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Eine Angstgeschichte der Bundesrepublik | bpb.de

Eine Angstgeschichte der Bundesrepublik

Frank Biess

/ 17 Minuten zu lesen

Ob Nachkriegsängste, das expressive Emotionsregime der 1960er und 1970er Jahre oder heutige Globalisierungsängste: Gesellschaftliche Ängste wandeln sich. Politisch können sie als Katalysator von Hass und Gewalt, aber auch zur demokratischen Mobilisierung genutzt werden.

Dieser Aufsatz nimmt die Wandelbarkeit politischer Ängste in der Bundesrepublik von 1945 bis in die Gegenwart in den Blick. Dabei ergibt sich eine Periodisierung in drei Zeitabschnitte, die jeweils wichtige Verschiebungen im Hinblick auf die Artikulation, aber auch die Erfahrung der Angst markieren.

Erstens die Nachkriegsperiode, die gekennzeichnet war von der Spannung zwischen einer vielfach angstbehafteten Gesellschaft einerseits und der weitgehenden Unmöglichkeit andererseits, diese Ängste offen zu artikulieren. Zweitens eine Umbruchsperiode in den 1960er und 1970er Jahren, während der sich das gegenwärtige expressive Emotionsregime herauskristallisierte. Dies umfasste auch neue Möglichkeiten zur öffentlichen Artikulation, ja gelegentlich auch zur Performanz der Angst. Der Angst kam dadurch eine neue politische Signifikanz zu, sie wirkte mobilisierend und wurde selbst Teil des politischen Diskurses, etwa in der Friedens- und Umweltbewegung. Gleichzeitig prägte die Erfahrung und Auseinandersetzung (mit) der Angst auch eine neue, die eigenen Emotionen kultivierende Subjektkultur. Schließlich veränderte sich, drittens, seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts das Wesen der Ängste. Sie sind kaum mehr, wie noch in der alten Bundesrepublik, in einem nationalen Erfahrungsraum verankert, das heißt durch eine spezifische deutsche Katastrophenerfahrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedingt. Die Ängste der Gegenwart sind vielmehr entterritorialisierte Globalisierungsängste, die nicht mehr von einem konkreten Ort ausgehen. Emotionshistorisch ist der rechtspopulistische Versuch einer Politik der Angst eine Antwort auf diese neue Art von Globalisierungsängsten. Denn der Rechtspopulismus versucht, diesen entteritorialisierten Ängsten ein konkretes Objekt zu geben: Flüchtlinge und Migranten.

Nachkriegsängste

In der Frühzeit der Bundesrepublik war die Angst allgegenwärtig, konnte jedoch kaum artikuliert werden. Ein Zitat des Historikers Hans-Ulrich Wehler bringt diese Spannung auf den Punkt: „Für diejenigen Generationen, die den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und die Nachkriegszeit bewusst miterlebt haben, war Affektkontrolle eine unabdingbare Voraussetzung des physischen und psychischen Überlebens. Gefühlen wurde nur im Kreis der Familie, unter engen Freunden und Freundinnen offen nachgegeben, in vermittelter Form gingen sie natürlich auch in politisches und wissenschaftliches Arbeiten ein.“ Angst und Gefühle im Allgemeinen erschienen politisch suspekt, sie sollten aus dem öffentlichen und politischen Raum möglichst verbannt werden und blieben wohl auch im privaten Bereich oft unartikuliert. Ein Grund hierfür war eine Interpretation des Nationalsozialismus, die das „Dritte Reich“ als eine Form der kollektiven emotionalen Verirrung wahrnahm. Demnach sei den Deutschen in ihrer Begeisterung für Hitler die Gefühlskontrolle abhandengekommen und hätten sie sich in einer zutiefst irrationalen emotionalen Hingabe an den Faschismus verloren.

Die Reaktion hierauf war emotionshistorisch eine dezidiert intendierte Kultur der Sachlichkeit und der performativen Rationalität, eine Art „Pathos der Nüchternheit“, insbesondere im öffentlichen und politischen Raum. Zwar ging es auch in der frühen Bundesrepublik bei den politischen Debatten beispielsweise um die Wiederbewaffnung emotional hoch her. Doch die politischen Akteure bemühten sich sehr um den Anschein der Nüchternheit. Dies traf selbst auf Protestbewegungen wie zum Beispiel die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ der 1950er Jahre zu. Auch sie kleideten ihren Protest in die Form des rational begründeten und sachlich vorgetragenen Einspruchs, ganz im Gegensatz zu den späteren Protestbewegungen. Gefühle wurden, wenn überhaupt, in den Bereich der Unterhaltungskultur verbannt, wo sie sich beispielsweise in der Sentimentalität der Heimatfilme offenbarten.

Problematisch war diese Kultur der Nüchternheit, weil sie im Widerspruch stand zu den gefühlten Emotionen der Nachkriegsdeutschen, insbesondere der Angst. In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand hier die Angst vor der Vergeltung durch die Siegermächte im Vordergrund. Dies schloss auch die Angst vor der Rache von jüdischen Überlebenden oder osteuropäischen Zwangsarbeitern ein. Diese Ängste sind heute vielfach vergessen, aber in den subjektiven Zeugnissen der Zeit außerordentlich stark präsent. Sie verweisen indirekt auch auf ein kollektives Schuldeingeständnis vieler Deutscher, die sich der nationalsozialistischen Verbrechen – und teilweise ihrer eigenen Mitwirkung daran – durchaus bewusst waren und daher guten Grund hatten, die Vergeltung oder gar „Rache“ der ehemaligen Opfer zu fürchten.

Aber auch nachdem sich diese Vergeltungsängste allmählich als unbegründet erwiesen hatten, stand die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft lange unter dem Signum der Angst. Teilweise geheim gehaltene Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach für die Adenauer-Regierung verweisen auf ein weitverbreitetes Gefühl der Zukunftsunsicherheit, ja der Angst, in den 1950er Jahren. Im Vordergrund standen hier die Kriegsängste. So erwarteten zu Jahresbeginn 1950 53 Prozent der Bundesbürger/-innen einen neuen Weltkrieg „noch in diesem Jahr“. Zwar ging diese Zahl im Hinblick auf die unmittelbare Erwartung eines Krieges in der nahen Zukunft bis 1958 auf 20 Prozent zurück. Doch einen Krieg für generell möglich hielten im Jahr 1956 immerhin fast zwei Drittel der Bundesbürger/-innen (63 Prozent). Adenauers vielgerühmter Politik der Sicherheit gelang es nicht, dieses in der westdeutschen Gesellschaft weitverbreitete Gefühl massiver Unsicherheit einzudämmen. Laut einer Allensbach-Umfrage vom Juli 1954 fühlten sich 72 Prozent der Deutschen (79 Prozent in den großen Städten) „nicht sicher“ vor einem Angriff mit Atomwaffen. Nur 36 Prozent der Deutschen glaubten 1952, dass die USA einen sowjetischen Angriff abwehren könnten; dieser Prozentsatz fiel bis 1958 auf 20 Prozent.

Die Spannung zwischen einem repressiven Emotionsregime einerseits, das die Artikulation von Emotionen nur sehr eingeschränkt billigte, und einem weitverbreiteten Angstgefühl andererseits war konstitutiv für die Nachkriegsgesellschaft. Sie produzierte eine ebenfalls weitverbreitete Sprachlosigkeit oder – in der Terminologie des Emotionshistorikers William Reddy – eine Form des „emotionalen Leidens.“ Denn die oft auf eigenen Gewalterfahrungen basierende Angst ließ sich nur schwer in den politischen Diskurs integrieren. Zwar gab der Opferdiskurs der 1950er Jahre dem deutschen Leiden infolge von Bombenkrieg oder Flucht und Vertreibung großen Raum. Doch die konkreten, subjektiven Folgen dieser Erfahrungen, einschließlich der daraus resultierenden Ängste, konnten kaum artikuliert werden. Sie wurden in den Familien oft auch zulasten der Frauen und Kinder ausgetragen, die die häufig psychisch labilen Männer zu stabilisieren hatten.

Ganz im Gegensatz zu dieser Alltagserfahrung mit psychischem Leiden negierte nicht nur die westdeutsche, sondern auch die internationale Psychiatrie lang anhaltende psychologische Folgewirkungen von aktiven und passiven Gewalterfahrungen. Gesunde Individuen, so die Annahme, würden diese nach einer gewissen Erholungszeit unbeschadet überwinden. Anhaltende psychische Störungen erschienen in klassisch eugenischer Sichtweise als anlagebedingt oder erblich verursacht. Rentenansprüche beispielsweise ließen sich auf dieser Grundlage kaum durchsetzen. Erst gegen Ende der 1950er Jahre, im Kontext der Behandlung von Holocaust-Überlebenden, aber auch infolge der Konfrontation mit den letzten Heimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1955/56 wurde das Konzept der „erlebnisbedingten Persönlichkeitsveränderung“ entwickelt. Dies war ein Vorläufer der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie im Gefolge des Vietnamkrieges entstand.

Das neue Emotionsregime der 1960er und 1970er Jahre

Seit Ende der 1950er Jahre verschoben sich in der Bundesrepublik die normativen Regeln für den Ausdruck und die Erfahrung von Angst und Emotionen. Ein expressives Emotionsregime ersetzte zusehends das bis dahin dominierende repressive Emotionsregime. Die Gründe dieser wichtigen soziokulturellen Verschiebung waren vielfacher Art. Auf normativer Ebene lässt sich eine Neubewertung der Angst feststellen, die nicht mehr als nur negativ und pathologisch, sondern als durchaus funktional und „gesund“ porträtiert wurde. Sozialhistorisch wendete sich die entstehende Studentenbewegung gegen die „wohlweisliche Gefühlsarmut“ der Elterngeneration, wie der Schriftsteller Peter Schneider es nannte. Mit der Kassenzulassung der Psychotherapie 1968 entstand in der Bundesrepublik auch eine Art therapeutischer Gesellschaft, die nun – im Gegensatz zur Nachkriegsperiode – den Ausdruck und die Erfahrung von Gefühlen als essenziellen Teil einer gesunden Subjektivität wertete. Andersherum erschien die noch in der Nachkriegszeit erforderte Unterdrückung der Gefühle nun geradezu existenzbedrohend. So postulierte beispielsweise die in den 1970er Jahren weitverbreitete Theorie der Krebspersönlichkeit, dass die Unterdrückung von Gefühlen Krebs auslösen könne. Auch für die Alternativkultur der 1970er Jahre war das expressive Emotionsregime konstitutiv. Eine Kultur der „Wärme“, die der oft in einer ausgesprochen emotionalen Sprache artikulierten persönlichen Betroffenheit großen Raum gab, prägte dieses Milieu. Dieses expressive Emotionsregime wurde zentraler Bestandteil einer neuen Subjektkultur, welche die Sensibilität gegenüber der eigenen emotionalen Erfahrung wie auch den Versuch, immer neue Ausdrucksformen für diese Gefühle zu finden, kultivierte.

Politisch war die Verschiebung hin zu einem expressiven Emotionsregime äußerst folgenreich. Denn dieses wurde zentral für die wichtigsten sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, die Umwelt- und Friedensbewegung. Beide basierten zumindest teilweise auf einer offenen Artikulation der Angst. Diese wurde nun keinesfalls mehr als irrational, pathologisch oder negativ bewertet, sondern erschien als angemessene, ja rationale Reaktion auf eine tatsächlich existierende Bedrohung. Angst wurde zu einer höheren Form der Vernunft.

Sie erwies sich ebenso als ein äußerst wirksames Mittel der politischen Massenmobilisierung. Bis heute ist die Friedensbewegung der 1980er Jahre die größte politische Protestbewegung der Nachkriegszeit, international möglicherweise nur übertroffen von den globalen Protesten gegen den Irakkrieg 2003. Die durch das atomare Wettrüsten verursachte Angst vor einer nuklearen Eskalation trieb Hunderttausende Bundesbürger/-innen in Mitteleuropa auf die Straße. Die zur gleichen Zeit entstehende populäre Holocaust-Erinnerung verband sich mit einer apokalyptischen Zukunftsvision, die einen „nuklearen Holocaust“ imaginierte. Allerdings zeigte die Friedensbewegung der 1980er Jahre auch die Grenzen einer auf intensiven Emotionen basierenden politischen Mobilisierung. Denn dieser hohe Erregungszustand ließ sich nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Nach der gegen den Widerstand der Friedensbewegung durchgesetzten Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik und Westeuropa verpuffte die Friedensbewegung zusehends. Freilich blieb der Langzeiteffekt einer massiven und machtvoll demonstrierten Forderung nach Abrüstung erhalten. Sie erhöhte den Druck auf westliche Politiker, auf die Abrüstungsvorschläge des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow einzugehen. Die von der Friedensbewegung angestrebte „Null-Lösung“ wurde daher im INF-Vertrag von 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion realisiert. Die kurz darauf folgende Revolution in der DDR und die anschließende Wiedervereinigung Deutschlands setzten andere politische Fragen auf die Tagesordnung und schienen die Überwindung des vorangegangenen angstbesetzten Jahrzehntes zu signalisieren.

Dennoch hatte die Friedensbewegung der 1980er Jahre noch einen anderen Langzeiteffekt. Ihre erneute Mobilisierung als Reaktion auf die Irakkriege von 1991 und 2003 provozierte eine konservative Kritik innerhalb Deutschlands, aber auch im Ausland, die die deutsche militärische Zurückhaltung nun als eine pathologische Form der Angst, als German Angst denunzierte. In der Folgezeit postulierten populärwissenschaftliche Studien das Konzept der German Angst als eine Art kollektivpsychologische Beschädigung der deutschen Seele. Derartige Thesen sind weder empirisch nachweisbar noch interpretatorisch besonders weiterführend. Wichtig erscheint vielmehr, dass das bis in die Gegenwart immer wieder bemühte Konzept der German Angst in einer spezifischen historischen Situation entstand und einen eindeutigen politischen Zweck verfolgte, nämlich die meist konservative Kritik an der deutschen Umwelt- und Friedensbewegung als eine Form der kollektiven psychischen Neurose. Allerdings erweist sich auch an diesem Beispiel, dass „Rationalität“ eine historische und damit wandelbare Kategorie ist. Denn aus heutiger Sicht, nach dem bundesdeutschen Atomausstieg, stellt sich die Kritik der Umweltbewegung an der Nukleartechnologie als durchaus zukunftsweisend und „rational“ dar. Gleiches gilt für die deutsche Nichtbeteiligung an den US-amerikanisch geführten Irakkriegen, deren vermeintliche Rationalität aus heutiger Perspektive zutiefst zweifelhaft erscheint.

Globalisierungsängste

Das seit den 1960er Jahren entstandene expressive Emotionsregime prägt die politische Kultur der Bundesrepublik bis heute. Eine Rückkehr in eine angeblich bessere Zeit rationaler Auseinandersetzung erscheint angesichts der medial vielfach verstärkten Emotionalisierung über soziale Medien kaum möglich. Statt einer kaum zu realisierenden Entemotionalisierung der Politik das Wort zu reden, wäre es wichtiger, die genaue Funktion von Emotionen in der Politik zu analysieren. Dazu zählt die Frage, ob Angst in der Politik auch eine positive Rolle spielen kann. Oder anders gefragt: Wie ließe sich eine demokratische Politik der Angst unterscheiden von einer demagogischen, populistischen Politik der Angst, die nicht selten umschlägt in Hass und Gewalt? Was wären die Konturen einer demokratischen Gefühlspolitik?

Seit der Jahrtausendwende hat sich das Wesen der Ängste deutlich verändert. Die Angstgeschichte der alten Bundesrepublik war geprägt von Ängsten mit einem konkreten Ort, einem spezifischen Ausgangspunkt – die Angst vor Vergeltung, vor „den Russen“, vor einer autoritären Wende, vor einer Umweltkatastrophe oder einem (Atom-)Krieg. Sie konnten daher entweder mit einer nationalstaatlich bestimmten Politik eingedämmt werden oder ließen sich an spezifischen Orten lokalisieren, die selbst zu Chiffren der westdeutschen Protestgeschichte wurden: Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf, Mutlangen. Dieser eindeutige Ausgangspunkt der Gefahren verlieh den Ängsten der alten Bundesrepublik eine konkrete Gestalt und ließ die damit verbundenen Gefahrenszenarien potenziell kontrollierbar erscheinen.

Für die dominierenden Ängste der 2000er Jahre war dies nicht mehr der Fall. Sie waren globalisierte, entterritorialisierte Ängste, die nicht mehr von einem konkreten Ort ausgingen und daher auch schwieriger einzudämmen waren. So zeichnete sich der internationale Terrorismus seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gerade dadurch aus, dass er nicht mehr räumlich beschränkt war (wie es im Fall der irischen IRA, der baskischen ETA oder selbst dem westdeutschen und italienischen Linksterrorismus der 1970er Jahre der Fall gewesen war), sondern prinzipiell überall und jederzeit zuschlagen konnte. Dem entsprach, dass der von der US-Regierung unter George W. Bush propagierte „Krieg gegen den Terror“ ebenfalls räumlich, zeitlich und juristisch entgrenzt war.

Die in der alljährlichen Studie der R+V Versicherung genannten größten Ängste der Deutschen der vergangenen 15 Jahre gehörten allesamt in diese Kategorie der Globalisierungsängste: Eurokrise (2011–15), Terrorismus (2016–17), gefährlichere Welt durch die Politik Donald Trumps (2016, 2018), Überforderung durch Geflüchtete (2019), Coronapandemie (2020). Diese Rangliste spiegelt die Reihe von Globalisierungskrisen in den 2000er Jahren wider: Finanz- und Eurokrise, internationaler Terrorismus, die sogenannte Flüchtlingskrise, die Pandemie, zusätzlich noch die Klimakrise. Angstauslösend wirkt auch der Aufstieg des Rechtspopulismus in den USA und Europa als eine Reaktion auf diese Globalisierungskrise.

Auch wenn die mit diesen Krisenerscheinungen verbundenen Ängste sich deutlich unterscheiden und sehr unterschiedliche politische Perspektiven reflektieren – die Klimakrise ist eher eine „linke“, die Flüchtlingskrise eher eine „rechte“ Angst –, weist ihre Phänomenologie doch auch wichtige Gemeinsamkeiten auf. Beiden fehlt ein konkreter Ausgangspunkt, beide lassen sich kaum auf ein konkretes Ereignis verdichten oder zurückführen, auch wenn einzelne Ereignisse – beispielsweise das verstärkte Ankommen von Flüchtlingen im Sommer 2015 oder außergewöhnliche Wetterereignisse – auf den größeren Krisenzusammenhang verweisen. Beide Ängste stehen in der Kontinuität eines expressiven emotionalen Ausdrucksregimes, das bis in die 1960er und 1970er Jahre zurückreicht, und beide mobilisieren gezielt Emotionen bei der Verfolgung politischer Ziele. Sie scheinen damit auch in einem dialektischen Wechselverhältnis zu stehen, das heißt, die Mobilisierung eher „linker“ Ängste verstärkt „rechte“ Ängste und andersherum.

Allerdings beruht die Mobilisierung beider Großängste auch auf sehr verschiedenen politischen Dynamiken, die wiederum divergierende politische Folgewirkungen nach sich ziehen. Der Aufstieg der AfD in Deutschland seit 2015 sowie der globalen Rechten anderswo ist untrennbar mit einer neuen Politik der Angst verbunden. Während der spezifische historische Kontext für neue rechte Bewegungen sehr unterschiedlich war, teilt der neue Rechtspopulismus eine gemeinsame, apokalyptische Sicht auf die Zukunft. Rechtspopulisten sehen zeitgenössische Trends wie Globalisierung und Migration als konvergierende Kräfte, die darauf abzielen, nationale Kulturen und wirtschaftliche Lebensgrundlagen zu zerstören. Bei der Artikulation dieser Zukunftsängste greifen sie auch auf eine emotionale Kultur nach 1968 zurück, die das öffentliche Zeigen und Ausleben intensiver Emotionen billigte und sogar förderte.

Die politische Rechte stützt sich nicht nur auf Angst, sondern mobilisiert eine ganze Reihe von Emotionen, die typischerweise männlich codiert sind – Wut, Stolz, Empörung –, um gegen die Forderungen von Frauen und Minderheiten vorzugehen. Darüber hinaus übernimmt sie die bewusst provokative und antielitäre Haltung früherer Protestbewegungen der Linken. Diese Haltung und ihr Anspruch, als eine authentische Stimme „des Volkes“ in dessen Namen zu sprechen, macht Populisten auch gegenüber Experten und Wissenschaftlern misstrauisch. Infolgedessen lehnen sie die Gültigkeit moderner Ängste wie der vor dem Klimawandel ab, den der Einzelne nur bedingt erleben kann und der daher von Experten diagnostiziert und kommuniziert werden muss. Im Gegensatz dazu verwandeln Populisten die Unlokalisierbarkeit entterritorialisierter Ängste in sichtbare Bedrohungen wie Muslime, Flüchtlinge und Ausländer. Diese Konstruktion von greifbaren und oft personalisierten „Anderen“ als Angstobjekte befördert die Verwandlung von Angst in Hass. Die emotionale Grundlage rechter Gewalt besteht somit in einer Personifizierung von Angstobjekten.

Die mobilisierende Funktion der Angst liegt auch der modernen Umweltbewegung zugrunde. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2019 ermahnte die damals 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg die Staats- und Regierungschefs der Welt, nicht „hoffnungsvoll“ zu sein, sondern „in Panik zu geraten“ und „die Angst zu spüren, die ich jeden Tag spüre.“ Intellektuelle und Aktivisten glaubten, dass die einzige Möglichkeit, die Umweltkatastrophe zu verhindern, darin bestand, sie vorherzusagen. Doch auch weil sich einige der düstersten Vorhersagen der Bewegung nicht bewahrheitet hatten, verbanden Aktivisten und Aktivistinnen zunehmend die Artikulation von Angst mit verbindlichen Handlungsrichtlinien. In diesem Sinne schien Angst keineswegs lähmend zu wirken, sondern wurde zur emotionalen Grundlage des Klimaaktivismus. Anders als bei den „rechten“ Ängsten vor Migration fehlt diesen Ängsten die Personalisierung, sie neigen weniger dazu, konkrete Sündenböcke für die Angstszenarien zu identifizieren. Wenn überhaupt richtet sich eine Art symbolischer Gewalt nicht gegen Menschen, sondern gegen Objekte wie beispielsweise Gebäude, die von Klimaaktivisten der mittlerweile umbenannten „Letzten Generation“ mit Farbe bemalt wurden. Dies mag zu Unmut und Ärger führen. Doch eine derartige Angstmobilisierung hat kaum das Potenzial, in mitunter physische und tödliche Gewalt zu münden, wie dies im Fall der Angstmobilisierung der Rechten der Fall ist.

Schließlich reaktivierte der Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland und anderswo auch eine Art demokratische Angst. Der Angriff der Rechten auf demokratische Normen und Verfahren hat die Sensibilität und das Bewusstsein für die Fragilität der Demokratie geschärft. Diese Art der Angst ist in der Geschichte der (alten) Bundesrepublik vor 1989 tief verankert. Sie fungierte paradoxerweise als eine der entscheidenden emotionalen Grundlagen des Erfolges der liberalen Demokratie in Westdeutschland nach 1945. Denn die Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliehen den Deutschen ein Gespür für die Möglichkeit politischer Katastrophen und für die Fragilität der Demokratie. Diese Sensibilisierung wirkte als eine Art politisches Frühwarnsystem. Gerade weil beide innenpolitischen Lager – also Mitte-rechts und Mitte-links – während der gesamten Nachkriegszeit die jeweils andere Seite verdächtigten, eine „andere Republik“ zu wollen, erwies sich die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung der alten Bundesrepublik als überraschend stabil.

Angesichts des Aufstiegs der AfD wie auch existierender rechtspopulistischer Regierungen, insbesondere in den USA, erscheint eine Reaktivierung dieser demokratischen Ängste und damit eine erneute Sensibilisierung für die Fragilität der liberalen Demokratie durchaus funktional. Demokratische Ängste können somit auch in der Gegenwart Teil einer demokratischen Gefühlspolitik sein. Denn die Emotionen werden sich so schnell nicht wieder aus der Politik zurückdrängen lassen. Vielmehr ist von einer Kontinuität und Weiterentwicklung des expressiven Emotionsregimes auszugehen. In diesem Sinne ist es wichtig, Emotionen zum Schutz und zur Verteidigung der Demokratie zu mobilisieren und damit der demokratiezerstörenden Politik der Angst vonseiten der Rechtspopulisten entgegenzuwirken.

Der 22. Februar 2022 und die Rückkehr der alten Ängste

Mit der russischen Invasion in die gesamte Ukraine änderte sich die Angstdynamik in der Bundesrepublik grundlegend. Anders als bei den vorangegangenen Globalisierungsängsten ließ sich tatsächlich wieder ein konkreter Ausgangspunkt der Bedrohung festmachen: das autokratische Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Insofern ist die seitdem existierende Angst vor einer russischen Expansion eher eine Retro-Angst, die mehr an die Ängste des Kalten Krieges als an die der 2000er Jahre erinnert. Die Analogie zum Kalten Krieg ist auch in anderer Hinsicht weiterführend: Die wirklich gefährlichen Konflikte im Kalten Krieg gab es genau in jenen Gegenden, in denen die Einflusssphären der Supermächte, ähnlich wie heute in der Ukraine, nicht eindeutig geklärt waren und kollidierten – Korea, Berlin bis 1961, Kuba, Vietnam. Auch die Reaktionsmuster auf den Krieg in der Ukraine glichen in vielerlei Hinsicht dem Kalten Krieg – Aufrüstung als Abschreckung einer weitergehenden russischen Aggression. Allerdings löste dieses Vorgehen zumindest bei einigen der ehemals friedensbewegten Aktivistinnen und Aktivisten der 1980er Jahre Unbehagen aus. Insofern wiesen die Reaktionen auf den 22. Februar 2022 einen gewissen Generationenunterschied auf: Die etwas älteren, darunter der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz, hatten immer auch die Eskalationsgefahr im Blick und vertraten auch im Kontext einer massiven militärischen Unterstützung für die Ukraine eine eher vorsichtige Vorgehensweise. Im Gegensatz dazu waren diese Bedenken von jüngeren Politikerinnen und Politikern, deren Sozialisation vor allem durch die humanitären militärischen Interventionen seit den 1990er Jahren geprägt war, eher selten zu hören. Die Ängste des Kalten Krieges, die selbst wiederum in der Nachfolge der Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges standen, verblassten hier zunehmend.

Resümee

Obwohl Angst eine der universalen menschlichen Grundemotionen ist, erweist sie sich aus emotionshistorischer Perspektive als ein politisch äußerst polyvalentes Gefühl. Ängste können, je nach Kontext, ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Zielen dienen. Ihre Rolle in der Politik lässt sich nicht allgemein bestimmen, sondern hängt von vielen unterschiedlichen Einflussfaktoren ab, einschließlich des jeweils dominierenden Emotionsregimes. Auch die Erscheinungsformen der Angst haben sich im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik massiv verändert. Die Angst suchte sich immer wieder neue Objekte und rückte diese damit auch ins Zentrum öffentlicher und privater Aufmerksamkeiten. Schließlich verschob sich das Wesen der Nachkriegsängste massiv – von den konkreten, oft auf der Erinnerung an eine gewaltsame Vergangenheit beruhenden Ängsten der alten Bundesrepublik hin zu den Globalisierungsängsten der Berliner Republik.

Empirisch lässt sich zeigen, dass die Personalisierung der Ängste, der Versuch, entterritorialisierte Ängste auf bestimmte Gruppen zu projizieren, das Potenzial birgt, Angst in Hass und Gewalt zu verwandeln. Eine demokratische Gefühlspolitik sollte sich nicht nur auf die Eindämmung von solchen Ängsten fokussieren, sondern auch produktive, demokratische Ängste mobilisieren. Denn die von sich verschiebenden kollektiven Ängsten geprägte Geschichte der Bundesrepublik war und ist – bis jetzt – auch eine Geschichte der ausgebliebenen Katastrophen. Möglicherweise können Ängste auch dabei helfen, jene Zukunft zu verhindern, die sie imaginieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese Überlegungen basieren auf meinem Buch Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019.

  2. Hans-Ulrich Wehler, Alltagsgeschichte: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: ders., Aus der Geschichte lernen?, München 1988, S. 309, Anm. 13.

  3. Vgl. Marcus Payk, Das „Pathos der Nüchternheit“? Über Emotionalität, Generationalität und Demokratie in Westdeutschland, in: Moderne: Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 3/2007, S. 128–141.

  4. Vgl. Holger Nehring, Politics of Security. British and West Protest Movement and the Early Cold War, Oxford 2013.

  5. Vgl. Biess (Anm. 1), S. 41–83.

  6. Vgl. Die Stimmung im Bundesgebiet. Kriegsfurcht nicht aktuell, Bundesarchiv Koblenz (BAK), B145/4231; Die Stimmung im Bundesgebiet. Das Echo auf Ungarn und Ägypten, BAK, B145/4227.

  7. Ebd.

  8. William Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 123–130. Vgl. auch Klaus Naumann, Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001.

  9. Vgl. Robert Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001.

  10. Vgl. Vera Neumann, Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik. Lebensgeschichtliche Erinnerungen, Münster 1999.

  11. Vgl. Frank Biess, Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton 2006; Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009.

  12. Vgl. Walter von Baeyer/Wanda von Baeyer-Katte, Angst, Frankfurt 1971.

  13. Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln 2008, S. 35, S. 55.

  14. Vgl. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den 1970er Jahren, Göttingen 2016.

  15. Vgl. Krebs. Krankheit der Seele?, in: Der Spiegel 45/1977; Bettina Hitzer, Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2020.

  16. Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt/M. 2014; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Berlin 2020.

  17. Vgl. Martin Schrenk, Angst=Vernunft in unserer bedrohten Welt, Neunkirchen, o.J.

  18. Vgl. Susanne Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik, 1970–1985, Frankfurt/M. 2011.

  19. Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) verpflichtete die USA und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion unter anderem dazu, alle landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern zu zerstören (Anm. d. Red.).

  20. Vgl. Sabine Bode, Die deutsche Krankheit – German Angst, Stuttgart 2016.

  21. Vgl. Johannes Hillje, Mehr Emotionen wagen. Wie wir Angst, Hoffnung und Wut nicht dem Populismus überlassen, München 2025; Biess (Anm. 1), S. 452ff.

  22. Vgl. Gershon Shafir et al. (Hrsg.), Lessons and Legacies of the War on Terror – From Moral Panic to Permanent War, London 2013.

  23. Vgl. R+V, „Die Ängste der Deutschen“ im Langzeitvergleich, Externer Link: https://www.ruv.de/newsroom/themenspezial-die-aengste-der-deutschen/langzeitvergleich.

  24. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, Berlin 2018.

  25. Vgl. Uffa Jensen, Zornpolitik, Berlin 2017.

  26. Vgl. Thomas Wagner, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017.

  27. Greta Thunberg, Our House is on Fire, Vortrag, Weltwirtschaftsforum, Davos 25.1.2019.

  28. Vgl. Frank Biess, Lob der Angst, 31.8.2019, Externer Link: https://www.sueddeutsche.de/1.4580103.

  29. Hans-Peter Schwarz, Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Hermann Rudolph (Hrsg.), Den Staat denken, Berlin 1990, S. 151–174.

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ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California, San Diego und forscht insbesondere zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.