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Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke | APuZ 30/1961 | bpb.de

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APuZ 30/1961 Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke Antwort an Heinrich Geissler

Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke

WALTER BUSSMANN

Zwischen der im allgemeinen resignierenden Stimmung, in der die Zeitgenossen den Untergang des alten Reiches erlebten und der wenige Jahre später aufkeimenden Sehnsucht nach „Kaiser und Reich“ hatte sich ein bemerkenswerter Wandel des Bewußtseins vollzogen. In einer jüngsten Darstellung dieser Epoche deutscher Geschichte, die Kurt von Rauner zum Verfasser hat, ist mit Recht gesagt worden, „die Auflösung des Reiches habe unter den Deutschen keinen Aufschrei, keine tiefe Empörung, ja nicht einmal einen stillen nagenden Schmerz ausgelöst, der die Menschen in all ihrer Ohnmacht, den Gang der Dinge aufzuhalten, erfüllt hätte" Und die Stimmen, wie die der Frau Rat Goethe, müsse man förmlich suchen. Goethes Mutter schrieb damals an ihren Sohn: „Mir ist übrigens zumute, als wenn ein alter Freund sehr krank ist. Die Ärzte geben ihn auf, man ist versichert, daß er sterben wird und mit aller Gewißheit wird man doch erschüttert, wenn die Post kommt, er ist tot. So geht's mir und der ganzen Stadt — gestern wurde zum ersten Male Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelassen — Illuminationen, Feuerwerk und dergleichen, aber kein Zeichen der Freude, es sind wie lauter Leichenbegängnisse, so sehen unsere Freuden aus.“

Bevor Franz II. die römische Kaiserkrone mederlegte, waren bereits zwei neue Kaiser-würden entstanden: Als „Römisch und Österreichisch-Kaiserliche, auch Königlich-Apostoische Majestät“ hatte Franz II. 1804 das neue österreichische Erbkaisertum für den gesamten Herrschaftsbereich des Hauses Habsburg-

othringen geschaffen Es entstand in innerem usammenhang mit der Kaiserkrönung Napoeons, die im Beisein des Papstes stattfand, wo-bei karolingische Erinnerungen und Anknüpfungen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, auch wenn sich der Korse mit dem Titel eines „Kaisers der Franzosen“ begnügen mußte.

Der bedeutende österreichische Historiker Ritter Heinrich von Srbik, der den ebenso bewundernswerten wie problematischen Versuch einer gesamtdeutschen Geschichtsschreibung — und zwar vor 1933 — unternommen hat, leugnet durchaus nicht, daß die österreichische Kaiserwürde von 1804 „dem rationalistischen Absolutismus dynastischen Denkens“ entsprungen sei. Bei den neu entstandenen Königswürden der Mittelstaaten handelt es sich bekanntermaßen um den gleichen Ursprung. Es ist zu bedenken, daß zur politischen Wirklichkeit, zum politischen Erlebnisbereich der Generation von 1800 neben den Erfahrungen der napoleonischen Herrschaft in erster Linie der Einzelstaat gehörte. — Srbik begnügte sich indessen keineswegs mit dem Hinweis auf den Eigenstaatscharakter des österreichischen Kaiserhauses, sondern ergänzt ihn, bzw. legt den größeren Nachdruck auf das Fortwirken einer universalen Kaiser-und Reichsidee im Gange der Geschichte des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch der Habsburgischen Monarchie im ersten Weltkriege. Niemals in seiner ganzen Zukunft habe „Österreich das geistige Erbe von Kaiser und Reich ganz verlieren können" „Von sinnbildlicher Bedeutung" sei es gewesen, „daß das alte römisch-deutsche Kaiserbanner, der doppelköpfige schwarze Adler auf Gold, das Wappen Österreichs wurde, und daß die alte, Nürnberger'

Reichskrone . . „mit der noch Franz II. in Frankfurt gekrönt worden war, seit dem Jahre 1800 in der Schatzkammer zu Wien ruhte und hier verblieb ...“ So habe sich „der deutsche Kaiser-und Reichsgedanke gleichsam nach dem Südosten geflüchtet, der in engster Gemeinschaft mit dem alten Reich zur Großmacht geworden war.“ Der weltanschaulich-politische Hintergrund dieser bedeutenden Wiener Historiographie zeichnet sich in der Feststellung ab: „Das Reich blieb, wenn auch nicht die deutsche Lebensform, so doch die . Denkform'auch der Neuzeit“ Es wäre — ohne alle Polemik — notwendig zu untersuchen, wann, auf welche Weise und von wem dieser Gedanke zum Ausdruck gebracht worden ist.

Mittelalterliches Idealbild

Im großen Zusammenhang der deutschen Romantik haben sich an „Kaiser und Reich" Gedanken und Wünsche geknüpft, die einen zwingenden Einfluß auf das Empfinden großer Teile der nächsten Generationen ausgeübt haben. Und es wurde charakteristisch für die inzwischen eingetretene Veränderung gegenüber der bisherigen Beschäftigung mit dem Reich, für den Gegensatz zum bisherigen Reichspatriotismus, dessen räumliche und soziale Grundlagen vor allem im deutschen Südwesten lagen, daß sich das neue „romantische Interesse" nicht den so-genannten Verfallszeiten, sondern einem Ideal-bild mittelalterlicher Größe und Herrlichkeit zu-5) wandte, „wo ein Hirt gewesen war und eine Herde, ein Gott, ein Reich und ein Kaiser"

Den Mittelalterauffassungen der Schlegel, Görres und Adam Müller kommt in der Geistesgeschichte ihre Bedeutung zu; der Universalismus dieser geschichtlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Konzeptionen hat das geistige Leben Deutschlands stark befruchtet und ging ein in das Fundament, welches das katholische Gedankengebäude tragen sollte. In der geistigen Landschaft ragen aber nicht nur die Gipfel hervor, deren geistige Bewältigung zu den geläufigen Aufgaben einer Geistes-und Literatur-

geschichte gehört. So ist es die Frage, ob nicht — um nur ein Beispiel zu nennen — etwa Rükkerts Lied vom „alten Barbarossa", „der niemals gestorben“, den Kaiser-und Reichsgedanken dem Empfinden der Zeitgenossen am Ende stärker eingeprägt hat, als subtile Geschichtsphilosophien. Der Erlebnisbereich zwischen dem nördlichen und südlichen Deutschland spielt in diesem Zusammenhang selbstverständlich eine belangvolle Rolle. Es mag dahingestellt sein, ob und in welcher Stärke sich etwa Verbindungslinien von jenem unromantischem Reichspatriotismus des 18. Jahrhunderts zu der neuen romantischen und romantisierenden Rückerinnerung an das Reich des Mittelalters nachweisen lassen. — Unabhängig von der nicht gleichbleibenden Bedeutung, die jeweils dem „Reich“ innegewohnt hatte, und unabhängig auch von der wechselnden Geschichte der Beziehungen zwischen Kaiser und Reich, waren beide Begriffe um so geeigneter, eine werbende Kraft zu entwickeln, je unpräziser oder auch je tautologischer sie verwendet wurden. Mit der Nationalisierung und Politisierung wuchs die politische Verwendbarkeit dieser Begriffe erst recht.

Im Bereich der Historiographie erreichte Räumers 1823 verfaßte „Geschichte der Hohenstauffen“

ihre Breitenwirkung nicht allein, aber doch nicht unerheblich deshalb, weil der große Gegenstand der Zeit und ihrem geheimen, auf historische, einheitliche nationale Größe gerichteten Wunsche entsprach. Grabbes Kaiserdramen erschienen nach Räumers Werk.

Es würde indessen dem geschichtlichen Sachverhalt nicht entsprechen, wollte man in der Entstehung sowie in der allmählichen Festigung des Nationalgedankens, etwa im Wege vom „Weltbürgertum zum Nationalstaat" oder in der Nationalisierung des „Reiches" den Gesamtinhalt der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert wiederfinden. Nur unter dem besonderen Gesichtspunkte meines Themas will ich versuchen, die fortwirkende, wenn auch wechselnde Problematik dessen, was das Reich war und was man darunter verstand, zu veranschaulichen. Über dem Streben nach einer größeren politischen Gemeinschaft, dessen literarische Spuren so leicht nachweisbar sind, darf nicht vergessen werden, daß der konkrete Erlebnis-und Erfahrungsbereich des überwiegend agrarisch strukturierten deutschen Volkes — und besonders vor der Entwicklung des Eisenbahnwesens — an den historischen Einzelstaat gebunden war. Hinzu kam noch ein moderner Zug: Der Dynast dieses Einzelstaates, dessen neue Grenzen aus der großen napoleonischen Umgestaltung Deutschlands hervorgegangen waren, dieser Dynast hatte seinem Lande eine Verfassung gegeben und damit einen staatlichen Kristallisationsfaktor von einigender Kraft geschaffen. Dynastische Anhänglichkeit und einzelstaatliches Selbstgefühl blieben beharrende Kräfte in der trotzdem zum Nationalstaat drängenden allgemeinen Strömung.

Der nationale Gedanke hat auf verschiedenen Wegen nach Ausdruck oder besser: nach „Selbstdarstellung" gesucht. Dieses Bemühen vollzog sich in den monumentalen Formen, die dem ästhetischen Empfinden des Jahrhunderts durch-weg entsprach. So schien der Anschluß an die Geschichte greifbar gegeben zu sein, als man zu Beginn der vierziger Jahre (1842) die festliche Grundsteinlegung zum Ausbau des Kölner Domes beging. Es war charakteristisch und wurde auch so empfunden, daß man das Sinnbild der deutschen Geschichte im unvollendeten Kölner Dom fand In zeitlichem und innerem Zusammenhang mit dem Kölner Dom stand in Bayern die Einweihung der Walhalla, des „Tempels deutscher Ehren", wozu Ludwig I. die Anregung gegeben hatte. In der Monumentalität der Figuren sollten sich Größe und Einheitlichkeit der deutschen Geschichte seit Hermann dem Cherusker widerspiegeln. Und in denselben Zusammenhang fällt auch der Beginn der Sammlungen für das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Hingewiesen werden soll darauf, daß in jenen Jahren (1840) die beiden Lieder „Wacht am Rhein“ und „Deutschland, Deutschland über alles“ entstanden, die erst viel später, im Kampf um das neue Deutsche Reich, populär wurden und gesungen wurden, bis schließlich der erste Präsident der deutschen Republik das Deutschlandlied zur Nationalhymne erklärte.

In den Jahrzehnten zwischen 1815 und 1848, in den Jahren eines friedlichen Dualismus zwischen Preußen und Österreich im Rahmen der europäisch garantierten Friedensorganisation des Deutschen Bundes und auf dem Felde der europäischen Politik, wurde die Frage nach der Macht, mit deren Hilfe die beiden Ideale Einheit und Freiheit verwirklicht werden könnten, zum Gegenstand eines vielseitigen politischen Schrifttums. — Dem allmählich in Süd-und Norddeutschland durchdringenden Gedan-ken einer preußischen Führung in Deutschland stand allerdings die „schlechte Wirklichkeit“ dieses Staates entgegen, aber ein durch die Phi-losophie gebildetes Geschlecht hatte Grund, an die Reformfähigkeit dieses Staates zu glauben. Der Gedanke, die historische Staatspersönlich-keit Preußens müsse geopfert werden, damit ein Hohenzoller an die Spitze eines Deutschen Rei-ches treten könne, verschwand von nun an nicht mehr aus den politisch-historischen Diskussionen. Es ist interessant zu beobachten, wie seit 1815 dieselbe Vokabel des Reiches mit sehr verschiedenem Inhalt gefüllt werden konnte. Der universale Gehalt wich jedenfalls vor der aufsteigenden nationalen Flut zurück, aber das romantische Bild von alter „Reichseinheit" und „Reichsherrlichkeit" hatte immerhin so tiefe Wurzeln geschlagen, daß es schwer fiel, sich nach Maßgabe solcher Erinnerungen und Bilder einen Staat vorzustellen.

Die Politisierung bedeutet zugleich eine Nationalisierung. Das Reich gewinnt außerdem liberale Züge, und dieses liberale Reich ist nicht mehr ohne Macht zu denken. Daß „Freiheit ohne Macht nicht möglich sei“, hatte auf Grund der Erfahrungen, die der Vormärz reichlich zur Verfügung gestellt hatte, Georg Gottfried Gervinus am Vorabend der deutschen Revolution von 1848 in einer vielbesuchten Vorlesung über Politik ausdrücklich festgestellt: „Das ist das Ein und Alles in Deutschland, daß wir uns nur in Masse, und nur in Masse, und nur im Ganzen bewegen, weil nur im Ganzen Macht gelegen ist, und weil es uns um Erwerb von Macht ebenso zu tun sein muß, wie um den Besitz von Freiheit.“ Die beiden großen, innerlich so konträren Vorgänge, der Reichsgründungsversuch von 1848, und die Bismarcksche Reichsgründung sollen auf ihre Grundzüge und Merkmale hin behandelt werden.

Verblaßtes Panorama von 1848

Einem europäischen Zusammenhang zugehörig, folgte die deutsche Revolution ihrer besonderen psychologischen Gesetzlichkeit. Sie hatte keinen einheitlichen Schauplatz, wie ihn etwa Frankreich in Paris besaß. Unter den mannigfachen Gründen, die zum Zusammenbruch des Versuchs, einen deutschen Staat vom Volke her aufzubauen, beigetragen haben, kommt diesem Sachverhalt eine nicht geringe Bedeutung zu. Der Ablauf der revolutionären Ereignisse vollzieht sich in Berlin, Wien sowie in einer Reihe deutscher Residenzen, allerdings auf eine sich ähnelnde Weise. Die sozialen Träger dieses Geschehens sind überall die gleichen. Die in der Frankfurter Paulskirche versammelte geistige Elite des deutschen Volkes sah sich vor die praktische Aufgabe gestellt, die konkurrierenden Ideale von Freiheit und Einheit gleichzeitig zu verwirklichen, bzw. wie man gesagt hat, „die Arbeit des allgemeinen Geistes, die seit 33 Jahren in Deutschland geschehen sei, zu legalisie-ren“ In einem Katalog der Grundrechte hat dieser allgemeine Geist seinen großartigen und bleibenden Niederschlag gefunden.

Zu den offenen Fragen, die die geschehene Geschichte hinterläßt, gehört auch die, ob es möglich gewesen wäre, den März-Schock, vor dem die alten Gewalten kampflos zurückgewichen waren, energisch auszunutzen, oder auch die, ob das Preußen Friedrich Wilhelms IV. die Chancen, die sich ihm boten, verpaßt habe. Bei jeder Darstellung dieser Ereignfsse müssen wir bedenken, daß unser Urteil abhängig ist von unserer Kenntnis des Weges, den die Geschichte seit diesem Epochenjahr eingeschlagen hat. Wir kennen die Weichen, die gestellt wurden. Es handelt sich um das größere Wissen, das wir den Zeitgenossen voraus haben und das nicht immer der historischen Urteilsbildung zugute kommt. Das deutsche Erinnerungsbild, das das Panorama von 1848 aufbewahrt, ist bekanntermaßen sehr rasch verblaßt — auch gerade bei dem deutschen Bildungsbürgertum, das den stärksten sozialen und geistigen Anteil am Geschehen des Epochenjahres gehabt hat. Das Nationalgefühl sollte bei ganz anderen Ereignissen als bei dem vorübergehenden Sieg des Bürgertums über das Institut des stehenden Heeres, das ein echtes Angriffsziel der Revolution gewesen war, verweilen. Durch die Reden des Pauls-Parlaments klingt ein nationales Selbstgefühl, das um so lauter tönt, als es unter dem Bewußtsein der späten Stunde der geschichtlichen Entwicklung steht. Vor allem schien der Konflikt um Schleswig-Holstein geeignet, der Revolution den großen, legitimierenden außenpolitischen Erfolg zu geben, aber gerade in dieser Frage erlebte das Parlament ohnmächtig die Abhängigkeit vom preußischen Staat und seinem Heer sowie von der europäischen Politik. Das eigentümlich nationale und sittliche Pathos der Abgeordneten, von denen viele aus der Burschenschaft hervorgegangen und von ihr geprägt waren, brach an dieser Stelle durch und vereinfachte auf gefährliche Weise die höchst komplizierte außenpolitische Lage. Eine nationale und moralische Gefühlspolitik sollte oftmals noch die liberale Auseinandersetzung mit fremden Mächten kennzeichnen. Als nämlich Preußen aus Gründen des Staatsegoismus bzw.der Staatsräson vor der drohenden europäischen Intervention zurückwich und den Waffenstillstand von Malmö ab-schloß, wehrte sich das leidenschaftliche National-und Ehrgefühl des Parlaments gegen eine solche Demütigung vor der europäischen Politik. „Die Fragen des nationalen Grenzkampfes und der nationalen Ehre“, wie man ein solches Verhalten gekennzeichnet hat, waren maßgebender als die Einsicht in die Politik des europäischen Staatensystems. Die Bereitschaft zu einem allgemeinen Krieg, zu einer „deutschnationalen Erhebung .. wie sie vielleicht die Weltgeschichte noch nicht gesehen habe", zeigte sich gerade auf der linken und demokratischen Seite. Es handelt sich hierbei um die Entwicklungslinie einer militanten, demokratischen Gesinnung, die im und durch den Verlauf der Reichsgründung abgebrochen worden ist. „Lieber“, so rief Robert Blum, „lieber sollte man in Ehren untergehen . .

Es sei darauf hingewiesen, daß eine solche nationalistische, demagogische Leidenschaft allerdings nicht frei von innerpolitischen Berechnungen war, denn auf dem Umwege über den großen Krieg sollte das bislang unerreicht gebliebene, vom Parlament ja gerade verhinderte radikaldemokratische Ziel der Revolution doch noch erreicht werden An der Radikalisierung der Französischen Revolution im Jahre 1793 orientierte sich sowohl das Wunschdenken der Radikalen als auch die Furcht der Gemäßigten, wie ja überhaupt die Erinnerung an die Grande Revolution, belebt von einer aufblühenden Literatur, den Gang der Geschichte im 19. Jahrhundert und das politische Denken unsichtbar begleitet hat.

Wunsch nach einem starken Staat

Das Erlebnis der Machtlosigkeit gegenüber Dänemark, noch dazu einem „kleinen“ Staat, wie Dänemark einer war, hat für die Geschichte des deutschen Nationalgefühls eine bestimmende Bedeutung gewonnen, und man darf sagen, daß Schleswig-Holstein für seine Entwicklung wichtiger war als das Elsaß, das zu Beginn des deutsch-französischen Krieges fast unvermittelt in den Mittelpunkt des nationalen Wünschens gerissen wurde. Dafür ein einzelnes biographisches Beispiel: Der junge Heinrich vonTreitschke, der wenige Jahre später (1852) sein Studium in Bonn begann, empfing nachhaltige Eindrücke aus dem Verkehr mit Kommilitonen, die soeben noch als Offiziere gegen Dänemark gekämpft hatten. Sein Nationalgefühl und das seiner Generation reagierte um so reizbarer, je mehr es sich mit dem Komplex der „unbesiegt Unterliegenden verband, wie die Soldaten gegen den dänischen Kleinstaat bezeichnenderweise von ihm genannt wurden. So wurde der Sieg eines Kleinstaates, dem die Gunst der europäischen Konstellation zugute gekommen war, geradezu zu einem Trauma eines leidenschaftlichen, unbe-

friedigten Nationalgefühls; „Flotte“ und „See-macht“ wurden die Forderungen an die Zukunft, Zusammenfassend darf man sagen: mochten die Vorstellungen über den Staat, den es zu begrün-

den galt, auch noch so verschieden sein, so stimmten doch alle Vorstellungen darin überein, daß dieser Staat groß und stark sein sollte. Aus der Geschichte, die allerdings sehr verschieden interpretiert wurde, zog man jedenfalls diese Konsequenz.

Und gerade das Problem der Stellung der Habsburger Monarchie, für die die Revolution in erster Linie eine Frage der Auseinandersetzung mit den Nationalitäten war, gerade das österreichische Problem wurde der Anlaß zu Entwürfen eines Reiches, die dem Bewußtsein einer welthistorischen Aufgabe entstammten. Gegenüber der sich abzeichnenden Gefahr eines Klein-Deutschlands wurde das Idealbild eines „mitteleuropäischen Riesenstaates" entworfen Die Idee des Reiches, die man nur fortzusetzen glaubte, verband sich oder ging über in eine Mitteleuropa-Konzeption, die von nun an — unter sehr wechselnden Voraussetzungen und mit sehr verschiedenem Inhalt — nicht mehr aus dem politischen Denken verschwand. Einzelne Äußerungen dürfen selbstverständlich nicht verallgemeinert werden, aber sie zeigen doch in ihrer Verbindung und Wiederkehr bestimmte Tendenzen an. Dem „Riesenreich von 70 und womöglich von 80 oder 100 Millionen“, das zu gründen sei, wird von der Geschichte die Aufgabe zugeschrieben, „die Seeherrschaft den Engländern abzuringen". Der Flottengedanke und der Begriff der Seeherrschaft, die um die Jahrhundertwende in den Mittelpunkt einer leidenschaftlichen Diskussion rücken werden, gehören — was schon das Beispiel Schleswig-Hol-steins zeigte — mit auf die geistige Landkarte dieses denkwürdigen Jahres. So ist der gescheiterte Reichsgründungsversuch von 1849 mit Überlegungen über die Sendung, die das neue Reich in der Welt erst legitimieren sollte, reichlich verbunden gewesen und unterscheidet sich in dieser Beziehung wesentlich von der Bismarcksdien Reichsgründung. Zu den Werbemitteln, welche die südöstliche Expansion eines von Österreich geführten Deutschen Reiches gewährleisten und zugleich rechtfertigen sollten, wurden Bildung, Kultur und „deutsche Freiheit“ gerechnet, ein Begriff, der ohne inhaltliche Bestimmung geblieben ist. Als schließlich immer deutlicher wurde, daß sich weder die deutschen Teile Österreichs vom Gesamtstaat trennen, noch daß der habsburgische Gesamtstaat etwa in das neue Reich ausgenommen werden konnte, fand Gervinus in der besonderen österreichischen Missionsidee die historische Rechtfertigung für die nach Ansicht der Mehrheit des Parlaments unvermeidlich gewordene Scheidung: „eine Wiedervereinigung“ sei nicht nur „finis Austriae“, sondern „finis Germaniae", denn dann wäre das Slawentum Sieger geblieben. „Nicht zur Pauls-kirche mit gesenkten Fahnen, Ihr Brüder von Österreich, erwarten wir Euch, sondern wir ersehnen die Stunde, da das Banner von Habsburg von der Kuppel der Sophienkirche wehen wird; wir dürfen Euch nicht in unser Reich aufnehmen und wir wollen es auch nicht, weil, was sein soll, auch gewollt sein will von freien Männern; dafür erwarten wir aber die baldige Kunde von Euren deutschen Erfolgen im Südosten.“

Die parlamentarischen Diskussionen dieses Jahres haben alle Wege und Möglichkeiten deutscher Politik durchdacht, und zwar im Banne eines großartigen Geschichtsbildes. Der Trieb nach nationaler Staatsbildung — hielten viele die Zeit doch für „herangekommen, wo die Nationalitäten . . . sich staatlich zu konzentrieren suchen" —, dieser mächtige Trieb stand in doppeltem Konflikt mit dem Ideal einer deutschen Volkszusammengehörigkeit und schließlich dem Ideal einer Reichsvorstellung, die die einen als verpflichtendes Erbe eines universalen Geschichtsauftrages zu rechtfertigen, die anderen aber als groß-österreichische, undeutsche Machtpolitik anzuklagen sich angelegen sein ließen. Und noch wohnte in diesen Diskussionen der gedanklichen Auseinandersetzung mit den nichtdeutschen Nationalitäten eine Bedeutung inne, die allerdings im Gange der Ereignisse der nächsten Jahrzehnte immer schwächer werden sollte.

Vor diesem Hintergründe schwerer Erfahrungen, die das Revolutionsjahr gebracht hatte, sollte vor allem das Verhalten des deutschen Bürgertums gewürdigt werden, damit die Aus-einandersetzung seiner liberalen Sprecher mit der Bismarckschen Realpolitik gewürdigt und nicht mit Opportunismus verwechselt wird. — Das Bismarcksche Reich von 1871 ist bekanntermaßen nicht vom Volke her, nicht aus der Idee der Volkssouveränität entstanden, vielmehr aus der Vereinigung historisch gewordener, dy-nastisch geprägter und völkerrechtlich selbständiger Staaten. Es entstand mit Hilfe der überkommenen Mittel des Krieges und der Diplomatie. Dem Bewußtsein der Zeitgenossen stand die Bildung eines anderen Nationalstaates nahe: der fast gleichzeitig entstandene italienische Einheitsstaat hatte einen mehrschichtigen Ursprung, und diese Mehrschichtigkeit sollte für seine europäische Reputation bedeutungsvoll werden; er ging sowohl aus Koalitionskriegen mit kriege ischem Gewinn als auch aus Volks-abstimmungen hervor, und in seiner Entstehungsgeschichte fehlt auch nicht das populäre Element in Gestalt der von Garibaldi geführten Freischaren. Beide Erscheinungen sind übrigens dem europäischen Bewußtsein vertraut: der Koalitionskrieg (1859) ist die geläufige Form des Krieges, während das Plebiszit den westeuropäischen Bedürfnissen nach demokratischer Legitimierung staatlicher Macht entspricht. In der Erinnerung der öffentlichen Meinung ist schließlich die militärische hinter der plebiszitären Komponente der italienischen Staatsbildung zu-rückgetreten Im Verlauf der deutschen Staatsgründung hatte — jedenfalls im Stadium der Erweiterung der Norddeutschen Bundesverfassung zur Deutschen Reichsverfassung — das parlamentarische Moment nur eine geringe, keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Die von den Regierungen vereinbarte Verfassung konnte von den parlamentarischen Körperschaften nur en bloc abgelehnt oder angenommen werden. Von allen staatsrechtlichen Kontroversen über die Natur des Deutschen Reiches abgesehen — es entstand als „Bundesstaat“ mit einem Präsidium, das der König von Preußen inne hatte, und die Umbenennung von Präsidium und Bund in Kaiser und Reich sollte diesen auf zum Teil komplizierten diplomatischen Wege zustande gekommenen Verfassungsbau vollenden 16a). —

Einigende Kraft des Kaisertitels

Ich gedenke keineswegs die Entstehungsgeschichte des Kaisertitels zu untersuchen, die manche bizarre Züge enthält, welche im hellen Lichte des 19. Jahrhunderts befremdend genug wirken. Es erscheint mir aber belangvoll, für einen Augenblick bei zeitgenössischen Interpretationen des Kaisertitels und der historischen Einordnung des neuen Reiches zu verweilen; denn darin kommt ein Teil des nationalen Selbstverständnisses der Reichsgründung Jahrhunderts befremdend genug wirken. Es erscheint mir aber belangvoll, für einen Augenblick bei zeitgenössischen Interpretationen des Kaisertitels und der historischen Einordnung des neuen Reiches zu verweilen; denn darin kommt ein Teil des nationalen Selbstverständnisses der Reichsgründungsgeneration zum Ausdruck.

Daß sich das Altpreußentum gegen die Kaiser-würde wehrte, ist einleuchtend. Ergreifend kam es in dem Widerstande König Wilhelms zum Ausdruck, den Theodor Fontane einmal den letzten menschlichen Monarchen genannt hat. — Sobald der Krieg ausgebrochen war, wurde offenkundig, daß die Symbolik des Kaisertitels politisch einigende Bedeutung besaß; im Süden, besonders im Südwesten Deutschlands stärkere als im Norden. In dem Ruf nach Kaiser und Reich „vereinigte sich die alte Kyffhäusersehnsucht der Romantik mit den unerfüllt gebliebenen Forderungen des 48er Liberalismus" 17). So fremd Bismarck selbst solche Symbolik war, so hat er sie in ihrer politischen Realität doch auszunutzen verstanden. Er hat sie ausgenutzt selbst in ihrer negativen Bedeutung, als er nämlich den König von Bayern zur Anerkennung der Kaiserwürde überredete, indem er ihn mit dem Bilde der „kaiserlichen Ohnmacht" im alten Reich lockte.

Wie sehr in dem historischen Jahrhundert die Macht der Geschichte alle politischen Erwägungen durchdrang, dafür steht ein breites Material zur Verfügung. Und die Einführung des Kaiser-titels forderte geradezu auf, sich über den Charakter des neuen Reiches Rechenschaft zu geben. Ein großer Teil der liberalen Sprecher hätte ihre Wünsche lieber in der Errichtung eines „nationalen Königtums“ verwirklicht gesehen. Der wissenschaftliche und zugleich politische Streit zwischen Sybel und Ficker im Jahre 1859 hatte zur Klärung der Fronten entscheidend beigetragen. Hinzu kam, daß seit 1849 der Prozeß der Versachlichung erheblich fortgeschritten war. Den Anhängern des konstitutionellen Einheitsstaates, die zugleich gelehrte Geschichtskenner waren, war im allgemeinen unwohl bei der soge-nannten Kyffhäusersehnsucht, — wie man ironisch sagte — der romantisierenden Erinnerung an das Heilige Römische Reich. Das Unbehagen wurde noch größer, da das soeben gestürzte napoleonische Kaisertum die cäsaristische und plebiszitäre Verwendbarkeit dieses Titels den Zeitgenossen nachdrücklich demonstriert hatte. Eduard Simson hatte 1849 dem preußischen König vergeblich die Kaiserwürde angeboten — jetzt, 1870, führte er wieder die Abordnung des Norddeutschen Reichstages, die König Wilhelm „um die Annahme der historischen Würde des Kaisers“ bitten sollte 18). Ihm selbst, dessen Person die Kontinuität von 1849 bis 1870 repräsentieren mochte, war dieser Titel, der ihn an das Wort Cäsars erinnerte 19), durchaus nicht sympathisch. Erwähnt werden soll, wie die aus der Tradition des Deutschen Bundes stammende Publizistik die Berechtigung des Kaisertitels deshalb bestritt, weil das neue Gebilde wohl Staat, nicht aber „Reich" sei.

Alle politischen und alle gelehrten Einwände blieben indessen wirkungslos gegenüber der Kraft, die in der Losung „Kaiser und Reidt" lag. Um so mehr kam es darauf an, den nationalen Charakter des neuen Kaiserreiches zu betonen; und so ließ es sich die nationale Publizistik angelegen sein, das junge Kaisertum gegen jedwede Verwechselung mit imperialen Vorstellungen in Schutz zu nehmen, und sie befand sich mit diesem Bemühen in Übereinstimmung mit der Regierung. Die Stimmen der Paulskirche sind längst verstummt. Sie hatten in eine große Zukunft hineingeklungen. — Für das nationale Selbstverständnis im Augenblick der Reichsgründung, soweit es zum literarischen Ausdruck kam und nachweislich ist, ist ein bestimmtes, ganz anderes Verhalten charakteristisch: Bemerkenswert ist die Verbreitung des Gedankens, daß mit der nationalen Konsolidierung Deutschlands das bisherige europäische Staatensystem erst zu seiner Vollendung gekommen sei, also einen Abschluß erreicht habe. Von diesem „vernünftigen“ Abschluß der Geschichte der europäischen Staaten-gesellschaft erwartete man ein Zeitalter des Friedens und des Fortschritts, eine Erwartung, in der altes liberales Erbgut verwandelt fortlebte. Das Gefühl, einen Abschluß einer Epoche mit-zuerleben und schließlich mit herbeigeführt zu haben, kam ja auch in der oft berufenen Ratlosigkeit Heinrich von Sybels zum Ausdruck, nicht zu wissen, wofür es sich in Zukunft noch zu leben und zu arbeiten lohne, nachdem alle Träume in Erfüllung gegangen seien. Der Glaube an die Fortdauer und an die Stabilität des nunmehr harmonischen Staatensystems verband sich mit der Anerkennung, daß Existenz und Selbständigkeit des Habsburger Reiches notwendig seien, in dem man auch eine deutsche Lebens-und Geschichtsform zu sehen bereit war.

Dieser Glaube verdrängte den Schmerz über die Zerreißung der Volkszusammengehörigkeit, an dem die 48er großenteils noch schwer getragen hatten. So sehr die literarischen und gelehrten Repräsentanten Deutschlands in der Frage der Annexion (Elsaß und Lothringens) den deutschen Anspruch mit Hilfe des Volksgeistes rechtfertigten und auf diese Weise den Graben zur westeuropäischen Nationsauffassung vertieften, ebenso sehr war die wiederholte Versicherung ernst gemeint, daß das neue Deutsche Reich keine Eroberungspolitik treiben werde und erst recht nicht aus volkstumspolitischen Gründen. Ihre Reichsidee entbehrte des „völkischen“ Inhalts, was man zur Rechtfertigung der Generation von 1871 zu einem späteren Zeitpunkt einmal leugnen zu müssen glaubte, vollkommen. — Es hängt hiermit zusammen, daß man auch nicht von den „Ideen von 1871“ sprechen kann — so wie selbstverständlich die Rede ist von den „Ideen von 1789“. Die gelegentlich auftauchende Vokabel vom „evangelischen Kaisertum“ hat selbst im Verlaufe des Kulturkampfes keine ideologische Werbekraft zu entfalten vermocht. Sie entsprach zwar den Hoffnungen eines Kulturprotestantismus, aber sie entsprach nicht dem paritätischen Charakter des neuen Kaisertums, wie es vor allem von seinem ersten Träger aufgefaßt worden ist.

Entscheidende Verschiebung des europäischen Gleichgewichts

In den Kern der Problematik, die der Macht-aufstieg Deutschlands jenseits aller moral-und gefühlspolitischen Wertungen bedeutet, stößt eine Rede vor, die der britische Oppositionsführer Benjamin Disraeli am 9. 2. 1871 gehalten hat. Er erkannte im deutsch-französischen Krieg und in der deutschen Staatsbildung in der Mitte Europas „die deutsche Revolution“, und er folgerte aus der Machtverschiebung von dem für die Defensive organisierten deutschen Bund zum Deutschen Reich das politische Resultat, daß „nicht ein einziger der Grundsätze der Handhabung unserer auswärtiger Angelegenheiten, welche noch vor einem halben Jahre von allen Politikern als selbstverständliche Richtlinien anerkannt wurden, noch heute in Geltung stehen". „Es gebe keine überkommene Auffassung der Diplomatie, welche nicht fortgeschwemmt wäre.“ „Wir stehen vor einer neuen Welt, neue Einflüsse sind am Werk .. das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört; und das Land, welches am meisten darunter leidet, und welches die Wirkungen dieses großen Wechsels am meisten zu spüren bekommt, ist England.“ — Von den Anlässen der aktuellen diplomatischen Situation vollkommen abgesehen, darf gesagt werden, daß diese Rede in der Geburtsstunde des Deutschen Reiches das die nächsten Jahrzehnte sichtbar und unsichtbar beherrschende Thema der diplomatischen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und England anschlug Disraelis zeitgeschichtliche Diagnose hatte in der Tat die Verschiebung des europäischen Gleichgewichtes erkannt. Berlin sollte im Zeitalter Bismarcks der Mittelpunkt werden, von dem aus das kontinentale Gleichgewicht ausbalanciert wurde.

Sicherung des neuen deutschen Besitzstandes

Hinter allen diplomatischen Einzelaktionen stand das Leitbild „einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte, außer Frankreich, unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch die Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“ (Kissinger Diktat vom 15. 6. 1877). Die Krisen der auswärtigen Politik haben die Verwirklichung dieser Idealkonzeption immer von neuem in Frage gestellt. Bismarcks diplomatische Leistung bestand — knapp formuliert — darin, daß er das übrige Europa — d. h. die Mächte des europäischen Staatensystems — an die Existenz der jüngsten Macht, des Deutschen Reiches, gewöhnt hat, wobei er sich selbst, aus Kenntnis der europäischen Geschichte, der bleibenden Problematik des Aufstiegs der jüngsten Großmacht bewußt blieb. Seine auswärtige Politik stellt den gelungenen Versuch dar, mit Hilfe von Bündnissen und Abmachungen verschiedener Abstufung den europäischen Frieden aufrecht zu erhalten. Daß diese Friedenspolitik nach Ansicht des Kanzlers vor allem der Sicherung des deutschen Besitzstandes in den Grenzen von 1871 zugute kam, vermag ihren Wert und ihre Bedeutung nicht abzuschwächen, zumal ihr Bismarcks Fähigkeit und Bereitschaft zugrunde lagen, die Lebensinteressen der übrigen Mächte zu würdigen und zu berücksichtigen. Es kann nur darauf hingewiesen werden, daß diese Außenpolitik erst im Zusammenhang seiner Gesamtpolitik voll verständlich wird. Ihr gesell-

schaftspolitischer Sinn bestand darin, die Aufrechterhaltung des außenpolitischen Status quo zu ergänzen durch die Bewahrung eines gesellschaftspolitischen Status quo, der indessen nicht mit Reaktion einfach gleichgesetzt werden darf.

Nachdem Bismarck die verspätete innere und äußere Entwicklung des deutschen Volkes durch sein Eingreifen — in dem ohne Zweifel eine friderizianische Tradition auflebte — beschleunigt hatte, ließ er sich es seit 1871 durch seine konservative Politik angelegen sein, die fortschreitende politische und soziale Bewegung, deren Konsequenz er fürchtete, gleichsam wieder anzuhalten oder doch wenigstens zu retardieren Von hier aus — meine ich — werden seine Größe ebenso wie die Grenzen seines Wollens sichtbar. Er gründete und sicherte das Deutsche Reich in einer Epoche der industriellen Revolution deren Kräften er selbst fremd gegenüberstand, wenn er diesen Kräften durch die Einigung auch erst zum Durchbruch verhülfen hatte. Kulturkampf und Sozialistengesetz sind Namen für die schweren Risse, die im inneren Reichsbau klafften und deuten die Grenze an, die der „inneren Reichsgründung“ gezogen war. Diese Grenze wird im Zusammenhang mit einer anderen Problematik ebenfalls sichtbar.

Im inneren Zusammenhang mit der bereits beantworteten Frage nach den „Ideen von 1871“ steht die nach den Beziehungen des neuen Reiches zum geistigen und künstlerischen Leben der Nation. Es würde nicht schwer fallen, die zeitgenössischen Klagen über die Verarmung und Verödung des geistigen Lebens zusammenzustellen, die etwa in Nietzsches Erster unzeitgemäßer Betrachtung mit der Bemerkung über die „Niederlage und Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches“ zu vehementem Ausdurck gelangte. Aber auf der anderen Seite läßt sich das intensive national-pädagogische Bemühen verfolgen, alle noch so heterogenen Äußerungen des Kunstschaffens in nationalem Sinne, d. h. im Sinne des „Reiches“ zu verstehen. Wolfgang von Löneysen hat sehr schön beschrieben 22a) — ich beschränke mich nur auf Andeutungen —, wieso die gotische Fabrik, das barocke Postamt und schließlich der Bahnhof als Basilika entstanden. Das Reich von 1871 wollte — wie wir gehört haben — an die alte Reichtradition durchaus nicht anknüpfen, aber die Nachahmung aller Stile bestimmte die öffentlichen und auch die privaten Bauten im neuen Reich, und in der künstlichen Nachempfindung dieser Stile kam jeweils eine national verstandene politische Gesinnung zum Ausdruck. Zum Kapitel der Beziehungen zwischen Staat und Kunst, die auch für unser Thema überaus aufschlußreiche Aspekte bieten könnten, gehört schließlich die Tatsache, daß die sogenannte „neue Kunst“ ohne das Reich entstanden ist.

Politik der Enthaltsamkeit nicht von Dauer

Ich kehre aber zum Gange der politischen Ereignisse und zum Wandel des politischen Denkens zurück. So wichtig es ist, die Grenzen der „inneren Reichsgründung“ sowie die Spannungen zwischen Reich und wachsender Industriegesellschaft aufzuzeigen, ebenso notwendig ist es festzustellen, daß trotzdem aus dem Bewußtsein einer geschichtlich zusammengewachsenen nationalen Gemeinschaft doch eine Staatsnation hervorgewachsen ist, an die der Kanzler selbst eigentlich überhaupt nicht geglaubt hatte.

Die angedeutete Politik der Enthaltsamkeit konnte allerdings schon damals — unter der Kanzlerschaft Bismarcks — die Frage nahelegen, ob nicht die allgemeine fortschreitende Industrialisierung und die Bevölkerungsvermehrung auf die Gestaltung der Außenpolitik bzw. auf die außenpolitische Zielsetzung einwirken würden und müßten. Handelte es sich nicht auch — so könnte man mit S. A. Kaehler argumentieren — um einen Widerspruch zwischen der grundsätzlichen Auffassung vom „flüssigen Ag-gregatzustand" einerseits, in dem Politik sich immer befindet, der Anerkennung des Rechtes der anderen Mächte auf Machtausdehnung, auf Expansion, und andererseits der Annahme, der eigene Staat sei saturiert und solle auf der Grundlage des Status quo beharren? Die Antwort auf diese Frage gab die deutsche Weltpolitik um 1900.

Gewiß wuchsen der deutschen Politik aus den Bereichen von Wirtschaft und Industrie sowie der Bildung einer breiten Industriegesellschaft neue Aufgaben zu; aber ob nicht die alte Sicherungsaufgabe trotzdem dieselbe geblieben war? — Das Lebensgefühl einer neuen Generation, für die die Reichsgründung Erbe, nicht mehr Erfahrung war, kam in der vielzitierten Antrittsrede Max Webers von 1895 zum Ausdrude, mit dem Bekenntnis, „daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte". Dieselbe Gesinnung kehrte wieder in einem Vortrage aus dem Kriegsjahr 1916: „wollten wir diesen Krieg nicht riskieren, so hätten wir die Reichsgründung unterlassen sollen" In die geistige und zeitliche Nachbarschaft dieser WeberschenRede von 1895 gehören auch die Ausführungen von Friedrich Naumann im . nationalsozialen Katechismus“, daß nämlich der Sinn des Nationalen darin bestünde, „den deutschen Einfluß auf die Erdkugel auszudehnen“.

Ludwig Dehio hat eindrucksvoll den Prozeß beschrieben, in dem führende deutsche Publizisten und Historiker nach dem großen Vorbild Rankes das Eindringen Deutschlands in das Weltstaatensystem begründeten und die deutsche Weltpolitik optimistisch rechtfertigten 23a). Hinzuzufügen sei noch, daß auch die, deren geistiger Ausgangspunkt nicht bei Ranke lag, in diese Bewegung hinein gehören.

Gewiß kann man einwenden und sagen, daß solche Äußerungen noch nicht das Selbstverständnis der deutschen Politik auszudrücken brauchen, aber sie beleuchten die geistige Landschaft vor 1914 und stehen in innerer Verbindung mit den Entwicklungstendenzen der deutschen Politik. Für eine gerechte Würdigung des bürgerlichen liberalen Imperialismus bedarf es des Hinweises, daß seine Propagandisten von einer deutschen Weltpolitik vornehmlich die Ausbildung eines spezifisch politischen Sinnes sowie die Erweiterung des politischen Horizontes für die Deutschen erwarteten. Das englische Vorbild lag — wie so oft in den Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts — allzu nahe. „Könnten wir unserer Nation etwas schaffen, wie der englischen das Greater Britain, so wäre das ein unaussprechlich hoher Gewinn“, heißt es in einem Briefe Th. Mommsens aus dem Jahre 1898. Zu den leidenschaftlichen Wünschen dieser Männer gehörte vor allem der, das nationale Wertesystem in Deutschland gleichsam zu „entmilitarisieren“ und den jungen Deutschen lochende Ziele in Übersee zu zeigen. So ist es auch zu begreifen, daß gerade die Führer des geistigen Deutschland zu denen gehörten, die die Reichsgründung als Voraussetzung für den gleichberechtigten Eintritt des deutschen Reiches in die Reihe der großen Weltmächte würdigten Schon 1874 gab der britische Gesandte in Lissabon der Meinung Ausdrude, „es erschiene ihm natürlich, daß sich eine so starke Macht wie Deutschland ... nicht mit der kontinentalen Stellung begnügen werde ... Es gäbe in der europäischen Vergangenheit keinen Staat, der zur Herrschaft gelangt, nicht nach Seemacht und Kolonien gestrebt habe“. Dieser Beobachtung des Diplomaten entsprach die Ansicht Rankes, die er sich aus der Beobachtung der Geschichte des europäischen Staatensystems gebildet hatte, nämlich: „daß es nicht in der Natur der vorwaltenden Macht liege, sich selbst in der Geschichte Schranken zu setzen“

Wenden wir uns von den Interpreten dem Gange der auswärtigen Politik bis zur Katastro-phe von 1914 selbst zu, so müssen wir bei aller Anerkennung der verwandelten gesellschaftlichen Daseinsbedingungen doch die schon gestellte Frage wiederholen, ob nicht die Sicherungsaufgabe der jüngsten Großmacht im Kerne dieselbe geblieben war? Der noch so kurze Blick auf das politisch-geistige Klima um 1900 sollte uns den Dienst leisten, im Echo der Nation auf die „Weltpolitik“ ihr politisches Wünschen, ihre Vorstellungen von den neuen Aufgaben deutscher Außenpolitik kennenzulernen, wobei ich selbstverständlich diesen angedeuteten Teil der Publizistik nicht mit der gesamten öffentlichen Meinung Deutschlands gleichsetzen will. Immerhin ist bei dieser Einschränkung zu betonen, daß sich seit 1898 nur noch die Sozialdemokratie in Opposition zur kolonialen Expansion befand Bei ihren weltpolitischen Aktionen befand sich also die „Reichsregierung“ in einer größeren Überein-stimmung mit dem allgemeinen „Volksgefühl", als sich Bismarck bei seiner Politik des Desinteressements in der orientalischen Frage je befunden hatte.

In der Rolle der Hegemonialmacht

Indem ich die Einzelheiten beiseite lasse, nehme ich das Urteil über diese Epoche in der Feststellung vorweg: Die verantwortlichen Träger der deutschen Außenpolitik haben nicht etwa eine Hegemonie über Europa angestrebt, aber es entging ihnen, daß die Anlage zur Hegemonie mit der Machtbildung in Mitteleuropa immerhin gegeben war, und daß der Aufstieg Deutschlands als eine hegemoniale Bedrohung empfunden werden mußte. Die Verbindung zwischen Überseepolitik in verschiedener Richtung, der eine unruhige, den Objekten gar nicht angemessene weltpolitische Begehrlichkeit zugrunde lag, und Flottenpolitik in der Ära Tirpitz verursachte nicht etwa den Weltkrieg, aber schuf eine Situation, in der im Falle eines europäischen Konfliktes ein Abseits-stehen Englands kaum denkbar war. Verhängnisvoll erwies sich die Lagebeurteilung in ihrer Abhängigkeit von der Illusion, daß die deutsche Politik „trotz der vorausgegangenen Strukturveränderungen innerhalb des Mächtesystems eine Politik sein könne der freien Hand, eine schiedsrichterliche Politik des arbitrium mundi", wie sich Bülow einmal in einem Briefe an Wilhelm II. ausdrückte (S. A. Kaehler). Auf Grund solcher Illusionen erschienen auch die —übrigens so bescheidenen — weltpolitischen Gewinne als ein Ergebnis der Machtstellung des Deutschen Reiches, während sie in Wirklichkeit der vorübergehenden Gunst der politischen Konstellation, der Fesselung der Weltmächte an der Peripherie ihrer Reiche zu verdanken waren.

Man trieb eine Politik, a 1 s o b die weltpolitische Situation so günstig bleiben werde, wie sie z. B. etwa im Sommer 1900 tatsächlich war, als ob sich der deutsche Machtaufstieg ungefährdet vollziehen könne.

Daß der erste Weltkrieg notwendig ein Kampf um die deutsche Hegemonie über Europa wurde, zeigt ein Blick auf die Kriegskarte. Eine solche Feststellung bedeutet selbstverständlich nicht etwa eine erneuerte Anerkennung der von der internationalen Forschung vor 1933 längst widerlegten These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des ersten Weltkrieges, sondern berührt vielmehr die Problematik der Stellung der dynamischen Macht auf dem Kontinent zu England und zum Staatensystem.

Es wurde einmal gesprochen vom „Kriegsreich zwischen Nordsee und Kaspischen Meer“ als der Form, „in der die Verteidigung der Mittelmächte 1914— 1918 zur Erscheinung gekommen" sei. „Entstehen und Stürzen dieses Kriegs-reiches war, vom Deutschen her gesehen, der Inhalt der vier Weltkriegsjahre und ist für uns das historisch überdauernde Bild jener großen Ereignisse“ Von den übrigen Mächten her gesehen bestand die Erfahrung des Ersten und wieder des Zweiten Weltkrieges darin, daß die Niederringung der deutschen Macht offensichtlich nicht möglich war allein mit den zusammengefaßten Kräften Europas und selbst nicht mit den Hilfskräften des ozeanischen Empire. In beiden Fällen führten die Vereinigten Staaten von Nordamerika die Entscheidung herbei. Daß beide Katastrophen auch den „Zusammenbruch des europäischen Staaten-Systems“ einschlossen, läßt die Bedeutung des deutschen Problems im Zusammenhang der europäischen Geschichte erkennen

Kehren wir wieder zum Reich und zu seiner „Idee“ zurück. Vom Kaiser braucht jetzt nicht mehr die Rede zu sein. Aus den Erinnerungen der ersten Weltkriegsgeneration wie aus den zeitgenössischen Bekundungen geht eindrücklich hervor, wie die Person Wilhelms II. aus dem Erlebnis-und Gefühlsbereich der Deutschen weicht und wie Hindenburg „schlechthin als Träger des Reiches“ empfunden wurde. Der letzte deutsche Kaiser hat diese Entwicklung selbst bestätigt, als er im Verlauf der Unterredungen über seine Abdankung zu Hindenburg sagte: „Sie müssen bleiben“

Bewahrung der politischen Einheit nach dem Kriege

Die Verbindung zwischen „Demokratie und Kaisertum" war nicht zustande gekommen. In der Katastrophe von 1918 ist die politische Einheit des Deutschen Reiches nicht verloren gegangen; der nationale und demokratische Wunsch nach einer Vereinigung mit DeutschÖsterreich konnte allerdings nicht in Erfüllung gehen. Auf diese Weise entbehrte die Wiederbelebung der Tradition von 1848 des mitreißenden Antriebes eines großen gemeinschaftlichen Erlebens. Daß der Farbenwechsel von Schwarz-Weiß-Rot zu Schwarz-Rot-Gold durch das Verbot des Anschlusses um seinen inneren Sinn gebracht worden ist das kann nicht bestritten werden, aber eine unvoreingenommene Geschichtssreibung muß auch die Gründe der Staatsräson berücksichtigen, die für die alliierten Mächte maßgeblich waren. Eine Zustimmung hätte die deutsche Niederlage letztlich in einen deutschen Sieg verwandelt; denn die Verbindung mit den deutschen Teilen Österreichs hätte die Verluste des Versailler Vertrages bei weitem ausgewogen. So lebte das Werk Bismarcks im Deutschen Reich als Republik fort. Das allgemeine Wahlrecht, aus dem die Nationalversammlung hervorging, gehörte zu den Voraussetzungen, unter denen nicht nur die freiheitliche Ordnung, sondern auch die deutsche staatliche Einheit gerettet wurde. Es war also das von Bismarck eingeführte allgemeine Wahlrecht, das er aus Sorge um das Reich wieder auszuschalten gewünscht hätte, das jetzt die Fortdauer dieses Reiches mit ermöglichte Die ehemaligen sogenannten „Reichsfeinde" übernahmen mit die Aufgabe, die Einheit des Reiches zu retten.

Es gehört zum Verhängnis der inneren deutschen Geschichte seit 1919, daß die Idee des „Reiches" zur ideologischen Basis wurde, von der aus der Parteienstaat der demokratischen Republik mit Erfolg bekämpft wurde. Die Vokabel des Reiches wurde in hohem Maße attraktiv für diejenigen, die grundsätzlich und radikal alle „geistigen Anleihen“ am Westen ablehnten und die den liberal-demokratischen Kompromiß von 1919 deshalb verwarfen. In die Vorstellungen vom Reich mündeten ganz heterogene Bestandteile, die irgendeiner geschichtlichen. Tradition oder einem politisch-sozialen Wunschbild entnommen wurden, aber sie alle zeich-neten sich trotz oder gerade wegen des ge-schichtlichen Ballastes ebenso durch Geschichtsferne wie durch Wirklichkeitfremdheit aus. Aus machtpolitischen, raumpolitischen, mitteleuropäischen und ideologischen Erwägungen und Bedürfnissen wurde das „Reich“ zu einer übergreifenden idealen Einheit stilisiert, und es erwies sich, daß gerade diese Stilisierung auf Kreise einer geistig und politisch lebendigen Oberschicht anziehend wirkte So wie man glaubte, von einer „deutschen Politik schlechthin" sprechen zu dürfen, ebensosehr war man überzeugt von der überzeitlichen Idee des Reiches, ohne Rücksicht auf seinen jeweiligen Inhalt. Das „Reichsdenken" — wenn ich so sagen darf — konnte zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen. Hatte es vor dem Weltkrieg neben der „nationalstaatlichen“ eine „imperiale" Richtung gehabt, so läßt sich jetzt ein Rückschlag ins Geistige, ja ins Spirituelle beobachten. Der Anteil der hündischen Jugend ist selbstverständlich nicht zu unterschätzen. Sicherlich war ihr Reichsbegriff in erster Linie ein Protest gegen die Überschätzung des nationalen Staates. Reich wurde nicht gleichgesetzt mit Nationalstaat, sondern — wie man etwa bei Edgar Julius Jung sesen kann — wurde verstanden als ein „überstaatliches, föderatives Gebilde, in dem verschiedene Völker und Stämme — von einem übergeordneten Prinzip beherrscht — ihr Eigenleben führen sollten“. Hinweisen will ich nur auf die Widersprüchlichkeit, in die Träger dieses Denkens gerieten, indem sie das übergeordnete Prinzip letztlich nur in der „Deutlichkeit“ finden konnten und so die Scheidung zwischen Nation und Reich — an der ihnen lag — doch nicht zu Ende denken konnten. Indem man in diesen Kreisen von Befreiung sprach, meinte man ein Doppeltes: Befreiung aus den Fesseln von Versailles, aber auch Befreiung aus der Gebundenheit der für überholt gehaltenen Nationalstaatlichkeit.

Daß die Reichsvorstellungen, die auf dem Boden eines „neuen Konservatismus“ wuchsen, frühzeitig zu einer „Führeridee" neigen konnten, ist einleuchtend, aber gleichwohl dürfen die Wesensunterschiede zum „Führerkult“ des Nationalsozialismus nicht übersehen werden. Bezeich-nend sind die sehr skeptischen Äußerungen dieser Kreise über den italienischen Faschismus. So fällt es sicherlich nicht schwer, die offenkundigen Gesinnungsgegensätze zwischen dem jungen revolutionären Nationalismus oder Jungkonservatismus und dem Nationalsozialismus herauszuarbeiten. Die Vorstellung etwa eines „organischen Wachstums“ stand in radikalem Gegensatz zum Führermythos der Nationalsozialisten. Gegen das ständige „Marschieren", das bekanntermaßen zur Selbstdarstellung des Nationalsozialismus gehörte, wurde der Einwand erhoben: “ Wenn das kommende Reich Bestand haben soll, dann muß es organisch wachsen, dann muß es tief wurzeln im Volkstum, in der Geschichte." Der Nachwuchs der Wesensunterschiede schließt indessen die Feststellung nicht aus: Die ideologischen Angriffe auf den Weimarer Staat, der noch dazu als Parteienstaat einem Reichsbedürfnis so wenig Anknüpfung bot, kamen am Ende dem Radikalismus Hitlers zugute und haben seinen Erfolg mit vorbereitet.

Entartung des Reichsbegriffs

Die machtpolitische Komponente des Reiches setzte sich im nationalsozialistischen Deutschland voll durch. Das ist nicht etwa im Sinne einer über den Menschen und den Ereignissen schwebenden geistesgeschichtlichen Betrachtung gemeint, als ob eine Idee wie hier die des Reiches die Geschichte selbst durchschreitet, jeweils in einer anderen Gestalt auftaucht und bestimmte Seiten ihres Wesens zur Geltung bringt. Der Reichsbegriff wurde in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nach innen und des nationalsozialistischen Imperialismus nach außen den von Fall zu Fall wechselnden taktisch-machtpolitischen Bedürfnissen unterworfen. Seine Manipulationen führ-ten zu einem Zynismus der ideologischen Verhüllung und zu einer Entartung der politischen Praxis. Abgesehen von der vorübergehenden Tarnung hinter „großdeutscher Volkstumspolitik", wurden Begriffe wie „Germanisches Reich deutscher Nation", „Germanischer Staat deutscher Nation" und „deutsches Weltreich" nach-und nebeneinander gebraucht Bei aller Ungenauigkeit der inhaltlichen Bestimmung im einzelnen bleibt dagegen unverändert die Vorstellung eines sogenannten „judenreinen Reiches“, denn die „Ausschaltung der Juden“ stellte ja nach dieser Ansicht die Voraussetzung für dessen neue Größe dar. Hier liegt die ideologische Voraussetzung der technischen Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung — eines Vorgangs, der ein Stück deutscher Geschichte geworden ist. Nur episodische Bedeutung hat folgende „Sinngebung“: An dem Tage, an dem Norwegen und Dänemark besetzt wurden (9. 4. 1940), stellte Hitler im Kreis seiner engsten Mitarbeiter fest: „So, wie aus dem Jahre 1866 das Reich Bismarcks entstand, so wird aus dem heutigen Tage das Großgermanische Reich entstehen" Aber aus dem gespenstischen Finale des sogenannten Dritten Reiches ist uns noch eine Äußerung überliefert, in der Hitler seine Auffassung vom deutschen Volk und Reich decouvrierte, als er nämlich zu Speer sagte: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein ... Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen ...; denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft."

Das Ende der politischen Daseinsgemeinschaft von 1871

In der Hitler-Katastrophe zerbrach auch die deutsche Einheit im Sinne der gewachsenen politischen Daseinsgemeinschaft seit 1871.

Von den konkurrierenden Idealen der Freiheit und der Einheit war in diesen Ausführungen gelegentlich die Rede, und auf die Stellung des deutschen Reiches im und zum europäischen Staatensystem sollte hingewiesen werden. — Die Alternative Freiheit — Einheit, die sich das 19. Jahrhundert aus der Perspektive seiner jeweiligen Gegenwart noch stellen mochte, ist in einer Welt nicht mehr möglich, in der uns die Grenzziehung zwischen Osten und Westen an die Bewahrung der für uns unaufgebbaren Menschenrechte bindet. — Wenn auch die „Nation“ den dogmatischen Sinn längst verloren hat, den ihr das nationalstaatliche 19. Jahrhundert zugeschrieben hat, so bleibt doch nach der Über-windung des Nationalismus und über den Zusammenbruch hinweg die Nation als eine Tatsache und als ein Wert bestehen Noch sind wir e i n Volk in Ost und West, wobei wir unter „Volk" keineswegs eine von vornherein gegebene unveränderliche oder gar mystische Größe verstehen Zu den wenigen Lehren, die die Geschichte erteilt, gehört die, daß ein Volk ohne Staat auf die Dauer nicht existiert.

So stehen wir in dem gegenwärtigen Moment unserer Geschichte in der unabdingbaren Entscheidung für die Freiheit unter der drängenden Sorge, daß die Einheit des deutschen Volkes zerbröckelt. Die Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen Volk und Staat verpflichtet uns — solange die Einheit in Freiheit nicht möglich ist —, das freiheitliche Staatsbewußtsein in der an die freie Welt gebundenen und demokratisch legitimierten Bundesrepublik zu festigen und zu vertiefen. Die Pflege freiheitlicher Gesinnung, aber auch eines echten verantwortlichen Staatsbewußtseins gehört zur Aufgabe einer aufrichtigen historischen Besinnung und einer redlichen politischen Bildungsarbeit. Es bleibt hingegen im Hinblick auf das Thema dieser Ausführungen die Frage, ob der so mannigfachem geschichtlichem Schicksal unterworfene Begriff des Reiches noch auf den Staat anwendbar ist, den wir für das deutsche Volk in einer Föderation der freien Völker ersehnen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kv. Raumer, Deutschland um 1800, Krise Deutsumgestaltung 1789-1815, in Handbuch der hrsgb. v. Leo Just, Konstanz ox, *'* 72 Bd. IV, 4,

  2. Vgl. ebenda.

  3. Vgl. ebenda, S. 160.

  4. del Vgl hierzu. H. v. Srbik, Deutsche Einheit, Köninor-, Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis niggratz, München 31940, Bd. I.

  5. Ebenda, S. 163.

  6. Ebenda, S. 164.

  7. Ebenda.

  8. Siehe die immer lesenwert bleibende Darstellung von P. Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat, Göttingen, * 1956, S. 59.

  9. Ebenda, S. 63.

  10. Vgl. zum folgenden W. Bußmann, Zur Ge schichte des deutschen Liberalismus im 19. Ja hundert, in: Historische Zeitschrift Bd. 186.

  11. Vgl. Joachimsen, a. a. O., S. 66.

  12. Vgl. Bußmann a. a. O., S. 539 f.

  13. Ad. Rapp, Großdeutsch — Kleindeutsch, Stimmen aus der Zeit von 1815— 1914, München 1922.

  14. Ebenda, S. 111.

  15. Ebenda, S. 68.

  16. W. Bußmann, Europa und das Bismarck-reich, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, Stuttgart o. J., S. 164: derselbe, Das Zeitalter Bismarcks, Konstanz, 21957, S. 120.

  17. Ebd.

  18. Vgl. hierzu und zum Folgenden Bußmann, Europa und das Bismarckreich, a. a. O., S. 167 ff.

  19. Ebenda, S. 173.

  20. Vgl. zu dieser Problematik W. Conce, Deutsche Einheit, Erbe und Aufgabe, Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, Nr. 36, Münster 1956, S. 20 f.

  21. Vgl. W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890— 1920, Tübingen 1959; ferner Conze a. a. O., S. 23.

  22. Vgl. D. Oncken, Das Problem des „Lebensraums* in der deutschen Politik vor 1914, phil. Diss. Freiburg/Br.

  23. Zum Problem des deutschen „Imperialismus" vor 1914 siehe auch H. Herzfeld, Deutschland und Europa im Zeitalter beider Weltkriege, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, S. 174 f.

  24. Siehe Oncken, a. a. O., S. 90.

  25. W. Elze, Der strategische Aufbau des Weltkrieges, Betrachtungen und Anregungen, 19141918, Berlin 1933, S. 8.

  26. Vgl, Herzfeld, a. a. O.

  27. Elze, a. a. O., S. 12.

  28. Siehe neuerdings S. A. Kaehler, Vier quellenkritische Untersuchungen zum Kriegsende 1918, in: Studien zur Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, hersgb. von Walter Bussmann, Göttingen 1961, S. 259 ff.

  29. Vgl. hierzu Th. Schieder, Das Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung und die Krise des bürgerlichen Liberalismus, in: Historische Zeitschrift, Bd. 17.

  30. Vgl. hierzu und im folgenden Bußmann, Prolitische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, Bd. 190.

  31. Der Verfasser fühlt sich dankbar verpflichtet dem Aufsatz von H. D. Look, Zur „Großgermanischen Politik* des Dritten Reiches, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1960/1, S. 37 ff.

  32. Ebenda, S. 39.

  33. Zitiert bei Jacobsen, 1939— 1945, Der Zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten, Düsseldorf 1959. S. 378.

  34. Vgl. auch Conze, a. a. O., S. 30.

  35. Vgl. diesen Gedanken bei W. Schlesinger, Die Grundlagen der deutschen Einheit im frühen Mittelalter, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, S. 5 ff.

  36. Vgl. R. Wittram, Das Reich als Vergangenheit, in: Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 95 ff.

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