Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Niedergang oder Comeback der Gewerkschaften - Essay | Gewerkschaften | bpb.de

Gewerkschaften Editorial Niedergang oder Comeback der Gewerkschaften - Essay Zukunft der Sozialpartnerschaft in Deutschland - Essay Arbeitsbeziehungen und gewerkschaftliche Organisation im Wandel Krise und strategische Neuorientierung der Gewerkschaften Die Gewerkschaften im Fünf-Parteien-System der Bundesrepublik Perspektiven des gewerkschaftlichen Kerngeschäfts: Zur Reichweite der Tarifpolitik in Europa Gewerkschaften zwischen struktureller Europäisierung und sozialpolitischer Stagnation

Niedergang oder Comeback der Gewerkschaften - Essay

Hans-Jürgen Urban

/ 10 Minuten zu lesen

Wollen die Gewerkschaften in der Kapitalismuskrise als konstruktive Vetospie­ler zur Krisenbewältigung beitragen, sind die Stabilisierung ihrer Organisations­macht und die Demokratisierung des Wirtschaftlichen unverzichtbar.

Einleitung

Es klingt paradox: Ausgerechnet in der schwersten Krise des Nachkriegskapitalismus scheint den deutschen Gewerkschaften ein Comeback zu gelingen. Umgarnt von den politischen Parteien erlebten sie eine "ungeahnte Renaissance". Schlicht und wuchtig heißt es: "Die Gewerkschaften sind zurück." Diese aus gewerkschaftlicher Sicht schmeichelhafte Diagnose kollidiert mit dem Mainstream der wissenschaftlichen und medialen Debatten der vergangenen Jahre. Dort galt der gewerkschaftliche Niedergang geradezu als ausgemachte Sache.

Als einer der ersten gab Ralf Dahrendorf anlässlich der gewerkschaftlichen Politik zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit im Jahr 1984 den Tenor vor: Die Gewerkschaften repräsentierten zunftähnlich nur noch die Sonderinteressen der Arbeitsplatzbesitzer und befänden sich auf dem Weg von "vorwärtsweisenden Organisationen selbstbewusster Zukunftsgruppen" zu "Verteidigungsorganisationen absteigender sozialer Gruppen". Seither hatte sich die These vom Niedergang der Gewerkschaften zu einem Krisenparadigma verdichtet, das die Diskurse bis hin zum Szenario eines "Kapitalismus ohne Gewerkschaften" fand (W. Müller-Jentsch) prägte.

Gegensätzliche Zeitdiagnosen

Die Comeback-These verweist zunächst auf die bedeutende Rolle der Gewerkschaften bei Krisenbewältigung und Beschäftigungssicherung in Zeiten einbrechenden Wirtschaftswachstums. Und selbst für konservativ-liberale Regierungen sind keynesianische Konjunkturprogramme, eigentumsrechtliche Eingriffe und "mehr Staat" keine Tabus mehr, obwohl sie noch jüngst als Belege des anachronistischen Zeitverständnisses der Gewerkschaften galten. Auch das schadet dem Ansehen der Gewerkschaften nicht.

Dennoch wirkt die Comeback-These auch eigentümlich naiv. Unterbelichtet bleibt, dass die neue Wertschätzung der politischen Klasse gegenüber den Gewerkschaften auch auf ihre Einbindung in eine staatliche Krisenstrategie zielen könnte, die perspektivisch die Krisenkosten auf Lohnabhängige und Sozialleistungsbezieher verteilt. Und die, gleichsam konfliktpräventiv, die Gewerkschaften auf die Aufgabe der Eindämmung befürchteter Widerstände vorbereiten möchte. Die mitunter militanten Protestformen in anderen europäischen Ländern mahnen zur Besinnung auf die integrativen Potenziale des totgesagten Korporatismus: lieber Konsultationsrunden mit Regierung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften im Kanzleramt als spontane Streiks und Bossnapping in den Betrieben.

Doch auch die Niedergangsthese hat Defizite. Einerseits bringt sie den Verlust an Verhandlungs- und Organisationsmacht und politischem Einfluss zum Ausdruck, den die Gewerkschaften im Übergang zum globalen Finanzmarkt-Kapitalismus erlitten haben. Abnehmende Mitgliederzahlen und Finanzmittel, rückläufige Organisationsgrade, die Erosion gewerkschaftlicher Verankerung in den Betrieben, der Rückgang gewerkschaftlicher Verhandlungs- und Verteilungsmacht in den Arenen der Betriebs- und Tarifpolitik und nicht zuletzt die Erosion gewerkschaftlicher Lobbymacht zeugen davon. Doch zugleich tut sich ein Niedergangs-Determinismus schwer mit den ebenfalls zu konstatierenden Indikatoren gewerkschaftlicher Widerstandskraft und Beständigkeit. Trotz Mitgliederverlusten weisen die Gewerkschaften eine relativ robuste Organisationsstabilität auf. Und immer wieder aufflammende Konflikte um Einkommen, Arbeitsplätze und Sozialstandards zeugen von der weiterhin vorhandenen Fähigkeit, in harten Verteilungskonflikten Erfolge zu erzielen.

Welches Fazit wäre nun zu ziehen? Offensichtlich reflektieren sowohl der Niedergangs-Determinismus als auch der Comeback-Optimismus Momente der Realität. Aber beide schießen in ihrer Zuspitzung über das Ziel hinaus. Die Gewerkschaften sind nicht zum Untergang verurteilt. Aber sie sollten sich auch keinen trügerischen Sicherheiten hingeben. Wollen sie ihre Zukunft als durchsetzungsfähige Interessenorganisationen sichern, sind überlebenswichtige Strategieentscheidungen zu treffen. Das gilt etwa für das Selbstverständnis und die strategische Grundorientierung, mit der sich die Gewerkschaften im Finanzmarkt-Kapitalismus positionieren und in die anstehende Krisenbewältigung einschalten wollen.

Krisenkorporatistische Einbindung ...

Eine Möglichkeit bestünde darin, das staatliche Angebot zu einer neokorporatistischen Einbindung in das Regierungshandeln anzunehmen. Dieses Angebot verblüfft nicht nur, weil es von einer konservativ geführten Regierungskoalition unterbreitet wird. Die Agenda 2010-Politik der Schröder-Regierung und ihre mitunter aggressive Konfrontationspolitik gegenüber den Gewerkschaften schien die These vom Ende des deutschen Korporatismus zu bestätigen. Die Gewerkschaften seien sukzessive aus dem tripartistischen Elitekonsens des Modells Deutschland ausgeschlossen worden. Kapital und Politik hätten den alten Klassen- und Verteilungskompromiss aufgekündigt, und im "post-korporatistischen" Kapitalismus (W. Streeck) sei der Abstieg der Gewerkschaften programmiert. Doch bereits vor der Bundestagswahl 2009 zeichneten sich politische Werbungen der Großen Koalition um die Gunst der Gewerkschaften ab.

Ein neuer inverser Lobbyismus wurde sichtbar: Während im klassischen Lobbyismus gesellschaftliche Verbände durch Einflussnahme auf staatliche Entscheidungen die Interessen ihrer Klientel wahren wollen, läuft im inversen Lobbyismus der Hauptstrom der intendierten Einflussnahme in umgekehrter Richtung. Die Initiative geht vor allem von den politischen Parteien und Repräsentanten der Regierung aus. Eine solche Strategie erschien zunächst vor allem für sozialdemokratische Parteien- und Regierungsvertreter attraktiv. Ihnen ist die Aufkündigung der "privilegierten Partnerschaft" zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften nicht gut bekommen, wie desaströse Umfragen vor und die Ergebnisse nach der Bundestagswahl belegen. Doch unter Angela Merkel geht offensichtlich auch die "Sozialdemokratisierung" der Union und ihre Neupositionierung Richtung Mitte mit einer korporatistischen Rückbesinnung einher. Die Folge ist auch unter Schwarz-Gelb eine neue Wertschätzung der Gewerkschaften als potenzielle Ressource zur Unterstützung eigener Politikstrategien und zur Stabilisierung politischer Mehrheiten (Vote Seeker-Funktion). Unter dem Druck der Krise und des Konfliktpotenzials der einschlägigen Krisenpolitik scheint der inverse Lobbyismus als Kern eines neuen Krisen-Korporatismus parteienübergreifend attraktiv.

... oder autonome Revitalisierung?

Auch wenn der Krisen-Korporatismus auf Restbestände tripartistischer Verhandlungstraditionen zurückgreifen kann, für die Gewerkschaften ist er mit erheblichen Risiken verbunden. Sie sollten nicht verdrängen, dass Anerkennungs- und Einflussgewinne in Gesellschaften, die von konfligierenden Interessenlagen und machtbasierten Aushandlungskonflikten geprägt sind, solange fragil bleiben müssen, wie sie nicht durch eigene Organisations- und Verhandlungsmacht unterlegt sind. Ohne die Fähigkeit zur autonomen Mobilisierung von Machtressourcen bleiben politische Einflussmöglichkeiten geliehen. Und sollten gewerkschaftliche Verhaltensweisen mit den Interessenlagen und Strategiepräferenzen der Regierung kollidieren, könnten Anerkennung und geliehener Einfluss schnell widerrufen werden.

Solche interessenpolitischen Kollisionen zwischen Gewerkschaften und Regierungspolitik sind wahrscheinlich. Der angebotene Krisen-Korporatismus könnte sich schnell als ein asymmetrisches Arrangement erweisen, in dem die Beschäftigungs-, Einkommens- und sozialen Sicherheitsinteressen der Lohnabhängigen subaltern bleiben. Dies zeichnet sich bereits ab: Während die Einkommens- und Machtprivilegien der Finanzeliten weitgehend unangetastet bleiben, haben viele Beschäftigte bereits mit Arbeitsplatz- oder erheblichen Einkommensverlusten für die Krise bezahlen müssen. Und durch die Abwälzung der Krisenkosten auf die Haushalte von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen hat sich ein verteilungspolitisches Konfliktpotenzial gigantischen Ausmaßes aufgestaut. In welche Richtung und zu wessen Lasten sich dieses Potenzial entlädt, wird in Verteilungskonflikten entschieden werden. Die Risiken für Beschäftigte und Leistungsempfänger sind exorbitant.

Wollen sich die Gewerkschaften auf diese Konflikte vorbereiten, sollten sie sich nicht auf die geliehene Macht des Krisen-Korporatismus verlassen. Erfolgversprechender wäre eine Strategie der autonomen Revitalisierung. Diese zieht sich nicht auf die Scheinalternative zwischen korporatistischer Einbindung oder politischem Niedergang zurück, sondern kann sich durch Befunde der neueren Gewerkschaftsforschung ermutigen lassen. Dort wird zunehmend auf gelungene Praxisbeispiele gewerkschaftlicher Revitalisierung und die Defizite der gängigen Niedergangs-Determinismen verwiesen. Dabei insistiert die neue Strategic Unionism-Forschung auf die Strategic Choice-Option. Demnach agieren die Gewerkschaften auch in Defensivkonstellationen in einem Möglichkeitsraum, in dem politische Entscheidungen und Entwicklungen keineswegs determiniert sind, sondern eine diversifizierte Gelegenheitsstruktur mit einem Spektrum an strategischen Optionen enthält, die mit Blick auf die anvisierte Revitalisierung unterschiedlich ergiebig sind.

Konstruktive Vetospieler

Auch in der gegenwärtigen Lage müssen die Gewerkschaften die historische Situationsstruktur analytisch erfassen und die Strategieoptionen identifizieren, die reale Revitalisierungspotenziale in sich bergen. Und sie müssen diese in entsprechende strategische Politikprojekte übersetzen. Das drängt in Richtung einer offenen Strategiedebatte und eines gewerkschaftspolitischen Rollenverständnisses als "konstruktiver Vetospieler". Der konstruktive Vetospieler nutzt offensiv korporatistische Einflusskanäle in die politischen Entscheidungsarenen, gibt sich aber keinen Illusionen über Interessenlagen und Erfolgsaussichten dieser fragil gewordenen Politikform hin. Er setzt zugleich auf die Erneuerung autonomer Verhandlungs- und Organisationsmacht durch eigene Machtressourcen und mobilisiert diese gegen Krisenpolitiken zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit. Und er nutzt diese Vetomacht in dem Sinne konstruktiv, als er sich mit eigenen Reformalternativen für solidarische Krisenstrategien und erneuerte wohlfahrtsstaatliche Strukturen engagiert. In diesem Sinne sind strategisch gewählte Optionen in dem Maße geeignet, in dem sie gewerkschaftliche Revitalisierungs- und zugleich gesellschaftliche Krisenbewältigungspotenziale aktivieren. Von folgenden exemplarischen Projekten kann dies angenommen werden.

Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht.

Die fragilen Einbindungsangebote der Politik sollten die Gewerkschaften nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Außerwertsetzung stabiler korporatistischer Aushandlungsinstitutionen mit der Erosion institutioneller Gewerkschaftsmacht verbunden war. Umso dringlicher ist die nachhaltige Erneuerung eigener Verhandlungs- und Organisationsmacht. Dies erfordert eine Stabilisierung gewerkschaftlicher Verankerung in traditionellen Wirtschaftssektoren und zugleich die Erschließung neuer Beschäftigungsbereiche. Dies ist der Kern gewerkschaftlicher Organizing-Strategien. Dabei handelt es sich um eine offensive Rekrutierungspolitik, der sich zunächst die amerikanischen, seit geraumer Zeit auch die deutschen Gewerkschaften zugewandt haben. Sie zielt vor allem auf Mitgliederzuwächse in gewerkschaftsfernen Segmenten der Dienstleistungs- und High-Professional-Arbeit. Dabei bedient sie sich konfliktorientierter Mobilisierungs- und Kampagnenmethoden (Campaigning), die nicht selten dem Politiktypus von Nichtregierungsorganisationen entliehen werden. Zugleich gehen diese Revitalisierungsanstrengungen vielfach mit einer Rückbesinnung auf einen Social Movement Unionism einher, der eine aktivierte Mitgliederbasis als eigentliches Reservoir gewerkschaftlicher Organisationsmacht anerkennt.

Auch die IG Metall setzt in ihrer Initiative "Gemeinsam für ein Gutes Leben" auf Elemente der Organizing-Philosophie. Bereits die politische Positionierung zur Bundestagswahl wurde mit einer Mobilisierungskampagne verknüpft, die auf Interessenvertretung und Mitgliedergewinnung im Segment der weitgehend gewerkschaftsfreien Leih- und Zeitarbeit zielte (Kampagne: "Gleiche Arbeit - Gleiches Geld"). Und eine aktivierende Beschäftigtenbefragung lieferte Erkenntnisse über Präferenzen und Erwartungen von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern, die auch zukünftig als Grundlage medial unterstützter Themen-Kampagnen dient.

Public Equity.

Neben innovativen Revitalisierungspraktiken erweist sich kurzfristig die Stabilisierung der industriellen Wertschöpfungsbasis als Hauptaufgabe. Der krisenbedingte Kollaps zentraler Auslandsmärkte bedroht mit der Exportwirtschaft den wichtigsten Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft. Die Sicherung von Arbeitsplätzen durch verkürzte Arbeitszeiten dürfte perspektivisch an Grenzen stoßen. Weitergehende Konzepte des Erhaltes von Beschäftigung und industrieller Wertschöpfung sind unverzichtbar.

Im Zentrum des IG Metall-Vorschlags steht die Forderung nach einem mit mindestens 100 Milliarden Euro ausgestatteten, öffentlichen Beteiligungsfonds (Public Equity), mit dem sich der Staat an existenzbedrohten Unternehmen beteiligen kann. Dieser Fonds soll über eine Zwangsanleihe auf private Geldvermögen oberhalb von 750000 Euro finanziert werden. Dabei sollte die Bereitstellung öffentlichen Sanierungskapitals als Kanal der öffentlichen Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik genutzt werden, indem Public Equity an Konditionen geknüpft wird. Zu diesen gehören der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, die Ausrichtung der Unternehmenspolitik an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung, die ökologische Modernisierung von Produkten und Produktion, die Einhaltung von Tarif- und Mitbestimmungsrechten sowie der Einstieg in ein neues Modell der Vorstandsvergütung. Bei der Entscheidung über die Gewährung öffentlicher Finanzmittel und Beteiligungen sollen insbesondere gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden. Als Entscheidungs- und Steuerungsgremium ist ein paritätisch besetzter Rat aus Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Staatsvertretern vorgesehen.

Öko-sozialer Umbau des Industriemodells.

Doch der Bedarf an strategischen Innovationen ist noch größer. Die Krise erweist sich auch als Katalysator des Strukturwandels. Hinter dem Rückgang von 350000 sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen zwischen August 2008 und 2009 verbirgt sich ein Verlust von 222000 Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe und von 125000 bei wirtschaftlichen Dienstleistungen, während die Beschäftigung im Gesundheits- und Sozialwesen um 131000 und im Erziehungs- und Unterrichtssektor um 41000 Stellen zunahm.

Doch damit nicht genug. Das industrielle Entwicklungsmodell "Exportweltmeister" brillierte vor der Krise mit exorbitanten Wettbewerbserfolgen auf Exportmärkten, die auf produktions- und produkttechnischer Exzellenz beruhten. Qualität und Innovationsdynamik der deutschen Maschinenbauindustrie sind Legende. Doch unter dem Druck des Shareholder-Value-Regimes wurden zunehmend auch Ignoranz gegenüber ökologischen Nachhaltigkeitskriterien und eine voranschreitende Prekarisierung der menschlichen Arbeit als Wettbewerbstreiber genutzt. Dieser Pfad sollte nach der Krise nicht einfach weiterverfolgt werden. Durch die Rückeroberung globaler Märkte allein werden sich industrielle Wertschöpfung und Beschäftigung in Deutschland nicht sichern lassen. Bei allen Schlüsselakteuren - Unternehmen, Politik und Gewerkschaften - sind strategische Innovationen im Sinne arbeits- und ökologieorientierter Umbaukonzepte gefragt. Gefordert ist ein Entwicklungsmodell, das die sozialen Reproduktionsinteressen der Arbeit, die Entwicklungsinteressen der Gesellschaft, ökologische Nachhaltigkeitserfordernisse und einen fairen globalen Handel in Übereinstimmung bringt.

Neue Wirtschaftsdemokratie?

Die Erneuerung gewerkschaftlicher Organisationsmacht, Erhalt und Ökologisierung industrieller Wertschöpfung sowie die Transformation des exportgetriebenen Entwicklungsmodells sind Projekte von hoher Dringlichkeit und hohem strategischem Potenzial. Weitere müssen hinzukommen, wie die tarifpolitische Einkommenssicherung sowie die Weiterentwicklung der Sozialversicherungen zu universellen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherungen.

Bei all dem wirken die Verteilungs- und Machtstrukturen des Finanzmarkt-Kapitalismus als Innovationsblockaden. Deshalb sollte die krisenbedingte De-Legitimierung dieses Regimes als Chance genutzt werden, mittels einer Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse Widerstände der Wirtschafts- und Finanzeliten zu überwinden. Hier können von der Idee einer neuen, öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie innovative Impulse (nicht nur) für die gewerkschaftliche Strategiedebatte ausgehen. Wirtschaftsdemokratie muss heute zweifelsohne als eine Mehrebenen-Konzeption formuliert werden. Ihren Ausgangspunkt könnte das Konzept der "demokratischen Arbeit" darstellen, das Elemente der direkten Partizipation am Arbeitsplatz mit Konzepten "Guter Arbeit(sgestaltung)" verbindet. Darüber hinaus müssen die Unternehmensebene sowie die Arenen der nationalen und europäischen Wirtschaftspolitik als Räume einer Demokratisierung des Wirtschaftlichen in eine integrierte Gesamtkonzeption einbezogen werden.

Es geht um nicht weniger als ein neues wirtschaftspolitisches Regime, in dem Gesellschaft und Politik stärker in wirtschaftliche Prozesse und Strukturen eingreifen, als dies in traditionellen sozialreformerischen Strategien angedacht wird. Einschlägige Begriffe wie soziale Marktwirtschaft, keynesianische Nachfragepolitik oder betriebliches Co-Management bleiben weit dahinter zurück. Auch eine demokratisierte Wirtschaftspolitik würde weder auf eine sozial-regulative Ordnungspolitik noch auf keynesianische Konjunktursteuerung verzichten. Doch der Begriff der neuen öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie bringt den Anspruch zum Ausdruck, Krisenbewältigung und Strukturwandel nicht den Vermögens- und Machtinteressen privater Akteure zu überlassen, um gesellschaftliche Folgekosten zu begrenzen und beides im Sinne ökologischer und sozialer Verträglichkeit zu steuern. Ein ambitioniertes Projekt - nicht nur für die Gewerkschaften.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wirtschaftswoche vom 30.3.2009.

  2. Die Zeit vom 30.4.2009.

  3. Ralf Dahrendorf, Verhindern oder vorantreiben?, in: Die Zeit vom 18.5.1984.

  4. Vgl. Hans-Jürgen Urban, Die post-neoliberale Agenda und die Revitalisierung der Gewerkschaften, in: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2008, S. 355-373.

  5. Vgl. Ulrich Brinkmann et al., Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung? Wiesbaden 2008.

  6. Vgl. Klaus Dörre, Die strategische Wahl der Gewerkschaften. Erneuerung durch Organizing?, in: WSI Mitteilungen, (2008) 1, S. 1-8.

  7. Vgl. Britta Rehder, Revitalisierung der Gewerkschaften?, in: Berliner Journal für Soziologie, (2008) 3, 432-456.

Dr. phil., geb. 1961; geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, Wilhelm-Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt/M. E-Mail Link: hans-juergen.urban@igmetall.de