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Politik und Angst | bpb.de

Politik und Angst

Bärbel Frischmann

/ 15 Minuten zu lesen

Auf die eine oder andere Weise ist Angst für jede Politik bedeutsam: etwa als Machtinstrument der Regierung „von oben“ oder als Druckmittel durch Bürger/-innen „von unten“. Dabei unterscheiden sich ihre Inhalte, Funktion und Wirkmacht je nach politischem System deutlich.

Menschen gestalten ihr Zusammenleben durch Regeln, Strukturen und Institutionen. Komplexere Gemeinschaften bilden soziale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse, mit Spezialisten für Politik und Verwaltung. Politik als eine Organisation des Zusammenlebens ist immer auch Machtausübung von Menschen über Menschen. Dabei ist entscheidend, wie politische Strukturen zustande kommen, wie politische Macht legitimiert und auch kontrolliert werden kann und welche Machtbefugnisse politische Entscheidungsträger haben oder beanspruchen. Bezogen auf das Thema der Angst stellen sich folgende Fragen, denen in diesem Beitrag nachgegangen werden soll: Welche Art von Politik erzeugt Angst? Wer im politischen System hat Angst vor wem und warum? Wie wird Angst als Instrument der Politik, also als Herrschaftsmittel gezielt eingesetzt? Und wie wird umgekehrt das Artikulieren von Ängsten zum politischen Druckmittel, um eigene Interessen durchzusetzen?

Der Begriff der Angst

Da es sowohl in den Wissenschaften als auch in unserer Alltagssprache sehr unterschiedliche Begrifflichkeiten zum großen Phänomenbereich der Angst gibt, kläre ich zunächst, wie ich hier den Angstbegriff verwende.

Allgemein gesehen geht es um die menschliche Fähigkeit, auf bestehende Gefahren zu reagieren beziehungsweise mögliche Gefahren zu antizipieren, um sich auf sie einstellen zu können. Dabei steht dem Menschen ein großes Spektrum der Gefahrenwahrnehmung zur Verfügung, von der Furcht als direkter Reaktion auf eine unmittelbare Gefahr über Paniken, Phobien und konkrete Ängste bis hin zu einer allgemeinen Angst und Sorge vor großen Gefährdungen wie der atomaren Bedrohung oder Umweltzerstörung. Diese verschiedenen Aspekte lassen sich in die beiden Hauptfelder Furcht und Angst zusammenfassen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Funktionsmuster und biologischen Aufgaben.

Furcht ist immer konkret, sie bezieht sich auf eine unmittelbare Gefahr und äußert sich körperlich: Ich stehe im Schwimmbad auf dem 10-Meter-Brett und schaue in die Tiefe. Mein Herz beginnt zu rasen, die Atmung beschleunigt sich, der Organismus bereitet sich instinktiv auf Flucht oder mutiges Bestehen der Aufgabe vor. Furcht ist die instinktive biologische Reaktion auf Gefahr, die auch bei höher entwickelten Tieren stattfindet.

Angst hingegen ist immer getragen von der geistigen Vorstellung von möglichen Gefahren, sie bezieht sich stets auf etwas Zukünftiges, das als Bedrohung oder Risiko wahrgenommen wird. Sie kann ähnliche körperliche Reaktionen mit sich bringen wie die Furcht. Bei Prüfungsangst zum Beispiel stelle ich mir vor, dass etwas schief gehen könnte, weil ich nicht gut genug vorbereitet bin. Das Gefühl kann so stark sein, dass es nicht möglich ist, die Prüfung abzulegen. Angst kann aber auch stärker geistig ausgetragen werden, etwa mit Blick auf abstraktere Bedrohungen wie ökonomische Fehlentwicklungen, Naturkatastrophen oder Kriege. Im Unterschied zum unmittelbar in der Gefahr einsetzenden Automatismus der Furcht beruht die Angst auf menschlicher Reflexivität, auf der Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, Bedrohungen und Risiken abzuschätzen. Dies ermöglicht es, sich auf Gefahren einzustellen und so letztlich das Überleben zu gewährleisten.

Furcht und Angst sind also anthropologische Grundfunktionen zur Lebenssicherung. Dennoch werden sie in den allermeisten Fällen als negativ erlebt: Sie versetzen den Menschen in einen unangenehmen körperlichen und psychischen Zustand. So wird das Individuum gefordert zu reagieren, indem es die Gefahr meidet oder ihr vorbeugt. Ein Leben ohne Freude oder Glück ist vielleicht möglich, aber definitiv kein Leben ohne Furcht und Angst. Dies gilt auch in Bezug auf den Bereich des Politischen.

Politische Angst

Durch Politik wird das Zusammenleben einer Gemeinschaft bestimmt, indem verbindliche Regeln vorgegeben und Institutionen zur Sicherung und Kontrolle ihrer Befolgung eingerichtet werden. Die Durchsetzung kann dabei auch mit Zwang und Gewalt erfolgen. Politik greift damit tief ins Leben der Menschen ein und kann so als Bedrohung des individuellen oder gesellschaftlichen Wohlergehens wahrgenommen werden.

Politische Angst bezieht sich darauf, dass es Strukturen der Herrschaft und Machtausübung gibt, von denen bestimmte Gruppen oder alle Bürger betroffen sind. Sie ist ein Indikator dafür, dass und wie politische Macht ausgeübt wird, wie die Machtsicherung und die Durchsetzung von Politik funktioniert und in welcher politischen Verfassung sich eine Gesellschaft befindet. Politische Ängste sind wie ein Sensorium für den inneren Zustand einer Gesellschaft und die gegebenen Mitgestaltungsmöglichkeiten. Die Ausprägung politischer Ängste hängt vor allem davon ab, welche Art von politischer Kultur in einer Gesellschaft herrscht, ob sie zum Beispiel demokratisch oder totalitaristisch ist. Denn dies hat Auswirkungen auf die Lebensumstände der Menschen und die Ängste, die sich daraus ergeben.

Politische Angst ist zunächst ganz direkte Angst vor den Inhabern der politischen Macht, die auch Gewalt- und Kontrollmittel wie Polizei, Geheimdienste und Aufsicht über die öffentlichen Medien einsetzen können. Umgekehrt gibt es auch die Angst der Machthaber vor Konkurrenten oder vor dem Volk. Alle Despoten oder Diktatoren leben in ständiger Angst, gestürzt oder ermordet zu werden. Die Machteliten demokratischer Staaten haben ebenfalls politische Ängste – sei es, im politischen Geschäft zu versagen oder die politische Position und die damit verbundenen Privilegien und Einflussmöglichkeiten bei der nächsten Wahl wieder zu verlieren. Letztlich können alle Arten von Ängsten politisch für bestimmte Zwecke (aus-)genutzt werden.

Politik wirkt immer an der Formung der Ängste mit: durch ihre Kommunikation und ihre faktische Ausübung. So können Sachverhalte in einem drastischen Krisenjargon oder nüchtern und sachlich dargestellt werden, denken wir etwa an die Einordnung von Klimawandel oder Asylpolitik. Die Ausübung von Politik ist stets geprägt von historischen Umständen, konkreten Gegebenheiten und den jeweils zu lösenden Aufgaben: Krieg oder Frieden, wirtschaftlicher Wohlstand oder Not, Naturkatastrophen oder günstige Umweltbedingungen. Politik ist die Art und Weise, wie Gesellschaften mit diesen Konstellationen geregelt umgehen, wie sie etwas voranbringen oder scheitern, welche Gruppen in der Gesellschaft unterstützt und welche benachteiligt werden, wie soziale Spannungen ausgeglichen werden. Die Ängste der Menschen fungieren dabei als Spiegel der Geschehnisse. Sie helfen ihnen, die konkreten Ereignisse einzuordnen und ihr Gefahrenpotenzial zu bewerten. Sie sind Gradmesser der eigenen Lebenssituation und der daraus resultierenden Zukunftserwartung.

Angstpolitik von oben

Für jede Machtausübung und für jede Politik ist eine entscheidende Frage, welches Maß an Gewalt gerechtfertigt werden kann und wie viel daraus erwachsende Angst man den Menschen zumuten will. Wie steht es mit der Todesstrafe? Wie weit dürfen die Freiheitsrechte der einzelnen Personen beschränkt werden, beispielsweise während der Coronapandemie? Welche Vorschriften sind unverzichtbar? Hier sind immer Abwägungen erforderlich. Denn sind die Gesetze und möglichen Sanktionen zu streng, kann dies Ängste befördern, weil sich die Menschen drangsaliert fühlen. Agiert der Staat jedoch zu lasch, können die Folgen – etwa die unkontrollierte Ansteckung während einer Pandemie – wiederum Anlass zu Sorge und Angst bieten.

Eine politische Extremform ist der Totalitarismus, das heißt, die totale und uneingeschränkte Herrschaft der Machthaber über die Bevölkerung mit dem Anspruch, sie in eine Richtung zu lenken. Solche totalitären Machtsysteme können zum Beispiel Diktaturen, Despotien oder absolute Monarchien sein. Die Machthaber verfügen über weitreichende Befugnisse, die durch entsprechende Strukturen wie Militär, Geheimdienste und Justiz sichergestellt werden und die Rechte der Menschen sehr weit einschränken. Der Totalitarismus beruht hinsichtlich seiner Weltanschauung auf einem absoluten Wahrheitsanspruch und duldet keine Kritik.

Totalitäre Regime entstehen häufig in tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Krisen, in denen eine neue soziale Vision oder Utopie als Gegenmodell zur bisherigen Gesellschaft angeboten wird: zum Beispiel der Kommunismus mit der führenden Rolle der Arbeiterklasse oder das „Tausendjährige Reich“ mit einer privilegierten deutschen „Rasse“ im Nationalsozialismus. Die Umsetzung der eigenen politischen Machtziele ist getragen von einer spezifischen Ideologie, die das Weltbild vorgibt und durch Propaganda der Bevölkerung unaufhörlich eingetrichtert wird. Dabei werden häufig Verschwörungsmythen zugrunde gelegt, beispielsweise im Nationalsozialismus die „jüdische Weltverschwörung“ oder im Stalinismus der „Revisionismus“ oder die „Konterrevolution“. Totalitäre Herrschaft benötigt ein Angst schürendes Feindbild: bei Stalin alle diejenigen, die den kommunistischen Aufbau stören, bei Hitler alle „minderwertigen Rassen“ und politischen Gegner. Die Angst vor den Feinden kann sich dabei bis zum Paranoiden steigern wie bei Stalin. Selbst die treuesten Anhänger werden nicht verschont, wenn es dem Machterhalt dient. In einem totalitaristischen System kann niemand davor sicher sein, als nächstes selbst zum „Feind“ zu werden – auch das erzeugt Ängste.

Die totalitäre Führung verfügt über alle staatlichen Machtmittel und kann diese willkürlich und ohne Kontrolle anwenden. Dabei kommen auch Gewalt und Terror zum Einsatz, mit den entsprechenden Einrichtungen wie Arbeitslagern und Foltergefängnissen. Terror hat die psychologische Funktion, Menschen durch die angewendete oder angedrohte Gewalt so zu verängstigen, dass sie es nicht wagen, Kritik zu üben oder sich gegen die Machthaber aufzulehnen. Letztlich sollen die Menschen dahin gebracht werden, sich den politischen Zielstellungen und den entsprechenden Institutionen zu unterwerfen. So hebt die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Analyse des Totalitarismus hervor, dass Terror die Menschen ständig in einem Angstzustand hält und damit das gesellschaftliche Leben zersetzt: „Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen“. Man könnte auch sagen: Terror macht Politik im Sinne der Gestaltung einer guten Gemeinschaft unmöglich.

Doch der Terror muss dabei so eingesetzt werden, dass er eine Gesellschaft nicht vollkommen lähmt oder gar zerstört. Mit Angst sind Menschen erpressbar, denn sie sorgen sich um ihr Wohl, ihre Familie, ihre Freunde. Aber Angst kann auch in Widerstand und Aufbegehren gegen das, was sie erzeugt, umschlagen. Aus Angst kann Mut erwachsen, können heroische Taten entspringen, die niemand erwartet hätte. Sie kann sich auch verselbständigen, sodass beispielsweise kaum mehr zu beherrschende Massenpaniken entstehen können.

Eine Diktatur kennt deshalb neben der Strafe auch immer die Belohnung und die Privilegien für die eigenen Anhänger, neben der Peitsche lockt das Zuckerbrot. Denn ohne eine breitere Unterstützung durch einen Teil der Bevölkerung ist auch eine Diktatur nicht möglich.

Politische Angst in liberalen Demokratien

Da in der Demokratie die Macht vom Volk ausgeht, gibt es zunächst keinen politischen Grund, für die Durchsetzung von Politik gezielt Ängste zu schüren. Die politischen Grundlagen der Demokratie wie Gewaltenteilung, demokratische Wahlen oder Mitwirkung der Opposition sind vielmehr auf die Beteiligung von Bürgern angewiesen – sie zu verängstigen wäre kontraproduktiv. Zudem besteht ein wichtiges politisches Ziel von Demokratien darin, gute Lebensbedingungen zu schaffen, individuelle Rechte zu schützen und staatliche Willkür einzuschränken, also gerade keinen Anlass für politische Ängste zu liefern.

Im Vergleich verschiedener Regierungsformen hat die moderne, liberale Demokratie gerade mit Blick auf die politischen Ängste Vorzüge gegenüber Despotie oder Diktatur. Als These ließe sich formulieren: Je liberaler, egalitärer, demokratischer und humanistischer eine Politik ist, umso weniger besteht Anlass, starke politische Ängste auszuprägen. Demokratien verfügen aufgrund der Gewaltenteilung und vielfältiger Kontrolle der Staatsorgane über weniger starke politische Machtpotentiale. Das friedliche, gemeinwohlorientierte Ausgleichen der verschiedenen Interessen ermöglicht es der großen Mehrzahl der Menschen in demokratischen Gemeinwesen, ein gesichertes Leben zu führen. Die sozialstaatliche Absicherung leistet einen weiteren Beitrag zur Angstmilderung. Doch auch hier lauern Ängste, wenn sich die Gegebenheiten verändern, etwa die Arbeitslosigkeit wächst oder Einschnitte in den Sozialsystemen befürchtet werden. Wenn sich Krisen zuspitzen, fühlen sich viele Menschen bedroht und suchen deshalb nach Sicherheit und Orientierung.

Demokratien tendieren in Krisenzeiten zu einer Angstpolitik, um politische Maßnahmen zu rechtfertigen und durchzusetzen, die tief in die Freiheiten der Menschen eingreifen, wie dies in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Fall war oder in der Zeit der Coronapandemie in nahezu allen Ländern der Welt. Die etwa in Deutschland von politischer Seite benutzten Angaben zur Auslastung der Intensivstationen, zu Inzidenzen oder Todesfällen hatten durchaus auch einen Aspekt der Angstmache. Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie können als ein „Regieren durch Angst“ angesehen werden. Auch die europäische Aufrüstungspolitik nach der russischen Invasion in die gesamte Ukraine wird mit Angstszenarien untersetzt und soll auf eine gewisse Weise die „Kriegsbereitschaft“ der Bevölkerung über das Schüren von Ängsten erreichen. Das Gegenteil dieser Vorgehensweise wäre so etwas wie „vertrauensbildende Maßnahmen“, die zum Beispiel dazu geführt haben, dass die Aufrüstungsspirale während des Kalten Krieges mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in den 1970er Jahren durchbrochen werden konnte.

Krisenzeiten sind immer eine Gefahr für die Demokratie, und zwar in doppelter Hinsicht: Auf der einen Seite tendiert die politische Führung dazu, Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen, um im proklamierten Notstand größere politische Spielräume zu gewinnen, was zum Aushöhlen demokratischer Strukturen führen kann. Auf der anderen Seite verängstigen Krisen auch die Bevölkerung, die nicht einschätzen kann, wohin sich die Ereignisse entwickeln und deshalb gegen die politischen Entscheidungsträger revoltiert oder denjenigen zu folgen bereit ist, die einfache Lösungen versprechen. Hier ist immer eine vernünftige Abwägung erforderlich, was einer Bevölkerung zugemutet werden kann, auch mit Blick auf die eingesetzte Angststrategie. Denn genährte Ängste befördern Frustrationen, die zu einem Vertrauensverlust bei der Bevölkerung führen können – und damit ist der Demokratie nicht gedient.

Angstpolitik von unten

Im Vergleich zu totalitären Staatswesen gibt es in Demokratien aber auch eine Angstpolitik von unten. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Bergsdorf vertritt die These, „daß die Angst in freiheitlich verfaßten Gesellschaften ihre Zielrichtung ändert. Sie droht und bedroht eher die Regierenden als die Regierten. Je höher der Angstpegel einer Gesellschaft, desto größer die Gefahr für die Regierung.“ Denn wenn die Macht vom Volk ausgeht, fordern die Bürger von der Regierung eine Politik in ihrem Sinn. So sind die demokratischen Regierungen und Parlamente ständig darauf bedacht, dem Wählerwillen zu entsprechen.

Die politischen Ängste der Regierenden ergeben sich unter anderem daraus, dass in den demokratischen Prozessen des Aushandelns von Interessen und des Wettstreits der politischen Ansichten niemand auf sicherem Grund steht. Jede Wahl ist letztlich unberechenbar, das Wahlvolk ist nie gänzlich zu durchschauen und das ausgeübte politische Amt kann schnell wieder verlorengehen. Zwar ist diese Abwahlmöglichkeit ein Vorzug der Demokratie, aber nicht aus Sicht der einzelnen Parlamentarier und Regierungsmitglieder, deren Ängste sich auch um die eigene politische Karriere drehen.

So führt die Angst vor den Wählern zum Teil auch dazu, dass notwendige Reformen nicht angegangen werden. Denn solche Reformversuche könnten die Wähler verärgern und zum Verlust des politischen Mandats führen. Die besondere Schwierigkeit besteht in diesem Zusammenhang darin, dass in modernen, pluralen Gesellschaften sehr verschiedene Interessengruppen agieren, sodass keine Politik alle gleichermaßen zufriedenstellt. Und alle haben deshalb Gründe, „die da oben“ für das, was ihrer Ansicht nach nicht gut läuft, verantwortlich zu machen. Dieses immer gegebene Protestpotenzial speist sich auch aus den Ängsten der Menschen davor, dass sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern könnten. Je größer die Existenzangst ist, umso größer auch die Gefahr, dass sich Mehrheiten bilden, die das bestehende politische System nicht mehr weitertragen wollen.

Umgekehrt können Ängste von unten aber auch eingesetzt werden, um politische Forderungen zu stellen. Angstkommunikation kann als politisches Druckmittel benutzt werden, um andere politische Gruppierungen oder Parteien zu diskreditieren oder um gegenüber der Regierung besondere Aufmerksamkeit und besondere Rechte einzufordern. Angstpolitik von unten ist Angstpolitik durch Interessengruppen, die ihre Anliegen unter dem Aspekt der Angst oder Sorge in den öffentlichen Diskurs einbringen und damit die Regierung zum Handeln auffordern. Deutlich lässt sich dies an Friedens- und Abrüstungsbewegungen oder den bürgerschaftlichen Aktivitäten zum Klimaschutz erkennen. Gerade Klimaangst wird hier mit teils apokalyptischen Bildern bewusst erzeugt, um den Handlungsdruck auf Mitbürger und Regierungen zu erhöhen.

Aber auch in der Auseinandersetzung verschiedener politischer Gruppierungen im demokratischen Wettstreit um Aufmerksamkeit und die Realisierung der eigenen politischen Ziele werden die Ängste der Menschen angesprochen, die jeweils mit den politischen Konkurrenten in Verbindung gebracht werden: Angst vor Rechts, Angst vor Enteignung, Angst vor Überwachung, Angst vor ökonomischem Niedergang und vor Sozialabbau, Angst vor Migration und „Überfremdung“, Angst vor Verlust der nationalstaatlichen Souveränität im Zuge der Globalisierung und vieles mehr. Auch dies sind Formen politischer Angst, die instrumentalisiert werden können.

Da Menschen angstfähige Wesen sind, besteht immer auch die Möglichkeit, dass sie sich beeindrucken und ängstigen lassen von bedrohlichen Szenarien, die diejenigen entwerfen, die aus dieser Angst ihren politischen Profit schlagen wollen. Alle Themen, die das menschliche Leben betreffen, sind dazu geeignet: etwa Kulturverfall, soziale Medien, Klimawandel, Aufrüstung, Extremismus, Kriminalität, Korruption, Arbeitslosigkeit, Migration oder Überwachung. Sie nähren politische Ängste, wenn sie zum manipulativen Instrument politischer Akteure werden. Es ließe sich diagnostizieren: Steigen die Ängste der Menschen, bringt dies Demokratien in Gefahr, wenn sie nicht adäquat darauf reagieren.

Kurzer Ausblick auf eine kluge Angstpolitik

Politische Systeme, die im Interesse ihrer Bevölkerung agieren wollen, brauchen eine kluge Angstpolitik, auch, um der Instrumentalisierung der Angst etwas entgegensetzen zu können. Welche Aspekte spielen hierbei eine Rolle?

a) Zunächst einmal muss es im Interesse der Demokratie sein, die jeweiligen gesellschaftlichen Situationen klar zu erörtern. Dies hilft den Menschen, sich in ihrer eigenen Lebenswelt politisch orientieren zu können und Vertrauen gegenüber denjenigen aufzubauen, die als Repräsentanten die politische Macht ausüben. Die inhaltliche Analyse der Ängste in politischer Hinsicht erfordert es, die konkreten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen zu bestimmen, die jeweils wirkenden politischen Kräfte zu benennen, die zu lösenden gesellschaftlichen Probleme zu identifizieren und dies alles mit den Vorstellungen von einem guten Leben abzugleichen.

b) Politik sollte auch über eine eigene Angststrategie verfügen. Hierzu ist es notwendig, sich der Bedeutung der Ängste der Menschen für politische Entscheidungen bewusst zu sein und die politischen Ziele und Instrumente an sie anzupassen. Denn Angst ist die Instanz, die Gefahren anzeigt und es den Menschen dadurch ermöglicht, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Deshalb kann es nicht darum gehen, Angst überhaupt zu beseitigen und angstfrei zu leben. Vielmehr ist ein sinnvoller Umgang mit der Angst nicht nur individuell, sondern auch als inhaltliche Aufgabe von Politik geboten. Es geht um die Bestimmung der Angemessenheit von Angstpolitik als Strategie zur Durchsetzung politischer Ziele und um die politische Sensibilität für die Angstsituation einer Gesellschaft.

c) Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Medien, die durch die Art ihrer Berichterstattung, durch ihre Debattenkultur, ihre Fokussierung und Einordnung großen Einfluss darauf haben, wie Menschen ihr Weltbild inhaltlich ausstatten. Vor allem die sozialen Medien sind dort problematisch, wo ungebremst Wut und Hass forciert werden, und zwar nicht nur aus innerer Überzeugung der Nutzer, sondern weil dies viel Aufmerksamkeit erregt, Klicks generiert und für die Plattformen profitabel ist.

d) Doch zur Angstkultur und Angstpolitik gehört auch die individuelle Seite: Für jeden Menschen ist ein bewusster und produktiver Umgang mit den eigenen Ängsten erforderlich. Es ist notwendig, unsere eigenen Ängste zu verstehen und sie auf eine gewisse Weise auch selbst zu lenken. Wir können uns um eine sachliche Analyse der gesellschaftlichen und politischen Konstellationen bemühen, um sie beurteilen und bewerten zu können und so die Angstauslöser zu durchschauen.

e) Und schließlich gibt es eine politische Aufgabe auch dahingehend, die Menschen bei ihrer individuellen Angstbewältigung institutionell zu unterstützen und entsprechende klinische, therapeutische und soziale Angebote zur Verfügung zu stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine ausführliche Darstellung der Unterscheidung von Furcht, Ängsten und Angst vgl. Bärbel Frischmann, Angstwesen Mensch. Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten, Heidelberg 2023.

  2. Zu positiv empfundenen Angsterlebnissen siehe den Beitrag von Mathias Clasen in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  3. Einen Literaturüberblick gibt Timm Beichelt, Angstpolitik als vielfältiges Phänomen. Ein Literaturüberblick, in: Jens Lanfer/Martin W. Schnell (Hrsg.), Angst und Angstpolitik. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2024, S. 195–210. Für eine Einführung in die Thematik vgl. Heinz Wiesbrock (Hrsg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt/M. 1967.

  4. Vgl. Jens Lanfer, Sorge und Angstpolitik, in: Lanfer/Schnell (Anm. 3), S. 84.

  5. Vgl. aus historischer Sicht dazu Veith Selk, Das Regieren der Angst. Eine politische Ideengeschichte von der Tyrannis bis zum Leviathan, Hannover 2016.

  6. Frank Biess hat aufgezeigt, wie sich politische Ängste in der Bundesrepublik bei veränderten Konstellationen auch inhaltlich verändert haben. Vgl. Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019; siehe hierzu auch den Beitrag von Frank Biess in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Vgl. dazu Birger P. Priddat/Caroline Wahl, Angst, Sorge, Furcht: Phasen der Pandemie, in: Lanfer/Schnell (Anm. 3).

  8. Vgl. dazu auch Daniel Suter, Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken. Zur Dynamik des Terrors im totalitären System, Berlin 2020.

  9. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München–Zürich 2005, S. 970.

  10. Vgl. Sigrid Betzelt/Ingo Bode (Hrsg.), Angst im neuen Wohlfahrtsstaat. Kritische Blicke auf ein diffuses Phänomen, Baden-Baden 2018.

  11. Vgl. Maurizio Bach, Angst und Politik in der Pandemie, 28.3.2021, Externer Link: https://verfassungsblog.de/angst-und-politik-in-der-pandemie.

  12. „Ich nenne das: Regieren durch Angst“, Interview mit Wolfgang Merkel, 14.10.2020, Externer Link: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-10/corona-politik-demokratie-angela-merkel-regierung-pandemie-wolfang-merkel.

  13. Vgl. Annegret Frankewitsch, Gesetze der Angst, in: Lanfer/Schnell (Anm. 3), S. 267–292.

  14. Wolfgang Bergsdorf, Politik und Angst, in: Franz Bosbach (Hrsg.), Angst und Politik in der europäischen Geschichte, Dettelbach 2000, S. 13–28, hier S. 19.

  15. Vgl. Alexander Schwitteck, „Ich will, dass ihr in Panik geratet!“ Angst, Furcht und Sorge in der Klimakrise, in: Lanfer/Schnell (Anm. 3), S. 223–250. Zu Klimaangst siehe auch den Beitrag von Stephan Heinzel et al. in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  16. Vgl. dazu z.B. Georgios Terizakis/Nick Nestler/Kai Denker, Angstpolitik und neurechte Meme: Narrative der Angst als Instrument der (vor-)politischen Kommunikation, in: Lanfer/Schnell (Anm. 3), S. 335 –359.

  17. Einige Beispiele politischer Angst gibt Klaus Ottomeyer, Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen, Gießen 2022.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Bärbel Frischmann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt. Ihr Buch "Angstwesen Mensch. Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten" erschien 2023 bei J.B. Metzler.