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Die Entgrenzung der Solidarität. Hilfe in einer globalisierten Welt

Katrin Radtke

/ 14 Minuten zu lesen

Eine Untersuchung des Spendenaufkommens für die Not- und Entwicklungshilfe gibt Hinweise auf eine Zunahme von Solidarität mit Menschen in weit entfernten Ländern.

Einleitung

Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 verwüstete eine riesige Flutwelle die Küstenregionen Thailands, Indonesiens und Sri Lankas. Dem Tsunami fielen tausende Menschen zum Opfer. Ganze Städte und weite Landstriche wurden durch die Wassermassen dem Erdboden gleich gemacht. Die meisten Opfer stammten aus der einheimischen Bevölkerung, doch es starben auch viele Touristen: Die betroffene Region war mit ihren paradiesischen Stränden ein beliebtes Urlaubsziel.



Der Rest der Welt reagierte mit großer Betroffenheit. Die weltweite Anteilnahme an der Not dieser Region fand ihren Ausdruck in einem nie da gewesenen Ausmaß von Spenden. Die Spendenwelle erfasste nahezu die ganze Gesellschaft: Fußballclubs leerten die Mannschaftskasse für den guten Zweck, Schausteller ließen Kinder für eine Spende Karussell fahren und Fernsehsender wetteiferten mit Spendengalas. Bis zu 20 000 Wohlfahrtsorganisationen sammelten allein in Deutschland Gelder für die Katastrophenopfer. Es kam zu einem regelrechten Wettkampf um die höchsten Spendeneinnahmen.

Gleichzeitig erschienen in den Medien erste Deutungsversuche des Spendenverhaltens. Warum konnten Rekordergebnisse verzeichnet werden? Der Tsunami hatte in der Weihnachtszeit stattgefunden, einer Zeit, in der viele Menschen das Geschehen am Fernseher live verfolgen konnten. Außerdem handelte es sich um eine außerordentlich große Katastrophe, die nicht ein Land, sondern gleich zwölf Länder und zwei Kontinente traf. Nicht zu vergessen war natürlich auch die Tatsache, dass vielen der Spender die von der Katastrophe heimgesuchten Länder von früheren Urlauben bekannt waren und zahlreiche Touristen betroffen waren. Die Identifikation der Geber mit den Opfern wurde dadurch möglicherweise erleichtert. War die Spendenwelle anlässlich des Tsunami also eine Ausnahme? Oder konnte sie als Anzeichen für ein wachsendes Verantwortungsgefühl gegenüber Menschen in weit entfernten Ländern, als Teil eines Trends zu transnationaler Solidarität gedeutet werden?

Von Sozialwissenschaftlern ist die Zukunft der Solidarität seit Ferdinand Tönnies pessimistischer Prognose in "Gemeinschaft und Gesellschaft" immer wieder als Zerfallsprozess thematisiert worden. Insbesondere in der gegenwärtigen Diskussion um die Abnahme staatlicher Steuerungsfähigkeit im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung wird eine "Schwächung solidarischer Verhaltensweisen" beklagt, die sich unter anderem in der Erosion der beiden nationalen Solidaritätspflichten, der Wehrpflicht und der Steuerpflicht ausdrücken. Empirisch lässt sich diese Annahme des kontinuierlichen Rückgangs der Solidarität jedoch durchaus bezweifeln. Johannes Berger etwa vertritt die Auffassung, dass bestimmte Solidaritätszumutungen gegenwärtig tendenziell zunehmen. "Soweit Solidarität nationale Solidarität meint", so Berger, "kann es mit dem immer wieder behaupteten Niedergang des Nationalstaates zur Schwächung solidarischer Verhaltensweisen kommen, aber (...) Solidarität [existiert] in mannigfaltigen Formen; ihre Ausübung ist nicht an den Nationalstaat gebunden (...)". Ähnlich haben auch Claudia Koch-Arzberger und der 2007 verstorbene Karl Otto Hondrich argumentiert, dass sich die Reichweite von Solidaritäten bzw. Solidaritätspotentialen, d.h. die Anzahl der Personen, auf die sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl bezieht, mit der Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung und globaler Folgeprobleme der Industrialisierung, vergrößert habe. Diese Meinung wird auch und insbesondere im Rahmen des so genannten Kosmopolitismus vertreten. Andrew Linklater etwa sieht Anzeichen dafür, dass die emotionale Identifikation zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft sich auch auf der Ebene der Menschheit als Ganzes wieder finden lässt. Seiner Ansicht nach schafft die universelle Verwundbarkeit gegenüber grundlegenden Formen von psychischem oder physischem Leid die Möglichkeit für globale Sympathie oder Empathie. Die Ausweitung der Solidarität auf Fremde, die in weit entfernten Ländern leben, beruht dann auf der Entwicklung von Schuld- und Schamgefühlen, wenn diese versehrt werden oder wenig zu ihrer Hilfe beigetragen wird.

Allerdings gibt es auch Autoren, die der Behauptung einer Zunahme von transnationaler Solidarität kritisch gegenüberstehen. Claus Offe etwa erwartet, "dass sich nach dem Ende des Nationalstaats die supranationalen Interdependenzen erweitern, sich gleichzeitig aber die operativen Solidaritätspotentiale auf immer engere (regionale, sektorale, subnationale, sprachliche, kulturelle, aus ihrer historischen Erfahrung definierte usw.) Schutz- und Verpflichtungsgemeinschaften zusammenziehen". Ähnlich bezeichnet Herfried Münkler die gegenwärtig zu beobachtenden verstärkten Anstrengungen, "in denen die Prozesse der Globalisierung in Wirtschaft und Politik mit dem Imperativ einer Universalisierung von Normen so verknüpft werden, dass dabei schließlich auch eine kosmopolitische Solidarität herauskommt" als "Wunschvorstellung, der in der gesellschaftlichen Realität eine genau entgegengesetzte Entwicklung gegenübersteht".

Die Brisanz dieser Diskussion ergibt sich aus der Zentralität von Solidarität für die Integration von Gesellschaften und damit aus der Frage nach der Entstehung einer normativen politischen Ordnung jenseits des Nationalstaates. Lässt sich im Zuge der "gesellschaftlichen Denationalisierung" ein Prozess feststellen, in dem der bisherige Bezugspunkt für die Abgrenzung der Solidaritätsrechte und -pflichten - die sozial konstruierte Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft, Geschichte, Kultur und von gemeinsamen Zielen und Idealen der Nation bzw. des Nationalstaates - seine Bedeutung verliert und von anderen Konstruktionen ersetzt wird? Kann die Ausweitung und Befolgung von Solidaritätsnormen Schritt halten mit der wahrgenommenen rasanten Ausweitung von Interdependenzen im Zuge der Globalisierung? Mit anderen Worten, lassen sich Hinweise finden, die auf eine Gemeinschaftsbildung jenseits des Nationalstaates hinweisen?

Ziel dieses Artikels ist es, vor dem Hintergrund dieser Fragen die These einer zunehmenden transnationalen Solidarität empirisch am Beispiel des Spendenaufkommens in der Not- und Entwicklungshilfe zu überprüfen. Dafür wird zunächst eine Definition von Solidarität eingeführt und erläutert, warum die Untersuchung des Spendenaufkommens Hinweise auf die Entwicklung von transnationaler Solidarität geben kann. Daran anschließend werden die Spendeneinnahmen von 16 Organisationen analysiert, die in der Not- und Entwicklungshilfe tätig sind. Diese Daten werden mit Umfrageergebnissen zum Spendenverhalten in Deutschland abgeglichen. Die Analyse zeigt dabei zwar einen Trend zu mehr transnationaler Solidarität, jedoch wird auch deutlich, dass dieser Trend von tiefen Brüchen gekennzeichnet ist.

Transnationale Solidarität - Annäherung an einen Begriff

Unter den Kategorien des moralischen und politischen Denkens ist der Begriff der Solidarität einer der jüngsten. Zwar reichen seine Wurzeln bis ins römische Recht, wo unter "obligatio solidum" eine Form der Schuldnerhaftung verstanden wurde, bei der jedes Mitglied einer Gemeinschaft für die Begleichung der insgesamt bestehenden Schulden herangezogen werden konnte und die Gemeinschaft für die Schulden jedes einzelnen Mitglieds haftete. Eine Übertragung des Begriffs auf das Gebiet der Politik, Gesellschaft und Moral fand jedoch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts statt. Im nachrevolutionären Frankreich ersetzte der Terminus der Solidarität zunehmend jenen der "Brüderlichkeit" und wurde vor allem im Umfeld der frühen französischen Sozialisten Claude-Henri Saint-Simon und Charles Fourier in den politischen Sprachgebrauch eingeführt. Vor dem Hintergrund der Arbeiterbewegung wurde er Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals zu einem politischen Kampfbegriff. Die "Arbeitersolidarität" bezeichnete dabei den Zusammenhalt zwischen verschiedenen Gruppen - gelernte und ungelernte Arbeiter und Handwerker - in der Arbeiterschaft.

Erst im Rahmen des Solidarismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann der Terminus der Solidarität den Stellenwert eines politisch-sozialen Grundbegriffs und näherte sich an seine Rezeption des Begriffs in der neu entstehenden Soziologie um Pierre Leroux, Auguste Comte und später Emile Durkheim an. Während Leroux Solidarität als "humanitäre Doktrin" verstand, bezeichnete der Begriff nach Comte und Durkheim den "Zement", der die Gesellschaft zusammenhält oder mit anderen Worten ein gesellschaftsstiftendes Prinzip, das aus dem Gesellschaftsorganismus "mehr als die Summe seiner Teile macht". Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff der Solidarität schließlich u.a. von Max Scheler und Henri Bergson in die Moralphilosophie übernommen und trat in ein weitgehend ungeklärtes Verhältnis zu Begriffen wie "Sympathie", "Menschenliebe", "Wohlwollen", "Gemeinsinn" und "Loyalität".

Was also ist Solidarität? Der kurze Überblick über die Geschichte des Begriffs kristallisiert als gemeinsamen Kern der Verwendungsweisen die Vorstellung einer wechselseitigen Verbundenheit zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen heraus. Wie lässt sich Solidarität beobachten?

Schon Durkheim hatte festgestellt, dass "die soziale Solidarität (...) als ein durch und durch moralisches Phänomen der unvermittelten, exakten Beobachtung nicht zugänglich (ist), vor allem nicht der Messung. Um es also klassifizieren wie vergleichen zu können, muss man die innere Tatsache, die sich uns entzieht, durch eine äußere Tatsache ersetzen, die sie symbolisiert, und die erste vermittels der zweiten erforscht". Als sichtbares Symbol wählte Durkheim das Recht. Denn "je solidarischer die Mitglieder einer Gesellschaft sind", so Durkheim, "umso mehr unterhalten sie verschiedene Beziehungen entweder nur miteinander oder zur Gruppe als Kollektiv (...) Andererseits ist die Anzahl der Beziehungen notwendigerweise der Zahl der Rechtsregeln, die sie bestimmen, proportional."

Eine andere Möglichkeit der Beobachtung von Solidarität, die auch in diesem Artikel verfolgt werden soll, besteht in der Untersuchung von solidarischem Verhalten. In Anlehnung an Hans Braun wird unter Solidarität hier daher ein "Handeln in Verbundenheit" verstanden. Damit rücken verschiedene Formen der Hilfe und Unterstützung als Indikatoren für Solidarität in den Blick. Mindestens drei unterschiedliche unterstützende Handlungen lassen sich unterscheiden: Unterstützung kann in Form von materiellen Gütern, von Kommunikation oder von Arbeitskraft geleistet werden. Die materielle Unterstützung kann dabei einerseits monetär erfolgen, sie kann jedoch auch in Form von Naturalien ausgeführt werden. Verbale Unterstützung wird sowohl in schriftlicher wie auch in mündlicher Weise geleistet und kann in Form von Petitionen, Reden, Artikeln etc. auftreten. Die Unterstützung durch Arbeitskraft findet in Form von körperlichen oder geistigen Leistungen statt, die direkt zur Behebung der Beeinträchtigung der unterstützten Person oder Gruppe beiträgt.

Transnationale Solidarität lässt sich in Anlehnung an Thomas Risses Definition transnationaler Beziehungen nun definieren als ein grenzüberschreitendes Handeln in Verbundenheit zwischen Gruppen oder Individuen, von denen mindestens ein Mitglied ein nichtstaatlicher Akteur sein muss. Grundsätzlich kann der Referenzrahmen transnationaler Solidarität sowohl durch eine partikularistische Gruppe als auch durch die Gesamtheit der Menschen gebildet werden.

Spenden in der Not- und Entwicklungshilfe

Es ist bereits deutlich geworden, dass transnationale Solidarität, verstanden als ein transnationales "Handeln in Verbundenheit", in verschiedenen Formen auftritt. Der folgende Abschnitt widmet sich der empirischen Analyse eines bestimmten Ausdrucks der transnationalen Solidarität, der Spende für Menschen in anderen Ländern, die von akuter Not betroffen sind. Umfragen zu den Motiven von Spendern belegen, dass die wichtigsten Beweggründe für die Entscheidung zur Spende sich auf ein Gefühl der Verbundenheit beziehen. So werden als Spendenmotive die Beruhigung des schlechten Gewissens, ein Gefühl der Zugehörigkeit und das Bedürfnis, sich für wichtige Anliegen persönlich zu engagieren genannt. Diese Motive stehen häufig in Zusammenhang mit anderen Motiven, etwa die Verwirklichung der eigenen Werte und Glaubensgrundsätze, die Steigerung des Selbstwertgefühls oder auch materielle Anreize. Nur selten stehen die letztgenannten Motive jedoch im Vordergrund.

Zwei Möglichkeiten für die Messung des ausgewählten Indikators werden in diesem Artikel untersucht: erstens die Spendeneinnahmen von Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe und zweitens die Gewichtung der Spendenzwecke in Deutschland. Die These der Zunahme der transnationalen Solidarität wird demnach gestützt, wenn die Spendeneinnahmen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe ansteigen oder wenn der relative Anteil der Spenden für diesen Bereich an allen Spenden wächst.

Im Folgenden werden zunächst die Spendeneinnahmen der NROs analysiert.

Spendeneinnahmen

Wie haben sich die Spendeneinnahmen von NROs im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe verändert? Lässt sich ein Anstieg ihres Einkommens beobachten, der einen Trend zu mehr transnationaler Solidarität bestätigen würde? Zur Beantwortung dieser Frage wurden die Spendeneinnahmen von 16 der größten Organisationen, die im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe in Deutschland tätig sind, ausgewertet. Die Organisationen wurden mit Hilfe des vom Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) herausgegebenen Spenden-Almanach ausgewählt. Als Grundlage diente eine Aufstellung der Sammlungsergebnisse der 200 Spendensiegelorganisationen für die Jahre 2002 - 2004. Zusammengenommen machen die Spendeneinnahmen der ausgewerteten Organisationen rund 58 Prozent aller Spendeneinnahmen der in der Entwicklungs- und Nothilfe tätigen Spendensiegelorganisationen aus.

Die Auswertung der Angaben der 16 Organisationen zeigt eine deutliche Zunahme der Spendeneinnahmen (Abbildung 1). Dabei weist die Spendenkurve allerdings große Schwankungen auf. Besonders in den Jahren zwischen 1995 und 1998 ist ein verhältnismäßig niedriges Spendeneinkommen der Organisationen zu verzeichnen. In den Jahren 1992, 1999, 2002 und 2005 sind Spendenhöhepunkte erkennbar. Betrachtet man diese für sich, so ist ebenfalls eine beinahe kontinuierliche Steigerung der Spendenhöhepunkte augenfällig.

Deutlich wurde im Verlauf der Untersuchung, dass sich die Entwicklung der Spendeneinnahmen, je nach Schwerpunktsetzung der Organisation erheblich unterscheiden. Während die Spendeneinnahmen der Organisationen, die sich schwerpunktmäßig auf Entwicklungshilfe und damit längerfristige Ziele konzentrieren in den meisten Fällen eine kontinuierliche Spendenentwicklung aufweisen, sind die Spendeneinnahmen der auf humanitäre Hilfe und Nothilfe spezialisierten Organisationen durch erhebliche Schwankungen gekennzeichnet.

Spendenzwecke

Wird dieses Ergebnis auch durch die Analyse der Zwecke, für die gespendet wird, bestätigt? Haben Spenden für die Entwicklungs- und Nothilfe gegenüber anderen Spendenzwecken in den letzten Jahren zugenommen? Hinweise auf die Beantwortung dieser Fragen liefert eine jährlich durchgeführte Umfrage vom Markt-, Media- und Meinungsforschungsinstitut tns infratest, die im Rahmen des so genannten Deutschen Spendenmonitors veröffentlicht wird.

Den Ergebnissen der Umfrage zufolge lag der Anteil der Not- und Entwicklungshilfe 1996 noch bei etwa 14 Prozent. Im Jahr 2005 wurden schon beinahe 37 Prozent gemessen. Weitere Höhepunkte konnten in den Jahren 1999 (ca. 31 Prozent) und 2002 (ca. 37 Prozent) verzeichnet werden. In allen übrigen Jahren lag der Anteil der Spenden für die Not- und Entwicklungshilfe kontinuierlich über 20 Prozent. In fast allen anderen Spendenkategorien hingegen lässt sich ein deutlicher (relativer) Abwärtstrend erkennen. Ähnlich wie bei den Spendeneinnahmen steigt die Kurve nicht gleichmäßig an, sondern ist durch erhebliche Schwankungen gekennzeichnet (Abbildung 2).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass beide Indikatoren ähnliche Dynamiken aufweisen. So lässt sich zwar insgesamt ein Anstieg der Spenden für die Entwicklungs- und Nothilfe feststellen, sowohl im Hinblick auf den relativen Anteil der Spenden für diesen Zweck gegenüber allen anderen Spendenzwecken als auch im Hinblick auf die Spendeneinnahmen der ausgewählten Organisationen. Allerdings ist diese Entwicklung durch erhebliche Brüche gekennzeichnet. Insbesondere die Spendeneinnahmen jener Organisationen, die auf die Bearbeitung von humanitären Katastrophen durch Nothilfe spezialisiert sind, weisen hohe Schwankungen auf, die eng im Zusammenhang mit bestimmten Katastrophen stehen.

Diskussion und Fazit

Welche Bedeutung haben diese Ergebnisse nun für die eingangs gestellte Frage nach den Entwicklungslinien der transnationalen Solidarität? Der Spendentrend, der sich aus den Einnahmen der befragten Organisationen ergibt, scheint die These der Zunahme von transnationaler Solidarität zunächst zu bestätigen. Allerdings lässt sich auf dieser Basis keine Aussage über die spezifische Zunahme von transnationaler Solidarität treffen. Die Daten lassen durchaus die Möglichkeit eines Gesamtanstiegs der Spenden in Deutschland - etwa aufgrund eines höheren Bruttonationaleinkommens - zu. Um diesem Einwand vorzubeugen, wurden einerseits die Daten inflationsbereinigt, andererseits setzt aber auch der zweite Indikator, die relative Gewichtung der einzelnen Spendenzwecke, die Daten in einen Kontext. An den Spendenzwecken wird deutlich, dass transnationale Solidarität auch im Verhältnis zu jener Solidarität steigt, die sich auf Ziele innerhalb eines Nationalstaates richtet.

Dennoch können die erhobenen Daten nur als erster Hinweis auf die Beantwortung der Fragestellung dienen. Der erhobene Spendentrend macht deutlich, dass die transnationale Solidarität in hohem Maße an herausragende Ereignisse gekoppelt ist. Diese Tatsache ist nicht unbedingt verwunderlich, denn folgt man Durkheim, so ist die Solidarität in modernen Gesellschaften in doppelter Hinsicht frei gewählt: Die Individuen können sich sowohl entscheiden, ob sie Solidaritätsbeziehungen eingehen wollen, als auch welche. Insbesondere ist sie aber dadurch gekennzeichnet, dass sie zeitlich begrenzt und punktuell ist und daher weder lebenslang noch die "ganze" Person bindet.

Die Koppelung an bestimmte Ereignisse erschwert allerdings auch Aussagen über Entwicklungslinien der Solidarität. Aufgrund der erheblichen Schwankungen des Spendenaufkommens im Zusammenhang mit einzelnen Katastrophen lässt sich kein statistisch signifikanter Trend errechnen. Als wichtige Anhaltspunkte können dennoch die Spendenhöhepunkte gewertet werden. Die transnationale Solidarität angesichts bestimmter Ereignisse ist offenbar nicht nur von Ereignis zu Ereignis größer, diejenigen Ereignisse, die es tatsächlich in die Öffentliche Aufmerksamkeit schaffen und damit die Solidarität der Spender herausfordern, scheinen auch in immer kürzeren Abständen aufzutreten.

Trotz der Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf die weitere Untersuchung von transnationaler Solidarität auftun dürften, erscheint eine Beschäftigung mit den Entwicklungslinien der transnationalen Solidarität lohnenswert. Bestätigen sich die Ergebnisse dieser Analyse auch in der weiteren Forschung, so sind die Implikationen auch für die internationalen Beziehungen beträchtlich. Denn mit einem wachsenden Gefühl der transnationalen Verbundenheit und Verantwortung verändern sich auch die Bezugspunkte für Politik. Ihre Legitimitäts- und Annerkennungsbedingungen lassen sich nicht mehr notwendigerweise auf nationale Gesellschaften zurückführen. Vielmehr kann sie auch auf neue sozialmoralische Ressourcen vertrauen, die sich im Zuge der transnationalen Vergesellschaftung ergeben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Artikel beruht auf den Ergebnissen einer Studie, die die Autorin im Rahmen Ihrer Tätigkeit am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der Abteilung "Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen" erstellt hat. Auszüge des Artikels sind bereits erschienen in Katrin Radtke, Ein Trend zu transnationaler Solidarität. Die Entwicklung des Spendenaufkommens in der Not- und Entwicklungshilfe, WZB Discussion Paper SP IV 2007 - 303, Berlin 2007.

    Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1988 (zuerst 1887). Zum Verfall der Solidarität vgl. Peter Ungut, Die Agonie des Sozialen, in: Die große Entsolidarisierung, in: Kursbuch, 157 (2004), S. 11 - 31.

  2. Zu den nationalstaatlichen Solidaritätspflichten vgl. u. a Claus Offe, Pflichten versus Kosten. Typen und Kontexte solidarischen Handelns, in: Jens Beckert/ Julia Eckert/Wolfgang Streeck/Martin Kohli (Hrsg.), Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen, Frankfurt/M.-New York 2004, S. 35ff.

  3. Johannes Berger, Expandierende Märkte, schrumpfende Solidarität? Anmerkungen zu einer Debatte, in: J. Beckert/J. Eckert/M. Kohli/W. Streeck, ebd., S. 246 - 261.

  4. Vgl. Karl Otto Hondrich/Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992, S. 22.

  5. Vgl. Andrew Linklater, Distant Suffering and Cosmopolitan Obligations, in: International Politics, 44 (2007), S. 19 - 36.

  6. Claus Offe, Pflichten versus Kosten. Typen und Kontexte solidarischen Handelns, in: J. Beckert u.a. (Anm. 2), S. 49.

  7. Herfried Münkler, Enzyklopädie der Ideen der Zukunft: Solidarität, in: J. Beckert u.a. (Anm. 2) , S. 22.

  8. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Denationalisierung und Globalisierung als Chance, Frankfurt/ M. 1998.

  9. In diesem Sinne ließ sich dann auch, wie etwa von Ernest Renan in einem Vortrag 1882, der Nationalstaat als "Solidargemeinschaft" charakterisieren: "Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und muss in der Gegenwart zu einem greifbaren Faktor zusammenzufassen sein: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen." Ernest Renan, Was ist eine Nation?, in: Ders., Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, Wien-Bozen, S. 57.

  10. Vgl. Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: Ders. (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998, S. 11.

  11. Vgl. Rainer Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/M. 2000, S. 67.

  12. Thomas Fiegle, Von der Solidarité zur Solidarität. Ein französisch-deutscher Begriffstransfer, Münster 2003, S. 49f.

  13. Auguste Compte, zit. in: Julius Morel/Eva Bauer/Tamas Meleghy/Heinz-Jürgen Niedenzu/Max Preglau/Helmut Staubmann (Hrsg.), Soziologische Theorie. Abriss der Ansätze ihrer Hauptvertreter, München-Wien 2001, S. 10.

  14. K. Bayertz (Anm. 10), S. 11.

  15. Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M. 1988, S. 111.

  16. Hans Braun, Und Wer ist mein Nächster? Solidarität als Praxis und als Programm, Tübingen 2003, S. 15.

  17. Vgl. Thomas Risse-Kappen, Bringing Transnational Relations Back In, in: Ders. (Ed.), Bringing Transnational Relations Back In. Non-State Actors, Domestic Structures and International Institutions, Cambridge 1995, S. 3

  18. Als weitere Indikatoren für transnationale Solidarität sind u.a. denkbar ehrenamtliches Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe, der Konsum fair gehandelter Güter oder Solidaritätsäußerungen in den Medien.

  19. Die ausgewählten Organisationen sind: SOS Kinderdörfer, Deutsches Rotes Kreuz e.V., Deutsches Komitee für UNICEF, Brot für die Welt, Bischöfliche Aktion ADVENIAT, Kindernothilfe e.V., missio - Internationales Katholisches Missionswerk, Plan International Deutschland, World Vision Deutschland, Deutsche Welthungerhilfe, Deutsche Lepra- und Tuberkolosehilfe, terre des hommes Deutschland, Diakonie Katastrophenhilfe, Stiftung Menschen für Menschen - Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe, Kirche in Not/Ostpriesterhilfe Deutschland, Christoffel Blindemission.

  20. Das DZI vergibt jährlich das so genannte Spendensiegel an Organisationen, die den Anforderungen der Organisation an Transparenz und Effizienz gerecht werden. Im Spendenalmanach werden seit dem Jahr 2003/4 die Spendeneinnahmen sowie Hintergrundinformationen zu allen Spendensiegelorganisationen veröffentlicht.

  21. Die verwendeten Daten stammen - sofern vorhanden - aus den Jahresberichten der Organisationen. Zum Teil wurden die Zahlen jedoch auch von den Organisationen elektronisch zur Verfügung gestellt. Alle Angaben wurden auf der Basis des Jahres 2000 inflationsbereinigt.

  22. Im Folgenden werden die Begriffe Nothilfe, Katastrophenhilfe und humanitäre Hilfe synonym verwendet.

  23. Für die repräsentative Umfrage werden nach dem Random-Route-Verfahren 4 000 Personen über 14 Jahren ausgewählt, deren Haushalte nach vorgegebenen Begehungsregeln aufgesucht werden. Die Fragen zum Spendenverhalten sind Teil einer Omnibus-Erhebung. Ein eindeutiger Spendenbegriff liegt den Befragungen nicht zugrunde, d.h. von den Befragten können sowohl Geldspenden als auch Sachspenden angegeben werden.

  24. K. Bayertz (Anm. 10), S. 31.

Dr. phil. (des.), geb. 1975; Referentin für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, Deutsche Welthungerhilfe, Friedrich-Ebert-Str. 1, 53175 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: katrin.radtke@dwhh.de