätigkeit von Frauen sowie den Ganztagsunterricht. Die Einführung kostenloser Schulspeisungen wurde von der politischen Rechten hartnäckig bekämpft, die befürchtete, dies könnte Frauen dazu verleiten, ihre Rolle als Hausfrau zu vernachlässigen. In den 1950ern stützte sich der Widerstand gegen unentgeltliche Schulmahlzeiten auf das wirtschaftsliberale Argument, nach dem die Eltern und nicht der Staat für ein solches Angebot aufkommen sollten.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Richtung der Bildungsreformagenda zum großen Teil von den Sozialdemokraten und der Arbeiterbewegung vorgegeben; sie spiegelt das Bestreben wider, den Kampf um Gleichberechtigung mit Wirtschaftlichkeit zu vereinen. Die größte Hürde lag darin, allen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen und gleiche Bildungschancen - unabhängig von Schicht, Geschlecht und geographischer Herkunft - zu gewährleisten. In dieser Hinsicht kann die Einführung der neunjährigen Volksschule im Jahr 1962 als Ausdruck der sozialdemokratischen Hegemonie dieser Zeit gesehen werden. Trotzdem wurden die bedeutenden Bildungsreformen meist einvernehmlich entschieden. Die Schulaufsicht wurde zentralisiert und umfasste auch die Festsetzung der Unterrichtsstunden. Vor 1955 waren Entscheidungen, welche die zeitliche Gliederung des Bildungswegs betrafen, auf kommunaler Ebene getroffen worden, wobei die Einheitskurspläne lediglich als Empfehlung dienten. Danach regelte ein landesweiter Stundenplan die Zahl der Schulstunden für jedes Unterrichtsfach und jede Klassenstufe. Der erste staatliche Lehrplan der neunjährigen Volksschule setzte die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden fest (siehe die Tabelle). Beispiele wurden dem Lehrplan beigefügt, nach dem eine durchschnittliche Schulwoche für Kinder der Klassen 3 bis 6 (im Alter von neun bis zwölf Jahren) von Montag bis Freitag sechs bis sieben Schulstunden pro Tag und sonnabends drei Stunden umfassen sollte.

Erst Ende der 1960er Jahre wurden die internen Abläufe und das Arbeitsumfeld der Schulen zunehmend als problematisch empfunden. Schwänzen und fehlende Disziplin riefen erhebliches öffentliches Interesse hervor. Um Lösungsvorschläge zu erarbeiten, wurde 1970 ein parlamentarischer Ausschuss, der SIA (Skolans Inre Arbeite) eingesetzt. Auf der Basis der Befunde dieses Gremiums wurde 1975 die Einführung des "integrierten Schultages" (samlad skoldag) entschieden, mit dem allen Kindern Zugang zu Kultur- und Freizeitangeboten sowie mehr Möglichkeiten für pädagogische Betreuung und die Entwicklung sozialer Kompetenzen geboten werden sollten. Von den Schulen wurde die Organisation kostenloser, pädagogisch wertvoller Maßnahmen in und nach den Unterrichtsstunden erwartet. Die Inhalte und der Umfang solcher außerplanmäßigen Aktivitäten sollten von der regionalen Schulbehörde bestimmt werden.

Der Rückgang finanzieller Mittel erschwerte die Umsetzung der Reform zum integrierten Schultag. Zudem trafen die Reformen bei nichtsozialistischen Politikern auf Widerstand, die anführten, dass diese die Möglichkeiten der Eltern zur Betreuung ihrer Kinder verringern würden. Ein Jahrzehnt später besuchte rund ein Drittel der Kinder zwischen sieben und neun Jahren Schulen mit integrierten Schultagen. Die Zahl der Freizeiteinrichtungen stieg, und es entstanden Tagesstätten für Kinder zwischen sieben und elf, die sich zum Teil mit den integrierten Schultagen überschnitten. Es lässt sich hinzufügen, dass der Anteil der Sieben- bis Neunjährigen in kommunalen Freizeiteinrichtungen kontinuierlich gestiegen ist und 2005 bei 75 Prozent lag. Der Anteil der Zehn- bis Zwölfjährigen in der schulischen Kinderbetreuung ist nach wie vor niedrig; zur Zeit liegt er bei elf Prozent.

Dezentralisierung, Deregulierung und Marktlösungen (seit 1975): In den 1970er Jahren geriet Schweden nach 25 Jahren kontinuierlichen Wachstums und sozialdemokratischer Regierungsführung in eine Phase wirtschaftlicher und politischer Instabilität. Eine "soziale Investitionsstrategie" mit aktiver Arbeitsmarktpolitik und Bildungsreformen dominierte die 1970er und 1980er Jahre, während staatliche Kürzungen, Liberalisierung und die Einführung von Marktlösungen Ende der 1980er und in den 1990er Jahren vorherrschend waren.

Die ersten Schritte in Richtung größerer kommunaler Verantwortung und Autonomie erfolgten Ende der 1970er Jahre; der staatliche Leitfaden zu Lehrinhalten der Volksschulen von 1980 offenbarte die Tendenz zu deren Kontrolle anhand von Zielvorgaben. 1989 entschied man sich zur weiteren Dezentralisierung, als den Gemeindeverwaltungen und Schulen mehr Freiräume zugestanden wurden. Während ihrer Regierungszeit von 1991 bis 1994 bemühten sich die nichtsozialistischen Parteien um die Auflösung des "staatlichen Schulmonopols", indem sie "Bildungsmärkte" ins Leben riefen. Großzügige Subventionen trieben den Aufbau privater Schulen an, und die elterliche "Schulwahl" wurde gefördert. Während die Sozialdemokraten kommunalpolitischen Behörden mehr Verantwortung einräumten und Eltern und Schülern mehr Einfluss zugestanden werden sollte, strebten die nichtsozialistischen Parteien eine Machtbegrenzung der Politiker und Bürokraten zugunsten von Schulen, Eltern und Privatinteressen an. Rückblickend kann der Schluss gezogen werden, dass die veränderte Bildungspolitik, zunehmend durch soziale und ethnische Abgrenzung getrennte Wohngebiete sowie Haushaltskürzungen zu einem starken linearen Anstieg der Trennung von Schulformen in Bezug auf Herkunft, Schulnoten und Bildungshintergrund beigetragen haben.

Ein Ergebnis der Dezentralisierung und Deregulierung war größere kommunale Autonomie, die zu einem stärkeren Mitspracherecht der Gemeinden bei der Verteilung von Schulstunden führte. In dieser Hinsicht hat sich das schwedische Bildungswesen tatsächlich zu einem besonders dezentralen System entwickelt. Einem Parlamentsbeschluss von 1999 entsprechend wurde ein auf fünf Jahre angesetzter Versuch gestartet, in dem staatliche Schulen in 79 von 290 Gemeinden von nationalen Zeitplanvorgaben befreit wurden. Diese Schulen sollten eigene, am staatlichen Lehrplan und Unterrichtsstoff orientierte Stundenpläne entwerfen und konnten die Unterrichtsstunden innerhalb eines Minimalzeitrahmens von insgesamt 6 665 Schulstunden frei auf Fächer und Aktivitäten verteilen. Die Aufhebung eines veralteten Lenkungsmechanismus, der die Kontrolle über Zielvorgaben erschwerte, die Anpassung der Unterrichtsmethoden an die Bedürfnisse einzelner Schüler und die Modernisierung des Bildungswesens waren die Hauptziele.

Lange fand die Idee, den landesweit einheitlichen Stundenplan abzuschaffen, breite Unterstützung unter Politikern und Schuldirektoren, wohingegen auf Seiten der Lehrkräfte die Meinungen schwankten. Eine Entscheidung wird bis heute hinausgezögert. Interessanterweise umfasste der Versuch keine stärkere kommunale Autorität in Bezug auf die Länge der Schultage. Die allgemeinen Richtlinien des Schulgesetzes sehen Schulaufgaben von montags bis freitags vor, die so gleichmäßig wie möglich zu verteilen sind. Das Schulgesetz legt fest, dass die kommunale Schulbehörde über die Länge des Schultages zu entscheiden hat, also auch über Schulbeginn und -schluss.

Auf die Zeitpolitik einwirkende Faktoren

Auffällig an der Zeitpolitik des schwedischen Bildungssystems ist die Stabilität, mit dem der Schultag und die Schulwoche konzipiert und verwirklicht worden sind. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts besteht ein "gewöhnlicher" Schultag in der fünften oder sechsten Klasse der Grundschule aus durchschnittlich sechs Stunden (Samstage nicht inbegriffen). Teilzeitunterricht oder mobile Schulen wurden seit der Entwicklung des Stofferteilungsplans im Jahr 1900 als ungeeignete oder ungewöhnliche, nur in Fällen eines besonders langen Schulweges akzeptable Alternativen betrachtet. Trotzdem waren so genannte Sonderformen der allgemeinen Schulausbildung bis weit in die 1930er Jahre verbreitet und wurden von Gruppen des rechten Flügels aktiv verteidigt. Seit den 1920er Jahren ist der Ganztagsunterricht an den allgemeinen Schulen kaum mehr in Frage gestellt worden. Welche Erklärungen lassen sich dafür anführen?

Staatsgewalt und die Legitimität des staatlichen Wohlfahrtssystems sind Merkmale des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates. Stärker noch als in liberalen oder konservativen Systemen wird vom Staat erwartet, dass er für seine Bürger sorgt und für die Bedürfnisse von Kindern aufkommt, was mit der Umverteilung von Kapital und mit hohen Steuersätzen einhergeht. Debatten um das Für und Wider von Kindertagesstätten sind aufgekommen, insgesamt aber erfreuen sich die öffentlichen Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen breiter Unterstützung.

Die Fachleute im Bildungssystem haben keinen nennenswerten Einfluss auf die Zeitpolitik des Bildungswesens gehabt.

Familie, Wirtschaft und Arbeitsmarktanforderungen haben die Struktur des Bildungswesens und der Kinderbetreuung dagegen stark beeinflusst. Im Gegensatz zu anderen Ländern blieb Armut in Schweden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet; die meisten Familien konnten es sich nicht leisten, dem Modell vom männlichen Ernährer zu folgen. Armut und Überbevölkerung trugen zur Verringerung der Geburtenrate bei, und die Sozialpolitik der 1930er und 1940er Jahre, welche kostenlose Schulmahlzeiten vorsah, richtete ihr Hauptaugenmerk darauf. Kinderarbeit wurde 1912 verboten. Mit der raschen Rationalisierung der Landwirtschaft und der Urbanisierung wurden Kinder nicht länger als zusätzliche Arbeitskraft in der Landwirtschaft benötigt. In der Wirtschaft bestand in den 1950er und 1960er Jahren ein dringender Bedarf an Arbeitskräften. Vor die Wahl gestellt, entweder Einwanderer oder Frauen einzustellen, wurden letztere als bevorzugte Arbeitskräftereserve betrachtet. Der rasche Ausbau der staatlichen Kinderbetreuungsmaßnahmen in den 1960ern und 1970er Jahren zielte auf die Förderung der weiblichen Erwerbstätigkeit.

Auch demographische und geographische Faktoren haben zur Einrichtung des Ganztagsunterrichts als das "gängige" Zeitorganisationsprinzip beigetragen. In dünn besiedelten Gegenden mussten die Kinder oft weite Strecken zwischen ihrem Wohnhaus und der Schule zu Fuß zurücklegen, besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es noch keine öffentlichen Verkehrsmittel für den Schulweg gab. Es wäre vergeudete Zeit gewesen, den langen Weg für nur wenige Schulstunden auf sich zu nehmen. In ähnlicher Weise wäre es als verschwenderisch empfunden worden, an kalten Wintertagen die Klassenräume nicht voll auszunutzen, wenn ihre holzbefeuerten Öfen erst einmal angeheizt waren.

Keiner dieser Faktoren kann die Zeitpolitik des allgemeinen Schulwesens in Schweden allein erklären, vielmehr muss eine Kombination erwogen werden. Das Modell des Wohlfahrtssystems, das von besonderen Beziehungen zwischen Staat, bürgerlicher Gesellschaft und Wirtschaft gekennzeichnet ist, kann als weiterer Bezugsrahmen dienen. Dennoch zeigt das schwedische Beispiel auch die Vielzahl der länderspezifischen Faktoren. Diese schließen kulturell und politisch einflussreiche Einzelpersonen wie die Myrdals ebenso ein wie die niedrigen Temperaturen und die langen Schulwege. Schließlich lässt sich auch eine gewisse Pfadabhängigkeit nicht verleugnen: Ist der harte Kampf um Teilzeitunterricht erst einmal beendet und werden die ihn verteidigenden Gruppen als rückschrittlich betrachtet, gestaltet sich die erneute Aufnahme eines solchen Kampfes schwierig. Zudem ist es nicht einfach, die Mittel für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu kürzen, wenn die Mehrheit der Frauen erst einmal berufstätig ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung aus dem Englischen: Jaiken Struck, South Petherton, England/UK.

    Vgl. Gösta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1996.

  2. Vgl. Anne-Lise Arnesen/Lisbeth Lundahl, Still Social and Democratic?, in: Scandinavian Journal of Educational Research, 50 (2006) 3, S. 285 - 300.

  3. Vgl. Lisbeth Lundahl, Efter svensk modell. SAF, LO och utbildningspolitiken 1944 - 1990, Umeå 1997.

  4. Vgl. Wilhelm Sjöstrand, Pedagogikens historia. III:2: Utvecklingen i Sverige under tiden 1805 - 1920, Lund 1965.

  5. Vgl. Viktor Fredriksson (Hrsg.), Svenska folkskolans historia. V: Det svenska folkundervisningsväsendet 1920 - 1942, Stockholm 1950.

  6. Vgl. Lisbeth Lundahl, I moralens, produktionens och det sunda förnuftets namn. Det svenska högerpartiets skolpolitik 1904 - 1962 (PhD Diss.), Lund 1989.

  7. Vgl. Alva Myrdal/Gunnar Myrdal, Kris i befolkningsfråga, Stockholm 1935.

  8. Vgl. L. Lundahl (Anm. 6).

  9. Vgl. James Fulcher, Labour Movements, Employers and the State, Oxford 1991.

  10. Vgl. Christer Thörnqvist, Family-friendly labour market policies and careers in Sweden - and the lack of them, in: British Journal of Guidance and Counselling, 34 (2006) 3, S. 309 - 326.

  11. Vgl. L. Lundahl (Anm. 6).

  12. Vgl. ebd.

  13. Vgl. Sixten Marklund, Skolsverige 1950 - 1975. 3: Från Visby-kompromissen till SIA, Stockholm 1983.

  14. Vgl. Skolans arbetsmiljö. Betänkande avgivet av Utredningen om skolans inre arbete - SIA (Statens offentliga utredningar/SOU 1974:53), Stockholm 1974.

  15. Vgl. S. Marklund (Anm. 13).

  16. Vgl. Bo Lindensjö/Ulf P. Lundgren, Utbildningsreformer och politisk styrning, Stockholm 2000.

  17. Vgl. Skolbarnsomsorgen. Betänkande av fritidshemskommittén (SOU 1985:12), Stockholm 1985.

  18. Vgl. Swedish National Agency for Education, Beskrivande data om förskoleverksamhet, skolbarnsomsorg, skola och, Stockholm 2006.

  19. Vgl. G. Esping-Andersen (Anm. 1).

  20. Vgl. Lisbeth Lundahl, Sweden: Decentralization, Deregulation, Quasi-Markets - and then what?, in: Journal of Education Policy, 17 (2002) 6, S. 687 - 697.

  21. Vgl. Jan-Erik Gustafsson, Barns utbildningssituation, Stockholm 2006, S. 93.

  22. Vgl. European Commission, Key Data on Education in Europe 2005, Brussels 2005.

  23. Vgl. Mikaela Nyroos/Linda Rönnberg/Lisbeth Lundahl, A Matter of Timing. Time use, freedom and influence in school from a pupil perspective, in: European Educational Research Journal, 3 (2004) 4, S. 743 - 758.

  24. Vgl. Linda Rönnberg, The Swedish Experiment with Localized Control of Time Schedules: Policy Problem Representations, in: Scandinavian Journal of Educational Research, 51 (2007) 2, S. 119 - 139.

  25. Vgl. Svensk författningssamling (SFS), 1985:1100, Skollag.

  26. Vgl. Stefan Svallfors, Class, Attitudes and the Welfare State: Sweden in Comparative Perspective, in: Social Policy and Administration, 38 (2004) 2, S. 119 - 138.

  27. Vgl. L. Lundahl (Anm. 3).

Dr. phil., geb. 1951; Professor at the Department of Child and Youth Education, Umeå University, 90187 Umeå/Schweden.
E-Mail: E-Mail Link: lisbeth.lundahl@educ.umu.se