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Traditionen, Gegenwart und Zukunft der kubanischen Revolution

Michael Zeuske

/ 18 Minuten zu lesen

Unter historischen und soziologischen Gesichtspunkten existiert seit etwa 1975 auf der Antilleninsel Kuba eine nachrevolutionäre Gesellschaft unter schwierigen internationalen Bedingungen, zugleich der erste Sozialstaat Lateinamerikas.

Einleitung

Es gibt weder Gegenwart noch Zukunft "der kubanischen Revolution", sondern allein der Gesellschaft auf Kuba in ihrer gegenwärtigen politischen Form. La revolucion, "die kubanische Revolution", wird zwar gerne, besonders auf Kuba oder in internationalen Debatten unter Linken, als Synonym für das gegenwärtige Kuba benutzt. Aber unter historischen und soziologischen Gesichtspunkten existiert seit etwa 1975 auf der Antilleninsel eine nachrevolutionäre Gesellschaft unter schwierigen internationalen Bedingungen, zugleich der erste Sozialstaat Lateinamerikas.

Bis 1989 versuchte Kuba, das "Modell" seiner Revolution und seiner Gesellschaft in Lateinamerika und in Afrika (vor allem Angola) gegen alle Widerstände zu propagieren, auch mit militärischen Mitteln. Das führte zu massiven Konflikten vor allem mit den USA (die schon 1960 die bis heute existierende Blockade verhängt hatten), aber auch im Innern Kubas. Die schwierigen internationalen Bedingungen haben sich mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus verschärft. Vor allem in ihrer wirtschaftlichen Dimension spitzen sich die schwierigen Bedingungen durch die internationale Finanzkrise seit 2008 weiter zu. Zugleich haben sich in Lateinamerika durch den so genannten Linksruck besonders in Venezuela, Ecuador und Bolivien die politischen Umfeldbedingungen erheblich verbessert. Der andauernde Versuch, die Ergebnisse der Revolution zu sichern, führte zur Verfestigung eines zentralistischen und autoritären Herrschaftssystems rund um die historische Figur Fidel Castro, die Castro-Brüder Fidel und Raúl sowie eine Gruppe von Sierra-Kämpfern und Anhängern. Die Frage nach der "Zukunft der Revolution" impliziert also immer auch die Frage nach der Zukunft des politischen Systems auf Kuba.

Berechtigt ist die Frage nach Gegenwart und Zukunft der kubanischen Revolution, wenn sie sich auf das emanzipatorische Gesellschaftsprojekt bezieht, das vor allem die 1950er und 1960er Jahre geprägt hat. Grundideen und Verhaltensweisen dieses Projektes werden heute wieder auf globalen Sozialforen und darüber hinaus debattiert. Manche dieser Debatten stellen den Aufbruch der 1960er Jahre der heutigen Stagnation und dem Reformstau auf Kuba entgegen.

Einige der Debatten werden auch auf Kuba, zusammen mit Erinnerungen und wissenschaftlichen Analysen der Vergangenheit, publiziert. Eines dieser Bücher und die darin abgedruckte Debatte des Symposiums "El significado de la Revolucion Cubana hoy" will ich zum Anlass nehmen, um erstens die Frage nach der Bedeutung der kubanischen Revolution 1956 bis 1970 und ihren Traditionen zu beantworten und zweitens die wichtigere Frage nach Revolution und Reform in Bezug auf die innere Entwicklung Kubas von 1970 bis heute zu analysieren.

Vorgeschichte

Die Revolution auf Kuba, die 1959 das Regime von Fulgencio Batista stürzte, zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie die erste gesellschaftliche Mobilisierung in Lateinamerika war, die gegen die landbesitzenden Oligarchien, den übermächtigen Einfluss der USA und von beiden abhängige, terroristische Marionettenregimes siegte. Ähnliche Bewegungen in Lateinamerika waren vor allem an der Agrar- und Bodenfrage (in Bolivien 1952-64 und Guatemala 1952-54) gescheitert. Dass Kuba eine Insel ist, spielte für das Überleben der Revolution nach 1960 (und die Möglichkeit ihrer "Eingrenzung" durch die USA) eine wichtige Rolle.

Kuba war um 1950 eine "junge", sehr "neue" Nation, die sich erst im 19. Jahrhundert aus europäischen Einwanderern und nach Kuba verschleppten Afrikanerinnen und Afrikanern gebildet (1778: rd. 175000, 1898: zwei, um 1930: drei Millionen Einwohner) und in langwierigen antikolonialen Kriegen (1868-1898) ihr Nationalbewusstsein ausgebildet hatte. In ihr hatten Traditionen der Zuckermonowirtschaft und das Erbe der Sklaverei (bis 1886) extreme soziale Hierarchisierungen, ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land (sowie Zuckergebieten und Nichtzuckergebieten) und einen sehr starken Rassismus hervorgebracht beziehungsweise aus der noch nicht lange zurückliegenden Kolonialzeit übernommen, überdeckt von Ideologien der "Rassendemokratie" (con todos y para todos, de facto: "alle sind gleich im Vaterland") und Freundschaft (amistad). 1912 hatte es in der so genannten guerrita de negros eine schwere Auseinandersetzung um die politische sowie soziale Rolle und den Status von "Farbigen" und Schwarzen gegeben, die mit einem Aufstand ehemaliger farbiger Unabhängigkeitskämpfer in Oriente und einem Massaker der republikanischen Armee (mit bis zu 4000 Toten auf Seiten der Aufständischen) endete. Seitdem war die Machtverteilung auf Kuba klar: Hohe weiße Offiziere des Unabhängigkeitskrieges, zugleich Großgrundbesitzer, weiße zivile Doktoren und einige schwarze oder farbige Partizipationsikonen hielten die Macht im Staat.

Das gelang im Schatten des Platt-Amendments, ein Vertrag mit den USA, der Kuba im Status einer Halbkolonie halten sollte. Doch 1933 brach eine Massenrevolution, vorwiegend auf dem Lande gegen die Zuckerstrukturen, aus. Ein dubioser "Mulatte", auch chino (Chinese) oder lindo (Hübscher) genannt, der ehemalige Korporal und Schnellschreiber Fulgencio Batista, übernahm es, das alte Offizierskorps im Hotel Nacional zusammenzuschießen, formierte einen gemischten Militär- und Sicherheitsapparat, würgte die Revolution ab und betrieb Reformpolitik (als Symbol galt vor allem die an die Weimarer Reichsverfassung angelehnte Verfassung von 1940). Fortan existierte auf Kuba ein relativ starker Staat mit eigenständigen Traditionen der Regulierung, auch und gerade der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Eine andere Tradition, die von 1933 ausging, war die einer anarchistischen, militanten und oftmals bewaffneten Studenten- und Jugendbewegung in den Städten (in der auch Fidel Castro Erfahrungen sammelte). Die Regierungen im Schatten Batistas (1944-1952) waren trotz nationalistischer Fensterreden von den USA abhängige Politikcliquen.

Als die Gefahr drohte, dass eine linksnationale, antikommunistische Parteiformation 1952 die Wahlen gewinnen könnte, griff Batista zum Staatsstreich (1952-1958). Seiner bald offen terroristischen Diktatur gelang es nicht, die Folgen der massiven Amerikanisierung, der Modernisierung und der Zuckerkrise abzufangen. Die Guerilla in den Bergen der Sierra Maestra (sierra) konnte sich und ihren Anführer Fidel Castro im Laufe des Jahres 1958 als führende Kraft einer vielfältigen Anti-Batista-Bewegung (llano) etablieren. Als die siegreichen Guerilleros in Santiago einrückten, verkündete Fidel Castro mit Blick auf den "geraubten Sieg" von 1898, die abgewürgte Revolution von 1933 und die Befindlichkeiten der "jungen" Nation: Diesmal ist es eine "wirkliche Revolution".

Castroismus

Diese "wirkliche Revolution" bestand vor allem darin, dass für alle Kubanerinnen und Kubaner, die mitmachen wollten und auf der Insel blieben (das waren um 1960 etwa sieben, heute etwa elf Millionen Menschen; rund zwei Millionen Kubaner leben außerhalb der Insel), auf eben dieser Insel bis 1975 ein Sozialstaat entstand. Dieser wies alle wichtigen Funktionen auf (Abbau sozialer Hierarchien, Beseitigung des Hungers, Gesundheitsversorgung, soziale Sicherheit, Arbeit und Bildung sowie - mit Abstrichen - Wohnraum), und zwar mit Kennziffern (etwa Gesundheit, Kindersterblichkeit, Bildung), die manche westliche Staaten vor Neid erblassen ließen. Das neue politische System existiert mit einigen Veränderungen bis heute.

All das geschah auf einer Insel, die mit dem Hafen von Havanna zwar einen atlantischen Schnittpunkt von Imperien seit 1560 vorweisen kann, aber über keine eigene Energie- und Industriebasis verfügt. Kuba war politisch und sozial eine Großmacht, wirtschaftlich nicht einmal ein Zwerg. Das machte das Land von Großmächten abhängig, so zwischen 1960 und 1990 von der Sowjetunion und dem RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe). Die charismatische Führung verlangte enorme Wirtschaftshilfen (und bekam sie bis 1989), vor allem wegen der Pionierfunktion Kubas in Bezug auf Sozialismus und Revolution in Lateinamerika. In der internationalen Politik war Kuba, stark geprägt durch die Utopie der Weltrevolution - die bis 1980 fast alle Linken der Welt teilten -, darauf bedacht, revolutionäre, antiimperialistische, linke und kommunistische Bewegungen und Revolutionen zu fördern; in den 1960er Jahren vor allem in Lateinamerika und in Westeuropa (besonders in Frankreich ), bis 1990 in Afrika, seitdem vor allem in zivilen Missionen von Ärzten, Künstlern, Trainern und Lehrern in der "Dritten Welt". Dabei leistete die offizielle Politik der USA schärfsten Widerstand, durch Blockaden, eine (fast) offene Invasion, verdeckte Angriffe sowie einen andauernden Geheimdienstkrieg.

Alle diese Aspekte der Revolution setzten eines voraus: eine extrem zentralisierte Führung in einem sehr starken Staat. Das ist das Geheimnis der bis heute existierenden "Herrschaft" des Castroismus. Schon die ersten Maßnahmen 1959/60, als sich die Revolution noch nicht als "kommunistisch" oder "sozialistisch" definierte, sondern "humanistisch" und linksnational, zeigten die Kompromisslosigkeit vor allem Fidel Castros sowie der engeren Führung. Der Beginn der Intransigenz liegt im Kern- und Grundproblem sozialer Veränderungen in Lateinamerika: der Agrarfrage und der Bodenreform. Als die Castristen 1959 mit einer relativ bescheidenen ersten Agrarreform (Enteignung von Bodeneigentum über 400 Hektar) auf die Forderungen der Bevölkerung eingingen, begannen die USA mit der Unterstützung der internen Gegner der Castristen (innerer Bürgerkrieg bis 1966, vor allem in den Gebirgszonen). Die Castristen wandelten bei den Agrarreformen "altes", privates Großgrundeigentum vor allem in riesigen Staatsbesitz um. Sie schufen große Güter mit Landarbeitern und Zuckerfabriken, setzten also auf industrielle und chemisierte Landwirtschaft.

Besonders in den Krisen seit Mitte der 1980er Jahre, verschärft durch den Fastzusammenbruch 1991 und die Weltkrise seit 2008 zeigt sich, dass wegen des agrarischen Gigantismus auf Kuba ganze Landstriche verfallen, die lokale Nahrungsmittelproduktion zerstört (oder marginalisiert) ist, die Hälfte des bebaubaren Landes nicht genutzt wird und mindestens eine ganze Generation von Bauern ausgefallen ist. Ähnliches gilt für das Überleben der Revolution in Bezug auf die urbane Reform (Boden ist kein Spekulationsobjekt mehr; Wohneigentum für alle Kubanerinnen und Kubaner), die Alphabetisierung, die Universitäts- und Bildungsreformen sowie den Ausbau der Gesundheitssystems, den Abbau der Unterschiede zwischen Stadt und Land oder die schlagartige Nationalisierung der Produktionsgrundlagen des kubanischen Kapitalismus beziehungsweise seiner und internationaler Finanzinstitutionen (Banken) 1960/61.

Voraussetzung ist auch hier die zentralisierte Führung und, wegen der fehlenden Wirtschaftsbasis, eine Akkumulation von Kapital aus der Nichtinversion in viele Infrastrukturen. Das bedeutet, wenn vor allem Schulen, Konsultorien (flächendeckende medizinische Stützpunkte), Kranken- und Gesundheitseinrichtungen sowie große, staatlich geplante Wohnviertel gebaut werden und internationale Solidarität teuer ist, spart die kubanische Führung an Investitionen in Straßen, individuelle Mobilität, individuelle Häuser und Wohnungen, Eisenbahnen, Flugverkehr (außer militärischem), Kommunikation, Gasleitungs-, Wasser- und Abwasserrohrnetzen sowie an der Müllbeseitigung, an öffentlichen Sanitäranlagen oder am Umweltschutz. Die Infrastruktur hat sich heute, nach mehr als 50 Jahren und nach knapp zwei Generationen, zum schwierigsten und gefährlichsten Problem ausgewachsen: Straßen, Wohnviertel und Häuser fallen mehr und mehr in sich zusammen. Das stellt für die Generationen, die nicht von der urbanen Reform der 1960er Jahre profitiert haben, also seit 1970 geborene Menschen, neben der Scham über den allgemeinen Verfall und Gestank ein besonderes individuelles Problem dar. Familiengründung ohne eigenen Wohnraum ist unmöglich; das Leben in den engen und verfallenden Häusern unter Herrschaft der Alten ist die Hölle.

Die extrem zentralisierte Führung hat weitere Dimensionen, die durch die Härte der Auseinandersetzung geprägt sind und von Anfang an präsent waren: eine sehr breite Militarisierung (Milizen als "Volk in Waffen", welche die Revolution bei Playa Giron, in der Schweinebucht, 1961 verteidigten ) sowie die Schaffung einer großen Armee sowie anderer bewaffneter Apparate (darunter sehr effiziente Geheimdienste), die ebenfalls erhebliche Mittel verschlingen sowie seit etwa 1965 das absolute Gewaltmonopol haben, mit entsprechendem Einsatz gegen jegliche Formen der Opposition sowie Terror (Todesstrafe, Erschießungen, actos de repudio) gegen militärisch gefährliche Gegner und militärische Sondereinheiten zur Unterdrückung von Unruhen (fuerzas especiales). Das so praktizierte Gewaltmonopol des Staates wiederum, und das soll nicht sarkastisch klingen, geht einher mit hoher sozialer Sicherheit für die Bevölkerung. Es gibt keinen Staat in Lateinamerika mit einer derart niedrigen Quote von Gewaltverbrechen.

Um diese Liste mit Beispielen für die "verschiedenen" Seiten der Revolution abzuschließen, sei auf ein wichtiges historisches Problem Lateinamerikas und Kubas, den verdeckten Caudillismo und die Tradition des Amigismo verwiesen. Die Langlebigkeit der Herrschaft Fidel Castros ist schwer erklärbar. Die Castro-Gruppe, in deren Zentrum immer noch Fidel steht, hat als kleine, auf den Anführer eingeschworene Gruppe begonnen und sich aus einer Ansammlung ziviler Oppositioneller in eine straff militärisch organisierte Kerntruppe des Fidelismus/Castroismus gewandelt. Mit Ausnahme einiger weniger bereits gestorbener Mitglieder dieses Kerns von "Freunden" (fidelistas) haben sie oder von ihnen handverlesene Kader in allen wichtigen Militär-, Partei- und Staatsinstitutionen die Herrschaftspositionen auf Kuba inne. Fidel selbst hat sich nie in Institutionen einbinden lassen. Sein Stellvertreter und Nachfolger Raúl Castro stammt aus der Familie, es ist sein Bruder. Dieser Umstand bekommt im Rahmen traditioneller politischer Konfigurationen eine besondere Bedeutung; es ist allgemein bekannt, dass Raúl seit jeher so etwas wie der Kaderchef des Castroismus gewesen ist. Minister, hohe Partei-, Wirtschafts-, Verwaltungs- und Militärchefs oder Diplomaten wurden und werden nach Bedarf von dieser internen Führung ein- und umgesetzt, vor allem mit dem Ziel, sie sich nicht zu sehr auf einem Gebiet zu professionalisieren und damit eine eigene Machtbasis gewinnen zu lassen.

Traditionen und Realität

Seit etwa 1968/70, also seit dem Ende der Revolution in Realzeit und dem Übergang zu einer Politik, die nicht mehr vom Bruch, sondern von Kontinuitäten hätte geprägt sein müssen, nutzt die Führung den Begriff der Revolution vor allem im inneren Diskurs, um damit ihre Legitimität zu festigen sowie von den neuen Generationen Treue und Gehorsam einzufordern. In bewaffneten Kräften und partiell im Ausland (vor allem in Lateinamerika) wurde "die Revolution" unter Führung Fidel Castros zum Mythos.

Wie sieht es in der Realität Kubas heute und mit der Zukunft des sozialistischen Kuba aus? Kuba hat beim Niederbrechen von Klassen- und Statusschranken Historisches und Großes geleistet; Wichtiges auch im Bereich der Geschlechterbeziehungen. Am deutlichsten gescheitert ist die kubanische Revolution (unter Einbeziehung der "revolutionären Reformen" in den 1960er Jahren) an der "Rassen"-Frage, vor allem, weil die Folgen der Krisen den (großen) Teil farbiger und schwarzer Menschen am heftigsten trafen. Die neuen Stellen, die während der Wirtschaftsreformen geschaffen wurden, mit Zugang zum Dollar- und Devisensektor, gingen meist an Menschen mit buena presencia (gutes Aussehen) und cultura - meist weiße Menschen.

Egalitäre Gesellschaften haben zwei Grundprobleme: Sie müssen sich nach außen in einer Welt mächtiger, nichtegalitärer, hierarchischer Staaten und Gesellschaften verteidigen, und die fehlende wirtschaftliche Hierarchisierung beraubt die Wirtschaft ihrer wichtigsten Antriebe - des Wettbewerbs, der Konkurrenz und der Angst. Kreativität wird zwar gepredigt, fällt aber im Alltag meist dem Zentralismus, den Bürokraten und der Gleichmacherei zum Opfer. Kunst, Musik und Literatur sind das Refugium. Auch das fördert monolithische, auf charismatische Anführer zugeschnittene Herrschaftssysteme mit großen bürokratischen Apparaten, die allerdings für längere Zeit auf hohe Zustimmungen setzen können - zusammen mit sozialen Errungenschaften, von denen noch heute, da sie schon ziemlich ramponiert sind (Schulwesen, Bildung, Gesundheitssystem, Sicherheit, kein Hunger), in den meisten Länder Lateinamerikas zwei Drittel der Bevölkerung nur träumen können.

Notwendige Anpassungen und Änderungen kommen kaum von unten, sondern werden auf Kuba von oben angeordnet, in einem kontrollierten Parlament beschlossen und revolucion oder período especial (seit 1990) genannt. Eine erste Phase von dekretierten Reformen und Veränderungen als diskursive revolucion hatte Kuba zwischen 1970 und 1986 erlebt, als es Versuche zu Effektivierung der Wirtschaft nach "sozialistischer Rechnungsführung" und großflächige Umstrukturierungen gab, um den Wasserkopf Havanna demographisch zu entlasten. Auch der Markt kam nach seiner Abschaffung 1966/70 wieder: Private Bauernmärkte wurden erlaubt. Das führte vor allem in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu einer deutlichen Verbesserung aller grundlegenden Kennziffern (Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung, Bildung, Ernährungsstand, Gesundheit), aber auch zu einem höheren Grad an Uniformierungsdruck und Repression ("graue Siebziger"). Der Versuch einer stärkeren Öffnung zum Markt und zur wirtschaftlichen Rechnungsführung wurde spätestens 1986 durch Fidel Castro abgebrochen und durch eine neue Runde diskursiver Revolutionierung, mit deutlichem Bezug zum Mythos des Che Guevara (Voluntarismus), abgelöst.

Krisen

Das verlieh Kuba Strahlkraft vor allem für die "Dritte Welt". Dann traten drei miteinander verwobene historische Elemente in den Vordergrund. Erstens wurde die Außen-, Symbol- und Modellpolitik zu teuer; zweitens brach der "Realsozialismus" zusammen und entzog Kuba das Imperium, auf das sich alle Eliten der Insel bis dahin bezogen hatten (in der historischen Abfolge: Spanisches Imperium bis 1898; USA bis 1959; UdSSR und Realsozialismus bis 1990); drittens hatte die egalitäre Massengesellschaft angesichts einer ganzen Generation im sozialistischen Kuba geborener "neuer Menschen" schon in den 1980er Jahren ihre Grenzen erreicht. Eigentlich wären Leistung und Aufstieg auf neuer, sozialistischer Grundlage das Gebot der Stunde gewesen. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus kam es zwischen 1992 und 1993 zur bis dahin tiefsten Krise des Landes. Es kam aber nicht zu einer Revolution der Kubanerinnen und Kubaner gegen Fidel Castro und den Castroismus. Ganz im Gegenteil, die internen Verteilungsmechanismen griffen wieder, und Fidel Castro wurde weltweit und vor allem in Lateinamerika immer mehr zum Mythos und sozusagen zum Großvater der Revolution verklärt. Im Innern wurde der período especial ausgerufen, der quasi mit Mitteln des Kriegskommunismus die Errungenschaften der Revolution erhalten sollte (Verteilung von Medikamenten, Essen und Geräten, z.B. Fahrrädern; Zulassung von Küchengärten in den Städten; private Schweine- und Hühnerhaltung in städtischen Wohnungen). Nach außen wurden Reformen in Richtungen Markt gemacht, zum Teil auch von außen zugelassen (joint ventures, westlicher Tourismus, "Export" von Sportlern, Künstlern, Ärzten und Heiratskandidaten). Der Staat drückte auch bei Schwarzmärkten die Augen zu.

Von 1993 an stand die Nutzung des US-Dollars als erstes Zahlungsmittel in den Sektoren, in denen der Staat Marktbeziehungen zulassen wollte, nicht mehr unter Strafe; er diente als zweites Zahlungsmittel. Damit wurde der rapide Verfall der kubanischen Währung gestoppt, der zeitweilig 1:130 betragen hatte; die Relation zwischen US-Dollar und kubanischem Peso pegelte sich auf Werte um 1:25 ein. Auch private Bauernmärkte und "Arbeit auf eigene Rechnung" (Handwerk, Restaurants, kleine Reparaturbetriebe ohne eigene Angestellte) wurden zugelassen. Größere Teile des Bodens wurden Genossenschaften überlassen, und parallel wurde versucht, die Zuckerwirtschaft zu modernisieren. Letzteres endete 2001/02 in einem Quasi-Zusammenbruch der großen Zuckerwirtschaft. Seitdem läuft eine stille, aber gigantische Umwälzung auf dem kubanischen Land ab, die ich als "Reform ersten Ranges" bezeichnen würde. Über "Revolution" spricht keiner mehr. Im Grunde handelt es sich um "Rückbau"-Reformen: Kubas überdimensionierte Zuckerwirtschaft war nicht mehr konkurrenzfähig. Die Reformen in Richtung mehr Markt werden seit 1997, vor allem seit 2003, abgewürgt mit dem Verweis auf die negativen Folgen des Schwarzmarktes, der Touristifizierung (Prostitution) und der Gewinne der Privaten, vor allem der Bauern. Der überzentralisierte Staat war wieder da und zog alles an sich. Das war nicht zuletzt durch die immer engere Bindung an das chavistische Venezuela und wegen der Kompensationsgeschäfte Ärzte und Bildung gegen Öl zwischen Kuba und Venezuela (Bolivien; Ecuador) möglich.

In der Breite sieht sich Kuba heute einer Reihe von Krisen des Alltagslebens gegenüber, von denen die tiefste die bereits erwähnte der Infrastrukturen ist. Von neuen Infrastrukturen, die politisch nicht gewollt und sehr kontrolliert sind, etwa das Internet, ist dabei noch nicht die Rede. Die notwendigen Kapital- und Arbeitsaufwendungen für die traditionellen Infrastrukturen, die sich in einigen Bereichen (zum Beispiel bei der Hausmodernisierung) zudem einer zentralistischen Organisation per se entziehen, sind so extrem hoch, dass sie das dekapitalisierte Land in der gegenwärtigen Form seiner Wirtschaftsverfassung gar nicht leisten kann. Mögliche Dynamisierungen der internen Wirtschaft durch volle Reprivatisierung von Land und Freigabe des privaten Handwerks sind wegen der schnellen Bereicherung und des sichtbaren Gleichheitsbruchs politisch nicht erwünscht.

Reformen?

Seit der so genannten "Machtübernahme" durch Raúl Castro im Innern (2006) kam es zu Disziplinierungskampagnen, die einigen Erfolg hatten, sowie zu kleineren Reformen (Vergabe von Land an Private als Pacht für zehn Jahre, allerdings ohne an die Eigentumsfrage zu rühren; differenzierte Löhne; Möglichkeit für Kubaner, Touristenhotels und Dollarläden zu besuchen). Alles in allem aber wird weiterhin ein diskursiver Kurs der revolucion permanente, heute mehr und mehr mit historischer Untermauerung, gefahren. Der "neue" Castro, Raúl, ist ebenso Vertreter des Castroismus wie der "alte", Fidel.

Noch immer sind viele Kubaner, welche die Rückkehr der alten Besitzer aus Miami fürchten, auf den Patriarchalismus des Castroismus fixiert. Aber in den Krisen traten auch die repressiven Seiten des Castroismus stärker hervor; erstmals bildeten sich offene Oppositionsgruppen. Die Schwierigkeiten im Innern haben bisher nicht dazu geführt, dass Kuba bewiesen hätte, dass "Reformen im Sozialismus" erfolgreich sein können. Im Gegenteil, die Krisen führten zur parallelen Betonierung des Außensektors (Tourismus) auf der einen und der "normalen" Gesellschaft auf der anderen, zum Boom des Schwarzmarkts und lokaler Klientelpolitik sowie zu partikularen Privilegien für die Armee, für Ärzte, Sportler und Künstler sowie für Hauseigentümer der reforma urbana. Die Errungenschaften der Revolution (Gesundheit, Bildung, Sicherheit, kein Hunger) verfallen, aber sie existieren noch und werden seit 1999 vor allem auf dem Schul- und Bildungssektor mit hohem Aufwand modernisiert.

Kubanerinnen und Kubaner haben sich an die Dauerkrise und eine informelle, hierarchisierte Gesellschaft mit Schwarzmärkten gewöhnt - unter Beibehaltung des egalitären Diskurses der revolucion. Die Castros getrauen sich aber nicht, die großen internen Probleme anzugehen: eine klare Regelung der Nachfolge und eine konsequente Verjüngung der Politik, mehr Markt, ein konsequentes Steuersystem, Verrechtlichung, Umweltpolitik und vor allem: Agrarreformen und urbane Reformen, die sozialen Wohnungsbau, Nahrungsmittelsicherheit und eine gerechte Verteilung des Wohnraums ermöglichen würden. Armee und Staat haben nach 2003 wieder die Kontrolle über fast die gesamte Wirtschaft übernommen. Der US-Dollar wurde durch Valuta-Geld (Peso Cubano Convertible/CuC) abgelöst.

Die vorsichtigen Veränderungen 2007/10 - die wichtigsten sind die Landnutzung und Lohndifferenzierungen, neuerdings auch die Verbesserungen im Transport in einigen Städten, in der Disziplin (kombiniert mit Entlassungen aus dem Staatsdienst und Überlegungen zum Einsatz von Arbeitskräften in der Landwirtschaft, was ungute Erinnerungen an die Jahre um und nach 1970 weckte) und die Wiederholung der 1993 bereits proklamierten Möglichkeit für Privatleute, Geschäfte und kleine Firmen zu eröffnen, 2010 mit der Möglichkeit, Mitarbeiter einzustellen - sind richtige Schritte in der Tradition der dekretierten Veränderungen seit 1970, schieben aber die notwendigen "großen" Reformen im Sozialismus nur hinaus. Die Lebensverhältnisse werden am tiefsten durch Lebensmittel bzw. ihr Fehlen, durch Konsumgüter, Einkommen, Infrastrukturen und Arbeitsverhältnisse geprägt. In Bezug auf die dafür notwendigen Reformen herrschen eine Politik der kleinen Schritte und oft Stillstand. Die Zeit steht immer noch still. Wie lange dieser kräftezehrende Stillstand (denn die Alltags- und Infrastrukturprobleme verlangen viel Kraft) durch Ikonisierung von Che & Fidel oder die Mythologisierung der Revolution überdeckt werden kann, ist unklar.

Das ist zugleich das Wichtigste, was man aus historischer Perspektive über die nähere Zukunft Kubas sagen kann: Es wird unter der Herrschaft des Castroismus keine Demokratisierung nach westlichem Muster (Wahlen, Mehrparteiensystem) geben, eher eine Verhärtung. Und ich muss das Plädoyer für "große" Reformen etwas abschwächen (obwohl ich sie als Ziel für notwendig halte), denn der Spielraum für "große" Reformen angesichts der Intransigenz der kubanischen Führung in der Erhaltung des Gesellschaftssystems auf Kuba, der Nähe der USA (politisch), der Ambitionen und des Kapitals der Cuban-Americans (wirtschaftlich) sowie der geringen globalen Bedeutung des kubanischen Marktes ist nicht bekannt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Zeuske, Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert, Zürich 2004; ders., Kleine Geschichte Kubas, München 20073.

  2. Vgl. C. Alistair M. Hennessy (ed.), The Fractured Blockade: West European-Cuban Relations During the Revolution, London 1993.

  3. Vgl. Michael Zeuske, Kuba 1959-2010: Geschichte und politisches System (i.E.).

  4. 1959: Una rebelion contra las oligarquías y los dogmas revolucionarios [Eine Rebellion gegen Oligarchie und revolutionäre Dogmen], La Habana-Panama 2009, S. 490-506.

  5. Vgl. Michael Zeuske, Fidel Castro und die Geschichte Kubas, in: Dossier Lateinamerika der bpb, Januar 2008, online: www.bpb.de/themen/U2O311,1,0,Fidel
    _Castro_und_die_Geschichte_Kubas.html (11.9.2010); ders., Zwischen Reform und Revolution. Ein Überblick über 50 Jahre castristisches Kuba, in: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 415 (2009), S. 36-40; ders. unter Mitarbeit von Thomas Neuner, Fidel Castro, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika, Frankfurt/M. 2010; ders., Die unbekannten Jahre des Anfangs (1959-1970) (i.E.); ders., Reform und Revolution auf Kuba ... und Stillstand? (i.E.).

  6. Vgl. Albert Manke, Die Revolution 1959 als Sonderfall. Soziale Bewegungen in Kuba, in: Jürgen Mittag/Georg Ismar (eds.), ¿"El pueblo unido"? Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas, Münster 2009, S. 57-80.

  7. Vgl. Thomas C. Holt, The First New Nations, in: Nancy Appelbaum et al. (eds.), Race & Nation in Modern Latin America, Chapel Hill-London 2003, S. VII-XIV; Ada Ferrer, Writing the Nation. Race, War, and Redemption in the prose of Independence, 1886-1895, in: dies., Insurgent Cuba. Race, Nation, and Revolution, 1868-1898, Chapel Hill-London 1999, S. 112-139.

  8. Vgl. Michael Zeuske, Legados de la esclavitud en Cuba [Erbschaften der Sklaverei auf Kuba], in: Martín Rodrigo y Alharilla (ed.), Cuba: De colonia a república, Madrid 2006, S. 99-116.

  9. Vgl. Aline Helg, Our Rightful Share. The Afro-Cuban Struggle for Equality, 1886-1912, Chapel Hill-London 1995; Alejandro de la Fuente, Myths of Racial Democracy: Cuba, 1900-1912, in: Latin American Research Review (LARR), 34 (1999), S. 39-73; ders., A Nation for All: Race, Inequality, and Politics in Twentieth-Century Cuba, Chapel Hill-London 2001.

  10. Vgl. Julia E. Sweig, Inside the Cuban Revolution. Fidel Castro and the Urban Underground, Cambridge, Mass. 2002.

  11. Vgl. Thomas Neuner, Kuba und Frankreich: eine Mesalliance 1959-1971, Diss., Universität zu Köln, 2010 (i.E.).

  12. Vgl. Piero Gleijeses, Conflicting Missions. Havanna, Washington, and Africa, 1959-1976, Chapel Hill-London 2002.

  13. Vgl. Bettina Grote, Zwischen Heldenkult und Marginalisierung. Kleinbauern und Genossenschaften in Kuba 1940-1963, Norderstedt (Books on Demand) 2004.

  14. Vgl. Hugo Rueda Jomarron, Tradiciones combativas de un pueblo. Las milicias cubanas, La Habana 2009; Albert Manke, Neue Aspekte der Gründung und Organisation der Revolutionären Nationalmilizen Kubas, 1959-1961 (i.E.).

  15. Vgl. Antony Kapcia, Ideology and the Cuban Revolution: Myth, Icon and Identity, in: W. Fowler (ed.), Ideologues and Ideologies in Latin America, Westport, CT 1997, S. 83-104; ders., Cuba. Island of Dreams, Oxford-New York 2000.

  16. Vgl. Alejandro de la Fuente, The New Afro-Cuban Cultural Movement and the Debate on Race in Contemporary Cuba, in: Journal of Latin American Studies, 40 (2008) 4, S. 697-720.

  17. Vgl. Brian H. Pollitt, The rise and fall of the Cuban sugar economy, in: Journal of Latin American Studies, 36 (2004) 2, S. 319-348.

  18. Vgl. Michael Zeuske, Die Bolivarianische Republik (1999-2008), in: ders., Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008, S. 477-565.

  19. Vgl. Bert Hoffmann, The Politics of the Internet in Third World Development. Challenges in Contrasting Regimes with Case Studies of Costa Rica and Cuba, New York 2004.

  20. Vgl. Carlos Alberto Montaner/Héctor Palacios, Cuba, de Fidel a Raúl: ¿de Castro a Castro?, in: Cuadernos de Pensamiento Político, Nr. 18 (2008), S. 133-148.

  21. Vgl. Bert Hoffmann, Cuba - La reforma desde adentro que no fue; in: Notas, 9 (1996), S. 48-65; ders., Kubanische Comebacks. Die Rückkehr der Vergangenheit im sozialistischen Kuba, in: Wolfgang Gabbert et al. (Hrsg.), Offene Rechnungen. Lateinamerika Analysen und Berichte 20, Bad Honnef 1996, S. 139-158; ders., Transformation and Continuity in Cuba, in: Review of Radical Political Economics, 33 (2001) 1, S. 1-20.

  22. Vgl. Michael Zeuske, Fidel Castro - Don Quijote in Olivgrün oder Vater des Linksrucks? Eine kritische Würdigung, in: ders., Kleine Geschichte (Anm. 1), S. 226-234.

  23. Vgl. Bert Hoffmann, Kuba: Wohin führt die Ära Raúl?. GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 2 (2008), online: www.giga-hamburg.de/giga-focus (13.9.2010).

Dr. phil., geb. 1952; Professor an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln, Albertus Magnus Platz, 50923 Köln. E-Mail Link: michael.zeuske@uni-koeln.de