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Hat die Weltgeschichte einen Sinn? | APuZ 23/1962 | bpb.de

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APuZ 23/1962 Hat die Weltgeschichte einen Sinn? Auswirkungen der sowjetisch-chinesischen Rivalität

Hat die Weltgeschichte einen Sinn?

Carl Gunther Schweitzer

Die Fragestellung

Abbildung 1

Bevor wir eine Antwort auf die uns heute mehr denn je umtreibende Frage zu geben versuchen, ein Vorwort zur Fragestellung als solcher. Die Frage nach dem Sinn der Weltgeschichte erscheint überall dort illegitim, ja sinnlos, wo man nichts von einer Weltgeschichte als einheitlicher, ganzer, als Universalgeschichte weiß oder wissen will. Das tut man aber nur dann, wenn man es wagt, an einen Herrn der Welt und der Weltgeschichte zu glauben. Die Sinnfrage ist immer im Grunde eine religiöse Frage. Darum wird sie von religiösen Skeptikern grundsätzlich verneint. So hat der Skeptiker Voltaire die Weltgeschichte einmal „einen Haufen von Verbrechen, Dummheiten, Elend“ genannt; und Schopenhauer: „einen Wirrwarr von Katzbalgereien“. Nietzsche versuchte die Sinnlosigkeit weltanschaulich zu verbrämen durch den nicht weniger sinnlosen Gedanken einer „Wiederkehr aller — in sich sinnlosen — Dinge“. Und Spengler, der den Untergang des Abendlandes prophezeite, mischte Nietzschesche und mißverstandene angeblich Hegelsche Gedanken; er verglich die verschiedenen Kulturkreise der Weltgeschichte, um festzustellen, daß sie alle wie natürliche Lebewesen nach ein und demselben Schema, von der Jugend über die Reife zum Greisenalter, verlaufen und daß so sich alles wiederhole, ohne daß ein übergreifender Sinn feststellbar wäre.

Einige wenige, darunter auch manche Christen, würden auf die Frage, ob in der Weltgeschichte ein Sinn verborgen liege, antworten: Vielleicht ja — aber wer sollte ihn ergründen können? Wie steht es aber mit dem Einwand, der von profangeschichtlichen Wissenschaftlern gemacht zu werden pflegt, die Geschichtsforschung müsse streng objektiv bleiben, sie habe es lediglich mit Tatsachen der Vergangenheit zu tun, sie dürfe gar nicht nach einem angeblichen Sinn fragen, wie ihn Philosophen oder Theologen doch nur nachträglich in die Tatsachen hineinzulegen versuchten. In diesem Zusammenhang beruft man sich gern auf Rankes Forderung, der Historiker habe lediglich zu berichten, „wie es eigentlich gewesen ist“. Damit hat der große, übrigens bewußt christliche Historiker Ranke natürlich nicht sagen wollen, es genüge, alles und jedes gewissermaßen noch einmal wie einen Film abrollen zu lassen; der echte Historiker ist mehr als Photograph oder auch Kinematograph, er gleicht eher einem Porträtkünstler, der das Wesentliche in dem sich wandelnden Antlitz der Weltgeschichte kongenial nachbildet. Wenn es sich aber in der Geschichte nicht nur um Willkür und Zufall, also um ein Chaos handelt, ist letztlich kongenial nur der, welcher versucht, alles, also auch die gesamte Geschichte sub specie aeternitatis, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit oder aus dem Glauben zu verstehen.

Das scheint neuerdings auch der bekannte englische Historiker Toynbee erkannt zu haben, der ursprünglich den Versuch machte, rein pragmatisch die Weltgeschichte zu analysieren und die verschiedenen Kulturen miteinander zu vergleichen. Dabei ist er auf die großen Weltreligionen gestoßen, in denen, und zwar wesentlich in der christlichen, er den letzten und tiefen Sinn und die Rettung der Weltgeschichte anerkennt. Ohne eine solche „Vision Gottes“, so gesteht er selbst, würde alles sinnlos bleiben.

Nun sind es innerhalb der Religionsgeschichte aber die alttestamentlichen Propheten, die als erste von dem einen Gott Zeugnis ablegten, der die Welt und in ihr die Erde und auf der Erde die Menschen und Völker geschaffen hat und regiert. Der entscheidende Einschnitt ist der Augenblick, als Gott selbst als in die Menschheitsgeschichte eingreifend erlebt wurde: „Und der Herr sprach zu Abraham: Gehe aus.deinem Vaterlande ... in ein Land, das ich dir zeigen will ... und ich will dich zum großen Volke machen und dich segnen ... und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden." Also erst mit der Erwählung eines einzigen Volkes, in dem Gott sich in einzigartiger Weise zum Heile aller Völker offenbaren will, beginnt mit der Heilsgeschichte die Weltgeschichte ein Ganzes und damit, wie wir sehen werden, sinnvoll zu werden.

In der vergleichenden Religionsgeschichte pflegt dieses Moment kaum oder doch nicht genügend erkannt zu werden, daß nämlich das Eigentümliche der biblischen Religion und damit auch des christlichen Glaubens im Unterschied zu allen anderen Religionen, Weltanschauungen und Ideologien gerade dies ist, daß sie, um mit Emil Brunner zu sprechen, „zum Geschichtlichen ein ganz anderes Verhältnis hat als irgend eine Religion oder Philosophie“. Nur Altes und Neues Testament wissen von einer Offenbarung Gottes in der Geschichte, ja von einer Offenbarungsgeschichte.

Aber bedeutet nicht das andere bekannte Rankewort: „Jede Epoche der Weltgeschichte ist unmittelbar zu Gott“ eine Leugnung einer von Gott geleiteten Universalgeschichte? — Ranke, der ja selbst eine Weltgeschichte geschrieben hat, kann nicht gemeint haben, daß diese nur aus einzelnen Momenten, gewissermaßen aus gesonderten Punkten ohne Zusammenhang bestehe; vielmehr müssen alle Punkte im Ablauf der Zeit eine, wenn auch nicht gerade, so doch kontinuierliche Linie bilden. Ohne solchen inneren Zusammenhang gäbe es keine Universal-geschichte, wobei der Begriff „Uni-versal“, zutiefst gedeutet, wie ein lutherischer Theologe, der Hegel-Schüler F. Brundstäd, es gewagt hat: „auf Einen, auf den Einen gerichtet" meint.

Versuchen wir von dieser Grundlage aus in das Wesen der Geschichte überhaupt zu dringen, so ist entscheidend wichtig, daß stets zwei grundverschiedene Linien, in denen sie sich bewegt, zugleich im Auge behalten werden: einmal die horizontale, chronologische, mit dem Uhrzeiger ablaufende, welche nach Hegel in „schlechter Unendlichkeit" immer weiter und weiter läuft — und zum anderen die vertikale, das, was Karl Barth „senkrecht von oben" genannt hat, eben jenes „unmittelbar zu Gott“ Rankes, das wahrhaft Epochale, das Eingreifen der Ewigkeit in die verrinnende Zeit. Da, wo beide sich treffen, wird aus der Zeit als bloßem Chronos, um mit dem Neuen Testament zu sprechen, die Zeit als Kairos, das heißt die ewigkeitserfüllte Zeit. Erst in solcher heilsgeschichtlichen Schau wird die Ge-schichte, die sonst nur horizontal, geradlinig oder genauer zyklisch zu verlaufen schien, als das, was sie in Wahrheit ist, erkannt, nämlich als einmalig, nicht umkehrbar, unwiderruflich und damit den sie Erlebenden und in ihr Handelnden ebenso wie den sie nachträglich Betrachtenden vor existentielle Entscheidungen stellend.

Das vorläufige Ergebnis auf unsere Frage kann also nur lauten: wenn die Weltgeschichte überhaupt einen Sinn hat, so liegt er in der Offen-barungs-oder

Heilsgeschichte

Was heißt das aber?

Zunächst: derselbe eine Gott, der sprach: „Es werde Licht!“ hat auch zu den Erzvätern und Propheten des alten Bundes, zu Abraham, Moses, Elias, Amos und ihren Nachfolgern bis hin zu Johannes dem Täufer gesprochen, und er hat im Laufe der Jahrhunderte immer deutlicher auf den hingewiesen, „der da kommen soll“, in dem die „Zeit" (der Kairos) schlechthin erfüllt ward, wie es Paulus im Galaterbrief 4, 4 bezeugt.

Hier scheiden sich Altes und Neues Testament: während das Neue in Jesus von Nazareth den Erfüllet aller alttestamentlicher Weissagungen erkennt und bekennt und in ihm die Heilsgeschichte ein für allemal vollendet sieht, warten die Frommen des alten Bundes noch heute auf das Kommen des Messias: das heißt, sie verlegen die Sinn-Erfüllung in die Zukunft. Ähnlich in eine nähere oder fernere Zukunft, aber nun in rein säkularer, von Gott losgelöster Karikatur, weist der Marxismus. Er meint paradoxerweise auf einen sich zwangsläufig ergebenden sinnvollen Zustand, auf ein Paradies auf Erden als Zukunftsziel hinarbeiten zu können. Für uns Christen dagegen hat die Zukunft schon begonnen: das „Unzulängliche“ ist hier „Ereignis“ geworden. Ja, wir glauben, daß in Jesus Christus die gesamte Schöpfung vollendet ist, weil der Riß, der seit dem ersten Adam durch die Wejt gegangen war, durch ihn als den zweiten Adam ein für allemal geheilt ist. Der Mensch, der Gott und sich selbst untreu geworden war, hat in Christus zu Gott und damit zu sich selbst zurückgefunden. Mit Christus ist der Mensch schlechthin, wie ihn Gott ursprünglici als sein Ebenbild geschaffen hat, der von sich selbst und von der Umwelt freie Mensch, Wirklichkeit geworden. Das menschlich gesehen Unmögliche ist geschehen: Gott selbst ist in die Menschheitsgeschichte eingetreten, ist in einer bestimmten Stunde der Weltgeschichte an einem bestimmten Orte leibhaftige Person geworden. Das Johannes-Evangelium sagt: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns". Ta, was von außen gesehen das Sinnloseste von allem Sinnlosen genannt werden muß, das Kreuz, an das Jesus genagelt worden ist, wird, wie Hegel es nannte, zum „Golgatha der Weltgeschichte".

Daß also die Heils geschichte in Christus vollendet ist, darüber sind sich im Grunde alle Christen einig. Aber wie steht es mit der Zeit nach Christus? Hier gehen die Meinungen, auch innerhalb der Theologen, auseinander. Die einen sehen in Christus nicht nur die Vollendung der Heilsgeschichte, sondern auch ihr Ende. Alle, die das Ende, das Eschaton überbetonen (so verständlich das ist, nachdem es lange Zeit unterbetont worden war), machen gleichsam einen Salto mortale von der Zeit des auf die Erde gekommenen Christus zu dem am Ende wiederkommenden; sie klammern die Zwischenzeit als unerheblich ein. So geht K. Barth so weit, daß er — vom Heilsplan Gottes aus gesehen — nach dem einen Menschen Christus alle weiteren Geburten von Menschen überhaupt für überflüssig erklärt!

Demgegenüber glauben wir, daß die Heilsgeschichte auch mit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert nicht abgeschlossen ist. Nach Ostern und Pfingsten steht sozusagen kein Punkt, auch nicht nur ein Ausrufungszeichen, sondern ein Doppelpunkt, wenn anders wir ein Wort Jesu wie Joh. 14, 12 und damit die Wirklichkeit des Heiligen Geistes ernst nehmen: „Wer an midi glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater."

Nun geben die meisten Theologen, auch die einseitig eschatologischen, natürlich zu, daß die Christenheit zwischen Pfingsten und dem Ende aller Tage eine sinnvolle Aufgabe auf Erden hat. Aber sie beschränken sie meist auf zweierlei: 1. auf das Heil oder die Rettung der einzelnen Menschen; 2. auf die Verkündigung des Evangeliums an alle Welt, also auf die Missionsaufgabe. Die erste Aufgabe ist in unüberhörbarer Weise durch Kierkegaard herausgestellt worden, der im Gegensatz zu Hegels angeblicher Verabsolutierung des Objektiven das Interesse ausschließlich auf das Subjektive, auf den Einzelnen und sein persönliches Verhältnis zu Christus lenkte.

Also auch diejenigen Theologen, die nach dem Sinn der nachchristlichen Geschichte fragen, sehen in der Regel diesen ausschließlich in der Heilsgeschichte, mögen sie sie „Geschichte des Reiches Gottes“ oder Kirchengeschichte nennen. So meint der von Karl Barth beeinflußte Heidelberger Philosoph Karl Löwith, man könne und müsse Heils-und Profangeschichte einfach nebeneinander stehen lassen; die letztere bleibe sinnlos oder wenigstens bleibe uns ihr Sinn verborgen. Bestenfalls diene sie als Bewährungsfeld für die Christen, gewissermaßen als „Material ihrer Pflicht" (ähnlich R. Wultmann). Damit kommen wir zu unserem eigentlichen Thema, dem Verhältnis von Heilsgeschichte und Profangeschichte, beziehungsweise zu der Frage:

Hat auch die Profangeschichte und die gesamte Weltgeschichte einen Sinn?

Um diese Frage zu beantworten, können wir nicht, wie man es meistens heute tut, an dem Geschichtsphilosophen vorübergehen, der es als erster vom evangelischen Glauben her gewagt hat, die gesamte Weltgeschichte als soge-nannte Theodizee, das heißt als Rechtfertigung Gottes, zu verstehen. Hegel schreibt dazu, daß „der Geschichte, und zwar wesentlich der Weltgeschichte, ein Endzwecke an und für sich zugrunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden sei und werde. Der Plan der Vor-sehung, daß überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, muß für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich notwendig ausgemacht werden. Tadel kann es nur verdienen, willkürliche Vorstellungen oder Gedanken voraussetzen und solchen die Begebenheiten und Taten angemessen finden und vorstellen zu wollen. Dergleichen apriorischer Verfahrensweise haben sich aber heutzutage vornehmlich solche schuldig gemacht, welche reine Historiker sein zu wollen vorgeben und zugleich gelegentlich aus-drücklich gegen das Philosophieren, teils überhaupt, teils in der Geschichte, sich erklären .. Man beachte, wie Hegel hier den Spieß umdreht!

Hegel will also zeigen, daß „ein Endzweck in der Weltgeschichte realisiert worden sei" und daß „die Welt“, — was ja die einzige Alternative wäre _ wie er sagt, „nicht dem Zufall und den äußerlichen Ursachen preisgegeben sei". Lind er weist dies sowohl an der vor-wie an der nachchristlichen Geschichte auf: Ohne das Volk Israel seiner Sonderstellung unter den Völkern zu berauben, hat Hegel als erster die Wegbereitung auf die „Erfüllung der Zeit" in Jesus Christus in allen Völkern, Religionen und philosophischen Systemen gesehen; ähnlich wie schon der Prophet Amos (9, 7) zu fragen gewagt hatte: „Seid ihr Kinder Israel mir nicht gleich wie die Mohren?, spricht der Herr. Habe ich nicht Israel aus Ägyptenland geführt, und die Philister aus Kaphtor, und die Syrer aus Kir?", und damit universalgeschichtlich gedacht hatte.

Darüber hinaus bedeuten aber für Hegel auch alle kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften wie zum Beispiel das Römische Recht oder die Straßen und Postverbindungen zur Zeit des Apostels Paulus, ohne die die Ausbreitung des Christentums kaum zu denken gewesen wäre, mit einem Wort auch die außerbiblische Profangeschichte, eine „notwendige" Vorbereitung auf den „Angelpunkt, um welchen sich die Weltgeschichte dreht“, von dem Hegel sagt: „Bis hierher und von da her geht die Geschichte", wobei er eben nicht nur an die Heilsgeschichte denkt.

Hegel spricht also nicht nur abstrakt, wie die meisten Theologen vom „Herrn der Geschichte“, sondern ganz konkret. So sagt er einmal: „Gott (das heißt die Vernunft in ihrer konkreten Vorstellung) regiert die Welt; der Inhalt seiner Regierung, die Vollführung seines Planes, ist die Weltgeschichte. — Diesen Plan will die Philosophie erfassen; denn nur was aus ihm vollführt ist, hat Wirklichkeit; was ihm nicht gemäß ist, ist nur faule Existenz."

Diese Sätze aus der Philosophie der Geschichte und die bekannten aus der Philosophie des Rechts können einander erklären: „Alles Wirkliche ist vernünftig und alles Vernünftige ist wirklich."

Das heißt also — Erstens: Vernunft ist nicht ratio, nicht bloßer Verstand, sondern kommt, wie Hegel ausdrücklich das deutsche Wort gedeutet hat, von „Vernehmen“, ist also letztlich Vernehmung der Offenbarung Gottes; Vernunft ist nicht ausgeklügelter, reflektierender Verstand, sondern, ganz im paulinischen Sinne, ein Erkannt-, beziehungsweise Gedacht -werden. Im Grunde gibt es nur eine Vernunft, wie es nur einen, nämlich Heiligen Geist (pneuma), eine Wahrheit gibt, nämlich die Wahrheit Gottes, wobei immer an den Dreieinigen Gott zu denken ist, das heißt des Vaters und des Sohnes, der gesagt hat: „Ich bin die Wahr-heit , und des Geistes, der „in alle Wahrheit leitet. Mit anderen Worten: Es kann sich ebenso wie in der (spekulativen) Philosophie überhaupt, auch in der Geschichtsphilosophie nicht um eine rationale „Erklärung“ handeln, sondern um ein Nachdenken des von Gott Gedachten und — allen Widersprüchen zum Trotz — von Gott Gewirkten. Denn — und das ist das Zweite: Wirklich ist nicht alles Faktische, alles zufällig Geschehene, das man einfach reproduzieren könnte, sondern (wiederum nach dem tiefen Wortsinn) das, was von Gott gewirkt ist und deshalb in alle Ewigkeit fort-wirkt.

Was ist nun der wesentliche Inhalt der Weltgeschichte? Hegel antwortet bekanntlich an einer entscheidenden Stelle der Geschichtsphilosophie:

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit”

Daß Hegel nicht fortschritts gläubig im Sinne einer flachen optimistischen Aufklärung war, versteht sich nach dem Gesagten von selbst; ebenso, daß dieses „Fortschreiten“ nach Hegel nicht einfach geradlinig verläuft, als ob die Menschheit immer besser und freier geworden sei und werde, sondern sehr wohl auch immer wieder Rückschritte umgreift. Denn der geschichtliche Verlauf ist ständiger Kampf. Vielleicht kann man von einem spiralenförmigen Fortschritt und einer spiralenförmigen Entwicklung sprechen, wobei im Geisteskampf das einmal Gewonnene nie mehr völlig verloren gehen kann. Entwicklung aber ist bei Hegel immer analog der organischen Entwicklung gemeint, das heißt der Entfaltung des im Keim ursprünglich bereits Angelegten (vergleiche den Entelechiebegriff bei Aristoteles). Daß Hegel fortschreitende Entwicklung nicht einfach im Sinn bzw. Unsinn von Evolution, als wachse etwas „allein aus sich selbst" versteht, geht schon daraus hervor, daß nie dabei vergessen wird, daß es allein Gott ist, der den Keim nicht nur geschaffen hat, sondern auch wachsen läßt, wie er überhaupt alles in allem wirkt.

Das gilt auch von der Freiheit. Wenn wir den philosophischen Begriff „Freiheit" in die theologische Sprache zurückübersetzen, so wird man sagen dürfen: Freiheit ist nie und nimmer menschliche Willkür, sondern — in der Tiefe christlich verstanden — Bindung an den lebendigen Gott. Freiheit ist das Höchste, was dem Menschen geschenkt ist. Freiheit ist das Siegel seiner Gottesebenbildlichkeit. In diesem Sinne war, wie wir sahen, nur ein Mensch total frei: Jesus Christus. Freiheit ist also „im Prinzip“ ein für allemal in Christus verwirklicht. „Prinzip" ist ja aber zugleich „Anfang“. Jesus selbst hat zu seinen Jüngern und damit zu allen echten Christen gesagt: „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“.

Also diese Freiheit zu verwirklichen, und zwar nicht nur im persönlichen Bereich, sondern in allen Lebensgebieten, ist nach Hegel die Aufgabe der nachchristlichen Menschheit und damit der Sinn ihrer Geschichte überhaupt.

Wie der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sich trotz allen Gegen-und Rückschlägen geschichtlich verwirklicht, kann am Beispiel der Überwindung der Sklaverei gezeigt werden. Vor Christus war das Halten von Sklaven bekanntlich selbstverständlich, und auch die großen griechischen Philosophen haben keinen Anstoß daran genommen. Prinzipiell überwunden ist die Sklaverei allein durch Christus; man vergleiche etwa den Philemonbrief des Paulus.

Trotzdem hat es achtzehnhundert Jahre gedauert, bis die Sklaverei — übrigens auf Antrag eines christlichen Politikers in Großbritannien — „abgeschafft“ wurde, und wir wissen ja nur zu gut, wie sehr wir uns gerade heute von neuem mit dem Sklavenproblem in seinen verschiedenen Abarten (Rassendiskriminierung, Kolonialismus, Erhaltung in politischer und wirtschaftlicher Unmündigkeit) auseinanderzusetzen haben. Die Verwirklichung vollzieht sich also äußerst langsam und nicht ohne schlimmste Rückschläge.

Und doch bleibt entscheidend, daß durch Christus und nur durch ihn — denn aller nachchristlicher Humanismus ist irgendwie christlich beeinflußt — die Freiheit und damit die Menschenwürde für jedermann als alleingültiger Maßstab gesetzt und anerkannt ist, an dem jedermann, auch der Atheist, gemessen wird. Ähnliches ließe sich — und das hat Hegel bekanntlich durchgeführt — von der Ehe, dem Recht, der Staatsverfassung und allen anderen menschlichen Ordnungen nachweisen.

Freiheit und Notwendigkeit

Wenn aber Entfaltung echter menschlicher Freiheit der Inhalt der Weltgeschichte ist, so erhebt sich die Gegenfrage: wie steht es mit dem anderen unleugbaren Faktor in der Geschichte der Menschen, den man unter dem Stichwort Schicksal zusammenfassen kann, daß sich nämlich, unabhängig von seinem Wollen, ein über ihn „Verhängtes" am Menschen vollzieht, dem er sich fügen „muß". Mit einem Wort:

Wie verhalten sich Freiheit und Notwendigkeit zueinander?

Der reflektierende Verstand wird darin immer einen unmöglichen Widerspruch (so z. B. auch Th. Litt) sehen. Doch schon das Neue Testament kennt ein geheimnisvolles Ineinander beider; es spricht von einem „Müssen" auch bei Jesus selbst; z. B. „Des Menschen Sohn muß überantwortet werden“. — Und Augustin hat für das hier verborgene Paradox die klassische Formel geprägt: „servitium Dei summa libertas“, sich Gott restlos unterwerfen bedeutet schlecht-hinnige Freiheit.

Dieses geheimnisvolle Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit entspricht dem Ineinander von Heil-und Profangeschichte, wovon schon die Rede war. Denn es sind ja nicht nur die bewußten Christen, die ausdrücklich Gottes Willen als „Überwillen“ über ihren eigenen anerkennen — die sind immer in der Minderheit —, sondern alle Menschen handeln, wenn auch unbewußt, nach einem ihnen verborgenen göttlichen Plan und nach göttlicher Notwendigkeit, also auch alle jene, welche ihre sogenannte „Freiheit“ losgelöst von Gott, ja gegen Gott ausleben zu können meinen. Von ihnen gilt: sie „meinen zu schieben, aber sie werden geschoben“. Gott regiert eben nicht nur seine Kirche, nicht nur die Christenheit, sondern die ganze Menschheit.

Es gehört zu dem Gewaltigsten in der Geschichtsdeutung der Bibel, die dann Luther und Hegel kongenial ausgenommen haben, daß alle Menschen, namentlich aber die „Großen" der Geschichte, letzten Endes Gott als Werkzeuge dienen müssen, auch wenn sie ihn verachten. So sagt Luther: „Die geschaffenen Geister dienen Gott als seine Mitarbeiter (cooperatores). Er läßt die großen Menschen zu rechter Zeit und am rechten Platz erstehen. Der Heros oder „Wundermann“ kommt aus den Untiefen des Lebens und gibt ihm eine neue Richtung . . .

abe: Gott bleibt der lebendig wirksame Wille“. Die Bibel nennt in diesem Zusammenhang unter anderen Pharao, Nebukanezar, Kyros bis hin zu Judas Ischarioth. Alle stehen unter dem unheimlichen Motto: „Ärgernis muß sein, aber wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt“. Ähnlich hat Luther an Hannibal und Caesar, Hegel an Caesar und Napoleon erinnert; und wir können die Reihe leicht bis in unsere Tage fortsetzen.

Das Böse und die Geschichte

Dabei sind wir an das unheimliche, rational unlösliche Problem des Bösen in der Weltgeschichte geführt.

Zwar kann Hegel gelegentlich sagen: „Das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit einbegriffen, sollte begriffen, der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden“. Hegel hat sich mit solchen Gedanken gelegentlich an die äußerste Grenze vorgewagt; manche meinen, er habe die Grenze des uns Erkennbaren ähnlich wie der lutherische Mystiker Jakob Böhme überschritten. Aber wer Luthers Äußerungen über Gott, der auch in der Hölle herrscht, kennt, wird auch hier eine wesentliche Übereinstimmung feststellen können.

Grundsätzlich muß — entsprechend dem Ineinander von Notwendigkeit und Freiheit — beides gleichermaßen festgehalten werden: 1. Einerseits müssen wir mit der Tatsächlichkeit des Bösen, das von Anfang an die Weltgeschichte durchsetzt und mitbeherrscht, rechnen. Geschichte ist und bleibt Kampf, und zwar Kampf mit dem Bösen. Darum können wir uns auch keine Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes innerhalb des Paradieses, also ohne Sünde, vorstellen. — 2. Andererseits läßt sich das Böse (in der Bibel der Böse, symbolisiert durch die [unheimliche] Schlange im Paradies) nicht irgendwie „erklären“, das heißt irgendwoher ableiten, auch nicht von Gott, wie es die Menschen seit Adam und Eva immer wieder zu tun versucht haben, um sich vor der Verantwortung zu drücken. Der Mensch bleibt vielmehr voll verantwortlich für das, was er denkt, schafft oder unterläßt. Das gilt für jedermann, also auch für die „Großen“ innerhalb der Völker-und Geistesgeschichte.

Das Böse als Tatsache anerkennen ist aber nicht gleichbedeutend mit „an das Böse glauben“. Wir glauben vielmehr allein an Gott, der in und durch Jesus Christus das Böse besiegt hat, und der bis zum Ende aller Tage durch jede aus Glauben getane Tat und jedes im Glauben erlittene Leiden Sieger bleibt.

Dieser bereits in der Versöhnungstat Christi manifestierte Sieg ist es, was Hegel die höhere „Synthese", die Versöhnung auch „mit dem Negativen, das Böse miteinbegriffen" oder, wie er ausdrücklich auch sagt, die Liebe Gottes nennt. Sie, das Positive schlechthin, ist stärker als alles Negative, als das Böse, als alles Übel einschließlich des Todes und des Chaos; darum ist sie auch stärker als die Furcht vor alledem. Wo sie herrscht, wird alle Skepsis überwunden, und das scheinbar Sinnlose — wir denken wieder an die in Jesus gekreuzigte Liebe! — gewinnt seinen positiven göttlichen Sinn. Aus solcher Schau oder Rückschau konnte schon Augustin von „felix culpa", von seliger Schuld sprechen.

Werfen wir von hier aus noch einen Blick auf

das Auf und Ab der Weltgeschichte,

so können wir wiederum die Übereinstimmung zwischen Luther und Hegel feststellen.

Für Luther wird die Weltgeschichte zu einem „Turnier“ oder einem „Puppenspiel“. Er sagt einmal: „Wir sehen nur Gottes Larven, Hannibal und Alexander, aber nicht Gottes Regiment, das ihnen ihre Zeit gibt und das ihre Reiche wachsen läßt und zerstört". Gott selbst bleibt hinter diesem „Spiel“ verborgen, der Deus absconditus. Oder Luther sagt: „Geschichte ist wie ein hebräischer Text, der ohne Vokale geschrieben ist; die sinngebenden Vokale muß der Lesende aus dem eigenen Innern hinzufügen, ohne dabei die Konsonanten zu verändern".

Luther hat bekanntlich auch von den zwei Regin. entern gesprochen: Gott regiert die sündige Welt gleichzeitig mit seiner Linken und mit seiner Rechten. Mit seiner Linken, das heißt mit Zorn, mit dem Gesetz, notfalls mit Gewalt — das ist sein ihm „fremdes Werk". Luther sagt: „Gott straft mit Zorn und stößt die Gewaltigen vom Stuhl". — Und Gott regiert mit seiner Rechten, das heißt der Liebe — das ist sein „eigentliches Werk“. Entscheidend bleibt dabei, daß beide Werke zwar unterschieden, aber nicht geschieden sind, daß auch das „fremde Werk“ zuletzt Gottes ewiger Liebe dient und darin erfüllt wird.

Sehe ich recht, so ist es dieselbe Doppelgleisig-keit, die Hegel gelegentlich „die List der Vernunft“ nennt. Hegel sieht in der Geschichte ein Gewebe von zwei Momenten; das eine ist, was er in seiner philosophischen Sprache „die Idee“ nennt; das andere sind „die menschlichen Leidenschaften". Er sagt: „Das eine ist der Zettel, das andere der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte" -„man kann es die List der Vernunft nennen, daß sie (die Idee) die Leidenschaften für sich wirken läßt“ — „dies Ineinandergehen, an das man zunächst nicht glaubt, weil alles der Willkür des Einzelnen anheimgestellt scheint, ist vor allem bemerkenswert und hat eine Ähnlichkeit mit dem Planetensystem, das immer dem Auge nur unregelmäßige Bewegung zeigt, aber dessen Gesetze doch erkannt werden können“. — „Jener Zusammenhang enthält nämlich dies, daß in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas anderes überhaupt herauskomme als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen. Sie vollbringen ihr Interesse; aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewußtsein und in ihrer Absicht lag.“

Man mißversteht aber Hegel völlig, wenn man ihm, wie es selbst Theodor Litt tut, zutraut, daß er auch das Höchste im Menschen zu einem bloßen Mittel herabwürdige. Hegel sagt vielmehr ausdrücklich: „Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens — eines Hirten, eines Bauern — in ihrer konzentrierten Innigkeit und Beschränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältnisse des Lebens hat unendlichen Wert und denselben Wert wie die Religiosität und Sittlichkeit einer ausgebliebenen Erkenntnis .• der Inhalt des Gewissens, das, worin Schuld und Wert des Individuums, sein ewiges Gericht eingeschlossen ist, bleibt unangetastet und ist dem lauten Lärm der Weltgeschichte entnommen.

So haben Luther und Hegel durch das Auf und Ab der sich in der Führung im Laufe der Jahrhunderte ablösenden Völker und Nationen einen verborgenen Sinn erkannt. So konnte Hegel sich das vieldeutige Schillerwort:

„Die Weltgeschichte ist das Weltgerichte"

zu eigen machen. Denn hinter der Weltgeschichte steht ihr Herr: In Christus hat „die Zukunft schon begonnen", das gilt auch von seinem Gericht, das nicht nur erst am Ende aller Tage vor sich geht.

Als Paradigma kann das Volk Israel gelten: Dieses Volk — das geht durch die gesamte Bibel hindurch — hat immer, wenn es sich von Gott loslöste und eigene Wege ging, die Strafe dafür in seiner eigenen Geschichte erleben müssen bis hin zur Vernichtung der heiligen Stadt Jerusalem durch die Römer, die Jesus selbst ihm vorausgesagt hat. Noch heute empfinden und bejahen die Frommen in Israel diesen inneren Zusammenhang zwischen Abfall von Gott und Gericht in ihrer Geschichte. Ähnlich — das ist Hegels Beobaaitung, nicht Konstruktion — verfährt Gott im Laufe der Weltgeschichte mit allen Völkern.

Und Luther sagt in seiner Auslegung zum Mag-nificat: „Gott läßt die Hoffärtigen groß und mächtig sich erheben. Er zieht seine Kraft heraus und läßt sie nur von eigener Kraft sich aufblasen. Denn wo Menschenkraft eingeht, da geht Gottes Kraft aus. Wenn nun die Blase voll ist, und jedermann glaubt, sie liegen oben, haben gewonnen und sie selbst nun auch sicher sind und haben es ans Ende gebracht, so sticht Gott (gemeint ist durch andere Menschen) ein Loch in die Blase; so ist's gar aus“. Wer denkt bei solchen drastischen Lutherworten nicht unwillkürlich an Aufstieg und plötzliches Ende eines Napoleon oder eines Hitler?

Luther und Hegel haben also das Weltgericht nicht auschließlich auf das Ende verlegt. Beide machen vielmehr ernst mit den johanneischen Worten: „Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet“. Es ist im Grunde das „Itzt“, von dem Luther so gern spricht, d. h. die Ewigkeit in der Zeit und dementsprechend auch das ewige Gericht nicht nur einst, sondern schon jetzt und hier, die Krisis im Kairos.

So wird die Weltgeschichte zu einem gewaltigen Drama: aber in diesem Drama gibt es 'keine unbeteiligten Zuschauer. Auf der Weltenbübne handeln die Menschen und die Völker; aber sie sind und bleiben „Larven“, durch die hindurch der verborgene Gott wirkt. Andererseits sind Menschen und Völker keine bloßen Marionetten, sondern ein jedes bleibt dem Herrn der Geschichte verantwortlich.

Der alte christliche Satz, daß die Weltgeschichte „confusione hominum et Dei providentia“, durch das Durcheinander der Menschen und durch Gottes Vorsehung zugleich geschieht, bleibt wahr. Man kann weder sagen: infolge der Konfusion der Menschen ist die Weltgeschichte sinnlos — noch kann man Gottes Vorsehung und damit den Sinn als solchen aus dem ganzen herausdestillieren.

Wer daher in unserer konfusen, ja chaotischen Menschheitsgeschichte nichts als Sinnlosigkeit zu sehen vermag und diese das Letzte bleiben läßt, trägt durch diesen seinen Unglauben an ihrer Sinnlosigkeit mit Schuld.

Auch wer wie die Marxisten von einem „happy end“, von einem Paradies auf Erden in naher oder ferner Zukunft träumt, entleert und verfehlt nicht weniger den Sinn der Weltgeschichte. Denn wie Hegel sagt: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks“. Die Zustände werden ebensowenig je total verwandelt werden wie die Menschen. Den Anfang aber in Richtung einer Sinnerfüllung der Geschichte müssen immer die Menschen machen.

Und die Entwicklung bis heute?

Darum spricht auch nicht gegen das Gesagte die fraglos nicht sehr ermutigende Entwicklung dor Weltgeschichte in den letzten hundertdreißig Jahren, auch nicht die offenkundige Weltgeschichtspleite, die wir heute nach zwei Weltkriegen erleben. Auf die immer wieder zu hörende Frage, ob nicht der Verlauf der Geschichte seit Hegels Tod dessen positive Deutung der Weltgeschichte aus dem Glauben Lügen strafe, ist zweierlei zu erwidern: 1. Hegel hat es — und zwar aus christlicher Demut vor dem alleinigen Herrn der Geschichte, dem niemand vorgreifen darf — streng vermieden, die künftige Geschichte vorauszusagen. Als christlicher Geschichtsphilosoph hat er lediglich den grandiosen Versuch gewagt, die bisherige Entwicklung der gesamten Menschengeschichte, namentlich die Geistesgeschichte, als Theodizee, also von Gott her zu deuten; nicht mehr und nicht weniger. Als Philosoph hat er es für seine einzige Aufgabe gehalten, die Wahrheit in der vergangenen Geschichte zu erkennen.

Karl Marx, der sich namentlich in seiner Jugend bewußt war, daß die Philosophie über Hegel hinaus nichts Neues oder gar Größeres schaffen könne, hat es bekanntlich für seine Aufgabe gehalten, die Welt nicht zu erkennen, sondern sie zu verändern. — Ist die Weltgeschichte seitdem wirklich sinnvoller geworden? 2. Als Hegel einmal eine neu entdeckte Tatsache gemeldet wurde, die nicht in sein Natur-system zu passen schien, soll er auf den Hinweis, daß es doch eine Tatsache sei, geantwortet haben: „um so schlimmer für die Tatsachen!“ — Dieselbe Antwort kann man allen Ernstes auf den genannten Einwand geben, die letzten einhundertdreißig Jahre sprächen gegen die Hegel-sehe Sinndeutung der Weltgeschichte. Die Tatsache, daß wir geistig und darum auch weithin politisch von einer gewissen einmal erreichten Höhe herabgesunken und nun unmittelbar vor dem Chaos gelandet sind, läßt sich kaum bestreiten. Aber sie sagt nicht das geringste gegen die Wahrheit als solche.

Wir haben uns, verführt von einem unphilosophischen Historismus, Psychologismus und Soziologismus daran gewöhnt, einen tatsächlich vorhandenen sogenannten „Trend“ der Geschichte zu verwechseln mit der damit in keiner Weise beantworteten Frage, ob dieser Trend, von Gott her gesehen, gewollt und notwendig ist oder ob nicht wenigstens die Christen, d. h. wir, gegen den Strom der Zeit hätten schwimmen müssen. Sogenannte „Tatsachen“ lassen sich nie und nimmer gegen die Wahrheit ins Feld führen.

Mit anderen Worten: wenn die Weltgeschichte ihren Sinn verloren zu haben scheint und heute viele Menschen, darunter auch viele Christen, verzweifelt, ja nur noch wie gebannt auf ein Ende mit Schrecken starren, so müssen wir uns fragen: Hat nicht vielleicht die Christenheit auf Erden, der in Jesus Christus ein für allemal der Sinn alles Geschehens enthüllt und geschenkt worden ist, maßlos versagt?

Radhakrishnan sagt, und dieses Wort des Inders könnte wie mir scheint auch von einem Christen gesprochen sein: „Es gibt keine Unabwendbarkeit der Geschichte. — Anzunehmen, daß wir hilflose Wesen seien, dem Strom ausgeliefert, der uns schließlich in den Abgrund reißt, hieße einer Verzweiflungsphilosophie huldigen, einem Nihilismus.“ „Wir können auch gegen den Strom schwimmen und wir können sogar seine Richtung bestimmen.“

Und Luther hat das bekannte Wort, das heute so aktuell wie zu seiner Zeit ist, über den Kairos gesagt: „Liebe Deutschen, kauft, dieweil der Markt vor der Tür ist, sammelt ein, dieweil es scheinet und gut Wetter ist, braucht Gottes Wort, dieweil es da ist. Denn das sollt ihr wissen: Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben nun nichts. Paulus brachte ihn nach Griechenland, hin ist auch hin. Rom und lateinisch Land hat ihn auch gehabt, hin ist hin. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr ihn ewig haben werdet. Denn der Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben. Darum greife zu, wer greifen und halten kann, faule Hände müssen ein böses Jahr haben."

So wagen wir auf die Frage: Hat die Weltgeschichte einen Sinn? die Antwort: Ja, wenn anders Christus und die Christenheit auf Erden nach Jesu eigenem Wort „das Licht der Welt“ ist und bleibt — oder wieder wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Hegelinterpretation sei hier nur gesagt, daß wohl kaum ein großer Denker so grob mißverstanden, ja in das genaue Gegenteil von dem, was er wirklich gelehrt hat, verkehrt worden ist wie er. Man sollte es nicht für möglich halten, daß es den sogenannten Linkshegelianern unter Führung von Karl Marx gelungen ist, ihr Vorurteil über den angeblich unchristlichen . Rationalisten'oder . Nationalisten'oder „bloßen Idealisten'auch unter nicht-marxistischen Philosophen und Theologen bis zum heutigen Tage von einer Generation zur anderen zu vererben. Immerhin mehren sich die Stimmen derer, die Hegel gerechter werden. Ich nenne hier nur Iljin, Brunstäd, Metzke, Steinbüchel oder Kroner und Müller in Amerika, Erik Schmidt, neuerdings Heintel in Wien, Liebrucks in Frankfurt, Seeberger in Zürich, Rohrmoser in Köln und Ritter in Münster.

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Dr. D. Carl Gunther Schweitzer, geb. am 22. Dez. 1883 in Berlin. 1921— 1932 Direktor im Centralausschuß für Innere Mission, 1949— 1954 Direktor der Evangelischen Sozialakademie Friedewald. Seit 1954 Lehrbeauftragter für Sozialethik und Innere Mission an der Universität Bonn.