Einleitung
Manchmal sind es Theorien, die den Fortschritt im Denken blockieren. Eine der vielen Barrieren in einer erstaunlichen akademischen Karriere erlebte Elinor Ostrom schon als Doktorandin. Als die motivierte junge Frau 1960 ein erstes Stipendium erhalten hatte, monierten Mitglieder im Finanzkomitee ihrer Fakultät, es handele sich um eine "Verschwendung knapper Ressourcen", wissenschaftliche Stipendien an Frauen zu vergeben. Deren Berufung auf eine Professur sei unwahrscheinlich. Ein historischer Irrtum! Die Grenzgängerin Elinor Ostrom erhielt 2009 als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, in Anerkennung für ein Lebenswerk, das sich der Organisation von Kooperation widmet. Die Preisträgerin habe erkannt, verkündete das Nobelkomitee, dass Menschen "häufig raffinierte Mechanismen" der Entscheidungsfindung und Regeldurchsetzung erfunden hätten, um "drohende Interessenkonflikte" im Umgang mit Gemeingütern zu entschärfen, jenseits von Staat und Markt.
Das Thema der Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom sind die Gärten der Gemeingüter, der sogenannten Allmenden, in denen Menschen sich um knappe Ressourcen wie Wasser, Wiesen und Wälder und deren gemeinsame Nutzung streiten und dabei zwar oft, aber, anders als vielfach angenommen, keineswegs immer scheitern. In der Wirklichkeit gibt es ihn also sehr wohl, den vernünftigen Gemeinsinn in Gruppen. Das Motto von Ostroms Lebenswerk ließe sich in einem Satz auch so formulieren: "Lasst Menschen mehr Allmenden wagen."
Geht es darum, endliche Ressourcen nachhaltig zu verwalten und zu verteilen, dann erzählen Planer, Politiker und Ökonomen gerne die alte Geschichte von der "Tragik der Allmende", die der amerikanische Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin 1968 in seinem berühmten, folgenreichen Essay "The Tragedy of the Commons" zum allgemeinen Gesetz erhob. Sein prägnantes Bild: eine Weide, auf die jeder seine Schafe zum Grasen treiben darf. Sie werde die Herdenbesitzer mit der Zeit dazu verführen, immer mehr Schafe zu halten und auf dem Markt zu verkaufen, bis auf der Weide irgendwann kein Gras mehr nachwächst. Der freie Zugang zu endlichen Ressourcen führe, so Hardin, unweigerlich zu deren Übernutzung. Individuell höchst rationales, an der Durchsetzung der eigenen Interessen orientiertes Handeln hätte demnach für das Kollektiv verheerende Folgen. Zwar weiß im Grunde jeder Einzelne, dass unkooperatives Verhalten auf Dauer allen schadet. Trotzdem will keiner der Dumme sein, der selber Maß hält, um dann hilflos mit ansehen zu müssen, wie die anderen profitieren, indem sie die Ressourcen eigennützig weiter ausbeuten - ein Dilemma, aus dem sich die Menschen Hardin zufolge aus eigener Kraft nicht befreien könnten. "Freiheit auf der Allmende", so das Fazit Hardins, "bringt allen Beteiligten den Ruin."
In der Tat wurde diese Tragödie in der Geschichte der Menschheit schon oft erlebt und erlitten: Meere werden überfischt, Wälder abgeholzt, Weideland verödet, Böden verseucht. Aber handelt es sich hier wirklich um einen Automatismus? Wer heute mitten in Berlin durch den Prinzessinnengarten schlendert und sich an dieser Enklave "urbaner Landwirtschaft" erfreut, wer sich das kreative Engagement von Bürgerinnen und Bürgern um die Daseinsvorsorge in sich entvölkernden Städten anschaut oder teilnimmt am Ringen vieler Kommunen um die Rückeroberung von verwaisten städtischen Brachen, die weder für den Staat noch für private Investoren attraktiv erscheinen, der kann kaum ermessen, welchen Kraftakt es bedeutete, den Boden für die Wiederauferstehung einer ökonomischen Theorie der Gemeingüter zu bereiten. Was sie interessant macht, ist die Tatsache, dass sie quer liegt zum Primat der modernen Privat- und Gemeineigentumstheorien. Auch Ostrom ahnte nicht, welchen Kontinent an verschütteten Erfahrungen sie auf ihrer "intellektuellen Reise" durch die Gärten der Allmende entdecken würde. Mit Beharrlichkeit suchte sie mit ihrem Ehemann Vincent nach den Lücken in den zubetonierten Theoriegebäuden der Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Sie erkundete - empirisch und interdisziplinär - die Grenzfälle bei der Nutzung privater und öffentlicher Güter, fand Risse im Beton, entstaubte historische Verwirrungen. Das Ergebnis sind Blaupausen einer nachhaltigen, regionalen Ressourcenverwaltung. Ostroms Datenbank am Center for the Study of Institutional Diversity in Tempe (US-Bundesstaat Arizona) enthält über 1000 Fallstudien zur erfolgreichen kollektiven Nutzung knapper Gemeingüter (common pool resources) - eine wahre Schatztruhe voller empirischer Beispiele, die zeigen, wann Menschen sehr wohl imstande sind, miteinander zu kooperieren und Ressourcen dauerhaft zu schonen. Ostrom leitet daraus keine Patentrezepte her. Aber sie hat es geschafft, aus dieser Fülle von Beispielen eine Reihe von Bedingungen und Handlungsmustern herauszufiltern, an denen sich bemessen lässt, ob tendenziell mit Konflikten beladene Auseinandersetzungen um Gemeingüter eher gelingen oder scheitern.
Komplexität ist nicht gleich Chaos
Zuallererst kam Ostrom einem fundamentalen, in den Köpfen fest verankerten Irrtum auf die Spur. Er bestand und besteht darin, Komplexität mit Chaos gleichzusetzen. Um Chaos zu vermeiden und einer Verknappung von Gemeingütern vorzubeugen, galt es daher bislang, die auf Wähler und Konsumenten reduzierten Menschen zu beherrschen. Um die verwirrenden Welten der stetig wachsenden städtischen Zusammenballungen zu ordnen, kamen einfache ökonomische Modelle in Mode. Für den Austausch privater Güter war der Markt angeblich das optimale Regelungsinstrument. Öffentliche Güter wie zum Beispiel die städtische Wasserversorgung glaubten die Gelehrten einer starken, hierarchisch strukturierten Zentralgewalt anvertrauen zu müssen. Denn nur dort wähnte man sie sicher. Die Zentralgewalt sollte die Macht haben, Regeln zu setzen, um egoistisches Handeln zu zivilisieren und bei Konflikten den Interessenausgleich zu steuern.
Schon mit ihrer ersten Feldstudie in den 1970er Jahren konnte Ostrom beweisen, dass an dieser Logik etwas nicht stimmte. Sie fand heraus, dass kleinere und "polyzentrische" Einheiten bei der kommunalen Organisation von Gemeingütern robuster waren als zentrale Verwaltungen. Im Süden Kaliforniens drohten infolge der wachsenden Bevölkerung die Grundwasserreserven übernutzt zu werden. Dabei waren die Interessen asymmetrisch verteilt. Die Wasserbetriebe an der Küste waren von der drohenden Verknappung stärker betroffen als die Produzenten weiter im Inland, weil das Grundwasser in der Nähe des Ozeans durch einströmendes Meerwasser eher zu versalzen drohte. Ostrom stieß auf Dutzende von unterschiedlichen Strukturen und Institutionen, mit denen die Kommunen die Entnahme von Grundwasser regelten. Mehr als 500 kleine und größere Produzenten besaßen Wasserentnahmerechte, teilten sich also die knapper werdende Ressource. Eine zentrale Regelung erschien vor diesem Hintergrund nahezu unmöglich. Wie also ließen sich die widerstreitenden Interessen am ehesten befrieden? Ein verschachteltes Gemisch aus großen und kleinen Organisationseinheiten, die zum Teil autonom agierten, erwies sich einer zentralen Wasserbehörde als eindeutig überlegen - ein eklatanter Widerspruch zur orthodoxen Lehre. Lokal vernetzte Gemeinschaften in kleineren und mittleren Städten kamen mit den Herausforderungen des Wassermanagements viel besser zurecht als großstädtische Hierarchien. Sie konnten das Verhalten der Bürger relativ gut beeinflussen und die öffentlichen Kosten für die Versorgung mit Wasser unter Kontrolle halten. Offenbar stimmten Bürger, die mit den Dienstleistungen ihrer Kommune unzufrieden waren, eher "mit ihren Füßen" ab, wechselten gegebenenfalls in Nachbarschaften, in denen sie sich mit ihren Vorstellungen und Präferenzen besser aufgehoben fühlten. Gab es Probleme mit dem Service der Wasserlieferanten, ließen sich in den lokal vernetzten Gemeinschaften bestehende Verträge leichter korrigieren. In größeren Städten dagegen fanden die Unzufriedenen in den Hierarchien der zentralen Verwaltungsinstitutionen kaum noch Gehör.
Bei Feldforschungen zur Organisation von Polizeigewalt in 80 Metropolregionen stieß Ostrom auf ein weiteres Phänomen, sie bezeichnete es als "Koproduktion öffentlicher Dienstleistungen". Wieder übernahmen die Bürger in den kleineren Kommunen mit vielen lokalen Polizeistationen eine aktivere Rolle als in den Metropolen mit zentralisierten Polizeiorganisationen. Bürger meldeten lokalen Polizisten zum Beispiel eher verdächtige Aktivitäten in ihrer Nachbarschaft, fühlten sich selber dadurch sicherer. Ist ein solches Gemeinschaftsgefühl auf lokaler Ebene erst einmal zerstört, lässt es sich auf Befehl nicht wiederherstellen: In Städten, in denen die Behörden das bürgerliche Engagement gering schätzen oder sogar für irrelevant halten, reduzieren die Menschen ihre Bemühungen um den Erhalt der Gemeinschaft und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit erheblich. Als Resultat steigen dann längerfristig die Kosten, mit denen die Sicherheit als öffentliches Gut erhalten werden muss.
Dagegen sind Menschen sehr wohl imstande, das Steuer in einer Krisensituation aus eigener Initiative wieder herumzureißen. So geschehen bei den Hummerfischern im US-Bundesstaat Maine: In den 1920er Jahren wären dort die Hummerbestände um Haaresbreite durch Überfischung zerstört worden. In der Krise reorganisierten sich die lokalen Fischer. Über Jahre hinweg entwickelten sie eine Reihe origineller, an die örtlichen Bedingungen angepasster Entnahmeregeln, einschließlich eines effektiven Monitorings der bedrohten Hummerbestände. So einigten sich die Fischer zum Beispiel darauf, trächtige Weibchen am Schwanz mit einem "V" zu markieren und wieder freizulassen, um den Nachwuchs zu sichern. Wer sich als Hummerverkäufer oder Kunde nicht an die Spielregeln hielt, fiel durch die Markierung der Tiere auf den Märkten sofort auf. Heute zählt Maine zu den weltweit erfolgreichsten Zentren der Hummerfischerei - eine Folge der von den Fischern selbst etablierten Normen, die staatliche Fangverbote oder die Preise des Marktes nicht erzwingen konnten. Auch in anderen Regionen der Welt schufen lokale Gemeinschaften unter besonderen Umständen kooperative und verantwortliche Organisationsformen, um Gemeinressourcen nachhaltig zu bewirtschaften. Bei Feldstudien an Dutzenden von Bewässerungssystemen in Nepal konnten die Forscher zeigen, dass Reisterrassen, die von den Bauern selbstverantwortlich gemanagt wurden, weit effektiver wirtschafteten, wenn es darum ging, die Felder bei unterschiedlichen Witterungsbedingungen am Berg und im Tal zu bewässern. Sie verursachten, so Ostrom, auch geringere Kosten als all die "schicken Bewässerungssysteme, die mit Hilfe der Asiatischen Entwicklungsbank oder der Weltbank errichtet wurden".
Eindrucksvoll hat die Querdenkerin damit unter Beweis gestellt, dass Komplexität nicht automatisch Chaos bedeutet. Wer Ostroms Lebenswerk betrachtet, kann nur staunen über die robusten und vielfältigen Regelsysteme, mit denen Menschen gelernt haben, gemeinsame Ressourcen nachhaltig zu nutzen. Ihrem klaren Blick ist es zu verdanken, dass das zarte, lange übersehene Pflänzchen der Allmende auch in den Köpfen allmählich wieder gedeiht. Die Früchte eines Jahrzehnte währenden Forschungsprogramms werden in ihrer überlebenswichtigen Bedeutung sichtbar. Und es zeigt sich: Anders als es die herkömmliche Theorie erlaubt, ist Garrett Hardins "Tragedy of the Commons" keine zwingende Regel, sondern ein Spezialfall menschlichen Handelns, der keinesfalls Allgemeingültigkeit besitzt.
Spielregeln für Kooperation
Das bisher Gesagte bedeutet nicht, dass verallgemeinernde Theorien der Ökonomie zum Verhalten von Menschen in Gruppen obsolet sind. Jede Wissenschaft braucht ihre Modelle, mit denen sich komplexe sozioökologische Systeme abbilden lassen. Was aber sind nun die "robusten Spielregeln" für die Lösung von komplexen Problemen? Elinor Ostrom rät zu Vorsicht: "Was auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten passt und im Feld maßgeschneidert wurde, funktioniert meist besser als Ratschläge, die auf sehr allgemeinen Modellen basieren." Im Übrigen sei es oft gar nicht nötig, "den Menschen Regeln für ihr Verhalten bis ins Detail vorzuschreiben". In der neuen Wissenschaft der Allmende gehe es viel mehr darum, die Bedingungen der Möglichkeit einer Kooperation auszuloten und durch lokale Experimente zu erweitern. Ostrom spricht von "potenziell produktiven Arrangements".
Aus ihrer Datenbank filterte das Team um die Ostroms acht "Design-Prinzipien" einer erfolgreichen Organisation von Gemeingütern heraus. Bei einer Analyse von 100 Feldstudien hatte sich gezeigt, dass zwei Drittel der als "robust" eingestuften Systeme die meisten dieser acht Bedingungen erfüllten, während sie bei Fehlschlägen stets fehlten. Dazu gehören zum Beispiel: eindeutige und akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nichtnutzern; Sanktionen, die sich bei wiederholten Verstößen gegen die vereinbarten Regeln verschärfen; ein präzises Monitoring der Ressource und ihrer Nutzer; lokale Arenen für eine rasche Lösung von Konflikten; ein Mindestmaß von Rechten der bürgerlichen Gemeinschaft, sich eigene Regeln zu setzen (siehe Übersicht). Um Bauern zum Beispiel in die Lage zu versetzen, über die optimale Nutzungsdichte von Tieren auf ihren Weiden zu entscheiden, kann es schon reichen, dass sie darüber von Angesicht zu Angesicht verhandeln müssen. Auch einige andere fundamentale Regeln können die Kooperation zwischen den Handelnden erleichtern. Wer die Lebenssituation der übrigen Teilnehmer zumindest schon vom Hörensagen kennt, verhält sich kooperativer. Wichtig ist es für viele, zu wissen, dass sie eine Entscheidungssituation auch ohne hohe Kosten wieder verlassen können. Es nimmt ihnen die Angst, am Ende womöglich als Trottel dazustehen, weil sie diejenigen waren, die kooperierten, während andere sich egoistisch verhielten. Bei langfristigen Projekten ist die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung von Problemen größer als bei einer nur vorübergehenden Zusammenarbeit. Entscheidend ist nicht zuletzt der Umgang mit Sanktionen. Extern aufgezwungene Sanktionen senken die Bereitschaft zur Kooperation. Einigen sich die Teilnehmer hingegen gemeinsam auf ein Sanktionssystem, benötigen sie meist weniger Sanktionsmechanismen, was wiederum hilft, den Nutzen der Ressource erheblich zu steigern und die Kosten der Kontrolle von Fehlverhalten zu senken. Keine der Regeln garantiert jedoch den Erfolg. Grundsätzlich gilt: Man muss es den Menschen ermöglichen, Vertrauen zueinander zu entwickeln und ihnen die nötige Zeit geben, die sie brauchen, um regional passende Spielregeln für eine nachhaltige Nutzung von Fischgründen, Wäldern, Weideländern oder Bewässerungssystemen auszuhandeln.
Übersicht: Elinor Ostroms "Design-Prinzipien" erfolgreicher Allmenden
1 Abgrenzbarkeit
Es existieren eindeutige und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nichtnutzern. Ebenso gibt es klare Grenzen zwischen einer bestimmten Gemeinressource (z.B. einem See mit Fischen) und den sozioökologischen Systemen in ihrer Umwelt (Dörfer mit Wäldern, Wiesen inmitten von Bergen).
2 Kohärenz mit lokalen Bedingungen
Die Regeln für die Aneignung und Bereitstellung der Ressource überfordern die lokalen sozialen und ökologischen Gegebenheiten nicht. Die Entnahmeregeln sind auf die Bereitstellungsregeln abgestimmt, die Kosten werden proportional zum Nutzen verteilt.
3 Gemeinschaftliche Entscheidungen
Die meisten Individuen, die von einem bestimmten Regime der Ressourcennutzung betroffen sind, können an Entscheidungen teilnehmen, die Spielregeln des Managements festlegen oder verändern.
4 Monitoring
Sind Individuen selber Nutzer oder zumindest für die Nutzung verantwortlich, beobachten und überwachen sie die Aneignung der Ressource und überwachen zeitnah ihren Zustand (z.B. können Fischer erfahren, welche Fischer wie viele Fische aus dem See fangen).
5 Abgestufte Sanktionen
Sanktionen beginnen auf niedrigem Niveau, verschärfen sich aber bei wiederholten Verstößen gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln.
6 Konfliktlösungsmechanismen
Es existieren lokale Arenen für die schnelle, günstige und direkte Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden.
7 Anerkennung von Rechten
Die Regierung räumt lokalen Nutzern ein Mindestmaß an Rechten ein, sich eigene Regeln zu setzen.
8 Verschachtelte Institutionen
Ist eine Gemeinressource eng verbunden mit einem umfassenden sozioökologischen System (z.B. ein Gletschersee inmitten von Bergen und Wäldern), dann werden die Regeln auf vielen ineinander verschachtelten Ebenen und nicht hierarchisch organisiert (polycentric governance).
Um bereits vorliegende sozioökonomische Systeme zunächst einmal im Hinblick auf die ihnen wirksamen Interaktionen und von ihnen erbrachten Leistungen zu studieren, werden vielschichtige Systeme "dekomponiert". Auch hierzu schlägt die Theorie der Allmende klare Aktionen vor. In einem ersten Schritt werden die "Eigenschaften" der jeweiligen Ressource ermittelt, etwa ein See mit Fischen, ein Weidegrund oder auch eine städtische Brache. Danach werden die "Einheiten" beschrieben, die dieses System hervorbringt, also etwa Fische, Wasser, oder einen Garten. Sodann müssen die potenziellen "Nutzer" des Systems definiert und schließlich die "Spielregeln" freigelegt werden, mit denen die Nutzer, also etwa Fischer, Rinderzüchter oder Gärtner, ihre Ressource managen. An welchen Normen orientieren sich lernende Individuen lokal? Wie hoch ist das Vertrauen darauf, dass sich auch andere Teilnehmer kooperativ verhalten werden? Mit Hilfe solcher Analysen, Ostrom nennt sie "Diagnostic Ontology for Social-Ecological Sustainability", könne man auch verstehen, woran und warum Systeme, so gut sie vielleicht gemeint gewesen waren, manchmal scheitern. So basierte auch die "Tragedy of the Commons" in Wahrheit auf zwei unrealistischen Annahmen: Die Weide mit den Schafen ist ein Niemandsland und kein Gemeingut. Zudem agieren die Schafzüchter in dieser Theorie anonym ohne Wissen über das Handeln der anderen.
Keine Patentrezepte
Inwiefern sich Elemente der Allmende etwa in Prozesse einer polyzentrischen Stadtplanung integrieren ließen, wäre eine eigene Untersuchung wert - gerade auch nach den Erfahrungen der Bürgerproteste um "Stuttgart 21". So deuten Gemeingüter-Aktivisten die Demonstrationen gegen den Bahnhofsumbau in der schwäbischen Metropole auch als "Prozess der Wiederaneignung und Wiedergewinnung städtischer Gemeingüter".
So ein Ergebnis ist weit entfernt von jeder Form der Sozialromantik, die glaubt, es reiche schon, wenn nur alle Macht vom Volke ausgeht. "Es gibt heute viele Versuche, Verantwortung zu dezentralisieren, meist mit einer rigiden Formel, bei der man Menschen Regeln an die Hand gibt und sagt: 'So, die Ressource gehört jetzt euch'", erklärt Ostrom.
Umso wichtiger ist es zu wissen: Es gibt ihn längst, den dritten Weg - ein Alternativmodell zur modernen Saga vom ewigen Elend der Egoisten, die aus Eigennutz die Umwelt zerstören. Es gibt Fischer, die ihre Gewässer auch ohne staatliche Fangquoten nicht überfischen. Es gibt die nepalesischen Reisterrassen, auf denen Bauern seit Jahrhunderten knappe Wasserressourcen fair verteilen, ganz ohne Eigentumsrechte, die es Besitzern erlauben würden, Grund und Boden als Privateigentum zu veräußern. Und es hat auch Regenwälder gegeben, die nachhaltig genutzt wurden - bis Politiker und kommerzielle Holzfirmen zum Kahlschlag der wertvollen Ressource bliesen.
Vom "Wutbürger" zum Teilhaber
Die Botschaft würde demnach lauten: Menschen, die im Dilemma einer drohenden Übernutzung von Ressourcen stecken, sind nicht zwingend auf eine externe Autorität angewiesen, um sich aus der "Tragedy of the Commons" wieder zu befreien. Was sie brauchen, sind Arenen, auf denen sie miteinander interagieren und dabei lernen können, sich gegenseitig zu vertrauen. Erhalten sie zuverlässige Daten über den Zustand der Ressource, ist ein gutes Monitoring etabliert, besteht die Gelegenheit für den Einsatz neuer Werkzeuge und die Möglichkeit, sie an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen, dann sind Menschen zwar nicht immer, aber doch häufig in der Lage, die "Tragik der Allmende" in ein Geschehen zu verwandeln, das ein gutes Ende finden kann. Manchmal hilft auch einfach moderne Technik eine Übernutzung zu verhindern, indem etwa Hochseefischer ihren Fang per Satellitentelefon an eine Zentrale melden, über die alle anderen Fischer erkennen können, wie viel Fisch von wem aus dem Meer geholt wird und ob das die Bestände gefährdet.
Zu lange haben Ökonomen die Fähigkeit von Menschen zu kooperativem Verhalten in komplexen Situationen unterschätzt. Worauf Ostrom letztlich ihr Zutrauen gründet, dass Menschen sich freiwillig in bestimmten lokalen Kontexten sehr wohl an Regeln halten, obwohl sie damit ihre eigene Nutzenmaximierung begrenzen? Hier wird die Nobelpreisträgerin fast schon philosophisch: "Es gibt gewichtige Belege dafür, dass die Menschen eine ererbte Fähigkeit besitzen, zu lernen, Reziprozität und soziale Regeln so zu nutzen, dass sie damit ein breites Spektrum sozialer Dilemmata überwinden können."
Ein typisches Beispiel für "Allmende"-Strategien im Sinne Ostroms ist ein Versuch der kalifornischen Stadt Sacramento. Dort verschickte der lokale Energieerzeuger Informationen an alle Haushalte, wie sich ihr Energieverbrauch im Vergleich zu effizienten Verbrauchern in der Nähe oder zu dem aller Nachbarn darstellt. Schon die einfache Rückmeldung über das eigene Verhalten in Relation zu den Nachbarn motivierte Bürger zum Energiesparen. Die meisten Haushalte verringerten ihren Verbrauch. Bevor sie warten und auf globale, rechtlich bindende Patentlösungen hoffen, sollten Menschen und Institutionen laut Ostrom lieber an vielen Orten mit polyzentrischen Experimenten für den Klimaschutz starten. "Ein stärkeres Engagement Wege zu finden, wie individuelle Emissionen reduziert werden könnten, ist ein wichtiges Element, um den Klimawandel besser zu bewältigen."
Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel für die Montag Stiftung Urbane Räume (Bonn), der im Juni 2011 in "Polis. Magazin für Urban Development" erschien.