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Literatur, Kunst und Wissenschaft in der Sowjetunion | APuZ 21/1962 | bpb.de

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APuZ 21/1962 Literatur, Kunst und Wissenschaft in der Sowjetunion

Literatur, Kunst und Wissenschaft in der Sowjetunion

Jürgen Rühle

Vorabdruck aus dem „Handbuch des Weltkommunismus" (2. Auflage). Herausgeber J. M. Bochenski.

I. Propagandaschlagworte

Abbildung 1

1. Reich der Menschlichkeit und Freiheit Der Kommunismus erhebt den Anspruch, die günstigsten Voraussetzungen für Kunst und Wissenschaft, für ein blühendes kulturelles Leben zu schaffen.

»Am Beispiel unseres Landes ist nachgewiesen worden, daß nur im Sozialismus die günstigsten Möglichkeiten für ein Aufblühen des freien Kunstschaffens. für die aktive Teilnahme der Volks-massen an der Schöpfung kulturelle, Reichtümer vorhanden sind'(N S. Chruschtschow. Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXII. Parteitag 17 Oktober 1961)

»Keine Gesellschaftsordnung ist so interessiert an der Eutwicklung der Wissenschaft und schafft solche Voraussetzungen für ihre Entfaltung wie die sozialistische Sowjetordnung'(N S. Chruschtschow, Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XX Parteitag. 14 Februar 1956).

Diese Verheißung geht auf die ursprüngliche humanistische Intention des Marxismus zurück. Nach Marx unterscheidet sich der Mensch vom Tier dadurch, daß er imstande ist, nicht nur für seine unmittelbaren physischen Bedürfnisse und die seines Nachwuchses zu produzieren, sondern darüber hinaus frei und universell seinen schöpferischen Impulsen nachzugehen; daß die Produktion für ihn nicht nur ein Mittel der Existenz, sondern ein Akt prometheischer Selbstverwirklichung ist; „der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit“. (K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844) Solange das Arbeiten durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, bleibt der Mensch im Reich der Notwendigkeit gefangen, ist sein wesentliches Menschsein unterdrückt und verkrüppelt; erst jenseits des unmittelbaren Lebenserwerbs beginnt „die menschliche Kraft-entwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit“ (K. Marx, Das Kapital, Band3)

Von diesem Standpunkt aus kam Marx zu der Ansicht: „Die kapitalistische Produktion ist gewissen geistigen Produktionszweigen, wie der Kunst und Poesie, feindlich" (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Band1) weil sie nämlich den Menschen, den Ausgebeuteten wie den Ausbeuter, vollkommen in dem materiellen Existenzkampf verstrickt und damit seinem eigentlichen Schöpfertum entfremdet.

Die Vorzüge einer kommunistischen Gesellschaftsordnung für die Kultur haben Marx und Engels in folgenden Aspekten gesehen:

a) Die Aufhebung der Klassenstruktur ermöglicht allen Mitgliedern der Gesellschaft das Schaffen und den Genuß kultureller Güter. »Durch diese industrielle Revolution hat die Produktionskraft der menschlichen Arbeit einen solchen Höhegrad erreicht, daß die Möglichkeit gegeben ist -zum ersten Male, solange Menschen existieren —, bei verständiger Verteilung der Arbeit unter alle nicht nur genug für die reichliche Konsumtion aller Gesellschaftsglieder und für einen ausgiebigen Reservefonds hervorzubringen, sondern auch federn einzelnen hinreichend Muße zu lassen, damit dasjenige, was aus der geschichtlich überkommenen Bildung -Wissenschaft, Kunst, Umgangsformen usw. -wirklich wert ist, erhalten zu werden, nicht nur erhalten, sondern aus einem Monopol der herrschenden Klasse in ein Gemeingut der ganzen Gesellschaft verwandelt und weiter fortgebildet werde'(F. Engels, Zur Wohnungsfrage, 1872/73)

b) Die Aufhebung der Arbeitsteilung, des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit, von Stadt und Land ermöglicht jedem Mitglied der Gesellschaft die allseitige Entfaltung seiner Fähigkeiten und Neigungen. „Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht. und die Subsumtion des Individuums enter diese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer usw. ist und schon der Name die Borniertheit seiner geschäftlichen Entwicklung und seine Abhängigkeit von der Teilung der Arbeit hinlänglich ausdrückt. In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Men-schen, die unter anderem auch malen'(K. Marx -F. Engels. Die deutsche Ideologie, 1845/46)

c) Die Aufhebung der Warenproduktion, der abstrakten kommerziellen Produktion für den Markt, gibt dem Menschen eine konkrete und sinnliche Beziehung zu seinem Schaffen, orientiert ihn statt aufs Geldverdienen, auf seine schöpferische Bestimmung. „Zum Beispiel Milton, der das Verlorene Paradies schrieb, war [in der kapitalistischen Gesellschaft] ein unproduktiver Arbeiter.... Milton produzierte das Verlorene Paradies aus demselben Grunde, aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 L. Aber der Leipziger Literaturproletarier, der unter der Direktion «eines Buchhändlers Bücher (zum Beispiel Kompendien der Ökonomie) fabriziert, ist ein produktiver Arbeiter, denn seine Produktion ist von vornherein unter das Kapital subsumiert und findet nur zu dessen Verwertung statt" (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Band1)

d) Die Aufhebung des Konkurrenzkampfes, des Klassen-und Geschäftsegoismus, der Produktionsanarchie ermöglicht einen ungehinderten Fortschritt der Wissenschaften ohne Rücksicht auf Herrschafts-und Geschäftsinteressen, Staats-und Betriebsgeheimnisse, Konjunktur und Krise.

Soziale und religiöse Vorurteile fallen fort.

«In demselben Maß. wie die Spekulation aus der philosophischen Studierstube auszog, um ihren Tempel zu errichten auf der Fondsbörse, in demselben Maß ging auch dem gebildeten Deutschland jener große theoretische Sinn verloren ... — der Sinn für rein wissenschaftliche Forschung, gleichviel, ob das erreichte Resultat praktisch verwertbar war oder nicht, polizeiwidrig oder nicht... Und nur bei der

Arbeiterklasse besteht der deutsche theoretische Sinn unverkümmert fort. Hier ist er nicht auszurotten: hier finden keine Rücksichten statt auf Karriere, auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben; im Gegenteil, Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter* (F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1886)

Dieser Aspekt wurde besonders von Lenin betont, der sich mit dem monopolischen Stadium des Kapitalismus auseinandersetzte.

»In demselben Maße wie, sei es auch nur vorübergehend. Monopolpreise eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung; in demselben Maße entsteht ferner die ökonomische Möglichkeit, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. Ein Beispiel: In Amerika hat ein gewisser Owens eine Flaschenmaschine erfunden, die eine Revolution in der Flaschenherstellung herbeiführt. Das deutsche Kartell der Flaschenfabrikanten kauft Owens Patente auf, um sie beiseite zu legen, und verhindert so ihre Anwendung* (W. I. Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916)

Zu diesen Argumenten, die heute noch, wenn auch meist in vulgarisierter Form, den eisernen Bestand der kommunistischen Kulturpropaganda darstellen, sind in neuerer Zeit einige weitere gekommen: e) Da der Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab die Ursachen der Kriege beseitigen wird, setzt er der Vernichtung von Kulturgütern durch Waffen ebenso ein Ende wie der Vergeudung und dem Mißbrauch geistiger Leistungen zu Zwecken der Zerstörung. Das Ende des Kolonialismus und Imperialismus, der nationalen Unterdrückung, das der Kommunismus zu erkämpfen behauptet, ermöglicht die kulturelle Entfaltung aller Völker, das Aufblühen aller, auch der bisher unentwickelten Völker oder zurückgebliebenen Nationalkulturen. Da nach kommunistischer Darstellung auch der Faschismus bzw. Nationalsozialismus ein Produkt des Kapitalismus ist („die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, erzchauvinistischen, erzimperialistischen Elemente des Finanzkapitals", Programm der KPdSU, 1961, Erster Teil, VII), behaupten die Kommunisten, nur ihre Machtergreifung könne die kulturfeindlichen Exesse des Nationalsozialismus ein für allemal verhindern.

Im Unterschied zu den Argumenten a) bis d), die in der marxistischen Theorie wohlbegründet sind, haben die unter e) angeführten vorwiegend agitatorischen Charakter, wie aus der Einstellung der Kommunisten zum Krieg, zur nationalen Frage und zum Nationalsozialismus erhellt. Bezeichnend ist die Übereinstimmung der kommunistischen Kulturpolitik mit der nationalsozialistischen, wie sie in einem weiteren Argument der Kommunisten zum Ausdruck kommt (einem Argument, das in eklatantem Widerspruch steht zu der unter b) angeführten Polemik von Marx und Engels gegen die „lokale und nationale Borniertheit"):

f) Dadurch, daß der Kommunismus gegen amerikanische Kulturbarbarei, Kosmopolitismus, Zionismus, Formalismus, Dekadenz, kurzum: gegen entartete Kunst und Wissenschaft, kämpft, schützt er die Nationalkulturen vor Nivellierung und Verfall. 2. Maximale Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse Welche Bedeutung die Kommunisten ihrer kulturellen Mission zuerkennen, geht daraus hervor, daß sie im ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus niedergelegt wurde, das Stalin in seinem letzten Lebensjahr formuliert hat: „Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft“ (J. W. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, 1952) und das in modifizierter Form auch in die Ideologie Chruschtschows eingegangen ist: »Das heißt, daß die Produktion im Sozialismus darauf gerichtet ist, die Konsumtion des Volkes zu erweitern. die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft so vollständig, wie es unter den gegebenen Bedingungen nur möglich ist, zu befriedigen und ihre Fähigkeiten allseitig zu entwickeln. .. Mit dem Übergang zum Kommunismus wird das Prinzip der möglichst vollständigen Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft in Form der Verteilung entsprechend den Bedürfnissen kulturell hochstehender Menschen verwirklicht werden* (Politische Ökonomie, Lehrbuch, 3. Ausgabe)

Die offensichtliche Diskrepanz zwischen diesen Thesen und der Realität der Sowjetgesellschaft pflegten die Kommunisten damit zu erklären, daß sich die Sowjetunion erst im ersten Stadium der kommunistischen Gesellschaft, dem Sozialisms. befiade. Auch Note Dame sei erst mehr als tausend Jahre nach Entstehung des Christentums gebaut worden. Seit Chruschtschow den Über-gang zum eigentlichen Kommunismus verkündet, die Verwirklichung des irdischen Paradieses somit in unmittelbare Nähe gerückt hat, sieht er sich gezwungen, einige Thesen zu präzisieren:

Befriedigung der Bedürfnisse:

„Ein Mensch kann beispielsweise an Brot und anderen Nahrungsmitteln nicht mehr verbrauchen, als für seinen Organismus notwendig ist. Es gibt auch gewisse Grenzen bei der Kleidung und bei der Wohnung. Gewiß, wenn von der Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen die Rede ist, sind nicht die Launen und nicht die Ansprüche auf Luxusgegenstände gemeint, sondern die gesunden Bedürfnisse eines kulturell entwickelten Menschen'(N. S Chruschtschow. Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXL Parteitag, 27. Januar 1959).

Schöpferische Freiheit:

„Die sowjetischen Schriftsteller, Komponisten, bildenden Künstler, Film-und Theaterschaffenden finden in der Politik der Partei, in ihrer Ideologie eine unerschöpfliche Quelle der Begeisterung. Sie sehen die Ideen der Partei als ihre eigenen Ideen an Mit ihrem ganzen Schaffen, das nicht administriert wird, aus eigener Überzeugung verfechten sie die marxistisch-leninistischen Ideen und kämpfen dafür, daß sie zur Realität werden. Darin sehen sie ihre wahre Berufung Auf dieser Grundlage beruht ihre durch nicts beschränkte Schaffensfreiheit. .. In jeder organisierten menschlichen Gesellschaft gibt es Normen und Regeln des Zusammenlebens, die für alle ihre Mitglieder verbindlich sindl Wollte jeder seine subjektiven Begriffe, seine persönlichen Geschmacks-urteile und Gewohnheiten als für alle anderen verbindlich hinstellen, so würde das Leben der Menschen in dieser Gesellschaft einfach unerträglich werden und dem Turmbau zu Babel ähneln. Wer in der sozialistischen Sowjetgesellschaft lebt, der muß deren kommunistische Ideen annehmen und teilen, muß sich für ihren Sieg ins Zeug legen, der muß die von der Gesellschaft festgesetzten Regeln gewissenhaft beachten, das Interesse der Gesamtheit berücksichtigen, darauf achten, daß sein Handeln die Mitmenschen nicht schädigt, und viel Wert auf ihr Urteil legen'(N. S Chruschtschow. Rede vor Vertretern der Sowjetintelligenz, Kommunist, Moskau, Nr. 7, 1961).

Es fällt nicht schwer zu erkennen, daß sich die Intention von Marx inzwischen in ihr Gegenteil verkehrt hat. 3. Gipfel der Weltkultur Wenn Marx und Engels von den Vorzügen der kommunistischen Gesellschaft für die Kultur sprachen, so meinten sie damit günstige Mög-lichkeiten zur Entfaltung und Verbreitung. Sie hatten nirgends ein qualitatives Moment im Sinn, etwa derart, daß Kunst und Wissenschaft früherer Zeiten übertroffen werden sollen. In der kommunistischen Gesellschaft soll nicht etwa „jeder an Raffaels Statt arbeiten, sondern jeder, in dem ein Raffael stecht, sich ungehindert ausbilden können“ (K. Marx-F. Engels, Die deutsche Ideologie, 1845/46) Marx und Engels sahen in Kunst und Wissenschaft eine Leistung der jeweiligen Epoche, deren Rang im Ausdruck und in der Gestaltung eben jener Stufe der Menschheitsentwicklung liegt. „Das unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion, z. B. zur künstlerischen. Überhaupt den Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen .. Bei der Kunst bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation stehn'(K. Marx. Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, 1857)

Marx untersucht an dieser Stelle die Rolle von Kunst und Epos der Griechen, die „für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten“, und kommt zu der Ansicht: „Warum sollte die gesellschaftliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht in Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzer-trennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellshaftlihen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehen konnte, nie wiederkehren können."

Als weitere Beispiele ungleicher Entwicklung nennt Marx die Bildungsverhältnisse und das Recht. Engels sieht die Höhepunkte der Naturforschung sehr ungleichmäßig verteilt in der grfechischen Naturphilosophie, bei den Arabern, in der Renaissance und im 19. Jahrhundert (Dialektik der Natur, Einleitung).

Die Vorstellung, Kunst und Wissenschaft entwickelten sich konsequent vom Niederen zum Höheren und die kommunistische Gesellschaft werde als höchste Stufe der Menschheitsentwicklung den Gipfel der Weltkultur darstellen, ist jüngeren Datums. Sie beruht auf einer schematischen Interpretation des Historischen Materialismus und auf dem vollkommenen Unverständnis für Kunst und Wissenschaft in der neueren kommunistischen Ideologie. Sie ist ein Symptom für das Verschwinden des Humanen aus dem Kommunismus: Kultur wird mit Zivilisation, Kunst mit Kunstbetrieb, Wissenschaft mit Tatsachenwissen und Technik verwechselt. „Wenn die Feudalordnung und danach die Bourgeoisie in ihrer Blütezeit eine Kunst und eine Literatur schaffen konnten, die das Entstehen der neuen Ordnung bekräftigten und ihr Aufblühen besangen, dann sind wir, die Vertreter einer neuen, sozialistischen Ordnung, die die Verkörperung des Besten ist, was die Geschichte der menschlichen Zivilisation und Kultur hervorgebracht hat um so eher in der Lage, die fortschrittlichste Literatur der ganzen Welt zu schaffen, die die besten Vorbilder künstlerischen Schaffens vergangener Zeiten weit hinter sich lassen wird“ (A. A. Shdanow. Referat über die Zeitschriften Swesda und Leningrad, 1946)

„Die Kultur des Kommunismus, die die besten Errungenschaften der Weltkultur übernommen hat und weiterentwickelt, ist eine neue, höhere Stufe in der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Sie wird die ganze Vielfalt und den Reichtum des Geisteslebens der Gesellschaft, den hohen Ideengehalt und den Humanismus der neuen Welt verkörpern Sie wird die Kultur der klassenlosen Gesellschaft, die Kultur des ganzen Volkes, der Menschheit sein“ (Programm der KPdSU. 1961, Zweiter Teil, V. 4). Die Schwierigkeiten, diese Postulate mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, umgingen die Kommunisten in der Stalinzeit dadurch, daß sie den Begriff der „fortschrittlichsten Kunst“, der „fortschrittlichsten Wissenschaft“ einführten. Ausschlaggebend für den Rang einer kulturellen Leistung war danach nicht nur ihr objektiver Wert, ihr Wahrheitsgehalt und ihre Gestaltungskraft, sondern ihre Ideologie. Nach Stalins Tod stellte die neue Führungsmannschaft fest, daß die nach diesen Prinzipien geschaffene Kunst minderwertig, die auf diese Prinzipien ausgerichtete Wissenschaft rüdeständig war, und zog daraus die Folgerungen.

„In den Dokumenten des XX. Parteitages der KPdSU heißt es, daß die Kunst und die Literatur unsere« Landes nich. nur hinsichtlich des Inhaltsreichtums, sondern auch hinsichtlich der künstlerischen Kraft und Meisterschaft den ersten Platz erringen können und müssen. Diese Worte müssen wir uns ganz besonders jetzt einprägen, da wir ir den Siebenjahrplan eingetreten sind, der eine gewaltige Steigerung der Ansprüche aller Schichten unserer Leser voraussagt, wobei wir nicht die besondere Stellung und Rolle unserer Kultur in der Weltgeschichte außer acht lassen dürfen. Den ersten Platz nicht nur hinsichtlich des Inhaltsreichtums, sondern auch hinsichtlich der künstlerischen Meisterschaft erringen!" (A. A. Surkow, Referat auf dem III. Unionskongreß der sowjetischen Schriftsteller. Mai 1959)

Die Sowjets geben also einen Rüdestand auf dem Gebiet der Kunst mehr oder weniger offen zu. Sie vertuschen ihn auf dem Gebiet der Wissenschaft, indem sie einen Schwerpunkt herausstellen: die Raketentechnik. Die Erfolge der Sowjetunion beim Vorstoß in den Weltraum dienen als Beweis dafür, daß die kommunistische Gesellschaft doch an der Spitze der Menschheitskultur marschiere.

„Ihre [des Kosmonauten Titow] Startbahn war, wie unser Freund Nikita Sergejewitsch Chruschtschow sagte, der Sozialismus, den das Sowjetvolk als erstes in der Welt zum Siege geführt hat. Hier im Lande von Marx und Engels begrüßen wir in Ihnen schließlich auch den Sohn der großen und ruhmreichen Partei von Marx, Engels und Lenin. Sie. lieber German Stepanowitsch, sind durch die Schule des Kommunistischen Jugendverbandes und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gegangen. Sie haben durch Ihren mit wissenschaftlicher Präzision durchgeführten Flug allen Völkern der Erde die Kunde gebracht von der Gewißheit des Sieges der Kräfte des Kommunismus in der ganzen Welt. Die Kombination der fortschrittlichsten Gesellschaftsordnung mit den großartigen Leistungen der sowjetischen Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker und Arbeiter, mit dem Können und dem Heldenmut der jungen sowjetischen Weltraumfahrer hat erneut die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung über die von der Geschichte zum Untergang verurteilte kapitalistische Gesellschaftsordnung bewiesen'(W Ulbricht. Begrüßungsrede für den Kosmonauten Titow, Neues Deutschland, Berlin, 2. September 1961).

„Es ist eine Sache der Ehre und die patriotische Pflicht der Sowjetgelehrten, die von der sowjetischen Wissenschaft bereits eroberten vorgeschoberen Positionen auf den wichtigsten Wissensgebieten zu festigen und ihre führende Rolle auf allen wichtigen Gebieten der Weltwissenschaft zu sichern'(N. S.

Chruschtschow. Rede auf dem XXII. Parteitag der KPdSU über das neue Parteiprogramm, 18. Oktober 1961).

II. Theorie der Kunst

1. Marx und Engels üb r Kunst und Literatur Die prinzipiellen Auffassungen von Marx und Engels über Kunst und Literatur liegen im historischen Materialismus begründet. „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt" (K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, 1859) Die Kunst gehört als eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins zum ideologischen Überbau und ist von der ökonomischen Basis abhängig. Diese Abhängigkeit wurde von Marx und Engels ursprünglich sehr streng gefaßt als Reflex, Echo, Sublimat (Die deutsche Ideologie, 1845/46) von dem alten Engels aber in Auseinandersetzung mit dem Vulgärmarxismus erheblich gelöchert. „Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus -politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate -Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt, usw. — Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmen-systemen üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form" (F. Engels an J. Bloch, 21. September 1890)

„Die politische, rechtliche, philosophis September 1890) 18).

„Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische usw. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden Notwendigkeit* (F. Engels an H. Starkenburg, 25. Januar 1894) 19).

Um die marxistische Vorstellung von der Kunst als Überbau richtig zu verstehen, muß man also folgendes beachten: a) Die ökonomische Basis (zu der Engels im Brief an Starkenburg übrigens auch geographische Grundlage, Milieu und Rasse rechnet) wirkt auf die Ideologie, insbesondere ihre entfernteren Sphären wie Kunst und Literatur, nicht unmittelbar, nicht deterministisch ein, sondern über die verschiedensten Vermittlungen. Tradition, Individualität und Zufall spielen ihre eigene Rolle. Die Ideologie wiederum wirkt auf die Basis zurück, bestimmt vielfach die Form der ökonomischen und historischen Prozesse. Die Deutung eines Kunstwerkes nach der Methode des Historischen Materialismus ist also ein komplizierter Vorgang. b) Der Historische Materialismus beschreibt nur eine Seite der Kunst, ihre Funktion als gesellschaftliches Bewußtsein. Nirgendwo haben Marx und Engels gesagt, daß dies die einzige oder auch nur die wesentliche Seite der Kunst sei. „Die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten“. Mit dieser Schwierigkeit ist Marx nicht fertig geworden; es ist sicherlich kein Zufall, daß die Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1857 20), aus der das vorstehende Zitat stammt, an dieser heiklen Stelle abbricht und zu Marxens Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde. Eine Ästhetik, d. h. Lehre vom Schönen, gibt es bei Marx und Engels nicht. c) Die viel zitierte Bemerkung von Marx, Kunst sei eine „künstlerisch-praktische Methode, sich die Welt anzueignen", darf auf keinen Fall pragmatisch aufgefaßt werden (etwa in dem Sinne, daß Literatur und Kunst die Aufgabe hätten, „eine zuverlässige Waffe des sowjetischen Volkes, sein guter und kluger Berater in seinem ganzen Leben" zu sein, wie es in Chruschtschows Rechenschaftsbericht an den XXII. Parteitag heißt). Die Bemerkung von Marx wurzelt in seinem humanistischen Ausgangspunkt, den wir am Anfang von Kap. 1/1 erwähnt haben. Wie die materielle Produktion, die Arbeit, ist die künstlerische Produktion — und gerade sie — für Marx nicht bloß ein Mittel des Existenzkampfes, sondern vor allem jener Akt der Selbstverwirklichung, „die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“. Kunst als Mittel zum Zweck war gerade das, was Marx in der kommunistischen Gesellschaft überwunden wissen wollte. .

Da es bei Marx und Engels keine Ästhetik, keine ausgearbeitete Literatur-und Kunsttheorie gibt, pflegen sich die Kommunisten auf verstreute Äußerungen der beiden zu literarischen und künstlerischen Fragen zu berufen. Dabei ignorieren sie die beträchtlichen Unterschiede in der Einstellung zur Kunst und im Geschmack, die zwischen Marx und Engels bestehen.

Marx war geprägt von der klassischen humanistischen Bildung; er schrieb in seiner Jugend selber Dichtungen im erhaben tragischen Stil der Griechen. Seine Lieblingsdichter: Äschylus, Shakespeare, Goethe, Scott, Balzac, Hoffmann, waren, politisch gesehen, allesamt keine Revolutionäre und, künstlerisch gesehen, überwiegend keine Realisten. Nach dem tief angelegten, aber gescheiterten Versuch in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie hat sich Marx nie wieder grundsätzlich zu literarischen und künstlerischen Fragen geäußert. Auch die beiden von den kommunistischen Experten strapazierten Fälle: die Rezension des Romans „Die Geheimnisse von Paris“ von Sue (K. Marx—F. Engels, Die heilige Familie, 1845) und der Briefwechsel mit Lassalle (1859) über dessen Tragödie „Franz von Sideingen“, waren eindeutig keine literarischen, sondern philosophische bzw, politische Erörterungen; als literarische Gegenstände kamen die beiden Werke für Marx von vornherein nicht in Betracht. Ebenso waren die Beziehungen Marxens zu den zeitgenössischen Dichtern Heine, Freiligrath und Herwegh rein politisch bestimmt. Er versuchte, die prominenten, ihm politisch nahestehenden Autoren für den politischen Kampf auszunutzen, schätzte aber gerade die Gedichte, die diesem Bund entsprangen, künstlerisch am allerwenigsten. Das erste marxistische Bündnis zwischen Politik und Kunst scheiterte in jeder Beziehung, so daß Freiligrath schon 1860 konstatierte: „Auch die Partei ist ein Käfig, und es singt sich, selbst für die Partei, besser draus als drin" 21).

Auch Engels dichtete in seiner Jugend, aber im Unterschied zu dem Klassizisten Marx stand er unter dem Einfluß der politischen Literatur des Vormärz; er war ein Schüler Börnes. Er war also eher geneigt, Dichtung politisch zu interpretieren, und in der Tat gibt es bei ihm einige oberflächliche und leichtfertige Äußerungen zur Literatur, beispielsweise die Zweiteilung Goethes: „bald Genie, bald Philister", der Lenin die Zweiteilung Tolstois: „einerseits ein genialer Künstler, andererseits ein Gutsherr und Narr in Christo", hinzufügte. 2. Engels 7 angebliche Theorie des Realismus Engels ist es auch, dem die Kommunisten eine Doktrin des Realismus zuschreiben. Davon kann aber bei genauer Betrachtung nicht die Rede sein.

a) Der Anlaß war ganz und gar zufällig und privat. Zwei befreundete, völlig unbedeutende Schriftstellerinnen, Frau Kautsky und Miß Harkness, schickten Engels ihre Romane ins Haus. Er bedankte sich höflich und gab einige Tips.

b) Seine Definition: „Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Wahrheit des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen" (Brief an Margaret Harkness, April 1888 bezieht sich offensichtlich auf den von den Autorinnen gewählten Stil, der damals Mode war. Engels sagt nicht, daß dies der einzige zulässige Stil sei; im Gegenteil: Die Bestimmungen „Wahrheit des Details“ (im englischen Original: „truth of detail , von der kommunistischen Orthodoxie falsch als „Treue des Details" übersetzt) und „typische Charaktere unter typischen Umständen" weiten den Begriff so aus, daß faßt jede Kunst darunter subsumiert werden kann, wenn man will, sogar Kafka. Deshalb streiten sich noch heute die sowjetischen Theoretiker, ob Realismus nun eine historische oder methodologische Kategorie ist. c) Dieselbe Ausweitung erfährt der Begriff der Tendenzpoesie, zu deren Vertretern Engels Kschylus, Aristophanes, Dante, Cervantes, Schiller und „die modernen Russen und Norweger“ (also wohl Tolstoi und Ibsen) rechnet. „Idi meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung selbst hervorspringen, ohne daß ausdrücklieh darauf hingewiesen wird, und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser in die Hand zu geben* (Brief an Minna Kautsky 26 November 1885)

„Ich bin weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Tendenz-roman. wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und politischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen Das habe ich keineswegs gemeint Je mehr die Ansichten des Autors verborgen bleiben, desto besse für das Kunstwerk" (Brief an Margaret Harkness)

d) Von diesem Standpunkt aus kommt Engels zu der These vom „Triumph des Realismus". Er versteht darunter die Möglichkeit, daß ein Kunstwerk seinen Autor widerlegt, die Gestaltung über die Absicht triumphiert. Für eine wahrheitsgemäße Darstellung der Wirklichkeit seien nicht die persönlichen politischen und we! tanschaulichen Ansichten des Künstlers entscheidend, sondern künstlerische Kraft und in-tellektuelle Ehrlichkeit, die ihn befähigen, die Strukturen und Tendenzen der Gesellschaft aufzudecken. Der Legitimist Balzac hab — seiner politischen Überzeugung zum Trotz — die revolutionäre Entwicklung der Gesellschaft zutreffender beschrieben als der Sozialist Zola, weil künstlerische Gestaltung tiefer greift als politische Gesinnung. Engels sagt, daß er von Balzac „sogar in den ökonomischen Einzelheiten . . . mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen“ (Brief an Margaret Harkness Es ist kaum anzunehmen, daß Engels darin die ganze dichterische Bedeutung Balzacs sah; Marx jedenfalls schätzte mehr die phantastischen Erzählungen Balzacs als seine Gesellschaftsromane.

Es war nun folgerichtig, daß die beiden wichtigsten Kunsttheoretiker in der Nachfolge von Marx und Engels, Franz Mehring und Georgi Plechanow, den Historischen Materialismus durch Gedanken aus der Ästhetik Kants ergänzten. Plechanow schrieb eindeutig: „Die wissenschaftliche Ästhetik macht der Kunst keinerlei Vorschriften; sie sagt ihr nicht: Du mußt dich an diese und jene Regeln oder Beispiele halten. Sie beschränkt sich bescheiden auf die Beobachtung dessen, wie die verschiedenen Regeln und Beispiele entstehen, die zu verschiedenen historischen Epochen geherrscht haben“ (Briefe ohne Adresse, 1899/1900)

3 Lenins Widerspiegelungstheorie und sein Begriff der Parteilichkeit Die entscheidende Figur in der kommunistischen Kunsttheorie ist Lenin, der -wie auf allen anderen Gebieten — auch auf ästhetischem mit dem klassischen Marxismus brach, zum Teil, ohne sich dessen bewußt zu sein. Seine Auffassungen von Literatur und Kunst wurden durch zwei Einflüsse bestimmt: 1. Lenin, der die Frühschriften und damit die Intention von Marx nicht kannte, bezog seine Vorstellungen vom Marxismus vornehmlich aus den populären Schriften von Engels; insbesondere entnahm er dessen naturphilosophischen Arbeiten den Dialektischen Materialismus als ein komplettes System der Welterklärung. Das erkenntnistheoretische Prinzip: „Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis — das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität" (W. 1. Lenin, Philosophische Hefte ist zwar von Lenin selber nicht auf die Kunst angewandt worden, gilt aber seither bei den sowjetischen Theoretikern als Axiom auch in der Ästhetik. Die Kunst fungiert damit als Mittel der Erkenntnis wie die Wissenschaft, nur daß die Kunst die Wirklichkeit in Bildern widerspiegelt, die Wissenschaft in Begriffen.

2. Lenin stand in der Tradition der russischen revolutionären Literaturkritik (Belinskij, Dobroljubow, Tschernyschewskij und Pissarew), für die Kunst und Literatur immer nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen, den Zugriffen der Zensur weniger ausgesetzten Mitteln war. Tschernyschewskij beispielsweise schrieb, als man ihn in den Kerker warf und politisch mundtot machte, den Roman „Was tun?“, eine verkleidete Demonstration seiner politischen Thesen. Dieser Roman, künstlerisch belanglos, war Lenins Lieblingsbuch. Tschernyschewskij sah in der Kunst eine einfache Reproduktion der Wirklichkeit nach politischen Gesichtspunkten, ein „Handbuch des Lebens“. Plechanow, der Vater des Marxismus in Rußland, hat Tscherny-schewskijs Ästhetik wegen ihrer Plattheit und ihres politischen Subjektivismus kritisiert. Aus der Tradition der russischen revolutionären Demokraten stammen einige der berüchtigsten Postulate der sowjetischen Kunstdoktrin wie Ideengehalt, Volkstümlichkeit, Optimismus und, wenn auch noch nicht expressis verbis, Parteilichkeit. Das Prinzip der Parteilichkeit proklamiert Lenin 1905 in seiner noch heute kanonischen Schrift „Parteiorganisation und Parteiliteratur“. „Nieder mit den parteilosen Literaten t Nieder mit den literarischen Übermenschenf Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem . Rädchen und Schräubchen'des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewußten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.

Lenin machte zwei Einschränkungen: (a) „Jeder hat die Freiheit, zu schreiben und zu reden, was ihm behagt, ohne die geringste Einschränkung.

Aber jeder freie Verband (darunter die Partei) hat auch die Freiheit, iolche Mitglieder davonzujagen, die das Schild der Partei benutzen, um parteiwidrige Auffassungen zu predigen.

(b) „Kein Zweifel, das literarische Schaffen verträgt am allerwenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine Herrschaf der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf diesem Gebiet ist es unbedingt notwendig, weiten Spielraum für persönliche Initiative und individuelle Neigungen. Spielraum für Gedanken und Phantasie. Ferm und Inhalt zu sichern.

Diese beiden Einschränkungen scheinen theoretisch geeignet, eine Kunstdiktatur unmöglich zu machen. Sie sind aber praktisch schwer haltbar.

Sie setzen voraus: 1. daß es einen literarischen Raum außerhalb von Partei, Staat und Planwirtschaft gibt, was dem sowjetischen System widerspricht; 2. daß die mit der Lenkung der Kultur betrauten Persönlichkeiten tolerant und taktvoll sind, was bei Funktionären, d. h. Menschen, die Kultur nach politischen Gesichtspunkten zu verwalten haben, in der Regel nicht der Fall ist.

Immerhin: In den ersten zehn Jahren nach der Oktoberrevolution waren diese beiden Voraussetzungen tatsächlich vorhanden, und das war ein wesentlicher Grund für die kulturelle Blüte in der frühen Sowjetunion. Ein weiterer Grund, auf dem wir im Abschnitt Praxis der Kunst noch zu sprechen kommen werden, war, daß die Intentionen von Partei und Kunst damals noch parallel liefen. 4 Maos Lehre von der Breite und Tiefe Mao Tse-tung entwickelte seine ästhetischen Ansichten in seiner berühmten Rede an die Künstler und Schriftsteller am 23. Mai 1942 in seinem Bürgerkriegshauptquartier in Yenan. Originell waren zwei seiner Gedanken: a) Mao unterschied nicht nur scharf zwischen den Literaturen der verschiedenen Gesellschafts-klassen, sondern auch — innerhalb der proletarischen Literatur — zwischen einer Literatur für die Massen und einer für die Kader. Es gebe in der Kulturarbeit zwei Aufgaben: Popularisierung und Niveauhebung. „In welchem Verhältnis stehen diese beiden Aufgaben zueinander? Gemeinverständliche Werke sind einfacher und populärer, und deshalb werden sie heute von den breiten Volksmassen leichter und rascher aufgefaßt. Die Werke eines höheren Niveaus sind verfeinerter, und deshalb ist es schwerer, sie zu schaffen, und heute sind sie in der Regel mit größerer Mühe und nur langsam unter den breiten Volks-massen zu verbreiten.

Die Popularisierung sei die wichtigere und dringendere Aufgabe; es komme zunächst nicht darauf an, „Blumen auf Seide zu sticken“, sondern „Holzkohle zu Menschen zu bringen, die im Schnee frieren“. Andererseits könne man nicht ganz darauf verzichten, den Lehrern und Führern eine Literatur auf höherem Niveau zu bieten, denn sie sollen ja über den Massen stehen und sie emporziehen. b) Mao unterschied ferner zwischen dem politischen und dem ästhetischen Kriterium zur Bewertung der Kunst. Es gäbe Kunstwerke von hoher formaler Qualität, die politisch schädlich seien. Andererseits befähigten richtige ideologische Kenntnisse noch lange nicht zu künstlerischem Schaffen. Das politische Kriterium stehe an erster Stelle, doch sei auch das künstlerische wichtig, denn ein Werk ohne künstlerische Qualität habe keine Überzeugungskraft.

Maos Unterscheidung zwischen Popularität und Niveau, politischem und ästhetischem Wert erklärt sich aus den rückständigen chinesischen Verhältnissen. In China gab es seit Jahrhunderten einerseits die Literatur der Volksbücher und Märchen, die dem primitiven Bildungsstand der Massen entsprach, andererseits die bis aufs Äußerste verfeinerte Literatur der Herrenschicht, der Mandarins. Selbst die Sprache der beiden Literaturen war verschieden. Einen letzten Ausdruck fand dieser Zwiespalt der chinesischen Literatur eigenartigerweise in Mao selbst, der seinen Schriftstellern befahl, in der Sprache der Arbeiter und Bauern zu schreiben, für seinen Privatgebrauch aber erlesene Verse im klassischen Stil pinselte.

Marx und Engels hatten stets den künstlerischen Gesichtspunkt über den politischen gestellt. Lenin und Stalin vertraten, wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck, den politischen Gesichtspunkt, glaubten aber, er stimme mit dem künstlerischen überein. Mao, der den Begründern des Marxismus an Bildung und Kultur gleichkommt, erkannte wieder den Unterschied von Politik und Kunst, gab aber als bedingungsloser Revolutionär der Politik den Vorzug. Dieser bilderstürmerische Zug dürfte dafür verantwortlich sein, daß die chinesische Revolution niemals eine kulturelle Blüte hervorzubringen vermochte wie, wenigstens vorübergehend, die russische.

Radikale Tendenzen, wie die von Mao vertretenen, waren, wenn sie in der Sowjetunion auftraten (Proletkult, RAPP), stets als Linksabweichung, als Sektierertum verurteilt worden. Sie herrschen jedoch, wie wir im Abschnitt Praxis der Kunst noch sehen werden, in der Sowjetzone Deutschlands.

Das Hauptreferat auf dem V. Schriftstellerkongreß in Ostberlin, gehalten von der Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, der Dichterin Anna Seghers, die China mehrfach bereist hat, lautete: „Die Tiefe und Breite der Literatur." 5. Der Sozialistische Realismus Der Name Sozialistischer Realismus stammt von Gorkij, der darunter recht vage eine Verbindung von Realismus und sozialistischer Romantik verstand. Gestützt auf Gorkijs Prestige, dekretierte Stalins Chefideolöge Andrej Shdanow auf dem 1. Kongreß der Sowjetschriftsteller 1934 den Sozialistischen Realismus als verbindliche Kunstdoktrin. Obwohl immer wieder zitiert und interpretiert, blieb der Begriff schillernd und umstritten. In der Regel pflegen die Funktionäre und Ideologen einige Grundprinzipien wie Parteilichkeit, Volkstümlichkeit, Gegenwartsnähe, Optimismus, positiver Held damit zu verbinden, aber es werden auch Werke von Gorkij, Scholochow und Brecht, die keines dieser Prinzipien aufweisen, unter den Begriff gefaßt. 1956 fragte Scholochow seinen Kollegen Fadejew, was Sozialistischer Realismus sei. Fadejew, wie Scholochow ein vielgerühmter „Meister des Sozialistischen Realismus“ und als langjähriger Generalsekretär des Schriftstellerverbandes sogar für die Durchsetzung der Doktrin verantwortlich, antwortete: „Der Teufel weiß, was das

ist.“

Die Verwirrung kommt daher, daß der Sozialistische Realismus als ästhetische wie als weltanschauliche Kategorie nicht zu fassen ist; er hat weder mit Realismus noch mit Sozialismus etwas zu tun. Es handelt sich in Wirklichkeit um eine politische Kategorie, die sich aus dem System des totalitären Staates ergibt.

Die Stärke des totalitären Staates besteht darin, daß er ein geschlossenes gesellschaftliches System schafft, eine Art Aquarium, worin sich die Menschen wie Goldfische bewegen. Alles in diesem Lebensraum ist so organisiert, als wäre das Aquarium die Welt an sich. Alle Äußerungen des Lebens, Zeitungen, Bücher, Kunst, Wissenschaft, der Alltag und der Feiertag, scheinen die eine und ausschließliche Doktrin der Partei zu bestätigen. Selbst Politik und Wirtschaft folgen scheinbar exakt den Gesetzen, die die Partei postuliert hat, denn der totale Staat hat die Macht, alle Vorgänge, wenn auch nicht immer zu bestimmen, so doch auf alle Fälle in seinem Sinne zu interpretieren.

Man stelle sich einen Menschen vor, der innerlich fest überzeugt ist, daß die herrschende Meinung falsch ist. Sein ganzer Lebenskreis aber: die Nachrichten und Kommentare in Presse und Funk, die Transparente auf den Straßen, die Geschichtsbücher und Kunstwerke, sogar die unter Spitzelfurcht lebenden Freunde und Bekannten sind unentwegt damit beschäftigt, teils mit dem Holzhammer, teils mit den spitzfindigsten Argumenten die Ansichten der Partei zu bekräftigen. Eines Tages unterliegt auch der Widerstrebendste der Allgewalt des Absurden und beginnt, an der Zuverlässigkeit des eigenen Verstandes zu zweifeln.

Für den totalen Staat ist es eine Kardinalfrage, daß es ihm gelingt, den Horizont der Menschen lückenlos mit Mythen zu umstellen. Deshalb muß er einen Eisernen Vorhang niederlassen, der die Bewohner seines Landes von der Außenwelt abschließt. Deshalb muß er die Freizeit, das Privatleben, den Kunstgenuß jedes einzelnen Bürgers regulieren, auf daß sich kein Kämmerlein finde, wohin man vor dem allumfassenden atmosphärischen Drude flüchten könnte.

Es ist dabei gar nicht so wichtig, nach welchen Prinzipien, nach welcher Ideologie das gesellschaftliche Leben ausgerichtet wird. Bolschewismus und Nationalsozialismus haben von geradezu entgegengesetzten Plattformen aus ein verblüffend ähnliches Machtsystem entwickelt. Es ist zum Beispiel durchaus sekundär, ob das menschliche Liebesleben im Sinne der nationalsozialistischen Rassenhygiene oder der muffigen stalinistischen Prüderie geordnet wird — wichtig ist vor allem, daß die Macht des Staates in die intimste Sphäre des menschlichen Daseins dringt. Wenn alle Diktaturen einige bestimmte Verhaltensmuster bevorzugen: Kollektivismus, Chauvinismus, „gesundes Volksempfinden’ usw., so bedeutet das nur, daß diese Elemente vom Standpunkt der Staatsmacht aus am brauchbarsten sind. Sie gelten aber nicht absolut. Im Rahmen einer konsequent naturalistisch-plakativen Kunst pflegten die Stalinisten das durch und durch formalistische Petersburger Ballett, weil ihnen in diesem Falle die Förderung des Nationalbewußtseins wichtiger schien als eine direkte propagandistische Aussage, wie sie der Ausdruckstanz hätte vermitteln können. Es gibt in der Geschichte jedes totalitären Staates zahlreiche Beispiele, wie die Beeinflussungsformen aus Zweckmäßigkeitsgründen gewechselt wurden: vom Pazifismus zum Militarismus, vom Atheismus zur Staatskirche und umgekehrt. Ausschlaggebend ist, daß das System weiter reibungslos ineinandergreift, daß es in sich stimmt beziehungsweise stimmend gemacht wird.

Die Kunst des Sozialistischen Realismus ist also in erster Linie ein Instrument der Massenbeeinflussung und des psychischen Terrors, eine Komponente des gesellschaftlichen Zwangssystems, wie es der Partei-und Staatsapparat, die Plan-bürokratie, die Massenorganisationen, die Propaganda und die Geheimpolizei auf ihre Weise sind. Niemand hat diese Funktion der Literatur treffender charakterisiert als Stalin. Bei dem Schriftstellertreffen 1932 in der Villa Gorkijs, das der Ausrichtung des literarischen Lebens vorausging, nannte er die Sowjetsdiriftsteller „Ingenieure der menschlichen Seele“ Im Statut des sowjetischen Schriftstellerverbandes wird der Sozialistishe Realismus definiert als „Darstellung der Wirklihkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“, d. h. als Darstellung der Wirklihkeit niht wie sie ist, sondern wie sie sein soll. 6. Der Grundwiderspruch des totalitären Systems Das totalitäre System hat eine entscheidende Schwäche. Der Mensch kann nicht restlos und endgültig definiert werden; die künstliche Umwelt deckt ihn nicht. Je brutaler er in ein Schema gepreßt wird, desto eher wird er es sprengen. Eine Orwellsche Welt, das klassische Modell einer unabänderlich totalitären Gesellschaft, ist nicht zu realisieren. Selbst wenn der Eiserne Vorhang undurchdringlich wäre, wenn die Erinnerung an die Kulturgeschichte gänzlich ausgelöscht werden könnte — Voraussetzungen, die nie eintreten —, selbst dann würde das Leben immer wieder elementar Menschlichkeiten erzeugen, die das System sprengen. Die Diktatur kann eine Frau zwingen, sich von ihrem Mann, der im Schauprozeß verurteilt wurde, loszusagen, sie wird aber niemals erreichen, daß die Frau das als natürlich hinnimmt. Die Diktatur kann eine platte, illustrative Musik vorschreiben, sie hat aber keine Macht darüber, daß ein wirklich musikalischer Mensch, sei er ein noch so treuer Genosse, diese Parteimusik auch liebt. Die Partei kann vielleicht die Archive unter Verschluß nehmen und korrigieren, niemals aber die Erinnerungen der Menschen an die Zickzack-Wendungen der Parteilinie hinwegwischen.

Ein totalitäres Regime muß ständig mit dem Wesen des Menschen in Konflikt geraten, das eben mehr ist als eine soziologische Formel. Der Grundwiderspruch jeder totalitären Gesellschaft ist der Widerspruh zwishen dem System und der unendlih komplizierten Welt an sih, die der geschickteste Dialektiker niht auf einen Nenner bringen kann.

Dieser Widerspruh bewirkt, daß das Regime wohl Wahrheit und Menshlihkeit aus der Literatur verbannen und durh Propagandafloskeln ersetzen kann, daß ihm aber im gleihen Augenblick die Kunst als solhe unter den Händen zerbriht. Gerade die Überzeugungskraft der Kunst, die die Bolshewisten zu ihrer Okkupation reizte, ist im Sozialistishen Realismus ausgelösht. Das Regime kann shöpferishe Persönlihkeiten, die der Wahrheit die Ehre geben, töten oder in den Konzentrationslagern zu Grunde gehen lassen, doh die Folge ist niht eine Dienstbarkeit des Geistes, sondern ein verheerender Mangel an Initiative und Begabung. Es liegt auf der Hand, daß ein solhes System zu Krisen führen muß: Weder werden sih die Schriftsteller und Künstler, mag man sie noh so sehr unter Druck setzen, je mit der Vergewaltigung ihrer Intentionen abfinden, nodi kann eine Gesellschaft auf die Dauer ohne ein kulturvolles Leben, ohne die Leistungen von Kunst und Wissenshaft existieren. Das kulturpolitische Tauwetter, das nah Stalins Tod einsetzte und nie mehr ganz eingedämmt werden konnte, ist drastisher Ausdruck der Krise, wenn niht Agonie des Totalitarismus. 7. Revisionismus und Reformkommunismus Nah Stalins Tod, im Tauwetter, wurde in allen Ländern des Ostblocks, in allen kommunistishen Parteien die Forderung laut nah Wiederherstellung der kulturellen Freiheit. Theoretisch formuliert wurde diese Forderung u. a. in der Sowjetunion von Ilja Ehrenburg und den jungen Kritikern Pomeranzew, Schtscheglow und Abramow, in Ungarn von Georg Lukacs, Tibor Dery und Julius Hay, in Polen von Leszek Kolakowski, Jan Kott, Julian Hohfeld und Roman Zimand, in der Sowjetzone Deutschlands von Ernst Bloh, Wolfgang Harich und Hans Mayer, in Jugoslawien von Milovan Djilas und Josip Vidmar, in Frankreih von Henri Lefebvre, in China von Hu Feng und Ting Ling. Lassen wir die Untershiede beiseite, die durch die Persön-lichkeiten und die politische Situation in den einzelnen Ländern bedingt sind, so schälen sich bei ihnen allen übereinstimmend folgende Tendenzen heraus: a) Sie verfehten einen „menshlihen Sozialismus“ und nehmen deshalb die humanistishe Intention von Marx wieder auf. b) Sie verwerfen Lenins Prinzip der Parteilichkeit und verlangen statt dessen von der Kunst unbedingte Aufrihtigkeit. c) Sie verwerfen die Leninshe Widerspiegelungstheorie für die Kunst und reduzieren deren Erkenntnisfunktion auf das im Historishen Materialismus definierte Maß. d) Sie bestreiten der Partei und dem Staat das Reht, die Kunst zu kommandieren, und verwerfen den Sozialistishen Realismus als ein terroristisches Instrument zur Unterdrückung der Künste; sie fordern statt dessen die völlige Freiheit der Kunst in Inhalt und Form, das Reht zur Individualität und zum Experiment. e) Sie verwerfen die prinzipielle Unterscheidüng von bürgerliher und sozialistischer Kunst und bekennen sih zur Einheit der Weltkultur.

Die Moskauer Orthodoxie hat diese Tendenzen — ebenso wie gleihgeartete in Politik, Wirtshaft, Wissenshaft, Pädagogik und Moral — als „modernen Realismus“ bezeihnet (in Analogie zum Revisionismus in der Sozialdemokratie der Jahrhundertwende) und sie als Abweihung vom Marxismus-Leninismus verurteilt. Dennoh hat sih auh die Moskauer Orthodoxie von der Kulturpolitik Stalins und Shdanows gelöst. Ihre Konzeption, die kulturpolitishe Konzeption des Chruschtschowschen Reformkommunismus, untersheidet sih von der des Revisionismus in folgender Hinsicht: a) Sie verfiht die Weltrevolution und geht deshalb weniger auf Marx als auf Lenin zurück. b) und c) Sie hält fest sowohl an der Parteilihkeit wie an der Widerspiegelungstheorie; Literatur und Kunst sollen nah wie vor „eine große ideologishe und erzieherishe Rolle“ spielen (Programm der KPdSU, 1961, Zweiter Teil, V. 4). Eingeräumt wird jedoh die Besonderheit der Kunst einerseits gegenüber der Propaganda, andererseits gegenüber der Wissenshaft. d) Sie hält fest am Begriff des Sozialistishen Realismus, entkleidet ihn aber seiner terroristishen Funktion, faßt ihn ungefähr wieder im Sinne Gorkijs als realistishe Kunst mit sozialistisher Tendenz auf. Die Hegemonie von Partei und Staat über die Kunst soll niht administrativ, sondern ideologish ausgeübt werden; erstrebt wird eine freiwillige Unterordnung der Künstler unter die Ziele des Kommunismus. e) Sie hält fest an der Untersheidung von bürgerliher und sozialistisher Kunst, erkennt aber Übergänge und Bündnismöglihkeiten an und nimmt die Auseinandersetzung mit den Kunstwerken und Kunsttheorien des Westens auf (Koexistenz).

Charakteristisch für die Kulturpolitik des Chrushtshowshen Reformkommunismus sind Inkonsequenz und Ambivalenz, wie wir sie shon bei Lenin festgestellt haben. Der Begriff des Sozialistishen Realismus vershwimmt vollständig, und es fehlt jede Vorstellung, wie die Hegemonie der Partei und des Staates über die Kunst durhgesetzt werden soll, wenn die Künstler niht mitmahen. Die Kulturpolitik Chrushtshows trägt wie die Lenins alle Züge des Übergangs.

Der Reformkommunismus des Moskauer Zentrums nimmt eine Mittelstellung ein zwishen dem Revisionismus des Belgrader Zentrums (der kulturpolitish auh in Polen herrsht) und dem ungebrohenen Totalitarismus des Pekinger Zentrums (der kulturpolitish auh in der Sowjetzone Deutshlands herrsht).

III. Praxis der Kunst

1. Die Revolutionsepoche Eine Voraussetzung für die kulturelle Blüte in der frühen Sowjetunion war das hohe geistige, literarische und künstlerische Niveau, das im sogenannten Silbernen Zeitalter vor der Revolution geschaffen worden war. Träger der Revolutionskunst war die aus dem Bürgertum und dem niederen Adel stammende Intelligenzija, die im wesentlichen vor der Revolution herangewachsen war. Es wäre jedoch falsch, in der kulturellen Blüte der frühen Sowjetunion allein einen Abglanz des Silbernen Zeitalters zu sehen, Nachwirkungen vorrevolutionärer Kulturleistungen, zu deren Liquidierung die Bolschewisten nur noch keine Zeit gefunden hatten. In Wahrheit wurzelte die Revolutionskunst auch in der bolschewistischen Kulturpolitik jener Jahre. a) In den Jahren der revolutionären Umwälzung In Rußland befand sich der Bolschewismus in Übereinstimmung mit wesentlichen Tendenzen des Zeitgeistes: Maßnahmen wie der Friedens-Schluß, die Landverteilung, die Industrialisierung, die sozialen Reformen, der Ausbau der Yolksbildung, die Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung und der Nationalitäten am kulturellen Leben fanden die Zustimmung großer Teile des Volkes, auch vieler Intellektueller. Viele Schriftsteller und Künstler hatten unter dem Zaren links gestanden und erhofften von der Revolution die Erfüllung ihrer Träume. Viele waren avantgardistisch gesinnt und begrüßten das Hinwegräumen der gesellschaftlichen und akademischen Konventionen. Sie empfingen von den revolutionären Ideen und Aufgaben reiche schöpferische Impulse. Die Verstaatlichung der Kultureinrichtungen bot ihnen materielle Sicherheit und Förderung.

Dieses Bündnis von linker Kunst und linker Politik bedeutete nie eine Identifikation. Die Partei klassifizierte die Künstler deshalb als . Mitläufer“. b) Die Partei regierte damals zwar diktatorisch, aber noch nicht totalitär; sie reglementierte nicht alle Gebiete der Gesellschaft in gleichem Maße. Nach den großen Aufständen des Jahres 1921 in Kronstadt und Tambow ließ Lenin sogar in der Wirtschaft private Elemente zu (NEP). In der Kunst übte die Partei vorerst nur eine politische, noch keine ästhetische Zensur aus; sie verlangte von den Künstlern staatsbürgerliche Loyalität, bestand aber nicht auf Übereinstimmung mit der Parteiideologie.

Das Zentralkomitee beschloß 1925 eine Resolution „Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der schöngeistigen Literatur“, die den Mitläufern schöpferische Freiheit und materielle Unterstützung zusicherte. Zwar wurde in der Resolution der Klassencharakter der Kunst betont und die Möglichkeit einer neutralen und unpolitischen Kunst bestritten, zwar wurde erklärt: . Die Eroberung der führenden Positionen auf dem Gebiet der schöngeistigen Literatur

muß früher oder später eine Tatsache werden“ aber gleichzeitig wurde anerkannt, daß die Formen der Kunst „unendlich mannigfaltig“ sind, daß das Proletariat noch keine Zeit gehabt habe, einen allgemeinverbindlichen ästhetischen Kanon auszuarbeiten, sich deshalb auf die »qualifizierten Spezialisten der literarischen Technik“ stützen müsse, daß das Proletariat im Klassenbündnis mit den Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz stehe, deren beste Kräfte zu sich herüberziehen und sich die Hegemonie in der Kunst erst verdienen müsse. . Deshalb muß sich die Partei für den freien Wettbewerb der verschiedenen Gruppierungen und Strömungen auf dem betreffenden Gebiet ausspreshen. Jede andere Lösung wäre eine staatsbürokratische Pseudolösung.

In den zwanziger Jahren gab es also in der Sowjetunion miteinander konkurrierende Schriftstellerorganisationen. Die wichtigsten waren: Der Proletkult (1925: Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller, RAPP), die Futuristen (1923: Linke Literaturfront, LEF), der Verband der Bauerndichter, die Serapionsbrüder, die Formalisten, der Perewal (Gebirgspaß). Ein Versuch des Proletkult unter Alexander Bogdanow, die Hegemonie an sich zu reißen, wurde von Lenin 1920 zurückgewiesen. Die Proletarischen Schriftsteller und die Futuristen traten prononciert kommunistisch auf; die Bauern-dichter, Serapionsbrüder und Formalisten verhielten sich sympathisierend bis indifferent; der Perewal, gegründet von Trotzkijs Freund Alexander Woronskij, vereinigte Kommunisten und Mitläufer und setzte sich für kulturelle Freiheit ein. Ohne die Vielfalt der Ideen und Meinungen, das Recht zum Experiment, die stilbildende Kraft der Schulen und die harten, aber aufrichtigen und freien Diskussionen wäre die Blüte von Literatur und Kunst in der frühen Sowjetunion nicht möglich gewesen. c) Die bolschewistischen Führer der Revolutionszeit, die sich mit Kulturfragen befaßten: Lenin, seine Frau Krupskaja, Trotzkij, Bucharin, Radek, vor allem der Volksbildungskommissar Lunatscharskij, stammten aus der Intelligenzija, waren kultivierte, hochgebildete Leute. Unabhängig von ihren politischen Ansichten und ihrem persönlichen Geschmack war es für sie selbstverständlich, daß man in den künstlerischen Prozeß nicht durch administrative oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen eingreifen darf. Gorkij genoß bei ihnen großes Ansehen und nutzte es zum Schutze der Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler. So kam es, daß die ohnehin vagen Parteidirektiven meist so ausgelegt wurden, daß alles, was künstlerisch wertvoll und politisch halbwegs loyal schien, veröffentlicht werden konnte.

Wie Lenin 1905 in „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ (vgl. Kap. II/3) versuchte die bolschewistische Kulturpolitik in den ersten zehn Jahren nach der Oktoberrevolution einen Modus vivendi zwischen Parteilichkeit und schöpferischer Freiheit herzustellen. Grundlage dieser Politik war die eschatologische Erwartung der Bolschewisten: Über kurz oder lang sollte die klassenlose kommunistische Gesellschaft anbrechen, in der es, mangels anderer sozialer Wurzeln, nur noch eine einzige, die kommunistische Kultur geben würde. Zwangsmaßnahmen schienen unter diesen Umständen überflüssig, sogar schädlich, denn sie gefährdeten den Aufbau und das Bündnis mit der Intelligenz. Ein gewisses Maß an Gesellschaftskritik an den Kunstwerken war nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, denn es konnte dazu beitragen, die „kapitalistischen Überreste" und „bürokratische Auswüchse" in der Sowjetunion zu beseitigen.

Die Kunst der frühen Sowjetunion war also eine Kunst der revolutionären Illusionen, vom Standpunkt der Künstler wie der Partei aus. 2. Die großen Leistungen der Sowjetkunst Repräsentanten der Revolutionskunst waren u. a. in der Lyrik: Alexander Blöde (Die Zwölf), Sergej Jessenin (Sowjetruß), Wladimir Majakowskij (150 Millionen, Lenin, Gut und Schön), Boris Pasternak (Das Jahr 1905), Ossip Mandelstam (Erster Januar 1924); in Roman und Erzählung: Maxim Gorkij (Klim Samgin), Michail Scholochow (Der stille Don), Alexej Tolstoj (Der Leidensweg, Peter L), Ilja Ehrenburg Julio Jurenito), Jewgenij Samjatin (Wir), Isaak Babel (Reiterarmee), Boris Pilnjak (Die Wolga fällt ins Kaspische Meer), Fjodor Gladkow (Zement), Alexander Fadejew (Die Neunzehn), Konstantin Fedin (Städte und Jahre), Leonid Leonow (Die Dachse), Artjom Wesjolyj (Mit Blut gewaschenes Rußland), Alexander Tarassow-Rodinow (Schokolade), Iwan Katajew (Milch), Jurij Olescha (Neid), Bruno Jasienski (Der Mensch wechselt die Haut); in der Dramatik: Maxim Gorkij (Jegor Bulytschow und andere, Wassa Schelesnowa), Wladimir Majakowskij (Mysterium Buffo), Serge) Tretjakow (Brülle China), Wladimir Kirschon (Roter Rost), Valentin Katajew (Eine Schnur geht durchs Zimmer); in der Satire: Ilja Ilf und Jewgenij Petrow (Zwölf Stühle), Michail Soschtschenko (Schlaf schneller, Genosse);

im Theater: Wsewolod Meyerhold (Revolutionstheater), Alexander Tairow (Entfesseltes Theater), Jewgenij Wachtangow (Spieltheater) und die jüdischen Bühnen: im Film: Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer Zehn Tage, die die Welt erschütterten), Wsewolod Pudowkin (Die Mutter, Sturm über Asien), Alexander Dowshenko (Erde): in der Musik: Sergej Prokofjew (Die Liebe zu den drei Orangen), Dmitrij Schostakowitsch (Lady Macbeth von Mzensk), Aram Chatschaturjan (Gajaneh); in der bildenden Kunst: Wassilij Kandinskij (Professor an der Moskauer Kunstakademie), Marc Chagall (Kunstkommissar in Witebsk, Bühnenbildner am Jüdischen Kammertheater, Moskau), Kasimir Malewitsch und El Lissitzkij (Begründer des Suprematismus).

Andererseits mußten zahllose Intellektuelle, die die revolutionären Illusionen nicht teilten, Ruß-land verlassen — eine Massenemigration von Schriftstellern und Künstlern, die nur mit der aus Deutschland 1933 zu vergleichen ist.

U. a. emigrierten die Schriftsteller Leonid Andrejew, Iwan Bunin, Dimitrij Mereschkowski, Wjatscheslaw Iwanow, Alexej Remisow, der Philosoph Nikolaj Berdjajew, die Komponisten Alexander Glasunow, Igor Strawinskij, die Tänzer Waslaw Nijinskij, Tamara Karsawina, Anna Pawlowa, der Sänger Fjodor Schaljapin, der Maler Ilja Repin. Ihnen folgten enttäuschte Revolutionäre wie Kandinskij, Chagall und Samjatin. Blöde, dem die Ausreise verweigert wurde, starb 1921 im Elend, ebenso ein Jahr später der Dichter Weiemir Chlebnikow. Der Dichter Nikolaj Gumiljow wurde 1921 trotz verzweifelter Rettungsversuche Gorkijs als angeblicher Konterrevolutionär erschossen. Jessenin beging 1925 Selbstmord. 3. Der Stalinismus Ende der zwanziger Jahre fielen die Voraussetzungen fort, die das Gedeihen der Kunst in der frühen Sowjetunion ermöglicht hatten. a) Die kommunistische Utopie materialisierte sich zur stalinistischen Realität; das erträumte Paradies entpuppte sich als eine neue Klassen-und Gewaltherrschaft, die die alte unter dem Zaren noch übertraf. Die Tendenz der Revolutionskunst: ihre Wahrheitsliebe, ihre Anprangerung allen Übels und ihr leidenschaftlicher Wille zur Veränderung und Verbesserung der Welt, wandte sich nun gegen den Kommunismus selbst Enthusiastische Anhänger des Revolutionskommunismus gingen zur Anklage des kommunistischen Systems über: Majakowskij schrieb Satiren gegen die Funktionärsbürokratie (Die Wanze und Das Schwitzbad); Meyerhold setzte sie in Szene; Schostakowitsch schrieb Musik dazu. Die Stücke wurden, wie viele andere, verboten; Majakowskij erschoß sich 1930 — dramatischer Schlußpunkt einer großen Illusion, b) Mit der Proklamation des ersten Fünfjahrplans (1928—32) endete politisch, wirt-schaftlich und kulturell die Übergangsperiode. Pluralismus und Toleranz wurden nicht mehr geduldet; die von Lenin präjudizierte Parteilichkeit wurde Staatsdoktrin. Die Partei beauftragte die RAPP unter Leopold Auerbach mit der Ausrichtung des kulturellen Lebens. Die Literatur wurde dem „sozialen Auftrag“ unterworfen und in den „sozialistischen Wettbewerb" zur Planerfüllung eingespannt.

Diese zweite „proletarische Episode" der Sowjetliteratur scheiterte wie die erste (der Proletkult), offenbar, weil das Programm der RAPP den Anforderungen eines totalitären Systems nicht gerecht wurde. Die proletarische Exklusivität stieß viele gerade der begabtesten Kräfte ab, die weder Proletarier noch Kommunisten waren. Die Beschränkung des Sujets auf den Produktionsprozeß ließ alle anderen Lebensbereiche, um deren politische Durchdringung sich die Partei bemühte, außer Betracht Die Orientierung auf die Arbeiter und Bauern widersprach den ideologischen Bedürfnissen der neuen Klassengesellschaft und ließ die Gefahr einer Autonomie gegenüber der Partei aufkommen. Die Nähe zur Realität und die Bemühung um dokumentarische Treue gaben der RAPP-Literatur bei aller Primitivität Züge der Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit; nicht nur die Erfolge, auch die Schwierigkeiten und Mängel des Aufbaus wurden dargestellt. Hinzu kam, daß Gorkij, der nach einigen Jahren des Exils in die Sowjetunion zurückkehrte und von Stalin zunächst hofiert wurde, den engen Horizont und die mangelhafte Qualität der proletarischen Literatur kritisierte. 1932 wurde die RAPP wie alle anderen revolutionären Kunstorganisationen durch Dekret des Zentralkomitees aufgelöst und in einen Einheitsverband der Sowjetschriftsteller überführt. Bei der Aussprache in der Villa Gorkijs forderte Stalin die Schriftsteller auf, „Ingenieure der menschlichen Seele“ zu werden. Die Ära des Sozialistischen Realismus begann. c) Die Diadochenkämpfe nach Lenins Tod endeten mit dem Untergang der revolutionären Intelligenz. 1927: Sturz Trotzkijs, Sinowjews und Kamenews; Verbannung Trotzkijs und seiner Freunde, darunter Radek und Woronskij, nach Mittelasien. 1929: Ausweisung Trotzkijs: Sturz Bucharins; Rücktritt Lunatscharskijs. Bucharin und Radek durften zwar noch auf dem 1. Sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934 sprechen, hatten aber keinen Einfluß mehr. Über die Sowjetkultur bestimmten von nun an Stalin und Shdanow; der eine ein mißtrauischer, Byzantinismus fordernder Despot mit Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Intelligenz und kleinbürgerlich-konventionellem Geschmack, der andere ein eiskalter, zynischer Doktrinär.

Der Übergang von der revolutionären zur totalitären Phase der sowjetischen Kulturpolitik war ein Kampf auf Leben und Tod, in dem physischer Terror die entscheidende Rolle spielte. Zwei Terrorwellen sind zu unterscheiden:

1. Die Jeshowschtschina (Große Säuberung 1936— 39, so genannt nach dem damaligen Chef der Geheimpolizei, Jeshow). Sie begann im Kulturleben mit dem Verbot der Opern „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch und „Die Recken" von Borodin in der Textfassung von Demjan Bednyj; 1937 wurde das Meyerhold-Theater geschlossen. Die Aktionen bezeichneten die Stoßrichtungen der neuen Kulturpolitik: Schostakowitsch wurde Formalismus vorgeworfen (soviel wie Entartete Kunst bei den Nationalsozialisten), Bednyj Antipatriotismus (Verunglimpfung der russischen Vergangenheit), Meyerhold neben Formalismus Trotzkismus (Festhalten an den revolutionären Idealen).

Als Opfer der Säuberung starben in Folter-oder Erschießungskeller oder im Zwangsarbeitslager der größte Theaterregisseur der Sowjetunion. Begründer des modernen Welttheaters, Wsewolod Meyerhold, die Schriftsteller Babel, Pilnjak, Mandelstam, Wesjolyj, Iwan Katajew, Tarassow-Rodianow, Tretjakow, Kirschon, Jasienskij und viele andere, der Publizist Michail Kolzow (der Karpow in Hemingways „Wem die Stunde schlägt“), alle bedeutenden Kritiker, darunter der Führer des Perewal. Woronskij, wie sein Gegenspieler, der Führer der RAPP, Auerbach, und Gorkijs Freund Fürst Dimitri Mirskij. Gorkij wurde aller Wahrscheinlichkeit nach vergiftet. Olescha wurde nach Turkmenien deportiert.

2. Die Shdanowschtschina (1946—48, Ausrichtung des Kulturlebens nach der vorübergehenden Liberalisierung während des Krieges, genannt nach Stalins Chefideologen Shdanow). Stationen dieser Säuberung waren die Beschlüsse des Zentralkomitees „Über die Zeitschriften Swesda und Leningrad" (14. August 1946, ächtete die Schriftsteller Soschtschenko und Anna Achmatowa), „Über das Repertoire der Schauspielhäuser und Maßnahmen zu seiner Verbesserung“

(26. August 1946, führte zur Absetzung der Theaterleiter Tairow und Nikolaj Akimow), „Über den Film , Das große Leben'“ (4. September 1946, verurteilte das Schaffen von Eisenstein und Pudowkin), „Über die Oper , Die große Freundschaft von W. Muradeli"“ (10. Februar 1948, verurteilte das Schaffen der fünf führenden sowjetischen Komponisten, Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan, Mjaskowskij und Schebalin). Im Verlauf der 1948 einsetzenden Kampagne gegen Zionismus und heimatlosen Kosmopolitismus (der Stalinschen Judenverfolgung) wurden so gut wie alle jüdischen Kultur-einrichtungen: Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Theater, Bibliotheken, Schulen, geschlossen. 26 prominente jüdische Intellektuelle, darunter die Schriftsteller Itzig Fesser, David Bergelson, Leib Kwitko und Peretz Märkisch, wurden verhaftet und 1952 erschossen. 4. Ausrichtung der Volksdemokratien In den von der Sowjetarmee besetzten Ländern Mittel-und Osteuropas wurden nach einer pseudodemokratischen Übergangsphase (antifaschistisch-demokratische Ordnung) ebenfalls die Prinzipien der stalinistischen Kulturpolitik durchgesetzt. Als Beispiel die Sowjetzone Deutschlands: 1945 wurde unter Führung des kommunistischen Dichters Johannes R. Becher ein Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründet, der Intellektuelle aller weltanschaulichen und künstlerischen Richtungen vereinigte. 1951 erschienen unter dem Pseudonym Orlow im Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, Tägliche Rundschau, inquisitorische Artikel, in denen die gesamte moderne Kunst als imperialistisch, antihuman und entartet gebrandmarkt wurde. Das ZK der SED faßte einen Beschluß gegen den Formalismus; die Opern „Antigonae" von Carl Orff und „Das Verhör des Lukullus“ von Paul Dessau und Bertold Brecht wurden verboten, Theaterstücke und Inszenierungen abgesetzt, das Werk selbst sozialkritischer Künstler wie Emst Barlach und Käthe Kollwitz verdammt, Wandbilder übermalt, Kunstwerke aus den Museen entfernt, die Baupläne der Architekten revidiert usw. Unter den drei bis vier Millionen Menschen, die von 1945 bis 1961 die Zone verließen, waren Intellektuelle von hohem Rang: die Schriftsteller Ricarda Huch, Theodor Plievier, Hermann Kasack, Alfred Kantorowicz, aus der jüngeren Generation Gerhard Zwerenz und Uwe Johnson, die Philosophen Nicolai Hart-mann, Eduard Spranger, Theodor Litt, Max Bense und Ernst Bloch, der Bildhauer Gustav Seitz, die Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Josef Keilberth, Erich Kleiber, Arthur Rother, die Regisseure Gustav Gründgens, Ernst Legal, Lothar Müthel, Falk Harnack, Heinz Arnold, die Tanzmeisterinnen Mary Wigman, Tatjana Gsovsky und die ganze erste Garnitur der Sänger und Schauspieler von den führenden Bühnen der Zone, in Ostberlin und Dresden. Die Zahl der geflüchteten Wissenschaftler geht in die Tausende. (In den ersten Jahren nach der Besetzung wurden zahlreiche Wissenschaftler, vor allem Atomphysiker und Raketenspezialisten, in die Sowjetunion verschleppt, darunter Nobelpreisträger Gustav Hertz und V-Waffen-Konstrukteur Manfred von Ardenne.) Hunderte von Intellektuellen: Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Professoren, wissenschaftliche Assistenten, Lehrer, Ärzte, dazu zahllose Studenten, wurden verhaftet und oft zu hohen Zuchthaus-strafen verurteilt. Ähnlich ging es in den anderen Volksdemokratien zu; man denke an das Auftreten des ungarischen Kulturministers Revai gegen den Kritiker Georg Lukacs 1949 und den Schriftsteller Tibor Dery 1952, an den Selbstmord des Lyrikers Konstantin Biebl 1951 in Prag (alle drei alte Kommunisten). Über die Vorgänge in der chinesischen Volksrepublik schrieb 1957 ein mutiger Professor aus Mittelchina an Mao Tsetung: „Wir haben gegen die Intellektuellen Bestrafungsmethoden angewandt, wie sie nicht einmal Bauern gegen Grundbesitzer oder Arbeiter gegen Kapitalisten anwenden würden. Während der Gesellschaftsreform-Kampagnen gab es unzählige Intellektuelle, die solche geistigen Torturen, Demütigungen und Verfolgungen nicht zu ertragen vermochten und es vorzogen, sich von hohen Gebäuden in die Tiefe zu stürzen, sich zu ertränken, zu vergiften, sich die Kehle durchzuschneiden oder sonstwie in den Tod zu gehen. Auch die Greise unter den Intellektuellen fanden keinen Unterschlupf, und selbst schwangeren Frauen gegenüber kannte man keine Nachsicht . . , Im Vergleich zu unseren Foltermethoden waren die Methoden der Faschisten in Auschwitz . . . plump und ungeschickt, dafür prompter und . wohlwollender'. . . Das Blutbad unserer Partei unter den Intellektuellen wird ebenso wie die vom Tyrannen Kaiser Tsin Schi-hwang-ti [Erbauer der großen Mauer] vollzogene Massenbestattung von Schriftstellern bei lebendigem Leibe als untilgbarer Schandfleck in die Geschichte Chinas eingehen. So etwas muß bis ins Innerste erschüttern. Wir aber sind froh und selbst-zufrieden und sagen: . Wichtig sind vor allem die Errungenschaften.'Wo sind denn die Errungenschaften?" (Yang Shih-chan Resümee eines 10 000-Worte-Briefes an Mao Tse-tung. Chang Chiang Jih Pao, Hankau, 13. Juli 1957). 5. Sonnen-und Schattenseiten der Kunstdiktatur Wir haben das Wesen des totalitären Systems in Kap. II/5 charakterisiert. Bei der Auseinandersetzung mit diesem System darf nicht übersehen werden, daß es der Kultur einige Vorteile zu bieten scheint, die propagandistisch ausgeschlachtet werden. Diese scheinbaren Vorteile sind untrennbar mit den Schattenseiten des Systems verbunden. a) Da Kultur nicht mehr Privatsache, sondern eine Angelegenheit von höchster staatspolitischer Bedeutung ist, stellt das Regime für kulturelle Zwecke große finanzielle Mittel zur Verfügung. Zahlreiche staatlich geförderte und natürlich auch kontrollierte Institutionen und Organisationen sind mit der Wahrnehmung kultureller Aufgaben betraut. In Stadt und Land werden Kulturhäuser gebaut. Die Großbetriebe besitzen besondere Fonds für Veranstaltungen, Ankauf von Kunstwerken, Verteilung von Buchprämien, Einrichtung von Bibliotheken, verbilligten Theaterbesuch und dergleichen. Bücher sind in der Regel billiger als im Westen, weil die wenigen (durchweg staats-oder organisationseigenen) Verlage über institutionell gesicherte Absatzmöglichkeiten verfügen. Der Denkmalpflege, der Restauration bedeutender Bauwerke wird große Aufmerksamkeit gewidmet.

Dazu ist zu sagen:

Man sollte das Mäzenatentum des totalitären Regimes nicht überschätzen. Es tritt nur besonders augenfällig in Erscheinung, weil es im Volkswirtschaftsplan ausgewiesen und von der Propaganda herausgestellt wird. Das verstreute und alltägliche Mäzenatentum öffentlicher und privater Hand in demokratischen Ländern bringt alles in allem erheblich mehr Mittel für die Kultur auf als die zentralisierte, immer an Mangelerscheinungen leidende Planwirtschaft, ganz abgesehen davon, daß infolge des höheren Lebensstandard im Westen jeder einzelne seinen eigenen Intentionen entsprechend Kultur genießen und entwickeln kann.

Entscheidend, ist, daß im totalitären Staat nur das gefördert wird, was staatswichtig ist bzw. was die Funktionäre für staatswichtig halten. Alles andere hat, da es weder privates Mäzena-tentum noch kommerzielle Initiative gibt, keine Lebensmöglichkeit. Jedes Buch, das gedruckt werden soll, bedarf der Druckgenehmigung durch die zuständige Abteilung des Kulturministeriums und der Papierzuteilung durch die Staatliche Plankommission. Die Spielpläne der Bühnen werden von Partei-und Staatsfunktionären kontrolliert. Die Funktionäre sitzen in den Jurys der Ausstellungen, entscheiden über den Ankauf von Bildern, genehmigen die Baupläne. Was dabei herauskommt, ist bekannt. Die schöngefärbten, „lackierten“ Romane aus dem Sowjetleben, die dramatischen Konflikte zwischen Helden der Arbeit und imperialistischen Agenten, die phantasielose naturalistische Schauspielmethode (die zu Unrecht auf den großen russischen Theaterpädagogen Stanislawskij zurückgeführt wird), die illustrative und programmatische, frisch-fröhlich volkstümliche Musik, die an Farbfotografien und Propagandaplakate gemahnende Malerei, die Zuckerbäcker-Architektur der Moskauer Metro und der Ostberliner Stalinallee.

Günstiger wirkt sich das System in den artistischen Sparten aus, wo materielle Förderung tatsächlich viel erreichen kann, z. B. beim musikalischen Virtuosentum (David Oistrach), beim Ballett (Galina Ulanowa), beim Volkstanz (Igor Moissejew), beim Zirkus wie beim Sport. Bei Gastspielen im Westen werden vor allem diese Künste vorgeführt. (b) Die Betonung der erzieherischen Funktion der Kunst übt einen gewissen Bildungsdruck auf die Bevölkerung aus. Der Moskauer Taxi-chauffeur, der zum Erstaunen aller Touristen Puschkin und Goethe liest, tut dies vor allem, weil es in der Sowjetunion keine Illustrierten in unserem Sinne, keine Unterhaltungs-und Kriminalromane, keine Groschenhefte gibt. Dieser Bildungsdruck wird erkauft mit einer Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, wie wir sie nur Jugendlichen zumuten, und mit der Unterdrückung jeder echten und spontanen kulturellen Selbstbetätigung: Die Laienspielbewegung wird zur „Massenkulturarbeit", d. h. zum Agitationseinsatz, die Volksbühne zum »Betriebsrecht“, d. h. zum kollektiven Theaterbesuch der Betriebsbelegschaften unter Aufsicht der Gewerkschaftsfunktionäre. Außerdem kommt die Zwangsbildung häufig auf Verbildung hinaus. Nicht nur, daß es auch im Ost-blöde Makulatur und Kitsch in reichem Maße gibt, lediglich kommunistisch eingefärbt, nicht nur, daß die gesamte moderne Weltliteratur fehlt (Kafka, Joyce, Proust, Musil, Hamsun, Gide, Sartre, Camus, Faulkner), von moderner Kunst und Musik ganz zu schweigen, der bildungsbeflissene Bürger eines kommunistischen Staates muß sich überdies, was die Klassik (das sogenannte klassische Erbe) angeht, durch einen Wust ideologischer Entstellungen hindurcharbeiten. Hier zwei Beispiele aus der Sowjetzone:

Molieres Eingebildeter Kranker: . Wer ist dieser eingebildete kranke Argan? Zum ersten ein Mensch, der nicht arbeitet, der über Kapital verfügt, der andere für sich arbeiten läßt. Er gehört also zu jener sich neu bildenden Schicht des Industrie-und Handelskapitals, die teils aus Adligen, größtenteils aus Bürgern bestand und feudale Privilegien in Anspruch nahm. Aus ihr entstand das spätere französische Bankenkapital, das unter Nedcer zur bürgerlichen Stütze der Feudalherrschaft und der finstersten Reaktion wurde. Wie zeigt uns Molire einen Vertreter dieser ökonomisch mächtigen Schicht, die den Januskopf des bürgerlichen Kapitalismus so früh enthüllte? Er zeigt uns einen Menschen, der, jeder schöpferischen Produktion entfremdet, gesellschaftlich unnütz und aufgabenlos dahinvegetiert. Ein starker und gesunder Mann verwendet seinen Reichtum einzig darauf, den an sich intakten Körper krank zu machen . . . Besser kann man den Widersinn seines Daseins und in ihm den Widersinn des auf betrügerischem Mehrwert basierenden Kapitalismus nicht kennzeichnen." (Programmheft des Deutschen Theaters, OstBerlin. 1951.)

Schillers Wilhelm Teil: „Schillers Idee von der Freiheit ist in der Deutschen Demokratischen Republik in viel weiterem Sinne Wirklichkeit geworden, als er selbst es je wagen konnte zu ersehnen. Als souveräner Staat besitzt die DDR freies Entscheidungsrecht über ihre inneren und äußeren Belange. Frei genießen ihre Bürger alle demokratischen Rechte. Aber die Nation ist gespalten, und im anderen Teil des gemeinsamen Vaterlandes herrscht und wütet ein Fronvogt, der wie Geßler das Volk für fremde Interessen unterdrückt und ausbeuten läßt. Seine Willkür und die seiner Auftraggeber greift bis ins friedliche Leben der Familien. Wie die Frau des Baumgarten im . Teil'sind die westdeutschen Frauen dem lüsternen Zugriff der Besatzer ausgesetzt, wie Stauffacher gibt es heute in Westdeutschland viele aufrechte Menschen, die die Befreiung planen. Die Todesgefahr, die über dem Haupt des Tellknaben schwebte, schwebt heute über allen Söhnen westdeutscher Familien weit schlimmer, weil Adenauer ihre Gestellungsbefehle vorbereitet. Und so wie Ulrich von Rudenz gibt es heute in Westdeutschland viele, die der Terror zum Nachdenken zwingt und die sich schließlich auf die richtige Seite, die Seite des Volkes stellen. Angesichts solcher Parallelen kann heute eine •Tell‘-Aufführung kein anderes Ziel haben, als zur patriotischen Tat aufzurufen, als die Menschen wachzurütteln zu einheitlichem, nationalem Handeln, zum Widerstand gegen die fremde Unterdrückung." (Theaterkritik der sowjetamtlichen Täglichen Rundschau, Ost-Berlin, 25. April 1954.) (c) Während der Intellektuelle in der Massen-Demokratie immer mehr an den Rand der Gesellschaft gerät, zum Enfant terrible oder zum Spezialisten der Unterhaltungsindustrie degeneriert, behält er im totalen Staat, wenn auch auf eigentümlich pervertierte Weise, etwas von seine traditionellen Bedeutung und Würde. Als Ingenieur der Seele und propagandistisches Aushängeschild wird ihm eine hohe gesellschaftliche Stellung eingeräumt. Er genießt alle Privilegien der Oberschicht, verfügt über große, mandimal unbegrenzte Mittel für seinen persönlichen Wohlstand wie für seine Arbeit, wird mit Ehren und Preisen überhäuft. Die obersten Staats-und Parteifunktionäre würdigen ihn ihrer Aufmerksamkeit und freundschaftlichen Umgangs. Der Preis dieser Wertschätzung ist allerdings der Ruin des Künstlers. Die tragische Reihe der Liquidierten, Selbstmörder, Zuchthäusler, Flüchtlinge wird ergänzt durch die nicht minder tragische Reihe großer Talente, die ihre Schöpferkraft der Doktrin opferten, die zu Agitatoren und Festrednern herabsanken oder verstummten, die sogar ihre Werke umschreiben mußten (wie Scholochow den „Stillen Don", Gladkow „Zement", Fadejew „Die junge Garde" und Brecht „Das Verhör des Lukullus“). 6. Das Tauwetter Nach Stalins Tod setzte im sowjetischen Kulturleben ein Tauwetter ein. Dieses Tauwetter wurde, vor allem am Anfang, von der Partei gefördert, wenn nicht gar initiiert, und zwar aus mehreren Gründen: um das Ansehen der auf den Hund gekommenen Sowjetkunst wieder herzustellen, um den kulturellen Konsumforderungen der Bevölkerung, insbesondere der inzwischen konsolidierten Oberschicht gerecht zu werden und um sich bei dem Versuch einer Regeneration des Kommunismus (einer Leninistischen Renaissance) der künstlerischen Mittel bedienen zu können.

Schon 1952, also noch zu Stalins Lebzeiten, begannen die ersten Diskussionen über ästhetische Fragen: die Besonderheit der Kunst, den Konflikt, das Typische und den Positiven Helden, in denen — mit aller Vorsicht — die Dogmen der Shdanowschen Kulturpolitik in Frage gestellt wurden. Auf dem XIX. Parteitag im Herbst 1952 forderte Malenkow „sowjetische Gogols", die „mit der Flamme der Satire alles Negative, Vermoderte, Überlebte aus dem Leben ausbrennen" sollten. 1953, kurz nach Stalins Tod, informierte Schepilow die Schriftsteller im Namen der Parteiführung, daß eine grundsätzliche Überprüfung der gesamten sowjetischen Politik im Gange sei, und rief sie zur Unterstützung auf. Einige prominente, der Partei verbundene Schriftsteller wie Scholochow und Twardowskij, die auf Partei-und Schriftsteller-kongressen sehr scharf die bisherige Kultur-politik angriffen, konnten sich offensichtlich auf die Zustimmung Chruschtschows berufen. Nach dem XX. Parteitag im Februar 1956 wurden die von Stalin ermordeten Schriftsteller und Künstler rehabilitiert und Werke, die zwanzig Jahre lang verboten waren, neu herausgebracht. Erstmals seit den zwanziger Jahren traten Partei und Kunst wieder verbündet auf.

Die Entwicklung verlief allerdings nicht stetig und schon gar nicht planmäßig. Flut, Ebbe und wieder Flut lösten einander ab. Die Kunst, einmal freigesetzt, folgte ihren eigenen Gesetzen und stieß immer wieder weit über die von der Partei gesetzten Grenzen hinaus. Durch Verbote, Säuberungen, Kritiken, Diskussionen und Grundsatzerklärungen versuchten die Funktionäre die Tauwasser einzudämmen und zu kanalisieren, aber das gelang immer nur vorübergehend. Im Jahre 1956 standen die Intellektuellen in Moskau und Peking, in Ost-Berlin, Warschau und Budapest in offener Revolte gegen die Diktatur.

Sowjetunion: Erscheinen einer Fülle von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken, Essays, die mit dem Schema des Sozialistischen Realismus brachen, die sowjetischen Verhältnisse kritisierten und politische wie menschliche Probleme aufwarfen. Die bekanntesten Beispiele waren die Romane „Tauwetter“ von Ehrenburg, „Jahreszeiten“ von Vera Panowa, „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ von Wladimir Dudinzew, die Erzählungen „Licht im Fenster" und „Das chasarische Ornament“ von Jurij Nagibin, „Die eigene Meinung“ von Daniil Granin, „Die Hebel“ von Alexander Jaschin, „Die Fahrt in die Heimat" von Nikolaj Shdanow, „Wohnung Nr. 13“ von Anna Walzewa, die Gedichte „Die sieben Tage der Woche" von Semjon Kirsanow, „Station Winter" von Jewgenij Jewtuschenko, die Stücke „Die Gäste" von Sorin, „Die Flügel“ von Alexander Kornejtschuk, „Wir drei fuhren ins Neuland“ von Nikolaj Pogodin. Charakteristisch war der Almanach „Literarisches Moskau", der nicht nur einige der schärfsten gesellschaftskritischen Werke (die Erzählungen von Nagibin, Jaschin und Shdanow) veröffentlichte, nicht nur Liquidierte (Iwan Katajew) und Verfemte (Olescha, Achmatowa, Pasternak) zu Worte kommen ließ, sondern vor allem durch die Fülle und Vielfalt der Autoren, die politische Toleranz (Kommunisten neben Nichtkommunisten), die Weite des Horizontes und das hohe künstlerische wie gedankliche Niveau geradezu eine Gegenposition zur totalitären Kunstdiktatur einnahm. In der Bildenden Kunst lockerte sich die Doktrin nur langsam, immerhin wurden zum ersten Mal wieder Bilder von Picasso ausgestellt. Mit der Zuckerbäcker-Architektur räumte Chruschtschow persönlich auf; er empfand die Verzierungen als Vergeudung öffentlicher Gelder.

Polen und Ungarn: In diesen beiden Ländern nahm die intellektuelle Revolte den aggressivsten Charakter an. Es entstand eine „schwarze Literatur": „Das Gedicht für Erwachsene“ von Adam Wazyk, die Erzählungen von Marek Hlasko, die Romane „Mutter der Könige“ von Kazimierz Brandys, „Finsternis bedeckt die Erde'von Jerzy Andrzejewsky, „Die gepflasterte Hölle“ von Andrzej Braun, die Satiren von Slawomir Mrozek, das Theater-Stück „Gaspar Varros Recht" von Julius Hay und die Erzählung „Niki“ von Tibor Dery. Der Philosoph Leszek Kolakowski und der Kritiker Georg Lukacs plädierten für eine grundlegende Erneuerung des Kommunismus. Die polnischen Kulturzeitschriften „Po prostu“ und „Nowa Kultura" und der Budapester Petöfi-Klub forderten die Ersetzung der Terrorherrschaft durch einen „menschlichen Sozialismus". Die intellektuelle Revolte münddete schließlich in den politischen Umsturz: die Machtergreifung Gomulkas in Polen und die ungarische Revolution unter Imre Nagy.

Sowjetzone Deutschlands: Literarisch trat das Tauwetter vor allem in den Arbeiten der jungen Schriftsteller zu Tage, in kühnen, gesellschaftskritischen Gedichten (Heinz Kahlau, Armin Müller, Günter Kunert, Peter Jokostra) und in harten, aufrichtigen Kriegserzählungen (Hans Pfeiffer, Manfred Gregor, Harry Thürk, Egon Günther, Karl Mundstock). Zentren der Unruhe waren die Universitäten und Hochschulen; es kam zu Studentenrevolten und zu revisionistischen Äußerungen auf fast allen Gebieten der Wissenschaft. Formuliert wurden die neuen Ideen von den Philosophen, von Wolfgang Harich und Ernst Bloch.

China: Bereits 1954 hatte der Kritiker Hu Feng (ein Schüler Lu Hsüns, des bedeutenden, von Mao heilig gesprochenen sozialistischen Dichters) von den „fünf Dolchen“ gesprochen, die den Schriftsteller bedrohen: Verpflichtung auf die kommunistische Weltanschauung, Einfühlung in das Leben der Arbeiter und Bauern, Parteilinie, nationale Form, Pflichtthematik; er war aber als Staatsfeind verurteilt worden. 1956 gab Mao selbst die Losung aus: „ 100 Blumen sollen blühen, 100 Sc'ulen miteinander wetteifern“, offenbar in der Meinung, nach der Zeit der Breite sei nun die der Tiefe gekommen. Aber die Schriftsteller und Künstler, allen voran die angesehenste Autorin des neuen China, Ting Ling, gingen so weit, die Ideen aus Polen und Ungarn zu übernehmen. Einen Begriff von der Diskussion an den chinesischen Hochschulen gibt das Zitat, das wir in Kap. III/4 anführten.

Nach der ungarischen Revolution wurde das Tauwetter im ganzen Ostblock unterbunden. Die Strafmaßnahmen richteten sich nach der Härte des jeweiligen politischen Regimes: in der Sowjetunion waren es vor allem Drohungen und ideologische Repressalien (Fall Pasternak); in Polen Säuberung der Redaktionen, scharfe Zensur; in Ungarn Hinrichtung der Revolutionsführer, Gefängnis für Tibor Dery, Julius Hay und mehr als zwanzig weitere Schriftsteller, Auflösung der Verbände der Schriftsteller und Journalisten; in der Sowjetzone Massenverhaftungen und Zuchthausurteile gegen Intellektuelle, z. B. zehn Jahre Zuchthaus für den Philosophen Wolfgang Harich, acht Jahre für den Schriftsteller Erich Loest, Reglementierung des gesamten Kulturlebens wie zur Stalinzeit und Entfaltung einer „Kulturrevolution der Arbeiter und Bauern“; China: Ausschluß Ting Lings aus Partei und Schriftstellerverband und überhaupt aus der Literatur, Denunziationen und Gehirnwäsche.

Die Leninistische Renaissance war gescheitert.

Nachdem die führenden sowjetischen Schriftsteller auf die Drohungen und Repressalien mit einer „Verschwörung des Schweigens“ reagiert hatten, lenkte Chruschtschow auf dem 3. Schriftstellerkongreß 1959 ein. Er nannte das Verbieten von Büchern schlechtweg eine Dummheit, beklagte andererseits den großen Schaden, der den Seelen der Sowjetmenschen durch linien-widrige Literatur zugefügt werden könne, und zog sich am Ende salomonisch aus der Affäre: „Deshalb, Genossen, wälzt nicht die Lösung solcher Fragen auf die Schultern der Regierung, sondern löst sie selbst kameradschaftlich!" (Rede auf dem III. Unionskongreß der Sowjetischen Schriftsteller, Mai 1959). Er rehabilitierte Dudinzew, gab das Signal, die Kampagne gegen Pasternak einzustellen, löste die am meisten kompromittierten Funktionäre ab und stellte mit Konstantin Fedin zum ersten Mal einen Parteilosen an die Spitze des Schriftstellerverbandes. Seither ist eine gewisse Beruhigung im kulturellen Leben der Sowjetunion eingetreten. Abgesehen von Auftragswerken gegen Stalin wie Alexander Twardowskijs Poem „In fernen Weiten“ und abgesehen von Extravaganzen zorniger junger Männer wie Jewgenij Jewtuschenkos Gedicht gegen den Antisemitismus, „Babij Jar“, gehen die Schriftsteller politischen Themen aus dem Wege, teils, um Kollisionen mit der Parteilinie zu vermeiden, teils aber auch, weil sie die politische Thematik satt haben. Vera Panowas „Sentimentaler Roman“, Wladimir Solouchins Erinnerungen „Ein Tautropfen", die Erzählungen von Wladimir Tendrjakow und Jurij Kasakow greifen allgemein-menschliche, d. h. psychologische, existenzielle und Naturthemen auf; sie entfernen sich auf diese Weise weiter vom Kommunismus, als es beispielsweise Dudinzew mit seiner Gesellschaftskritik tat. Die Theaterleute ringen um eine Synthese der Darstellungsmethoden von Stanislawskij, Meyerhold und Wachtangow. Die sowjetische Filmkunst hat mit psychologisch und fotografisch interessanten Streifen wie „Die Kraniche ziehen“, „Der Einundvierzigste", „Der Brief der nicht abging“, „Ballade vom Soldaten“, „Klarer Himmel" wieder internationales Ansehen gewonnen. Die Bildenden Künstler sind auf breiter Front zum Impressionismus übergegangen, einzelne stoßen zum Expressionismus vor. Die Architekten bauen nach technologischen Gesichtspunkten. Im Musikleben hat der Jazz Einzug gehalten.

Trotz alledem steht die Sowjetkunst insgesamt immer noch weit unter Weltniveau. Das kommt zunächst einmal daher, daß Künstler wie Publikum nach den Verwüstungen der Stalinzeit mühsam die Errungenschaften der modernen Literatur und Kunst nachholen müssen. Die stilbildenden Werke unseres Jahrhunderts sind in der Sowjetunion weitgehend unbekannt geblieben. Vor allem aber wird die Evolution dadurch gehemmt, daß die Partei auf ihrer Hegemonie in der Kunst besteht. Die Partei übt nach wie vor einen starken Druck auf das künstlerische Leben aus, weniger durch Verbote und Strafen als durch diffamierende Kritiken, Drosselung der Verbreitung, Besetzung der Redaktionen, Lektorate, Jurys, Lehrstühle usw.

Der politische Pluralismus im heutigen Ostblock hat zu Divergenzen auch im Kulturleben geführt. Die liberale Variante vertritt Polen, wo künstlerisch eigentlich alles möglich ist, sofern es nicht gegen die politischen Zensur-bestimmungen verstößt. Polen ist das einzige Ostblockland, das Abstrakte Malerei, Atonale Musik, Absurdes Theater und dergleichen zuläßt. Die radikale Variante herrscht in der Sowjetzone Deutschlands, wo die Künstler wie zu Stalins Zeiten von Banausen schikaniert werden und ausnahmslos alle künstlerischen Disziplinen daniederliegen. Besonders verhängnisvoll wirkt in der Zone ein -neuerdings nicht mehr eingestandener — chinesischer Einschlag, eine Betonung der Breitenwirkung der Kunst, was zum Ausdruck kommt in der „Greif zur Feder, Kumpel“ -Bewegung, in der Errichtung von Arbeiter-theatern und Arbeiteropern, in der Durchsetzung der Ensembles führender Opern-und Schauspielhäuser mit Volkskünstlern, in Agitationseinsätzen der Schriftsteller und Künstler. 7. Ausstrahlung in die nichtkommunistische Welt Die bolschewistische Kulturrevolution strahlte in die ganze Welt aus und zog zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten in ihren Bann. Die Gründe dafür waren: a) Der Kommunismus versprach die Verwirklichung uralter Menschheitsträume; er bot den Schriftstellern und Künstlern die Möglichkeit, ihre Ideale auf einen irdischen Ort zu projizieren. Dabei fällt auf, daß diese Ideale, die nur selten in der konkreten marxistisch-leninistischen Ideologie ihre Begründung fanden, einander oft widersprachen. Klassenlose Gesellschaft und Herrschaft der Elite, Industrialisierung und Bauernparadies, Geborgenheit im Kollektiv und Entfaltung des Individuums, Entthronung Gottes und Neugeburt des Christentums, ewiger Friede und gerechter Krieg -all das verschmolz im roten Feuerschein der Utopie. b) Die Glanzleistungen der frühen Sowjetkunst faszinierten viele, besonders die avantgardistisch gesinnten Künstler. Sie, deren Intentionen in der bürgerlichen Gesellschaft auf den Widerstand des kommerziellen Kunstbetriebes und des konventionellen Publikums stießen, sahen im revolutionären Rußland ein freies, materiell wie ideell günstiges Experimentierfeld. c) Seinen größten Einfluß auf das intellektuelle Leben in der Welt gewann der Kommunismus in den dreißiger Jahren, der Roten Dekade, als das kapitalistische System in die Weltwirtschaftskrise stürzte und die faschistischen Dik-taturen zur Eroberung der Welt antraten. Die Sowjetunion erweckte den Anschein eines stabilen und gerechten, sich stürmisch entwickelnden Wirtschaftssystems und schien entschlossener als die großen demokratischen Mächte, Hitler entgegenzutreten. Die Kommunsitische Internationale öffnete weit ihre Arme und proklamierte die Volksfront. Sie bildete zur Verteidigung der Spanischen Republik Internationale Brigaden, in die Intellektuelle aus allen Ländern der Erde strömten.

Kommunisten wurden z. B. in der Bildenden Kunst Pablo Picasso, Diego Rivera, David Siqueiros, Frans Maserei, Renato Guttuso, in der Literatur Anatole France, Henri Barbusse, Jaroslav Hasek, Martin Andersen-Nexö, Andre Malraux, Louis Aragon, Paul Eluard, Ignazio Silone, Curzio Malaparte, Sean O’Casey, Theodore Dreiser, Stephen Spender, George Orwell, Arthur Koestler, Richard Wright, Johannes R. Becher, Anna Seghers, Ludwig Renn, Egon Erwin Kisch. Weit größer noch war die Zahl der Mitläufer (Fellow-Travellers), zu denen zeitweise Romain Rolland, George Bernard Shaw. Rabindranath Tagore, Andre Gide, Jean Paul Sartre, John Dos Passos, Ernest Hemingway, Upton Sinclair, Erskine Caldwell, Wystan Hugh Auden, Halldor Kiljan Laxness, Salvatore Quasimodo, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger gehörten. Auch Wissenschaftler wie Frederic Joliot-Curie und John Bernal engagierten sich für den Kommunismus.

Bedenkt man die oben angeführten Motive, so ist verständlich, daß das Bündnis von linker Kunst und linker Politik wie in Rußland so auch im Weltmaßstab nicht von Dauer sein konnte. Ereignisse wie die Moskauer Prozesse, der Verrat an der Spanischen Republik, der Hitler-Stalin-Pakt, später die Shdanowschtschina, die Stalinsche Judenverfolgung, der 17. Juni 1953 in der Sowjetzone und die ungarische Revolution 1956 waren Ereignisse, die zum sukzessiven Abfall der politisch engagierten Intellektuellen von Moskau führten. Gide, Koestler, Spender, Wright, Silone und Louis Fischer haben 1950 in dem Buch „Der Gott, der keiner war" Rechenschaft über ihre Erfahrungen mit dem Kommunismus gegeben; auch Malraux, Orwell, Dos Passos, Hemingway haben Werke der Abrechnung geschrieben.

Eine der interessantesten und umstrittensten Gestalten der kommunistischen Weltbewegung war Bertolt Brecht. Da er noch heute das wichtigste Aushängeschild der kommunistischen Kulturpropaganda im Westen ist, soll seine Position in einigen Punkten skizziert werden: 1 Brecht glaubte zeit seines Lebens an die kommunistische Utopie, hielt aber der kommunistischen Realität gegenüber Distanz. Er trat nie der Partei bei, emigrierte während der Hitler-zeit nach kurzem Aufenthalt in Moskau in die USA. Als er sich in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands niederließ, die ihm außerordentlich günstige materielle und künstlerische Möglichkeiten bot (ein eigenes Theater mit nahezu unbegrenzten Mitteln), sicherte er sich durch Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft. Er gehörte zur revisionistischen Oppositionsgruppe um Harich und Bloch. Die meisten seiner Schüler gingen in den Westen. 2 . Wie der Regisseur Erwin Piscator, der heute in der Bundesrepublik inszeniert, reifte Brecht unter dem Einfluß des russischen Revolutionstheaters, insbesondere Meyerholds. Seine Ideen sind vom Marxismus-Leninismus angeregt, vom Standpunkt der Parteiorthodoxie aus aber Ketzerei. Seine besten Werke (Dreigroschenoper, Mutter Courage, Verhör des Lukullus, Der gute Mensch von Sezuan, Herr Puntila und sein Knecht Matti, Leben des Galilei, Kaukasischer Kreidekreis) sind in der Weimarer Republik oder in westlicher Emigration geschrieben und vertreten Menschheiisideale wie Frieden, Wahrheit, Menschlichkeit, soziale Gerechtigkeit. In der Sowjetzone schrieb er nichts mehr von Bedeutung. 3. Abgesehen von seiner eigenen Truppe, dem Berliner Ensemble, und abgesehen von Polen wurden und werden seine Stücke im Ostblock, insbesondere in der Sowjetunion, äußerst selten gespielt. Sie passen ideell wie formal nicht ins totalitäre Kulturleben. „Das Verhör des Lukullus“ und „Tage der Commune" wurden 1951 von der SED verboten; einige Werke mußte Brecht umschreiben. In seinem Nachlaß finden sich einige scharfe Satiren auf das Ulbricht-Regime. 8. Bündnispolitik und Kulturinfiltration Besaß der Bolschewismus in den zwanziger und dreißiger Jahren und auch noch in der Resistance gegen Hitler eine echte politische und geistige Ausstrahlungskraft, so ist er heute gezwungen, getarnt und verschleiert aufzutreten. Auf zwei Wegen versucht er die Intellektuellen als Verbündete zu gewinnen:

Politisch durch die Friedensbewegung und den Antifaschismus; künstlerisch durch die Losung vom Kritischen Realismus.

In beiden Fällen geht es darum, Intellektuelle, die das politische System des Kommunismus bzw. die Kunst des Sozialistischen Realismus ablehnen, wenigstens für den Kampf gegen die demokratische Ordnung zu mobilisieren. Ein Intellektueller, dem Frieden und Völkerverständigung, die Beseitigung faschistischer Überreste und gesellschaftlicher Mißstände am Herzen liegen, gerät durch diese Anbiederungsversuche in eine schwierige Lage. Er kann sich der Mißdeutung und dem Mißbrauch seiner Aktivität nur entziehen, wenn er nicht nur den Westen kritisiert, sondern zugleich auch die Stimme gegen das meist erheblich größere Unrecht im Osten erhebt. Eine Friedensbewegung, die sich nur gegen westliche Verteidigungsanstrengungen, ein Antifaschismus, der sich nur gegen die braune, nicht auch die rote Diktatur richtet, dient dem Kommunismus. Andererseits müssen auch die demokratischen Institutionen darauf achten, daß sie nicht jede radikale Gesellschaftskritik als kommunistisch diffamieren: denn sie treiben dadurch dem Kommunismus Verbündete zu.

Ein weiteres Mittel der Kommunisten, im Westen Einfluß zu gewinnen, ist die Kulturinfiltration, d. h. die Propaganda mit künstlerischen oder artistischen Mitteln. Da eine rigorose Unterbindung jeglichen Kulturaustausches mit dem Ostblock weder möglich noch wünschenswert ist, sollte man stets folgende Punkte berücksichtigen: 1. Kulturaustausch ist für die Kommunisten immer ein Akt der ideologisch-politischen Auseinandersetzung, eine Form des Kalten Krieges. Alle Kulturabkommen, Gastspielreisen, Diskussionen und Gespräche, Buchveröffentlichungen müssen deshalb nicht nur künstlerisch und kommerziell, sondern auch politisch beurteilt werden. 2. Kulturaustausch muß auch vom Westen aus geplant, organisiert und notfalls finanziert werden, wenn nicht vom Staat, dann von den zuständigen Institutionen. 3. Kulturaustausch muß auf Gegenseitigkeit beruhen. Dazu gehört auch, daß der Osten nicht Programm und Auswahl vorschreibt, daß die Proportionen stimmen (also nicht ein westliches Streichquartett gegen den Moskauer Staatszirkus ausgetauscht wird) und daß östliche Schikanen und Zensurierungen erwidert werden. 4. Bei west-östlichen Diskussionen und Podiumsgesprächen, mag ihr Thema auch scheinbar unpolitisch sein, müssen den Kommunisten Kenner der östlichen Verhältnisse und der kommunistischen Ideologie und überhaupt politisch denkende Menschen gegenübergestellt werden. 5. Die Höflichkeit als Gast oder Gastgeber darf nicht dazu führen, daß man kommunistische Angriffe auf den Westen toleriert oder sich für Propagandazwecke ausnutzen läßt. Die staatsbürgerliche Würde verlangt, daß man an seiner Loyalität gegenüber dem eigenen Staat keinen Zweifel aufkommen läßt; die politische Verantwortung verlangt, daß man sich — bei allem Takt — zur demokratischen Ordnung bekennt. 6. Man muß sich mit jeder östlichen Veranstaltung kritisch auseinandersetzen, also auch kulturelle Leistungen politisch kommentieren und in den richtigen Zusammenhang stellen. Die kulturelle Tarnung politischer Absichten muß aufgedeckt werden. 7. Man muß unterscheiden zwischen Künstlern und Funktionären, zwischen politisch sauberen und befleckten Persönlichkeiten. Man muß sich darüber im klaren sein, daß Künstler wie Publikum im Osten potentielle Verbündete sind, die zumindest kulturell, häufig auch politisch dasselbe wollen wie wir. Sie müssen angesprochen werden, ihnen müssen freie Gedanken und humane Kunstwerke vermittelt werden. 8. Kontakte von Mensch zu Mensch, persönliche Gespräche sind immer zu begrüßen, denn sie spielen sich auf der elementar menschlichen Ebene ab, auf der der totalitäre Mechanismus nicht mehr oder nur unvollkommen greift.

Werden diese Voraussetzungen eingehalten, wirkt sich jeder Kulturaustausch zugunsten der Freiheit aus, denn er ist ein Mittel, den Eisernen Vorhang zu durchlöchern, die Wände des totalitären Aquariums einzureißen. Zwar wirkt beim Kulturaustausch auch der Osten auf den Westen ein, aber: a) Die Demokratie ist ein offenes System und kann fremde, ja feindliche Gedanken in viel größerem Maße vertragen als ein totaler Staat b) Die Demokratie kann die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus nicht gewinnen, wenn sie sich defensiv verhält und das Gesetz des Handelns vorschreiben läßt; sie muß die Herausforderung annehmen.

IV. Theorie der Wissenschaft

1. Von Engels zu Lenin: Ideologisierung der Wissenschaft Bei Marx gibt es keine allgemeine Theorie der Wissenschaft. Er hat sich ausschließlich mit einigen Sozialwissenschaften, wie der Politischen Ökonomie, den Staats-und Rechtswissenschaften, beschäftigt; diese Wissenschaften interpretierte er als ideologischen Überbau über die ökonomische Basis (Historischer Materialismus). Naturwissenschaften interessierten ihn überhaupt nicht. Der Gedanke, auch die Natur nach seiner Methode zu interpretieren, ist ihm zumindest fremd gewesen, wenn er auch offenbar die naturwissenschaftlichen Bemühungen seines Freundes Engels gebilligt hat.

In „Herm Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ (sog. Anti-Dühring, 1877/78) und „Dialektik der Natur“ (Fragment) wandte Engels die marxistische Methode auf den Bereich der Naturwissenschaften an; er entwarf ein universales, Gesellschaft wie Natur umspannendes Weltbild. Seine Absicht war, der inzwischen zum Millionenheer angewachsenen Arbeiterbewegung eine allseitige Orientierung zu geben und zu verhindern, daß die von Marx aus den Gesellschaftswissenschaften vertriebenen bürgerlichen und religiösen Ideen auf dem Umweg über die Naturphilosophie wieder in den Sozialismus eindrangen. Dabei war es Engels aufrichtig um die Sicherung vorurteilsloser Forschung zu tun; er beabsichtigte eine Synthese aller Wissenschaften, nicht die Fixierung einer Weltanschauung. „Allerdings heißt materialistische Naturanschauung weiter nichts als einfache Auffassung der Natur, so wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat’ (F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1886, Anhang „Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens'(Anti-Dühring

Heute wissen wir, daß Engels’ Gedanke eines ideologiefreien, allein auf den exakten Wissenschaften beruhenden Weltbildes eine Illusion war. a) Jeder Versuch, auf der Basis unserer Kenntnisse und Vorstellungen ein einheitliches, überall orientierendes Weltbild zu schaffen, muß zur Ideologie führen, man mag es so elastisch kon36 struieren, wie man will. Man gerät unweigerlich in Konkurrenz zu Philosophie und Religion, b) Auch Engels'angeblich ideologiefreie Synthese der Wissenschaften beruhte auf ideologischen Elementen, nämlich der Hegeischen Dialektik und dem naturwissenschaftlichen Optimismus des 19. Jahrhunderts.

c) Die Ausdehnung der dialektischen Betrachtungsweise von der Gesellschaft auf die Natur war viel problematischer als Engels annahm; denn dadurch wurde eine Methode, die Hegel und Marx aus der Analyse von Vorgängen im Reiche des Menschen gewonnen hatten, einer ganz anderen Seinsebene zugrunde gelegt. Die Dialektik verwandelte sich dabei oft genug in Rabulistik.

Dennoch bleibt festzuhalten, daß Engels zu seiner Zeit fruchtbare Ideologiekritik geleistet hat sowohl gegen den Vulgärmaterialismus wie gegen den spekulativen Idealismus und daß er die Perspektiven einer weiteren Entideologisierung absteckte: Im Vorwort zur Auflage von 1885 des Anti-Dühring deutete er an, daß der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft, erzwungen durch die Notwendigkeit, die sich massenhaft häufenden Entdeckungen zu ordnen, eine besondere marxistische Interpretation überflüssig machen würde.

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die naturwissenschaftlichen Arbeiten Engels weitgehend überholt, nicht nur, weil das Tatsachen-material veraltet war, sondern vor allem, weil die moderne Naturwissenschaft, insbesondere die moderne Physik, Fragen aufgeworfen hatte, die Engels noch nicht in den Blick gekommen waren. Die demokratische Arbeiterbewegung überließ — durchaus im Sinne von Engels — die Verarbeitung der neuen Entdeckungen den Fach-leuten und erklärte ihre Neutralität in Fragen der Wissenschaft und Philosophie. Lenin jedoch, dem es darauf ankam, eine Elite von Berufs-revolutionären weltanschaulich zusammenzuschweißen, griff energisch in den wissenschaftlichen Disput ein.

Anlaß war, daß einige prominente Intellektuelle der bolschewistischen Fraktion, unter ihnen Bogdanow, Lunatscharskij und Gorkij, den Ballast der Engelsschen Universaltheorie über Bord geworfen hatten und sich zum Positivismus in der Wissenschaft bekannten. Nicht zufällig handelte es sich bei den Ketzern vor allem um kulturell interessierte Persönlichkeiten; sie wollten innerhalb des Marxismus Raum schaffen für ethische und existenzielle Fragen im Sinne der modernen Philosophie (Gorkij z. B. stand unter dem Einfluß Nietzsches), Fragen, in denen der humanistische Impuls von Marx wieder zum Vorschein kam, die Lenin aber kurzweg als „Gottmacherei“ abtat. Lenin schwankte lange, ob er seine ohnehin kleine Anhängerschaft durch Intransigenz in weltanschaulichen Fragen dezimieren sollte, da aber die „Gottmacher'die bolschewistische Parteischule auf Capri beherrschten, fürchtete er für die ideologische Schlagkraft seiner Fraktion.

In seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1909), das durch die Philosophischen Hefte (deutsch: Aus dem philosophischen Nachlaß) ergänzt wird, machte Lenin den Versuch, die Engelssche Naturlehre so auszubauen und zu modernisieren, daß sie die naturwissenschaftliche Revolution der Jahrhundertwende deckt und keine Lücke für neue philosophische und weltanschauliche Gedanken läßt. Im Unterschied zu Engels, der zumindest die Absicht hatte, die Wissenschaften von der Ideologie freizukämpfen, postulierte Lenin eine komplette Ideologie und Dogmatik (Dialektischer Materialismus), um die wissenschaftliche Erkenntnis unter Kontrolle zu halten. 2. Relative und absolute Wahrheit Engels lehnte „endgültige Lösungen“ und „ewige Wahrheiten" nachdrücklich ab. .... so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde; . . man weiß. . daß das jetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte'(Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1886

Im Anti-Dühring ging Engels auf die Frage ewiger Wahrheiten ausführlich ein er gab zu daß es wohl in allen Wissenschaften einige unabänderliche Erkenntnisse gäbe (z. B. daß zweimal zwei vier ist, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist), nannte solche ewigen Wahrheiten aber Plattheiten und Gemeinplätze. Er demonstrierte die Relativität der Erkenntnis am Beispiel des Boyleschen Gesetzes über die Beziehungen von Druck und Volumen bei Gasen: Ein Gesetz, das unter bestimmten Umständen (innerhalb bestimmter Druck-und Temperaturgrenzen und bei bestimmten Gasen) unbestreitbar richtig ist, wird unter anderen Umständen relativiert oder überhaupt umgeformt. Da nicht nur unsere Erkenntnis ständig fortschreitet, sondern auch die Welt selber, wäre es also falsch, von endgültigen Wahrheiten zu sprechen.

Wir wollen die Ansicht von Engels nicht philosophisch diskutieren; offensichtlich setzt selbst der Engelssche Relativismus einige „ewige Wahrheiten“ voraus, nämlich die Dialektik und den Fortschritt. Da aber beide Elemente Ausdruck der ökonomischen und naturwissenschaftlichen Evolution im 19. Jarhundert waren, wirkten sie sich, wenn auch nicht auf die Reife der Philosophie, so doch auf die Entwicklung der Wissenschaften günstig aus.

Bei Lenin hielten die ewigen Wahrheiten wieder ihren Einzug. Aus dem Beispiel des Boyleschen Gesetzes zog er ganz andere Schlüsse, dabei wie immer behauptend, Engels könne nur das gemeint haben. „Das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die eine Summe von relativen Wahrheiten ist, zu geben, und gibt sie uns auch. Jede Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körnchen hinzu . . (Materialismus und Empiriokritizismus

Natürlich impliziert der Fortschrittsgedanke auch eine solche Auslegung, aber Engels hatte seinen guten Grund, warum er sich so sehr gegen das Postulat ewiger Wahrheiten wandte. „Daß zweimal zwei vier ist, daß die Vögel Schnäbel haben oder derartiges wird nur der fü. ewige Wahrheiten erklären, der mit der Absicht umgeht, aus dem Dasein ewiger Wahrheiten überhaupt zu folgern, daß es auch auf dem Gebiete der Menschen-geschichte ewige Wahrheiten gebe . . . Und dann können wir mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß derselbe Menschenfreund uns bei erster Gelegenheit erklären wird, ... er, der jetzt erstandene Prophet, trage die endgültige Wahrheit letzter Instanz, die ewige Moral, die ewige Gerechtigkeit, fix und fertig im Sack* (Anti-Dühring

Genau darauf kam es bei Lenin hinaus. Eine endgültige Wahrheit war für ihn vor allem der Marxismus, der nicht mehr widerlegt oder überholt, sondern nur noch den Verhältnissen gemäß weiterentwickelt werden durfte. Der unfruchtbare, scholastische Charakter der kommunistischen Theorie, die sich darin erschöpft, Ereignisse und Entdeckungen mit Zitaten aus den marxistischen Klassikern in Übereinstimmung zu bringen, hat hier seinen Grund. 3. Lenin zwischen Materialismus und Realismus Die Revolution in der Physik kam zum Ausdruck in Thesen wie: „Die Materie verschwindet .. . Materialisation der Energie . . . Aufhebung der Kausalität . . . Raum-Zeit-Kontinuum“, die mit dem alten materialistischen Weltbild der Naturwissenschaften nicht mehr vereinbar waren. In „Materialismus und Empiriokritizismus“ unternahm Lenin den Versuch, den Materialismus durch neue Begriffsbestimmungen zu retten. Dabei unterschied er zwischen der philosophischen Definition eines Begriffs, der er dogmatische Gültigkeit zusprach, und der naturwissenschaftlichen, die sich nach dem Stand unserer Erkenntnis verändert.

Materie:

.. Die Materie verschwindet'heißt: es verschwindet jene Grenze, bis zu welcher wir die Materie bisher kannten, unsere Kenntnis dringt tiefer; es verschwinden solche Eigenschaften der Materie, die früher als absolut, unveränderlich, ursprünglich gegolten haben (die Undurchdringlichkeit, die Trägheit, die Masse usw.) und die sich nunmehr als relativ, nur einigen Zuständen der Materie eigen entpuppen. Denn die einzige . Eigenschaft'der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist. ist die Eigenschaft objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren*

Bewegung:

. Ob wir sagen: die Welt ist die sich bewegende Materie, oder: die Welt ist die materielle Bewegung — dadurch wird die Sache nicht anders*

Raum und Zeit:

„Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit widerlegt die objektive Realität dieser beiden ebensowenig, wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Kenntnisse von der Struktur und den Formen der Bewegung der Materie die objektive Realität der Außenwelt widerlegt*

Kausalität:

„Die wirklich wichtige erkenntnistheoretische Frage, die die philosophischen Richtungen scheidet, besteht nicht darin, welchen Grad der Genauigkeit unsere Beschreibungen der kausalen Zusammenhänge erreicht haben und ob diese Angaben in einer exakten mathematischen Formel ausgedrückt werden können, sondern darin, ob die objektive Gesetzmäßigkeit der Natur ... die Quelle der Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist*

Auf diese Weise glaubte Lenin, nicht nur die materialistische Position behauptet, sondern sogar der modernen Wissenschaft die angemessene Theorie geliefert zu haben. „Die moderne Physik liegt in den Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären“

Das war jedoch ein Irrtum:

a) Die philosophische Definition der Materie als objektive Außenwelt bedeutet noch keinen Materialismus, sondern erkenntnistheoretischen Realismus. Dieser Realismus wird nicht nur vom Diamat vertreten, sondern auch von Schulen, die alles andere als materialistisch sind und mit denen sich der Diamat in unversönlichem Gegensatz glaubt, z. B. vom Neuthomismus und von der Onthologie Nicolai Hartmanns. b) Der Realismus erlaubt tatsächlich — im Unterschied zum alten Materialismus — eine philosophische Interpretation der modernen Naturwissenschaft, für die wissenschaftliche Methodik ist er jedoch vollkommen irrelevant. Vom Standpunkt der exakten Wissenschaften aus ist er Spekulation oder, wie es Marx und Engels ausdrücken würden, Ideologie. c) Im Widerspruch zur realistischen Grundkonzeption gibt es bei Lenin auch noch eine Reihe aus dem naturwissenschaftlichen Materialismus stammender Vorstellungen, z. B. daß die Welt in Zeit, Raum und Tiefe unendlich ist, daß sie prinzipiell und sukzessiv erkennbar ist, daß es keine Bewegung ohne Träger gibt, daß die objektive Realität in den Empfindungen gegeben ist usw. Diese Vorstellungen sind mit der modernen Naturwissenschaft nicht mehr vereinbar. Je nachdem, ob die kommunistischen Theoretiker nun die realistischen oder die materialistischen Momente im Diamat betonten, harmonierten oder kollidierten sie mit der exakten Wissenschaft. Da der totale Staat das Bestreben hat, alles bis ins einzelne festzulegen, herrschte unter Stalin die materialistische Variante; das aber bedeutete die Unterdrückung der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik usw. 4. Objektivität und Parteilichkeit Lenin hat das erkenntnistheoretische Prinzip des Diamat formuliert: „Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis“ (Philosophische Hefte) Dieses Prinzip ist realistisch, nicht sensualistisch; es erkennt dem Denken eine eigene, urteilende und prägende Rolle zu (die allerdings nicht a priori gegeben, sondern aus der Erfahrung geschöpft ist). Eine Eigenart Lenins und später noch mehr Stalins war es, die Rolle des Den-40) kens, also die aktive Rolle des Überbaus, zu betonen. Das hatte seine politischen Gründe. Lenin wandte sich gegen die Spontaneitätstheorie; er war der Meinung, daß die Arbeiterklasse von sich aus nur zu Sozialdemokratismus und Gewerkschaftlertum fähig sei, der revolutionäre Gedanke müsse durch intellektuelle Berufsrevolutionäre ins Proletariat hineingetragen werden. Eben dies unterscheidet Lenin von der demokratischen Arbeiterbewegung. Bei Stalin wurde das Prinzips vollends pervertiert: Der Staat schuf die Gesellschaft, der Überbau die Basis (vgl. Aus der Rolle des Denkens leitete Lenin die Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Parteinahme ab: Da die Welt sich im Progreß und in Klassenkämpfen befindet, muß man sich für Fortschritt oder Reaktion, für diese oder jene Klasse entscheiden. ». . . schließt der Materialismus sozusagen Parteilichkeit in sich ein. da er dazu verpflichtet, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen'(Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herm Struve, 1895)

Das Prinzip der Parteilichkeit wird heutzutage folgendermaßen formuliert:

. Auf dem Boden der kommunistischen Parteilichkeit in der Ideologie zu stehen bedeutet, daß man imstande sein muß. die Klassenbedingtheit eines jeden ideologischen Phänomens sichtbar zu machen und auf dem Gebiete der Ideologie die Interessen der Arbeiterklasse, des Sozialismus, der Demokratie und des Friedens zwischen den Völkern zu vertreten. Die kommunistische Parteilichkeit besteht in der Unversöhnlichkeit gegenüber jeder beliebigen Erscheinung der bürgerlichen Ideologie sowie in dem bewußten und aktiven Dienst an dem großen Ziel des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft mit den Mitteln der Ideologie. Die kommunistische Partei konkretisiert in ihrem Programm und in ihrer Arbeit die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie die Aufgaben der sozialistischen und kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Hieraus resultiert die wichtigste Forderung des Prinzips der kommunistischen Parteilichkeit in der Ideologie, die Forderung, sich in der gesamten ideo-logischen Arbeit von der Politik der marxistischleninistischen Partei und dem von der Partei gelenkten sozialistischen Staat leiten zu lassen'(M. S. Selektor, Das Prinzip der kommunistischen Partei-lichkeit in der Ideologie, Woprossy filosofii, Moskau, Nr. 8/1957).

Eine objektive, unparteiische Stellungnahme wird als Objektivismus verurteilt, denn sie komme, so heißt es, auf eine Stellungnahme zugunsten des Feindes hinaus — eine Einschätzung, die sich aus der Struktur des totalen Staates erklärt. (In der SED gibt es eine bezeichnende Losung: „Wo wir nicht sind, da ist der Feind“.) Parteilichkeit sei wahre Objektivität und geradezu Voraussetzung richtiger Erkenntnis. Diese absurde These wird aus einer Art prästabilierten Harmonie zwischen dem in der Partei inkarnierten Proletariat und der Weltgeschichte abgeleitet.

„Die proletarische Parteilichkeit, /die kommunistische Ideologie gewährleistet die gründlichste, objektivste und allseitigste Erkenntnis der Wirklichkeit, der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens. Die Interessen der Arbeiterklasse stimmen mit dem objektiven Verlauf der historischen Entwicklung überein. Das Proletariat ist eine konsequent revolutionäre Klasse und im Hinblick auf die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft an einer objektiven, das heißt echten Erkenntnis interessiert. Darum fallen wahre Wissenschaftlichkeit und kommunistische Parteilichkeit zusammen'(Grundlagen der marxistischen Philosophie)

Dieses Prinzip steckte offensichtlich schon im Historischen Materialismus, in der Marxschen Eschatologie. Selbstverständlich wandte es Marx nur auf die Gesellschaftswissenschaften an; Engels und Lenin dehnten es auf die Theorie der Naturwissenschaften aus. Unter Stalin wurde es auch auf die praktischen Naturwissenschaften übertragen. Es führte zum Ruin sämtlicher Wissenschaften im Ostblock. 5. Natur-und Gesellschaftswissenschaft 1950 erklärte Stalin: „Ein Marxist kann die Sprache nicht für einen Überbau der Basis halten“ (J. W. Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, 1950 Dies war ein außerordentlich folgenschwerer Schritt, denn damit wurde zum erstenmal eine, wenn auch periphere Erscheinung des gesellschaftlichen Bewußtseins, eben die Sprachwissenschaft, aus dem totalitären System gelöst. Die formale Logik folgte. Auch die Wissenschaften wurden neu definiert. 1. Naturwissenschaft . Da die Naturwissenschaft die Kenntnis objektiver, vom Menschen und von der Menschlichkeit unabhängiger Naturgesetze vermittelt, enthält sie nichts, was klassenmäßig, parteilich bedingt wäre. In den Termini der Geometrie Euklids, in den von Lomonossow und Mendelejew entdeckten Gesetzen ist nichts, was an eine Klasse gebunden wäre. Doch gibt es in der Wissenschaft außer den objektiven Gesetzen, den in der Praxis überprüften und bewiesenen objektiven Wahrheiten auch noch eine theoretische Auslegung der Gesetze, allgemeintheoretische philosophische Schlußfolgerungen, kurz, es gibt noch philosophische, ideologische Grundlagen der Wissenschaft. Diese allgemeintheoretischen, philosophischen Schlußfolgerungen bringen, wie di Auslegung der Gesetze, unmittelbar die Weltanschauung der Klassen zum Aus-48 druck'(F. Konstantinow, Über Basis und Über-bau) a) Den Naturwissenschaften wurde also aufgetragen, hinfort der kommunistischen Gesellschaft nicht mehr ideologisch, sondern materiell zu dienen, nicht durch Mythenbildung, sondern durch technisch-wissenschaftliche Leistungen. Diese Befreiung der Naturwissenschaften aus dem totalitären Reglement war die Voraussetzung für die wissenschaftlichen und technischen Erfolge der Sowjetunion in den letzten Jahren, b) Andererseits taucht die Gefahr einer neuen Entstellung auf. „Die moderne Wissenschaft verwandelt sich — und dies muß vor allem hervorgehoben werden — immer unmittelbarer in eine materielle Produktivkraft“ (A. N. Kossygin, „Für eine enge Verbindung der Wissenschaft mit dem Leben“, Iswestija, Moskau, 15. Juni 1961). Diese Tendenz, die durch das Primat der Praxis (Kap. IV/6) noch verstärkt wird, nimmt der Wissenschaft ihre alte, bei Marx und Engels sehr ausgeprägte, auf pervertierte Weise selbst bei Lenin und Stalin vorhandene Würde, dem Menschen die Welt zu vermitteln. c) Die Naturphilosophie blieb als Teil des Über-baus in das Korsett der Scholastik und Parteilichkeit ezwängt. Immerhin erfuhr auch sie eine gewisse Belebung und Qualifizierung, denn sie war nun gezwungen, erstens den Tatsachen ins Auge zu blicken, zweitens die Gesellschaft vor den unreglementierten, spontanen Äußerungen der Wissenschaft abzuschirmen Die Entideologisierung der Praxis bedingte also eine ideologische Renaissance der Theorie. d) Diese Renaissance der Theorie ist für das totalitäre System nicht ohne Gefahr; denn die Theorie muß, wenn sie der wissenschaftlichen Tatsachen einigermaßen Herr werden will, ihre Kategorien ständig erweitern und transformieren, was die Gefahr der Grenzüberschreitung, der Ketzerei heraufbeschwört. 2. Gesellschaftswissenschaft . Anders verhält es sich mit den Gesellschaftswissenschaften. Hier berührt der Forschungsgegenstand selbst -die Eigentumsverhältnisse, die Fragen der Arbeit, des Lohnes, die Fragen des Staates, des Rechts usw. — unmittelbar die Klasseninteressen. Die Gesellschaftswissenschaften sind der theoretische Ausdruck der Interessen dieser oder jener Klasse, sind Ausdruck und Begründung ihrer politischen Ideologie'(F. Konstantinow)

Versuche, auch die Gesellschaftswissenschaften aus dem Überbau zu lösen, indem man auf den klassenneutralen Charakter vieler ihrer Elemente (Tatsachen, Beobachtungen, Methodik, Teilschlußfolgerungen, Traditionen) hinwies, blieben in der Oktoberkrise 1956 stecken. Immerhin brachte die Diskussion auch den Gesellschaftswissenschaften Lockerungen: 1. wurde ihre Eigengesetzlichkeit gegenüber anderen Formen des Überbaus (z. B.der Propaganda) anerkannt, 2. wurde sie — wie die Naturtheorie -näher an die Tatsachen herangeführt. 6. Forschung und Praxis Im Marxismus als einer revolutionären Ideologie nimmt die Praxis eine beherrschende Stellung ein, als Ausgangspunkt und Ziel wie als Wahrheitskriterium der Erkenntnis. . In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen* (K. Marx, Thesen über Feuer-bach, 1945) . Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis -das Ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität“ (W. Lenin, Philosophische Hefte)

Dieses Prinzip ist die selbstverständliche Grundlage jeder Wissenschaft. Voraussetzung ist allerdings, daß jeder Akt des Erkenntnisprozesses: Beobachtung, Abstraktion und Anwendung, sich souverän entfalten kann, daß nicht ein Moment alle anderen beherrscht. Dem Marxismus als einer revolutionären Ideologie kommt es jedoch allein auf die Praxis an.

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert: es kommt aber darauf an, sie zu verändern'(K. Marx, Thesen über Feuerbach)

Die Erkenntnis beginnt mit der Praxis; hat man durch die Praxis theoretische Kenntnisse erworben, muß man wiederum zur Praxis zurückkehren. Nachdem die Erkenntnis sich die Gesetzmäßigkeiten der Welt zu eigen gemacht hat, muß sie wiederum auf die Praxis zwecks Umbildung der Welt gerichtet sein, muß in der Praxis der Produktion, in der Praxis des revolutionären Klassenkampfes und des nationalen Befreiungskampfes sowie in der Praxis wissenschaftlicher Experimente angewandt werden'(Mao Tsetung. Über die Praxis, 1937)

a) Die Naturwissenschaften werden der Planwirtschaft, die Gesellschaftswissenschaften dem Parteiprogramm untergeordnet: sie sind dem Bürokratismus und Dirigismus, den Anordnungen, den Urteilen und der Kontrolle wissenschaftsfremder Funktionäre ausgesetzt.

b) Die Grundlagenwissenschaft wird meist vernachlässigt, weil sie keinen greifbaren Nutzeffekt vorweisen kann. c) Eine unkritische Auswertung der Praxis als Kriterium der Wahrheit kann dazu führen, daß man den Erfolg für das Kriterium der Wahrheit hält, etwa derart: „Der Kommunismus hat ein Drittel der Erde erobert, folglich hat er recht. * d) Unter totalitären Verhältnissen wird die Richtigkeit einer Erkenntnis oft nicht an der Wirklichkeit selber gemessen, sondern an dem Wunschbild, das man von ihr hat. Das traf unter Stalin für die gesamte Wissenschaft zu, heute vor allem für die Gesellschaftswissenschaft. . Die Erforschung der Probleme der Weltgeschichte und der modernen internationalen Entwicklung soll den gesetzmäßigen Prozeß des Vormarsches der Menschheit zum Kommunismus, die Veränderungen im Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus, die Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, den Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems und seine Folgen sowie den Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung der Völker aufdecken" (Programm der KPdSU, 1961, Zweiter Teil. V. 3).

Sogar die Statistik wird regelmäßig manipuliert und verfälscht, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf". 7. Der Revisionismus Im Unterschied zum Chruschtschowschen Reformkommunismus, der sich überall auf Lenin beruft, geht der Revisionismus wie in der Kunst so auch in der Wissenschaft auf den ursprünglichen Marxismus zurück. Das bedeutet in der Naturtheorie, daß der Dialektische Materialismus als Doktrin verworfen und wieder im Sinne von Engels als vorurteilsfreie Verarbeitung der exakten Wissenschaften verstanden wird. Wir zitieren eine Kritik am Diamat aus der Sowjetzone Deutschlands, wo 1956 die Diskussion am weitesten vorankam. . Der dialektische Materialismus erhebt bekanntlich den Anspruch, besonders nachdrücklih seit Shdanows viel berufener Diskussionsrede auf der Moskauer Philosophen-Tagung 1947, ein Werkzeug der wissenschaftlichen Forschung zu sein. Ist er das wirklich? Sind z. B. die großen, auch weltanschaulich überaus bedeutsamen Entdeckunger der letzten Jahrzehnte. darunter die Quantentheorie, die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, die Wellen-mechanik, die Ergebnisse der Kernphysik Irgendwie unter Anwendung der dialektisch-materialistischen Erkenntnismethode zustande gekommen? Die Frage stellen, heißt sie verneinen . ..

Nun wird in der marxistischen Literatur nicht selten in diesem Zusammenhang behauptet, daß diese bedeutenden Naturforscher eben . unbewußt'den Standpunkt des dialektischen Materialismus eingenommen und nur dadurch ihre großen wissenschaftlichen Erfolge erzielt hätten. Dann muß man selbstverständlich auch Galilei oder Newton wie überhaupt alle großen Naturforscher der Geschichte als . unbewußte'dialektische Materialisten bezeichnen, kommt dann aber zu einer Gleichsetzung des dialektischen Materialismus mit irgendeinem . naiven* Realismus und irgendeiner . spontanen* Dialektik . . .

Es ist aber auch eine Tatsache, das gerade diejenigen sowjetischen Naturwissenschaftler, die sich wohl am nachdrücklichsten auf den dialektischen Materialismus als die uuerläßliche Forschungsgrundlage ihrer gesamten theoretischen uud experimentellen Arbeit berufen haben, teilweise zu Ergebnissen gekommen sind, von denen sich die Sowjetwissenschaft heute mit aller Entschiedenheit und Schärfe distanziert, wie etwa von der . neuen Zellentheorie'Lepeschinskajas oder der . neuen Arttheorie'Lyssenkos Infolge der durch mannigfache Umstände verschuldeten jahrzehntelangen dogmatischen Erstarrung ist der dialektische Materialismus mit seinen philosophischen Verallgemeinerungen hinter der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft stellenweise beträchtlich zurückgeblieben. Die philosophische Verarbeitung der neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen ist zum Teil noch gar nicht in Angriff genommen worden, weil die marxistischen Philosophen immer nur nach einer Bestätigung der klassischen Leitsätze der marxistischen Philosophie durch die neuen Forschungsergebnisse Ausschau hielten, anstatt Kurs zu nehmen auf eine schöpferisch-kritische Weiterentwicklung eben dieser Thesen, entsprechend der bekannten Forderung von Engels, daß der philosophische Materialismus . mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet'seine Form ändern muß" (F. Herneck, Dozent für Gesellschaftswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, „Am entscheidenden Punkt vorbei*, Sonntag, Berlin, 7. Oktober 1956).

In der Geschichtstheorie ging es darum, den Menschen, von dem Marx einst ausgegangen war, wieder ins Spiel zu bringen. Zwei führende marxistische Theoretiker, der Leipziger Philosoph Ernst Bloch und der Berliner Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski, wiesen dem einzelnen wieder eine souveräne Rolle bei der Gestaltung seiner Welt zu.

Die revisionistischen Strömungen in den Einzel-wissenschaften, wie sie nach Stalins Tod nicht nur in der Zone, genauso in der Sowjetunion und im ganzen Ostblock aufgetreten sind, kann man auf den gemeinsamen Nenner bringen, daß sie sich über Dogmatik und Parteilichkeit hinwegsetzten und zur Wahrheit bekannten. Die Naturwissenschaften näherten sich den im Westen verbreiteten modernen Theorien, die Gesellschaftswissenschaften der westlichen Soziologie.

V. Praxis der Wissenschaft

1. Überblick Zwei Gesichtspunkte, die wir unserer Betrachtung der künstlerischen Praxis zugrundegelegt haben, gelten — mutatis mutandis — auch für die Praxis der Wissenschaft. 1. Bei aller prinzipiellen Ausrichtung auf den Marxismus-Leninismus sind in der kommunistischen Wissenschaftspolitik wie in der gesamten kommunistischen Politik deutlich drei Phasen zu unterscheiden: a) Die Revolutionsepoche. Bereits 1920, also noch inmitten der Wirren und Verwüstungen des Bürgerkrieges, betonte Lenin die Wichtigkeit von Wissenschaft und Technik für den kommunistischen Aufbau durch die Losung: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung."

Er stellte 1919 den humanen Gorkij an die Spitze einer Kommission zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Wissenschaftler, die viele Intellektuelle vor der Liquidierung bzw.dem Verhungern retten konnte. Die technisch-wissenschaftliche Intelligenz genoß bis zu den ersten Schauprozessen Ende der zwanziger Jahre (1928:

Prozeß gegen die Bergbauingenieure von Schachty, 1930: Prozeß gegen die sog. Industriepartei) ohne Rücksicht auf politische Gesinnung und Nationalität alle nur denkbaren Privilegien. Der damalige Stand der Produktivität, der weit unter dem zur Zarenzeit lag, erlaubte allerdings keine großen wissenschaftlichen Unternehmungen und Entdeckungen: immerhin konnte die Sowjetunion auf einigen schon vor der Revolution entwickelten Gebieten wie der Biologie, Physiologie, Mathematik und theoretischen Physik Weltgeltung behaupten. In den Geistes-und Sozialwissenschaften wurden alle nichtmarxistischen Richtungen ausgeschaltet. Lediglich Theoretiker, die auf dem Marxismus aufbauten, z B.der Historiker Pokrowskij und den Linguist Marr, vermochten noch originelle Leistungen hervorzubringen, die — bei aller Einseitigkeit — die Wissenschaft um interessante, bis dahin vernachlässigte Aspekte und Untersuchungen bereicherten. b) Der Stalinismus. Zur Stalinzeit verödeten trotz großer materieller Förderung so gut wie alle Zweige der Wissenschaft. Erstens wurden alle Wissenschaften (einschließlich solcher Politik-und ideologiefernen Disziplinen wie der Botanik und der Astronomie) zu Instrumenten totalitärer Meinungsbildung gemacht und bis ins Detail dem Parteireglement unterworfen;

zweitens wurden jeder neue Gedanke und jede freie Diskussion erstickt; drittens wurde die Sowjetwissenschaft von der gesamten Weltwissenschaft isoliert und verfiel der nationalen Hybris; viertens war die technisch-wissenschaftliche Intelligenz als eine schwer kontrollierbare, ihrer Natur nach zur Kritik und Skepsis neigende Eliteschicht bevorzugt dem Terror ausgesetzt.

c) Der Reformkommunismus. Die Wiederbelebung der Wissenschaft, von Malenkow offenbar schon vor Stalins Tod eingeleitet und von Chruschtschow energisch voran getrieben, basierte auf der neuen Definition von Natur-und Gesellschaftswissenschaft (vgl. Kap. IV/5). Heute hat die sowjetische Naturwissenschaft auf einigen schwerpunktmäßig geförderten Gebieten wieder Weltrang, so in der Kernphysik, in der Hydrodynamik und Astrophysik, in der physikalischen Chemie, in einigen Zweigen der Mathematik und Medizin. Die sowjetische Naturwissenschaft gibt wieder gegensätzlichen Meinungen Raum und führt offene Diskussionen, die nur behutsam ideologisch gesteuert werden. Sie steht in lebhafter Kommunikation mit der westlichen Wissenschaft und eignet sich — auf legalen und illegalen Wegen — systematisch deren Errungenschaften an. Die Geistes-und Sozialwissenschaften sind vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nach wie vor unergiebig (abgesehen von einigen dem Marxismus naheliegenden Spezialforschungen): sie sind jedoch als Instrumente der Agitation und Propaganda, der ideologischen Auseinandersetzung erheblich qualifiziert worden und stellen eine ernste Herausforderung an den Westen dar, dem es oft an Sachkenntnis und Diskussionserfahrung gebricht, um ihnen wirksam entgegenzutreten.

In der Sowjetzone Deutschlands und in den meisten Volksdemokratien ist die Lage der Wissenschaft immer noch so, wie sie unter b) (Stalinismus) beschrieben wurde.

2. Für die Wissenschaft gilt sinngemäß, was in Kap. 111/5 über die Sonnen-und Schattenseiten der Kunstdiktatur gesagt wurde. Dabei ist zu beachten, daß sich das totalitäre System — jedenfalls nach den Chruschtschowschen Reformen — auf die Naturwissenschaften günstiger auswirkt als auf Literatur und Kunst, Gesellschaftswissenschaften und Philosophie.

a) Für die moderne, weitgehend technologisierte und auf Teamwork beruhende Naturwissenschaft ist die materielle Förderung tatsächlich von ausschlaggebender Bedeutung. Planung und Schwerpunktbildung haben sich als vorteilhaft für die wissenschaftliche Entwicklung erwiesen; sie haben es der Sowjetunion ermöglicht, den wirtschaftlich weit stärkeren USA auf einigen wichtigen Gebieten den Rang abzulaufen. b) Das forcierte Volksbildungssystem mit der Polytechnischen Ausbildung als Kern und den verschiedenen, auch Erwachsenen offenstehenden Bildungswegen ist ganz darauf zugeschnitten, Fachkräfte für die industrielle Revolution heranzubilden. Natürlich kann auch die Sowjetunion nicht Genies am Fließband erzeugen, das einseitig technologische Ausbildungssystem mag für die Entfaltung eines Genies sogar nachteilig sein, aber auf alle Fälle werden Heerscharen von Technikern und Wissenschaftlern der mittleren Güteklasse produziert, die das Rüdegrat der modernen Technik und Wissenschaft sind.

c) Da die Partei und die Naturwissenschaftler dasselbe Ziel verfolgen, nämlich den raschen Fortschritt der Wissenschaft, sind politisch-ideologische Differenzen auf diesem Gebiet selten. Das hat u. a. zur Folge, daß die besten Köpfe der sowjetischen Jugend in dieses Gebiet strömen, das ihnen — gewissermaßen als ein Natur-schutzgebiet des Talents — eine ungestörte Entwicklung verspricht.

Auf einem anderen Blatt steht, daß das Entstehen einer mächtigen, angesehenen und unersetzlichen Technologenschicht, die außerhalb des ideologischen Systems arbeitet, lebt und denkt, für den totalitären Staat außerordentlich gefährlich ist. 2. Geisteswissenschaften 1. Soziologie Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die es bisher im Ostblock nicht gegeben hat, die von den Kommunisten in Bausch und Bogen abgelehnt wurde.

. Für die gegenwärtige bürgerliche Soziologie insgesamt ist die Tendenz charakteristisch, dem Hauptsächlichen und Wesentlichen in der sozialen Entwidclung aus dem Wege zu gehen, auf eine Analyse der Grundprobleme des gesellshaftlichen Seins zu verzichten und die Aufmerksamkeit nur auf das Zweitrangige im gesellschaftlichen Leben der Menschen zu konzentrieren. Einige bürgerliche Soziologen verabsolutieren irgendeine Seite des historischen Prozesses, andere stellen die Gesellschaft als eine Gesamtheit verschiedener gleichwertiger Seiten oder in Wechselwirkung befindlicher Faktoren dar. aber die einen wie die anderen lehnen es ab, der ökonomischen Struktur der Produktionsweise die bestimmende Rolle im gesellschaftlichen Leben zuzuerkennen* (Grundlagen der marxistischen Philosophie)

Die Kommunisten stört an der Soziologie offensichtlich folgendes: 1. die exakte, vorurteilsfreie Untersuchung sozialer Phänomene, der sich eine Diktatur nicht gern aussetzt; 2. die schonungslose Ideologiekritik; 3. die Konkurrenz zur eigenen Lehre, welche die Lösung aller soziologischen Probleme für sich in Anspruch nimmt; 4. die Verwandtschaft mit dem Revisionismus: Da der Marxismus eine Mixtur ideologischer und soziologischer Elemente ist, läuft das Streben der Revisionisten, ihn zu entideologisieren und der Wirklichkeit anzupassen, stets auf eine Annäherung an die moderne Soziologie hinaus.

Der Ausfall der soziologischen Wissenschaft hat große Nachteile für das Regime; es fehlt ihm an der Möglichkeit, zuverlässige Kenntnis von den tatsächlichen sozialen Verhältnissen, den Stimmungen und Bedürfnissen, den Reaktionen und Intentionen der Gesellschaft zu gewinnen. Viele kardinale Führungsfehler erklären sich aus diesem Mangel.

So nimmt es nicht wunder, daß in jüngster Zeit in einigen Ostblockländern (Sowjetunion, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) Anstrengungen unternommen wurden, eine „marxistische Soziologie“ ins Leben zu rufen. Die Problematik des Unternehmens deutete Prof. Mitin, Chefredakteur von Woprossy filosofii, an: „In diesem Zusammenhang besteht die wichtigste Aufgabe der marxistischen Philosophie und Soziologie darin, konkrete soziologische Untersuchungen über die Entwicklung der verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Lebens anzustellen. Die konkrete soziologische Forschung wird gegenwärtig in der Sowjetunion wie auch in den anderen sozialistischen Ländern breit entfaltet. Natürlich wirft die Entwicklung der konkreten soziologischen Forschung neue Probleme der marxistischen Methodologie auf. Die konkreten soziologischen Untersuchungen haben mit der bürgerlichen Soziologie nichts gemeinsam, die ja meist empiristisch an die Untersuchung gesellschaftlicher Probleme herangeht'(Neue Probleme der marxistischen Philosophie, Interview mit M. B. Mitin. Neues Deutschland. Berlin. 24 Februar 1962), Wie die „marxistischen Soziologen“ das Kunststück fertigbringen sollen, konkrete soziologische Untersuchungen anzustellen, ohne dabei empiristisch an die Untersuchung der Probleme heranzugehen, bleibt im Dunkeln. Vermutlich ist daran gedacht, der soziologischen Untersuchung jeweils eine ideologische Interpretation zu geben. Was aber geschieht, wenn das Ergebnis der soziologischen Untersuchung den ideologischen Axiomen widerspricht? 2. Wirtschafts-, Staats-und Rechtswissenschaften Die Wirtschafts-, Staats-und Rechtswissenschaften sind im Ostblock Hilfswissenschaften zur Untermauerung der Ideologie. Sie sind in ein unverrückbares System von Dogmen gepfercht; selbst alle wesentlichen Auslegungen werden von den Theoretikern in der Parteiführung vorgeschrieben. Fragen wie: Vorrang der Schwerindustrie oder der Konsumgüterproduktion, Zentralismus oder Dezentralisierung, Verschärfung oder Abschwächung des Klassenkampfes, sind von höchster staatspolitischer Bedeutung und oft Gegenstand von Kämpfen auf Leben und Tod unter den Machthabern. Ah Aufgabe der Fachwissenschaftler bleiben Materialsammlung, Geschichtsschreibung, Detail-arbeit, Apologetik und Popularisierung. In die-sem begrenzten Rahmen gelingen intelligenten und geschickten Gelehrten hin und wieder wertvolle Arbeiten, doch stoßen sie rasch an die Schranken des Systems. 1947 wurde Eugen . Varga als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Moskau abgesetzt, weil er nicht den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus zu prophezeien vermochte. Die beiden international angesehenen Wirtschaftstheoretiker der Sowjetzone, Jürgen Kuczynski und Fritz Behrens, wurden alle paar Jahre gemaßregelt und mußten Selbstkritik ablegen; 1956, als die gesamten Wirtschafts-, Staats-und Rechtswissenschaften in Mitteldeutschland von revisionistischen Ideen, dem Drang nach objektiven Gesetzen und humanen Normen, beherrscht wurden, geriet auch der prominente, aus der Schweiz stammende Staatsrechtler Arthur Baumgarten mit der Partei aneinander. 3. Geschichtsschreibrng Bis zu seinem Tode 1932 war M. Pokrowskij die beherrschende Figur der sowjetischen Geschichtswissenschaft. Getreu dem Historischen Materialismus betonten er und seine Schule die ökonomischen und sozialen Faktoren in der Geschichte; sie erwarben sich gewisse Verdienste um die Erforschung der Klassenkämpfe und Volksbewegungen, der Produktionsverhältnisse und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Der zaristischen Vergangenheit Rußlands standen sie naturgemäß feindlich gegenüber. 1934 und 1936 wurde die Pokrowskij-Schule durch mehrere Erlasse von Stalin, Molotow und Shdanow als „antimarxistisch" verurteilt; Pokrowskij wurde postum als „Schädling" diffamiert. Damit begann die chauvinistische Phase der sowjetischen Geschichtsschreibung; ihre Charakteristika waren: Betonung der politischen und militärischen Geschichte, Heldenverehrung für Zaren und zaristische Marschälle, Vordatierungen und Prioritätsansprüche zum Ruhme der russischen Vergangenheit. Ein weiterer Grund für den Verfall der sowjetischen Geschichtsschreibung war das persönliche Interesse Stalins für die Historie; jeder noch so dilettantische Ausspruch des Diktators, z. B. über den Untergang des Römischen Reiches, die Beziehungen zwischen Byzanz und Rußland, die Leibgarde Iwans des Schrecklichen und die Entstehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung, wurde sofort zum Axiom. Auf dem XX. Parteitag 1956 verurteilten Mikojan und die Historikerin Pankratowa die stalinistische Geschichtsdarstellung, sie kritisierten vor allem zwei Punkte: die Verfälschung der bolschewistischen Parteigeschichte und die Verherrlichung des zaristischen Imperialismus. Doch kann von objektiver Geschichtsschreibung auch heute noch nicht die Rede sein, und zwar aus folgenden Gründen: Das Schema des Historischen Materialismus bleibt verbindlich; Äußerungen von Marx, Engels und Lenin behalten axiomatischen Charakter; je näher die Geschichtsschreibung der Gegenwart kommt, desto mehr wird sie den Bedürfnissen der Parteipropaganda unterworfen. Die Parteigeschichte wird unter Chruschtschow genau so verfälscht wie unter Stalin, nur mit anderem Akzent.

Unter diesen Umständen können die sowjetischen Historiker wertvolle Arbeit nur in bestimmten Grenzen leisten: bei der Quellenforschung und Dokumentation (vor allem abgelegener Perioden und Bereiche) und bei der Untersuchung von Teilaspekten, die dem Historischen Materialismus entgegenkommen. Zum Beispiel gibt es gründliche Darstellungen der russischen Wirtschafts-und Sozialgeschichte, Forschungen über die von der Wissenschaft so lange vernachlässigten alten Reiche Mittelasiens, die Arbeiten von M. Smirin über den deutschen Bauernkrieg und von Eugen Tarle über die napoleonische Epoche.

Die Geschichtsschreibung der Sowjetzone konzentriert sich — abgesehen von der Geschichte der Arbeiterbewegung — auf die Popularisierung einiger Lieblingsperioden, vor allem des Bauernkrieges 1525 (revolutionäre Tradition) und der Freiheitskriege 1813 (deutsch-russische Waffenbrüderschaft). Originelle Arbeiten im Range der von Smirin und Tarle hat sie jedoch auf diesen Gebieten nicht hervorgebracht. Im ersteren Fall folgt sie sklavisch der 1850 verfaßten Schrift von Engels „Der deutsche Bauern-krieg“, im zweiten der (mit den Ansichten von Marx und Engels nicht zu vereinbarenden) preußisch-militaristischen Tradition. 4. Sprachwissenschaft Nach der Oktoberrevolution entwickelte Nikolaj Marr, ein Gelehrter, der sich zum Beispiel um die Erforschung der kaukasischen Sprachen große Verdienste erwarb, die sogenannte Neue Sprachlehre, eine komplizierte, in Einzelheiten anregende und fruchtbare, in ihrem Grundgedanken absurde Theorie. Es handelte sich um einen Versuch, den Marxismus auf die Sprach-theorie zu übertragen; Grundgedanke war, daß die Sprache zum ideologischen Überbau der Gesellschaft gehöre, mithin Klassencharakter habe, sich in Stadien, von Gesellschaftsordnung zu Gesellschaftsordnung entwickele usw. Der Versuch mußte scheitern, denn ungeachtet einiger widersprüchlicher Bemerkungen von Marx und Engels hat die Sprache im Historischen wie Dialektischen Materialismus keinen Platz. 1950 wurde die Neue Sprachlehre von Stalin verurteilt (Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft). Über die Motive zu dieser Verurteilung streiten sich die Experten. Einerseits stellte die Lehre des 1934 verstorbenen Marr ein anachronistisches Überbleibsel aus der Revolutionsepoche dar; sie war ebensowenig wie die Geschichtstheorie von Pokrowski mit dem russischen Nationalismus der Stalinzeit vereinbar. Andererseits löste die Erklärung Stalins, daß die Sprache weder zum Überbau noch zur Basis gehöre, eine Kettenreaktion aus, die zu einer Lockerung des totalitären Systems führte (vgl. Kap. IV/5).

Für die sowjetische Sprachwissenschaft hatte die Stalin-Erklärung zur Folge, daß linguistische Probleme von nun an in ideologiefreiem Raum diskutiert wurden. 1959 stellten die Partei-ideologen konsterniert fest: „Die jüngere Generation der sowjetischen Linguisten, die von einigen Vertretern der älteren Generation unterstützt wurde, zögerte nicht, die aus dem Ausland importierten linguistischen Thesen in der sowjetischen Sprachwissenschaft anzuwenden und zu entwickeln, ohne sich über ihre Vereinbarkeit mit der marxistischen Theorie tiefere Gedanken zu machen (Theoretische Fragen in der Sprachwissenschaft, Einleitung, Iswestija Akademii Nauk SSSR, Otdelenije literatury i jasyka, Moskau, Nr. 3/1959). 5. Psychologie Das entscheidende Handicap der sowjetischen Psychologie in allen Phasen ihrer Entwicklung war und ist, daß sie sich nicht für die Seele des Einzelmenschen interessieren darf; im Rahmen der kommunistischen Gesellschaftslehre erscheint jede vom Individuum ausgehende Psychologie nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich. Immerhin brachte die sowjetische Psychologie in den zwanziger Jahren auf dem Gebiet der Sozial-psychologie Gelehrte von Weltrang hervor, so den „Reflexologen" V. Bechterew und den „Pädologen" P. Blonski. Diese Leistungen wurden in der Stalinzeit verworfen, weil sie mehr soziologisch als weltanschaulich fundiert waren und weil sie zuviel Verwandtschaft mit der modernen westlichen Psychologie und Pädagogik aufwiesen. (Die Verhaltenslehre Bechterews war dem amerikanischen Behaviorismus verwandt, die sozialpädagogische Lehre Blonskis der deutschen Theorie der Arbeitsschule.) Die Psychologie der Stalinzeit beschränkte sich im wesentlichen auf eine Psychologie der Erkenntnisvorgänge (basierend auf Lenins Erkenntnistheorie), eine sehr allgemeine Charakterkunde und den Historischen Materialismus als Erklärung der menschlichen Antriebe. Da diese Psychologie den Anforderungen der Gesellschaft auf philosophischem, pädagogischem und medizinischem Gebiet nicht gerecht wurde, bemüht sich die Partei seit etwa 1947 die Pawlowsche Gehirn-Physiologie zur Grundlage der psychologischen Wissenschaft zu machen.

Iwan Pawlow (1849— 1936), einer der bahnbrechenden Physiologen unseres Jahrhunderts, erhielt bereits 1904 den Nobelpreis und hatte mit Marxismus und Kommunismus nie etwas zu tun. Seine Theorie der höheren Nerven-tätigkeit beruht auf zwei Elementen: 1.der Lehre von den bedingten Reflexen. Im Unterschied zu den einfachen, unbedingten Reflexen, die angeborene Instinkthandlungen sind (zum Beispiel Speichelabsonderung bei der Nahrungsaufnahme), werden die bedingten Reflexe durch Erfahrung erworben (zum Beispiel sondert ein Hund auch bei einem Signal, das längere Zeit mit der Nahrungsaufnahme gekoppelt wurde, Speichel ab). 2.der Lehre von den zwei Signalsystemen. Die höhere Nerventätigkeit bei Tieren wie Menschen besteht aus einer Gesamtheit bedingter Reflexe, dem ersten Signalsystem; darüber hinaus besitzt der Mensch in der Sprache noch ein weiteres, höheres Signalsystem, dessen Reize das Denken und das spezifisch menschliche Verhalten bestimmen. Die Arbeiten Pawlows sind aus der Physiologie der ganzen Welt nicht wegzudenken Zwei sowjetische Schüler, Alexander Speranskij und Konstantin Bykow, aber auch westliche Gelehrte haben sie für die Medizin fruchtbar gemacht. L. Orbeli, dem engsten Mitarbeiter und Nachfolger Pawlows, gelangen neue Entdekkungen auf dem Gebiet der höheren Nerven-tätigkeit.

Auf einer gemeinsamen Sitzung der sowjetischen Akademien der Wissenschaften und der medizinischen Wissenschaften 1950 proklamierte Bykow im Namen der Partei die Lehre Pawlows zur verbindlichen Grundlage der gesamten sowjetischen Physiologie, Psychologie und Medizin. Orbeli und auch Speranskij wurden scharf kritisiert, weil sie die Lehre (übrigens im Sinne Pawlows) streng naturwissenschaftlich, empirisch gehandhabt und damit ihre Verallgemeinerung und Ideologisierung verhindert hatten und weil sie die Lehre in den Zusammenhang mit anderen, auch westlichen Erkenntnissen gestellt hatten. Orbeli verlor seine Ämter.

Die Ausrichtung auf Pawlow hatte vor allem ideologische Bedeutung, denn sie ermöglichte 1. die Erklärung psychologischer Vorgänge ohne Annahme einer Seele, 2. die Loslösung der Sowjetwissenschaft vom Westen und ihre Glorifizierung. Den praktischen Wissenschaften brachte die Ausrichtung auf Pawlow keinen Nutzen. In der sowjetischen Physiologie und Medizin wurden seine Erkenntnisse, soweit es möglich war, ohnehin angewandt. Die Ausweitung zur Universaltheorie und Dogmatisierung war, wie nach Stalins Tod zugegeben wurde, ein Fehler; 1955 mußte Bykow zurückstecken, und Orbeli kam wieder zu Ehren. Geradezu auffallend ist, wie wenig die sowjetische Psychologie mit Pawlow anfangen konnte. Die Erkenntnis, daß das Denken auf physiologischen Vorgängen im Gehirn fußt, liefert noch keinen Schlüssel zur Psyche. Ein Brückenschlag von der Gehirn-physiologie zur Psychologie (nach der Dialektik ein qualitativer Sprung) wäre möglich mit Hilfe der Tiefenpsychologie, des psychophysischen Parallelismus, der Gestaltpsychologie — aber alle diese im Westen praktizierten Methoden bleiben für die sowjetische Wissenschaft tabu.

In der Sowjetzone konnte sich neben der offiziellen Sowjetpsychologie noch eine andere Richtung halten: die Gestaltpsychologie (eine Richtung der Ganzheitspsychologie, die die Meinung vertritt, daß der Mensch mehr als die Summe seiner Teile ist und folglich nicht durch Untersuchung von Teilaspekten verstanden werden kann). Zentrum der Gestaltpsychologie war immer Berlin. Das Zonenregime beließ einen ihrer führenden Vertreter, den Zwillingsforscher Kurt Gottschaldt, an der Spitze des Psychologischen Institutes der Ostberliner Universität; er sollte die psychologischen Aufgaben wahrnehmen, bis marxistisch-leninistische Psychologen herangewachsen wären. 1956 mußte die Partei feststellen, daß die inzwischen herangewachsenen Psychologen, aber auch Pädagogen, Philosophen und Mediziner sich keineswegs zur Sowjetpsychologie bekannten, sondern nach wie vor der weit interessanteren und fruchtbareren Gestaltpsychologie folgten. In einer Empfehlung der Schulkommission beim Politbüro der SED wurde daraufhin 1958 die Gestaltpsychologie als bürgerlich und mit dem Marxismus nicht vereinbar verurteilt. Prof. Gottschaldt flüchtete 1962 nach dem Westen. 3. Naturwissenschaften 1. Biologie Die sowjetische Biologie war Schauplatz der verheerendsten Eingriffe der Partei in die Wissenschaft. Drei Theorien wurden als „glänzende Bestätigung des Dialektischen Materialismus“ kanonisiert.

A. Trofim Lyssenkos Neue Vererbungslehre und Neue Arttheorie. Im Unterschied zur klassischen Vererbungslehre, die das Erbgut in den Chromosomen lokalisiert sieht und eine erbliche Veränderung von Eigenschaften nur durch schwer kontrollierbare Einwirkungen auf die in den Chromosomen gespeicherten Erbanlagen für möglich hält (Mutationen), behauptete Lyssenko, ein Schüler des bedeutenden Pflanzen-züchters Iwan Mitschurin, das Erbgut werde vom gesamten Plasma getragen und könne durch Umwelteinflüsse gezielt verändert werden. Eine Lockerung der Erbanlagen sei möglich durch Pfropfung, durch Behandlung des sich entwikkelnden Organismus mit tiefen Temperaturen, Licht usw. und durch Kreuzung sehr verschiedener Formen. Schließlich behauptete Lyssenko sogar, auf diese Weise eine Art in eine andere verwandeln zu können. Auf einer Außerordentlichen Sitzung der sowjetischen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften 1948 wurden die Anschauungen Lyssenkos auf persönliche Anweisung Stalins für verbindlich erklärt.

B. Olga Lepeschinskajas Neue Zellentheorie. Diese mit Lyssenko verbündete Forscherin behauptete, bei der Untersuchung von Dotter-schollen in Eiern von Hühnern, Kanarienvögeln und niederen Tieren vorzellulare, kernlose Lebensformen entdeckt, ja, sie durch Zerreiben von Zellen lebender Materie sogar erzeugt zu haben. Aus dem undifferenzierten Protoplasma hätten sich dann Zellen entwickelt. Die Theorie der Lepeschinskaja wurde auf einer Gemeinsamen Sitzung der Abteilung Biologie der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1950 für verbindlich erklärt.

C. Alexander Oparins Koazervattheorie von der Entstehung des Lebens. Danach haben sich bei der allmählichen Abkühlung der Erde vom Glutball zur Gas-Staub-Materie hochkomplizierte Kohlenwasserstoff-Verbindungen gebildet, die zur Grundlage organischer Substanzen wurden. Bei weiterer Abkühlung der Erde schwebten diese Verbindungen als Koazervate, labile Tröpfchen, im kochenden Urozean; unter den extremen Druck-und Temperaturverhältnissen hatten sie die Möglichkeit, Stoffwechsel auszubilden, sich weiterzuentwickeln und fortzupflanzen.

Kritische Bewertung: a) Die Kanonisierung im Stadium der Hypothese befindlicher Theorien führte zu Stagnation der sowjetischen Biologie. Die Ausschaltung der klassischen Genetik hatte katastrophale Folgen für die sowjetische Landwirtshaft; die besten Genetiker wurden durch Scharlatane, bestenfalls talentierte Züchter ersetzt; der weltberühmte Gelehrte Nikolai Wawilow, ein Haupt der Genetik im Weltmaßstab, ging im Zwangsarbeitslager zugrunde. b) Die Überwindung der bürgerlich-westlichen Wissenschaft, die in den Schmähreden Lyssenkos gegen Mendel und Morgan, der Lepeschinskaja gegen Virchow behauptet wurde, war rein rhetorisch. Selbst wenn die sowjetischen Theorien richtig wären, würden sie die klassischen Lehren nicht aufheben, sondern ergänzen und weiterentwickeln. c) Die behauptete Übereinstimmung mit dem Diamat, ein weiteres sehr wichtiges Argument für die Durchsetzung der neuen Theorien, hatte ebenfalls nur rhetorischen Charakter. Die neue Arttheorie hat mit dem Diamat weniger zu tun als die klassische Genetik, denn sie geht nicht auf den von Engels gefeierten Darwin zurück, sondern auf Lamarque. Ebensowenig sind die Theorien von Lepeschinskaja und Oparin marxistischer als andere; sie verletzen sogar das obligatorische Prinzip des qualitativen Sprunges in der Entwicklung. d) Wesentlicher Grund für die Partei, die besagten Theorien zu fördern, dürfte wiederum die Russifizierung, das Streben nah Autarkie in der Wissenshaft gewesen sein. Hinzu kam, daß die Gelehrten Probleme zu lösen versprahen, die die Partei gern gelöst gesehen hätte, mit deren Lösung aber die seriöse Wissenshaft noch nicht dienen konnte. Die Theorien erlaubten eine lückenlose Erklärung der Entwicklung des Lebens vom Kohlenwasserstoff bis zum Menschen und damit die Deklamation, daß die Bibel eben doh nicht recht hat. e) Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist die Theorie von Oparin, wenn sie auh viele Fragen offen läßt, eine diskutable Hypothese. Die Theorien von Lyssenko und Lepeschinskaja sind nah übereinstimmender Meinung der Weltwissenshaft reine Eskamotagen; die Versuchs-anordnungen halten wissenschaftlicher Nahprüfung niht stand, die Schlußfolgerungen sind völlig unbegründet. Inzwischen hat auh die Sowjetwissenshaft die Theorie von Oparin kritisiert, die Theorien von Lyssenko und Lepeschinskaja verworfen. Nadi dem XX. Parteitag 1956 wurde Lyssenko als Präsident der Akademie der Landwirtschafts-Wissenschaften abgesetzt; die Genetik kam wieder zu Ehren, und Wawilow wurde postum rehabilitiert. 1961 kehrte Lyssenko überraschenderweise wieder auf den Präsidentensitz zurück. Die Gründe dafür dürften gewesen sein: 1. Lyssenko ist das Symbol für die Parteihegemonie in der Landwirtschaft, einem Gebiet von größter wirtschaftli her und auch politischer Bedeutung; 2. angesichts der anhaltenden Misere der sowjetischen Landwirtschaft erhoffte die Partei von Lyssenko immer noch oder schon wieder magische Wirkungen; 3. in einigen praktischen Fragen der Pflanzenzüchtung, Saatgut-und Düngerbehandlung hat die Mitschurin-Lyssenko-Schule Verdienste. Auf dem XXII. Parteitag 1961 wurde nachträglich in das Parteiprogramm der Passus ausgenommen: „Die Mitschurinsche Richtung in der Biologie, die davon ausgeht, daß die Lebensbedingungen bei der Entwicklung der organischen Welt entscheidend sind, ist auszubauen und zu vertiefen* (Programm der KPdSU, 1961, Zweiter Teil, V. 3).

Wie stark noch immer das ideologische Interesse der Partei an der Biologie ist, wird daraus deutlich, daß auf dem XXII. Parteitag ebenfalls durch Zusatz zum Parteiprogramm den biologischen Wissenschaften der Auftrag erteilt wurde, „die biologischen Gesetzmäßigkeiten der organischen Welt aufzudecken, die Physik tnd Chemie des Lebenden zu erforschen" (ebenda).

Im März 1962 rechnete Chruschtschow vor dem Plenum des ZK der KPdSU erneut mit der sowjetischen Agrarwissenschaft ab. Er machte für die Krise in der Landwirtschaft vor allem das Trawopolnaja-System (Grasfeldsystem) verantwortlich, eine von dem 1939 verstorbenen Bodenkundler Wassilij Wiljams erfundene, von Stalin und Lyssenko geförderte Methode, den Boden nicht durch Kunstdünger, sondern durch Fruchtwechsel von Kultur-und Futterpflanzen zu regenerieren. Chruschtschow charakterisierte das System als Ausdruck der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands und empfahl die westlichen Praktiken als Vorbild. Obwohl er in seiner Rede Lyssenko sichtbar schonte, erhielt der umstrittene Mann nun endgültig den Abschied.

Die im Vergleich zu anderen praktischen Wissenschaften komplizierte und widerspruchsvolle Evolution in der Agrarbiologie erklärt sich daraus, daß mit einer Freisetzung der Wissenschaft allein die Krise der sowjetischen Landwirtschaft nicht zu meistern ist. Der Krebsschaden steckt in der kollektiven Struktur der Landwirtschaft selber. 2. Physik Wir haben in Kap. IV/3 die Schwierigkeiten erörtert, die sich aus den Erkenntnissen der modernen Physik für den Dialektischen Materialismus ergaben. Während der Stalinzeit galten alle, auch die rückständigsten materialistischen Thesen von Engels und Lenin als Axiom; die Folge war, daß sich die sowjetischen Physiker außerstande sahen, die moderne Physik zu verarbeiten. Dieser Zustand ist inzwischen überwunden. Heute gibt es in der sowjetischen Physik drei durchaus verschiedene Standpunkte, denen jedoch gemeinsam ist, daß sie sich auf der Höhe der neuesten Erkenntnisse der Weltwissenschaft bewegen, mit modernen westlichen Theorien korrespondieren, das unbedingte Primat der experimentellen Ergebnisse betonen und den Dialektischen Materialismus im wesentlichen nur noch als unvermeidliche weltanschauliche Begleitmusik gelten lassen.

A. Der Standpunkt von W. A. Fok, D. A. Alexandrow u. a. steht dem der sogenannten Kopenhagener Schule (Bohr, Heisenberg) nahe. Diese Theoretiker betrachten die Mikrowelt streng positivistisch als eine besondere physikalische Wirklichkeit, die in der Terminologie der klassischen Physik nicht zu beschreiben ist.

B. Der Standpunkt von D. D. Iwanenko, J. P. Terlezkij u. a. berührt sich mit den Ansichten derjenigen westlichen Forscher (de Broglie, auch Einstein und Planck), die an der Wirklichkeitsbezogenheit der mikrophysikalischen Beobachtungen festhalten und sie in das klassische Kausalgesetz einzubeziehen suchen.

C. Einen originellen Versuch unternimmt D. I. Blochinzew; er versucht reale Aussagen über die Eigenschaften der Mikroobjekte dadurch zu gewinnen, daß er das einzelne Teilchen im Ensemble mit anderen betrachtet und dadurch eine Beziehung zur Mikrophysik herstellt. 3. Astronomie Die Kommunistische Partei hat sich wiederholt in Fragen der Astronomie, insbesondere der Kosmologie und Kosmogonie eingemischt; Shdanow selber ging auf der berüchtigten Philosophentagung 1947 auf diese Fragen ein. Die Fragen der Struktur und Entwicklung des Weltalls berühren in der Tat den Kem des Dialektischen Materialismus, sind von entscheidender Bedeutung für die weltanschauliche Orientierung und die atheistische Propaganda, so daß die Partei auch heute noch allen astronomischen Theorien und Hypothesen Grenzen setzt. Im wesentlichen geht es der Partei um zwei Dinge: a) Die Behauptung der Unendlichkeit des Weltalls in Raum und Zeit. Deshalb bekämpfen die Ideologen sowohl die Theorie von der Expansion des Weltalls, die aus der Rotverschiebung der Spektrallinien entfernter Nebel abgeleitet wird, als auch die Theorie vom Wärmetod des Weltalls, die sich aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ergibt. Gegen beide Theorien wird argumentiert, daß es sich um eine unzulässige Verallgemeinerung von Eigenschaften handele, die nur auf den uns zugänglichen Teil des Universums zutreffen. b) Die Verbannung aller geozentrischen Vorstellungen, die darauf hinauslaufen könnten, den Menschen im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Die Gezeitenhypothese von Jeans, nach der unser Planetensystem dadurch entstanden ist, daß ein Stern von großer Masse an der Sonne vorbeizog und aus ihr Materie, die Planeten, heraussog, wird bekämpft, weil sie einen Vorgang von großer Seltenheit voraussetzt und unserem Planetensystem Exklusivität einräumen würde.

In den Grenzen, die die Parteiideologie setzt, haben die sowjetischen Wissenschaftler einige interessante Theorien entwickelt.

A. Nach der Theorie von Otto Schmidt ist unser Planetensystem dadurch entstanden, daß die Sonne durch eine Wolke von Gas, Staub und Meteoriten zog und einen Teil mit sich riß. Nach dieser Theorie war die Erde ursprünglich kalt und erhitzt sich als Folge des Zerfalls radioaktiver Elemente.

B. Gegen dies. Theorie wendet Wassilij Fessenkow ein, sie lasse außer Betracht, daß Sonne und Planeten ungefähr gleich alt zu sein scheinen. Nach Fessenkows eigener Theorie sind die Planeten ähnlich wie bei Laplace aus der Sonnenmasse hervorgegangen; gewisse mathematische Schwierigkeiten, die der Laplaceschen Theorie im Wege stehen, versucht Fessenkow durch seine Forschungen über den Charakter der Sonnenmaterie zu überwinden.

C. Einen Beitrag zur Theorie der Sternentstehung hat Viktor Ambarzumjan geleistet. Aus seiner Entdeckung und Erforschung der soge-nannten Stern-Assoziationen (Gruppen miteinander in Beziehung stehender, verwandter Sterne) zog er den Schluß, daß die Sterne gruppenweise entstehen und daß die Sternbildung noch andauert. 4. Kybernetik Bis 1957 galt die 1948 von dem amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener publizierte Kybernetik (Wissenschaft von der Steuerung hochkomplizierter Systeme, zum Beispiel der elektronischen Rechenmaschinen) als eine pseudowissenschaftliche, reaktionäre Theorie, eine von den Ideologen des Imperialismus ausgetüftelte Mystifikation. Die Gründe der Ablehnung waren wie üblich ideologischer Natur: 1. war es eine amerikanische Entdeckung, 2. hatte Wiener in seiner denkwürdigen Arbeit Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine weitreichende Schlüsse für die Philosophie und Soziologie gezogen, die mit dem Marxismus nichi vereinbar waren, 3. brachte die Analogie der Steuerungsvorgänge in Maschinen wie Menschen das ganze Stufenreich des Diamat durcheinander, 4. war es überhaupt eine neue und unheimliche Idee. „All dies rief bei einem Teil der sowjetischen Intelligenz Vorsicht und Mißtrauen gegenüber dieser Wissenschaft hervor. Es ist leider eine Tatsache, daß die lange Hinauszögerung der Herstellung eines vernünftigen Verhältnisses zur Kybernetik unserer Wissenschaft und Technik unzweifelhaft geschadet hat. Man sollte daraus die entsprechende Schluß-folgerung ziehen, da damit zu rechnen ist. daß audh in Zukunft viele Beachtung verdienende und nützliche Ideen in ähnlichen ideologischen Verkleidungen zu uns gelangen werden* (A. 1. Berg, Uber einige Probleme der Kybernetik, Woprossy filosofii, Moskau Nr. 5/1960).

Die philosophische Verarbeitung der Kybernetik ist der Parteiideologie bis heute noch nicht gelungen. Dennoch heißt es im Parteiprogramm: „In der Produktion, im Forschungswesen, beim Projektieren und Konstruieren, bei der Aufstellung der Pläne, in der Rechnungsführung. Statistik und Verwaltung müssen Kybernetik, elektronische Rechenmaschinen und Steuerungsanlagen weitgehend angewandt werden* (Programm der KPdSU, 1961, Zweiter Teil, 1. 1).

Die Kybernetik ist ein klassisches Beispiel erstens für die schädliche und reaktionäre Rolle des Diamat bei der Entwicklung von Technik und Wissenschaft, zweitens aber auch für die Motive der Chruschtschowschen Reformen. Die Freisetzung der Naturwissenschaften vom Parteireglement war ein Gebot der industriellen Revolution. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Sowjetunion in den Wissenschaften am stärksten ist, die am wenigsten ideologisiert sind (Mathematik, Physik, Chemie und Medizin). Man darf annehmen, daß die industrielle Revolution und der Wettlauf mit dem Westen, vor allem Amerika, die Freisetzung weiterer wissenschaftlicher Gebiete erzwingen wird. Das aber bedeutet ein sukzessives Abbröckeln des totalitären Systems, das durch alle Anstrengungen der Sowjetideologen kaum aufzufangen sein dürfte. Nachiorderungen dei Beilagen atu Politik und Zeitgeschichte sind an die VertrlebsabtelJung DAS PARLAMENT, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, tu richten. Abonnementsbestellungen der Wochenzeitung DAS PARLAMENT rum Preis von DM 1, 89 monatlich bei Postzustellung elnsdilleBIIdi Beilage ebenlalls nur an tlie Vertrlebsablellung. Bestellungen von Sammelmappen Ith die Beilage tum Preise von DM 6, — pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertriebsabteilung, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, Teleton 34 12 51.

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Karl Dietrich Bracher: „Plebiszit und Machtergreifung"

Ludwig Dehio: „Deutschland und das Epochenjahr 1945"

C. V. Gross: „Volksfrontpolitik in den dreißiger Jahren"

Romano Guardini: „Der Glaube in unserer Zeit"

Boris Lewytzkyj: „Der sowjetische Siebenjahrplan — Eine Zwischenbilanz"

Philip E. Mosely: „Chruschtschows Parteikongreß"

Georg Paloczi-Horvath: „Mao Tse-tung — Eine politische Biographie"

Percy Ernst Schramm: „Kaiserkrönung Ottos I."

Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Fussnoten

Fußnoten

  1. K Marx/P. Engels, Uber Kunst und Literatur, herausg v. M Lifsdiitz (kurz: Lifschitz), Berlin 1950 S. 34

  2. Lifschitz S 98.

  3. Lifschitz S. 54.

  4. Lifschitz S. 78.

  5. Lifsdiitz S. 90.

  6. Lifschlitz S. 56

  7. K. Marx/F Engels, Ausgew. Schriften in 2 Bd., Berlin 1952, Bd. 2, S. 374 f.

  8. W. I. Lenin, Ausgew. Werke in 2 Bd., Berlin

  9. Berlin 1952, S, 41.

  10. Berlin 1960, S. 523, 532.

  11. Lifschitz s. 89.

  12. Lifschitz S. 21.

  13. Lifschitz S. 22.

  14. A. A. Shdanow, über Kunst und Wissenschaft. Berlin 1951, S. 43.

  15. Sowjetwissenschaft, Kunst und Literatur, Berlin, Nr. 7/1959, Beilage S. 18.

  16. Lifschitz s. 3.

  17. Lifschitz S. 4.

  18. Lifschitz S. 6.

  19. P Demetz, Marx, Engels und die Dichter Stuttgart 1959, S. 133.

  20. Lifschitz S. 105.

  21. Lifschitz s. 102.

  22. Lifschitz S. 105.

  23. Lifschitz S 106.

  24. G. W. Plechanow, Sotschinenija, Moskau 1920.

  25. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 89.

  26. W. I. Lenin, Uber Kultur und Kunst, Berlin 1960, S. 60.

  27. a. a O. S. 62.

  28. a. a. O. S. 61.

  29. Mao Tse-tung, Ausgew. Schriften in 4 Bd., Berlin 1956/57, Bd. 4, S. 101.

  30. A. M. Jegolin, J. W. Stalin und die literatur, Berlin 1952, S. 35.

  31. Studienmaterial zur Kunstdiskussion für künstlerische Lehranstalten, Dresden, Nr. II— 5 1953, Nachtrag S. 7.

  32. a. a. O. S. 10.

  33. Beschlüsse des Zentralkomitees der KPdSU (B) zu Fragen der Literatur und Kunst 1946— 48, Berlin 1952.

  34. Berlin 1946, S. 60.

  35. F. Engels, Herm Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (kurz: Anti-Dühring), Berlin 1952,

  36. K. Marx/F. Engels, Ausg. Schriften in 2 Bd, Berlin 1952, Bd. 2, S. 361.

  37. Berlin 1952, S. 104 ff.

  38. Berlin 1950, S. 124.

  39. Berlin 1952, S 108.

  40. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1950, S. 250 f.

  41. a. a. O. S. 260.

  42. a. a. O S. 165.

  43. a a. O. S. 148.

  44. a. a. O. S. 304.

  45. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 89.

  46. W. I. Lenin, Werke, Berlin 1955 ff., Bd. 1, S. 414.

  47. Berlin 1960, S. 405.

  48. Berlin 1951, S. 13.

  49. Berlin 1954, S. 34 f.

  50. a. a. O. S. 20 f.

  51. K Marx/F. Engels, Ausgew. Schriften In 2 Bd., Berlin 1952, Bd. 2, S. 376.

  52. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 89.

  53. K Marx/F. Engels, Ausgew. Schriften In 2 Bd. t Berlin 1952, Bd. 2, S. 378.

  54. Mao TsBe-dt. un 1g, , S. A 3u 4s 6g. ew. Schriften in 4 Bd., Berltn 1956/57,

  55. Berlin 1960, S. 698.

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Anmerkung: Jürgen Rühle, geb. 1924 in Berlin; Studium der Philosophie, Germanistik, Theater-und Kunstwissenschaft in Berlin; 1949— 55 Kulturredakteur der Berliner Zeitung und Theaterkritiker des Sonntag in Ostberlin, Angriffe des SED-Zentralkomitees, der Parteipresse und des Staatssicherheitsdienstes zwangen ihn 1955 die Zone zu verlassen; seit 1955 Lektor des Verlages Kiepenheuer & Witsch und Redakteur des „SBZ-Archiv“ in Köln; Autor der Bücher . Das gefesselte Theater* (1957) und . Literatur und Revolution* (1960), Herausgeber der Anthologie sowjetischer Erzähler . Der Prozeß beginnt* (1960).