Ich schreibe seit einigen Jahren über Rassismus. Als ich anfing, war ich überzeugt, dass vor allem mehr Bewusstwerdung notwendig ist, um ihn zu bekämpfen. Alle, ob betroffen oder nicht, bräuchten einfach mehr Begriffe, Empathie und Geschichten, um zu verstehen, wie sich Diskriminierung in dieser Welt äußert. Wir waren als Gesellschaft schließlich schon so weit gekommen, dass die meisten Menschen Rassismus ablehnten, selbst wenn diese Haltung nicht immer durch ihre Worte und Taten reflektiert wurde. Der Wille war also da, es fehlte nur noch das Werkzeug zur richtigen Umsetzung. Es brauchte die Erkenntnis, dass Rassismus mehr ist als nur extremistische Nazi-Ideologie, sondern sich auch in unbewussten, alltäglichen Handlungen äußert und in unseren Strukturen festsitzt, historisch so gewachsen. Wenn eine Gesellschaft das verstehen würde, dann könnte sie sich an die Umsetzung von Maßnahmen machen, die wirklich etwas verändern würden.
Doch in den Jahren meiner Tätigkeit musste ich feststellen, dass das Bewusstsein zwar stieg, der Rassismus dadurch jedoch nicht kleiner wurde. Einige Statistiken deuten sogar auf das Gegenteil hin.
Auf Naivität folgt Angst
Hätte ich vor fünf Jahren den Auftrag bekommen, einen Text über Angst und Rassismus zu schreiben, dann hätte ich wahrscheinlich zunächst über meine Kindheit geschrieben. Die 1990er Jahre sind heute bekannt als Baseballschlägerjahre, weil rechte Hasskriminalität in der Zeit nach der Wiedervereinigung anstieg.
Meine Angst vor Rassismus hat sich zwar mit der zunehmenden Gewalt vertieft. Jedoch nicht in der Form, dass mein Herz noch schneller pocht als zuvor, wenn ich in einer Regionalbahn durch Brandenburg fahre. Sondern weil ich unterschätzt habe, mit was für einem Biest wir es tatsächlich zu tun haben. Es ist wie der Moment in Horrorfilmen, wenn der Held meint, das Monster endlich totgeschlagen zu haben. Kurz liegt es reglos am Boden. Und während der Held sich keuchend, aber erleichtert abwendet, sich mit letzter Kraft den Schweiß von der Stirn wischt, sehen wir schon, wie es hinter ihm wieder anfängt zu zucken. Das Monster bäumt sich auf, größer und zerstörungswütiger als zuvor. Nicht nur das, all die im Kampf abgeschnittenen Gliedmaßen haben nicht zum Tod, sondern schlicht zur Reproduktion geführt. Jetzt ist es eine ganze Monster-Armee.
Ich weiß, dass dieses Monster eine physische Bedrohung für mich darstellt, dennoch sorge ich mich an den meisten Tagen nicht um meine körperliche Unversehrtheit. Ich verlasse die Tür, ohne damit zu rechnen, rassistisch beleidigt zu werden. Im Alltag fühle ich mich relativ sicher. Das liegt daran, dass ich mich meist in Filterblasen aufhalte und diese wenig verlasse. Genauso beteilige ich mich weniger an Diskussionen auf Social Media, blende sie stattdessen lieber aus, weil mir in den vergangenen Jahren bewusst geworden ist, wie sehr sich der Hass im Netz auf meine psychische Gesundheit niederschlägt. Damit bin ich nicht allein. Demokratische Stimmen entziehen sich zunehmend Online-Diskussionen, wie eine Studie von 2024 belegt.
Momentan befürchte ich, dass etwas Gravierenderes passieren könnte als direkte Angriffe auf meine Person. Ich habe Angst vor dem politischen und kulturellen Wandel, bei dem nicht mal mehr versucht wird, Rassismus zu bekämpfen, sondern der Kampf sogar aktiv unterbunden wird. Vielleicht klingt das für einige dramatisch, wie Hysterie und Panikmache. Vielleicht ist es aber auch eine logische Prognose angesichts dessen, was gerade passiert. Noch äußert sich diese Angst bei mir persönlich vor allem in Form von Albträumen. In der Nacht sehe ich brennende Häuser und zerborstene Fensterscheiben. Rennende Beine im Überlebensmodus. Niemand hilft. Eine Angst, die mich nur im Schlaf heimsucht, jedoch für andere in diesem Land schon Realität geworden ist.
Wenn die Angst in Form einer Vorahnung auftaucht, dann ist ihr meist ein Verlust von Naivität vorausgegangen. Meine Angst hat sich vertieft, weil ich mich hilfloser fühle als zuvor. Weil ich mich dafür schäme, gedacht zu haben, es würde leichter sein, Rassismus zu bekämpfen. Weil ich lange Zeit nicht sehen konnte, wie strategisch die Rechte agiert. Ihre Netzwerke. Ihre Pläne. Ihr Geld. Ihre Loyalität zueinander. Sie gewinnen gerade. Der reichste Mann der Welt wirbt für die AfD, abgedruckt in einer deutschen Zeitung, die zum mächtigsten Nachrichtenkonzern dieses Landes gehört.
Angst ist kein Beweis
Angst an sich ist kein überzeugendes Argument. Sie allein reicht nicht, um wachsende Gefahren zu beweisen. Denn sie ist ein subjektives Gefühl, das genauso durch Tatsachen ausgelöst werden kann wie durch Lügen. 2014 gründete sich die antimuslimische Bewegung Pegida, die die Islamisierung des Abendlandes befürchtete. Sie mobilisierte Personen, indem sie Angst schürte. Als ein Jahr später mehr als eine Million Menschen, zum Großteil aus Ländern mit muslimischer Mehrheit, in Deutschland ankamen, um Asyl zu beantragen,
Der starke Anstieg an Geflüchtetenzahlen war insbesondere für Kommunen oftmals anstrengend und überfordernd, da in kurzer Zeit viel Hilfe organisiert werden musste, was nicht immer reibungslos gelang.
Man müsse die Ängste der Bürger aufnehmen, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) als Reaktion auf Pegida.
Deutschland versucht immer wieder, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Die Antwort auf rassistische Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre hieß Asylkompromiss.
„Die Werkzeuge des Herrschers werden das Haus des Herrschers nicht demontieren.“ Das sagte die afroamerikanische Aktivistin, Dichterin und Autorin Audre Lorde bereits 1979.
Diese politische Linie zeigt, dass Gefühle einen größeren Stellenwert in der Politik eingenommen haben als Tatsachen. Es stimmt, dass eine Gesellschaft, die laut Zahlen und Statistiken zwar stabil scheint, sich jedoch nicht so anfühlt, kein zufriedenstellender Zustand ist. Allerdings kann die Lösung nicht sein, Tatsachen an Emotionen anzupassen. Es muss immer umgekehrt sein. Wer versucht, Angst abseits von der Wahrheit zu bekämpfen, wird immer neue säen. Denn je mehr die Politik versucht, die von rechtsaußen geschürte Angst zu beruhigen, desto mehr Angst bekomme ich, bekommen diejenigen, die von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit betroffen sind.
Angst gilt als ein typisch deutsches Gefühl – so sehr, dass „Angst“ mittlerweile ein Germanismus im Englischen ist. German Angst ist seit Ende des 20. Jahrhunderts ein feststehender Begriff, um die ausgeprägt nervöse Reaktion auf jegliche Veränderung in diesem Land zu beschreiben.
Viel entscheidender als die Angst selbst ist jedoch der Umgang mit ihr. Auf welche Reflexe greift man zurück? Die bekanntesten Reaktionen auf Angst sind Kampf, Flucht oder Erstarren – fight, flight or freeze heißt die englische Alliteration dazu. Weniger bekannt ist, dass neben diesen drei Impulsen auch ein vierter auftreten kann. Im Englischen nennt man ihn fawn – wie das Rehkitz. Ist die Bedrohung zu groß, um sie zu bekämpfen, reagieren Opfer in diesem Fall mit dem Versuch, es den Angreifer*innen recht zu machen und schnellstmöglich wieder Harmonie herzustellen. Fawn wird im Deutschen entweder mit „Anpassung“ übersetzt. Oder mit „Unterwerfung“.
Es ist diese Reaktion, die ich in der deutschen Bevölkerung und in der Politik zu erkennen meine. Man priorisiert die Wiederherstellung eines Zusammenhalts und opfert dafür die Wahrheit. Die Spaltung in der Gesellschaft wird stärker beklagt als die Verbreitung von rassistischer Desinformation und antisemitischen Verschwörungsmythen. Das macht mir Angst. Ich merke, wie sie seit einigen Jahren stetig in mir wächst. Durch die Ermordung von Walter Lübcke, den Anschlag in Halle und die Attacke in Hanau. Aber auch durch den Stimmungswechsel in diesem Land, den der 7. Oktober 2023 ausgelöst hat.
Rassismus und Antisemitismus nach dem 7. Oktober
Ein paar Tage nach dem 7. Oktober 2023 ging ich spazieren und kam an einem Fußballplatz vorbei, auf dem gerade Jugendliche ein Turnier spielten. Um den Platz herum parkten Polizeiautos. Beamte standen auf der kleinen Tribüne. Viele der Jungs auf dem Platz hatten meiner Beurteilung nach Migrationshintergrund. Ich vermutete, dass die Präsenz der Polizei so groß war, weil sie sicherstellen wollte, dass während des Spiels keine antisemitischen Symbole auftauchten, oder solche, die Solidarität mit Palästinenser*innen ausdrückten. Kurz nach dem Terroranschlag in Israel wurde kaum zwischen Palästina-Solidarität und Hamas-Verherrlichung unterschieden. Ehrlich gesagt sind wir auch heute in dieser Hinsicht kaum weitergekommen.
Als ich die Polizei das Fußballspiel bewachen sah, stiegen mir Tränen in die Augen, von denen ich selbst überrascht war. Ich war traurig und wütend, diese Jungs unter Generalverdacht zu sehen. Ich machte mir Sorgen: Ob das Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wurde, wiederum ihr eigenes Misstrauen gegenüber dieser Gesellschaft und ihren Institutionen schüren würde? Ihr Zugehörigkeitsgefühl verunmöglichen würde? Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass dieser Anblick mich an eine alte Wunde erinnerte, die ich selbst verdrängt hatte: Die Zeit nach dem 11. September 2001. Als sich der Blick auf muslimische Menschen hierzulande veränderte. Als sie auf einmal nicht mehr als Menschen, sondern vor allem als Bedrohung gesehen wurden. Ich musste an muslimische Freunde und Bekannte von damals denken, die sich immer mehr verhärteten bei dem Versuch, die eigene Würde zu bewahren. Gerade muslimische Jugendliche mussten damals durch eine Welt zwischen gesteigertem Rassismus und Islamismus navigieren. Manche schafften das nicht. Es hatte so viel Arbeit gekostet, diese Zeit zu überwinden. Und nun war sie wieder da, befürchtete ich.
Ich beschreibe diese Szene, meine mit ihr verbundenen Sorgen, und muss gleich eine Klarstellung hinterherschicken. Der Anschlag vom 7. Oktober galt Israelis, vor allem Jüd*innen. Ich mache mir große Sorgen um den wachsenden Antisemitismus in diesem Land. Ich halte ihn nicht für ein minderes Problem, und das ist die Wahrheit. Doch dass ich das so klarstelle, rührt aus der Angst heraus, dass meine Bedenken zu antimuslimischem Rassismus sonst als antisemitisch gewertet würden. Weil sie als false balance, eine Täter*innen-Opfer-Umkehr oder sonstige Verzerrung verstanden werden könnten. Das beweist schon, dass Angst längst unseren Diskurs bestimmt. Meine Erwähnung von Antisemitismus ist zu einer Fawn-Reaktion verkommen; sie dient der Vermeidung eines Konflikts, der Verhinderung eines eventuellen Angriffs. Meine Erwähnung von Antisemitismus wird dem sich ausbreitenden Antisemitismus nicht gerecht. Sie ist feige. Ich bin feige, wie dieses Land, das mich großgezogen hat.
Seit dem 7. Oktober scheinen sich die Bekämpfung von Rassismus und die Bekämpfung von Antisemitismus antagonistisch gegenüberzustehen. Als würde der Schutz der einen Gruppe bedeuten, dass man die andere in Unsicherheit versetzen müsste. Dabei wissen wir genau, dass sich beides gegenseitig bedingt. Es war schon immer so. Auch nach dem 11. September übrigens, als sich neben der grassierenden Angst vor Islamismus antisemitische Verschwörungsmythen verbreiteten, in denen behauptet wurde, dass es jüdische Kräfte sein müssten, die hinter dem Anschlag auf das World Trade Center steckten.
Bisher sehe ich in diesem Land bis auf wenige Ausnahmen kaum ein ehrliches Interesse, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Mir scheint es vor allem darum zu gehen, der Ich-Angst entkommen zu wollen. Antisemitismus-Vorwürfe treffen seit dem 7. Oktober viele Menschen, die das Vorgehen der israelischen Regierung und des Militärs verurteilen.
Angst macht leise. Angst macht feige. Angst wächst durch Vermeidung, manchmal so sehr, dass sie eventuell nicht mehr in Schach zu halten ist. Das ist, wovor ich mich fürchte. Vor Angst, die es nicht schafft, in Mut umgewandelt zu werden. Denn sie verzerrt die Sicht. Auf einmal sieht man Monster statt Menschen. Angst, die Schutz vor allem in der Härte sieht, verändert das Verhalten. Auf einmal wird man selbst zum Monster, weil man um seine Existenz fürchtet. Auf einmal ist das die neue Existenz. Auf einmal muss die Angst nun aufrechterhalten werden, weil man sonst nicht mehr weiß, wer man ist. Auf einmal dreht sich das Leben nur noch darum, diese Angst zu bestätigen. Das ist, was ich befürchte. Das ist, was mir Albträume macht.
Meine Sorge ist, dass wir alle langsam zu Monstern werden, mit der Absicht, Monster zu bekämpfen – oder vielmehr, sie zu beruhigen. Und dass es am Ende genau dieser Umstand ist, der Antisemitismus und Rassismus in die Höhe treibt. Dass die Deutschen in ihrer Rückkehr zu den alten Reflexen letztendlich Jüd*innen die Schuld geben werden für ihren Rassismus und für die deutsche Verstrickung in Kriegsverbrechen durch Waffenlieferungen.
Wir brauchen Verantwortung und Mut. Dies ist ein Versuch, beides zu demonstrieren. Sprechen allein, Worte finden allein, wird uns nicht retten. Doch wenn wir den Versuch aufgeben, das, was passiert, zu erklären; aufhören aufzuklären, aufhören, Zeugnis abzulegen; wenn wir aufhören zu versuchen, unsere eigenen Worte zu finden, und stattdessen die der Rechten übernehmen – dann hat die Angst schon gesiegt. Wissen hilft nicht gegen das Gefühl der Angst, vielleicht bekommt sie durch Erkenntnisse sogar klarere Konturen. Aber Wissen macht einen stark gegen die Verführung, der Angst nachzugehen. Ich hoffe, es kann sich durchsetzen, im Rauschen von Desinformation und Emotionen. Wissen hat die Kraft, Dinge zu verändern. Ein feiges Land muss nicht für immer feige bleiben.
Ich denke an die afrodeutsche Lyrikerin May Ayim, die sich in ihrem Gedicht „grenzenlos und unverschämt“ vornahm, aller Zuschreibungen von außen zum Trotz einen Schritt weiterzugehen. Und noch einen. Dorthin, wo ihre Schwestern sind, wo ihre Brüder stehen, wo ihre Freiheit beginnt. Vielleicht werden wir eines Tages diese Schritte gemeinsam gehen, bis wir so einen weiten Vorsprung vor der Angst haben, dass wir unsere Entscheidungen nicht mehr auf ihrer Grundlage treffen müssen. Vielleicht ist der Kampf gegen das Monster irgendwann einmal gewonnen. Dann können wir endlich aufhören gegen das zu kämpfen, was wir nicht sein wollen, und uns beginnen zu fragen, wer wir sein möchten.