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Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte | APuZ 37-38/1962 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 37-38/1962 Weltbürgertum und Patriotismus heute Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte

Das Dritte Reich im Zusammenhang der deutschen Geschichte

KARL DIETRICH ERDMANN

Zuerst als Vortrag gehalten in der Sendereihe Auditorium Maximum des NDR am 6. März 1961.

Eine Bilanz der nationalsozialistischen Herrschaft Es gibt vielleicht keinen Zeitraum der deutschen Geschichte, über den wir so viel wissen wie über die Jahre 193 3 bis 1945. Und es gibt zugleich keine Periode, die in unserem Geschichtsbewußtsein so quer liegt und sich so schwer in ein Gesamtbild unserer Vergangenheit einfügen will. Eine kaum zu bewältigende Fülle von Akten, Dokumenten und persönlichen Zeugnissen sind innerund außerhalb Deutschlands durch Gerichtsverfahren und historische Forschung erschlossen worden. Gewiß mögen noch manche Einzelzüge korrigiert werden. Es gibt noch manche Fragen, über die wir gerne Genaueres wüßten. Aber was damals geschehen ist, steht doch in allem Wesentlichen fest.

An den Grundtatsachen der Judenvernichtung, der Entfesselung des Krieges, der Zerstörung des Rechtes ist nicht zu rütteln. An ihnen gibt es auch eigentlich nichts zu „bewältigen“, wie man heute sagt. Sich über sie zu informieren ist nicht schwierig. Wenn man nicht entschlossen ist, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, muß man diese Tatsachen einfach als solche anerkennen. Hier erst beginnt die eigentliche geschichtliche Frage: Was haben die Jahre 1933 bis 1945 im Zusammenhang der deutschen Geschichte zu bedeuten, wie konnte es dazu kommen, wohin haben sie geführt? Lassen Sie uns zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen die Lage Deutschlands nach dem Zusammenbruch nehmen, als sich die Bilanz von 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft darstellte.

I. Die Westverschiebung des deutschen Volkes

Wir wollen uns zunächst klarmachen, daß die Siedlungskarte des deutschen Volkes, der Raum, in dem es lebte, daß der deutsche Volkskörper in jener Zeit tiefgreifend verändert worden ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich die Linienführung der Völker-und Sprachenkarte im östlichen Mitteleuropa und Osteuropa sehr deutlich von der in Westeuropa. In Westeuropa kann man von verhältnismäßig klaren Sprach-grenzen und Grenzen der Nationalitäten sprechen. Westeuropa ist deshalb die ursprüngliche Heimat des Nationalstaates. Im östlichen Europa lagen die Dinge komplizierter, das Bild war buntscheckiger. Hier sind die Grenzen zwischen den Nationalitäten nicht so klar und eindeutig gegeben gewesen. Der Siedlungsraum des deutschen Volkes zeigte — vereinfachend gesagt — eine dreifache Verzahnung mit dem slawischen Siedlungsraum: eine große Siedlungsspitze entlang der Ostsee bis nach Ostpreußen hin, eine andere in Schlesien und eine dritte in Österreich. Dazu hatten wir in dem Raum dieser deutsch-slawischen Verzahnung und dann weit verstreut im östlichen Europa eine große Anzahl von Siedlungen deutscher Sprache inmitten anderen Volkstums. Man denke an die Deutschen in den baltischen Ländern, in Wolhynien, an der Wolga, im Banat, Siebenbürgen, der Dobrudscha und in vielen anderen Orten. Aus der Verzahnung der Volkstümer mußten sich mit Notwendigkeit mancherlei Schwierigkeiten ergeben, als im 19. Jahrhundert allenthalben in Europa die Völker unter dem Eindrude der Französischen Revolution, unter dem Eindruck aber auch der deutschen Romantik vom Nationalgedanken ergriffen wurden. Es kam zu Reibungen und Spra-chenkämpfen in dem Maße, wie der westliche Nationalstaatsgedanke, der Nation und Staatsgrenzen möglichst zur Deckung bringen wollte, auch die politische Vorstellungswelt der osteuropäischen Völker ergriff. Man wird über diesen Kämpfen aber nicht vergessen dürfen, welch großer Reichtum in der bunten Gemengelage der Sprachen und Volkstümer, in dem unmittelbaren und nahen Zusammenleben verschiedener Nationalitäten beschlossen lag.

Dieses alte Siedlungsbild besteht nicht mehr. Es kamen die „schrecklichen Vereinfacher". Statt nach weiterführenden Lösungen zu suchen, machten sie sich daran, die aufgegebenen Probleme einfach auszustreichen. Nun geschah es, daß das Deutschtum in den Ostprovinzen, in den Volkstumsinseln und Streusiedlungen bis auf geringe Reste aufgelöst wurden.

Den Auftakt gaben die Nationalitätenkämpfe in mandien der nach dem Ersten Weltkriege neugeschaffenen Staaten Osteuropas, durch die das Deutschtum z. B. in Polen erste Einbußen erlitt. Es war jedoch den Nationalitäten durch die Minderheitenverträge im Zusammenhang mit den Friedensschlüssen ein gewisser Rechtsschutz gewährt worden. Die Rechte der Minderheiten waren vor dem Völkerbund einklagbar. Bei aller Unvollkommenheit der hier angewendeten Verfahren ist doch die prinzipielle Bedeutung der Tatsache nicht zu übersehen, daß es überhaupt so etwas wie eine internationale rechtliche Absicherung des Minderheitendeutschtums in Osteuropa gab. Die eigentliche Wende im Schicksal des Ostdeutschtums kam bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Es wurde eine Westbewegung größten Ausmaßes in Gang gesetzt. Dieser geschichtlich fundamentale Vorgang, der die Basis der deutschen Geschichte und unseres politischen Lebens überhaupt betrifft, hat sich in drei Akten vollzogen. Der Anstoß und erste Akt liegen in der nationalsozialistischen Zeit selbst. Es ist die Umsiedlung der damals weit verstreuten Volksgruppen der Deutschen aus dem Baltikum, Weißrußland, Wolhynien, der Bukowina und Bessarabien zunächst, dann der Deutschen aus dem rumänischen Altreich, aus der Dobrudscha, Bosnien, der Gottschee und Polen. Sie wurden aus ihrer Heimat herausgerissen und „heim ins Reich" geholt, wie man sagte, um im Warthegau und in der südlichen Steiermark angesiedelt zu werden. Um für die deutschen Siedler Platz zu machen, wurden gleichzeitig polnische und slowenische Bauern von ihren Höfen vertrieben. Der nationalsozialistischen Ideologie zufolge sollte diese in Gang gesetzte Westverschiebung der Deutschen die Ausgangsbasis schaffen für die zukünftige Erweiterung des geschlossenen deutschen Siedlungsraumes nach Osten, wobei, wie wir aus den Planungen der Zeit zur Genüge wissen, an eine systematische schrittweise Zurückdrängung der einheimischen Bevölkerung gedacht war.

Dieser erste Akt der deutschen Völkerwanderung nach Westen, in der das Heimatrecht Deutscher und Nicht-Deutscher zugleich mißachtet wurde, hat seine schreckliche Fortsetzung gefunden in der großen Fluchtbewegung, die in Ostdeutschland einsetzte, als sich die Rote Armee der deutschen Grenze näherte und sie dann überschritt. Sie ist schließlich weitergeführt worden in der Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland — eine Volksverschiebung ungeheuren Ausmaßes. Nicht weniger als 12 Millionen Menschen sind hiervon betroffen worden. Nur einzelne Reste sind zurückgeblieben. Nicht einge-rechnet in diese Zahl ist die Ziffer von zwei Millionen Toten, die das Opfer dieser Völkerwanderung geworden sind. Was der deutsche Volks-raum hier verloren hat, sind Kulturlandschaften, die aus dem innersten Herzen, aus dem Lebens-strom der deutschen Geschichte gar nicht wegzudenken sind, wenn man sich an die Tatsache erinnert, daß Königsberg die Heimatstadt Immanuel Kants war, oder wie sich der Name Gerhart Hauptmanns mit Schlesien verbindet. Der deutsche Siedlungsraum wurde auf einen Stand zurückgedrängt, wie er ihn etwa vor 800 Jahren gehabt hat, d. h. in dem Augenblick, als die große deutsche und europäische Ostwanderung und Ostkolonisation im Mittelalter begann. Das Pendel der Geschichte ist heftig zurückgeschlagen. Der Rüdeschwung begann in der nationalsozialistischen Zeit. Um die Bedeutung dieser Wende zu fixieren, ist das Ergebnis zu betrachten, wie es die Statistik der Bundesrepublik zeigt:

Weitaus der größte Teil der Flüchtlinge begab sich nach Westdeutschland. Zuletzt wurde Mitteldeutschland in diese Westverschiebung des deutschen Volkes mit einbezogen. Ein ununterbrochener, täglich sich erneuernder Flüchtlingsstrom kommt seit Jahren (bis zum 13. August 1961 [d. Red. ]) aus der sowjetischen Besatzungszone in das westliche Deutschland hinein. Insgesamt fast drei Millionen Menschen. Das Ergebnis ist für die Lebensgrundlagen der Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung.

12 Millionen Menschen mehr müssen auf dem Gebiete der Bundesrepublik Brot und Arbeit finden als vor dem Kriege. In einem Raum, der etwa die Hälfte des früheren deutschen Reichs-gebietes ausmacht, leben heute 78 Prozent der früheren Reichsbevölkerung. Nur drei Viertel sind Einheimische. Die Bevölkerungsdichte ist von 173 Menschen auf 212 je Quadratkilometer angestiegen. Diese Zahlen zeigen zugleich, daß Westdeutschland sich mit Notwendigkeit in einen enorm verstärkten Prozeß der Industrialisierung hinein begeben mußte, um diese Menschen wirtschaftlich aufzufangen. Obwohl manche Fragen noch nicht vollständig gelöst sind — das betrifft vor allen Dingen die bäuerliche Flüchtlingsbevölkerung aus dem Osten —, darf man doch sagen, daß im großen und ganzen das Werk gelungen und die Aufgabe bewältigt worden ist, die heranströmenden Vertiebenen und Flüchtlinge in die deutsche Wirtschaft und in das deutsche politische Leben einzugliedern und sie zu einem gar nicht wieder herauslösbaren Bestandteil der westdeutschen Wirtschaft, des westdeutschen Volkes, der westdeutschen Politik zu machen. Die Bilanz dieses Vorganges der Westverschiebung des deutschen Volkes also ist, daß der deutsche Siedlungs-und Volkskörper eine tief-greifende Amputation erlitten hat und daß sich das politische wie auch das wirtschaftliche Schwergewicht des gesamten Lebens unseres Volkes in den Ausgangsraum unserer Geschichte zurückverlagerte.

II. Das Ende des deutschen Nationalstaates

Wir stellen uns nun weiter die Frage, wie in staatlicher Hinsicht die Bilanz des Dritten Reiches aussah. Man kann es mit einem Worte sagen: im Jahre 1945 war das Ende des deutschen Nationalstaates gekommen. Deutschland wurde, wenn man vom Bestand des Jahres 1939 ausgeht, buchstäblich gevierteilt. Die deutschen Ost-gebiete gingen an Rußland und Polen verloren, wenn auch die Rechtsfrage noch offen ist. Österreich wurde wieder ein selbständiger Staat. Hier ist auf einen tiefgreifenden Unterschied hinzuweisen, der sich ergibt, wenn man die innere Lage des deutschen Österreich, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg darstellte, mit der Lage vergleicht, die sich nah dem Zweiten Weltkrieg ergab. Nah dem Ersten Weltkrieg war Österreih ein Staat wider Willen. Die Österreiher haben durh Volksabstimmungen in einigen Landesteilen und durh ihre gewählte Nationalversammlung damals den eindeutigen Willen bekundet, ein Teil der deutshen Republik zu sein, ein Wunsh, der durh die Friedensverträge von Versailles und St. Germain verwehrt wurde. Nah dem Zweiten Weltkrieg ist die Lage anders. Das österreihishe Volk ist dabei, ein eigenes österreihishes Staatsbewußtsein zu entwickeln. Jene ganze Periode der deutshen Geshihte, in der die Anshlußfrage zwishen Österreih und Deutshland eine so ent-sheidende Rolle spielte, ist historish vorbei. Für das restlihe Deutshland führt der Brüh der Kriegsallianz zwischen den Westmähten und der Sowjetunion dazu, daß sih beiderseits der militärishen Mahtgrenze zwei diametral entgegengesetzte Gesellshafts-und Staatskörper entwickelten.

Dieses Ende des Nationalstaates, das mit der Vierteilung Deutshlands im Jahre 1945 gekommen War, ist das Ergebnis einer Übersteigerung und Verfälshung der Nationalstaatsidee in der Zeit des Dritten Reihes. Lassen Sie uns hier etwas weiter ausholen und zunähst feststellen, daß im Laufe der deutshen Geshihte die nationalstaatlihe Form des politi-shens Lebens überhaupt nur eine verhältnismäßig kurze Dauer gehabt hat: von 1871 bis 1945, das sind gute 70 Jahre, ein Menschenalter. Der deutshe Nationalstaat ist niht die Normallage der deutshen Geshihte gewesen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt eine relativ kurze Periode in ihrem langen Verlauf. Die Gründe dafür, daß sih in der deutshen Geshihte die nationale Einigung erst sehr viel später abspielte als bei den großen Völkern Westeuropas, wären, wenn man ihnen nah-ginge, tief im Mittelalter aufzuspüren. Es sei nur angedeutet, wie weit man zurückgreifen müßte, um die besonderen deutshen Gegebenheiten ganz zu verstehen. Man müßte daran erinnern, daß die römishe Kaiserkrone des Mittelalters niht von den französishen, sondern von den deutshen Königen getragen wurde, daß der deutshe König als römisher Kaiser im großen weltgeshihtlihen Konflikt zwischen Imperium und Sacerdotium, zwishen Kaisertum und Papsttum stand, daß niht zuletzt infolge dieses Konfliktes die äußeren Gegner von Kaiser und Reih immer wieder Rückhalt finden konnten bei einer inneren deutshen Fürsten-opposition und daß schließlich in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges Deutshland zum Schauplatz wurde, auf dem die europäishen Mähte ihre Interessenkonflikte ausfohten. Wieder einige Zeit später fiel Deutshland in der Zeit der Französishen Revolution unter die Gewalt eines militärishen Eroberers. In der Gegenbewegung gegen den revolutionären Imperialismus Napoleons begann sih ein politishes deutshes Nationalbewußtsein aus dem Kulturbewußtsein der Nation heraus zu bilden. Die im 19. Jahrhundert von Bismarck vollzogene Gründung des Nationalstaates entsprach daher den tiefen Erwartungen des deutshen Volkes, und man muß auh sagen: den Notwendigkeiten der geshihtlichen Stunde. Es ist eine unbestreitbare Tatsahe, daß das deutshe Volk niemals, in keinem Augenblick seiner Geshihte den Nationalstaat, wie er von Bismarck geshaffen worden war, preisgegeben hat, niht nah dem Zusammenbruh im Ersten Weltkrieg und auh niht nah 1945. Ist unser fragmentarishes staatlihes Dasein doh auh heute noh davon bedingt. Die Länder von Nord-bis Süddeutshland, aus denen sih die Bundesrepublik zusammensetzt, sind zum ersten Male im Bismarckreih staatlih zusammengeführt worden. Daß unser Bund überhaupt aufgebaut werden konnte, wenn auh nur auf Bruchstücken jener Reihsgründung, ist über alle Wandlungen und Zusammenbrühe unseres Jahrhunderts hinweg eine geshihtlihe Nah-wirkung dessen, was Bismarck shuf.

Aber das Bismarckreih war als Nationalstaat unvollendet. Der Traum der Großdeutshen von 1848, die den ganzen geshlossenen Siedlungsraum, also auh die Deutshen Österreihs in das zu gründende Reih einbeziehen wollten, blieb unerfüllt. In dieser Unvollendetheit des Nationalstaates lag aber für Bismarck geradezu die Be-dingung seiner Existenz innerhalb des ausgewogenen europäishen Staatensystems, zu dem der Vielvölkerstaat Österreih-LIngarn als niht wegzudenkender Eckpfeiler mit hinzugehörte. Die Auflösung dieses Staates nah dem Ersten Weltkrieg in Namen des Nationalitätenprinzips mähte dann die Bahn frei für das Wiederaufleben der großdeutshen Nationalidee. Wenn shließlih durh Hitler Österreih und die deutshbesiedelten Randgebiete des Böhmisch-Mährishen Beckens in das Reih einbezogen wurden, so lag dies in der Logik des Nationalstaatsgedankens. Für Hitler jedoh war die staat-lihe Einigung des gesamten deutshen Siedlungsraumes niemals ein Zweck in sih selbst. Wir können heute auf Grund der Dokumente in aller Eindeutigkeit sagen, daß ihn z. B. das Schicksal der Sudetendeutshen niht im geringsten interessierte. Ihm ging es von vornherein um die Zershlagung der Tshehoslowakei, d. h. um die Gewinnung einer Ausgangsbasis, von wo aus die Expansion im Osten, im Endziel gegen Rußland, vorgetrieben werden konnte. Er hat sih selbst shon in seinem Kampfbuh mit aller Deutlihkeit von dem bürgerlihen Nationalismus distanziert, der in der Revision von Versailles und in der Vollendung des deutshen Nationalstaates das Ziel sah. Der Begriff der Nation begegnet in der nationalsozialistischen Ideologie in einer Bedeutung, die das genaue Gegenteil darstellt von dem ursprünglichen Sinngehalt des Wortes. Verweilen wir einen Augenblick bei dieser Frage.

Nation und Menschheit sind dem Wesen nach aufeinander bezogene Ideen. So ist es ursprünglich auch in Deutschland gesehen worden. Die Wurzeln der deutschen Nationalbewegung liegen in den Menschheitsgedanken der Goethe-Zeit, in der Rechts-und Freiheitsund Humanitätsidee, deren geschichtliche Träger individuelle Nationen sind. Noch für die Revolution von 1848 war es kennzeichnend, daß die Paulskirchenversammlung in den Mittelpunkt ihrer Verfassungsberatungen die Grundrechte stellte. Diese sind ein Echo jener allgemeinen Menschenrechte, wie sie auch in Amerika und Frankreich in dem Augenblick proklamiert worden waren, als jene Völker zu Nationen wurden. Der Humanitätsgehalt der Nationsidee verblaßte jedoch im Laufe der Zeit. Der Gedanke der Macht, an sich dem Staat wesensmäßig zugehörig, löste sich aus den Vernunftsund Rechtsbindungen. Am Ende stand in Deutschland in der nationalsozialistischen Ideologie die von allen Bindungen befreite Nation, die nicht mehr als unter dem Maß und Gesetz allgemeiner menschlicher Verpflichtungen stehend betrachtet wurde. Sie wurde nicht mehr vom Ethos, sondern vom Bios, nicht vom Recht, sondern von der Rasse her verstanden.

Es ist freilich ein komplizierter geistesgeschichtlicher Vorgang, der zu dieser vollkommenen Enthemmung und damit zur Zerstörung der Nationsidee in Deutschland geführt hat. Und dieser Vorgang kann gar nicht ideengeschichtlich allein erklärt werden. Mit Recht wird von Seiten der Wissenschaft immer wieder davor gewarnt, die deutsche Vergangenheit in dem Sinne nach Vorläufern durchzustöbern, daß schließlich der Nationalsozialismus als eine ideengeschichtliche Mixtur dasteht, an der etwa ihren Anteil haben: der Antisemitismus und die völkische Romantik Emst Moritz Arndts, das deutsche Sendungsbewußtsein Fichtes, die metaphysische Staatsüberhöhung Hegels, der Rankesche Primat der Außenpolitik, die Realpolitik Bismarcks, der Imperialismus der Alldeutschen, Nietzsches Wille zur Macht und — um ältere Ingredienzen beizumischen — lutherischer und preußischer Obrigkeitsgehorsam. Das geht nicht.

Eine solche Warnung darf freilich auf der anderen Seite nicht dazu verführen, die deutsche Geistesgeschichte für tabu zu erklären und zu meinen, es habe z. B. die nationalistische Literatur, die in den zwanziger Jahren den deutschen Büchermarkt überschwemmte, nichts zu tun mit dem, was später die Nationalsozialisten, hemdsärmelig und brutal, in die Praxis umsetzten. Es ist richtig, daß man keine geschichtliche Situation als gradlinig und notwendig bestimmt aus der vorhergehenden ableiten kann. Es ist auch richtig, daß nicht wenige der Literaten, die man unter dem Sammelbegriff der „konservativen Revolutionäre“ zu bezeichnen pflegt, sich mit Abscheu wegwandten oder sich gar gegen Hitler stellten, als dieser zur Macht gelangt war.

Man wird dem Schweizer Analytiker des Nationalsozialismus, Max Picard, recht geben, wenn er sagt: „Der Nationalsozialismus hing mit gar keiner Philosophie zusammen. Zusammenhanglos, wie er war, hätte er aus jeder Philosophie oder Doktrin ein Teilchen herausreißen und es sich aneignen können, so daß es ausgesehen hätte, als gehörte es zu ihm. Daß vom Nationalsozialismus zu irgendeiner Philosophie eine Verbindung hergestellt werden kann, charakterisiert diese Philosophie nicht. Es charakterisiert nur den Nationalsozialismus, daß er jede Philosophie in seine Zusammenhanglosigkeit herein-reißen kann. Denn er ist nur Aktion, diese ist das Primäre, er ist so sehr nur Aktion, daß die sie begleitenden Wortfetzen gleichgültig sind: die Wortfetzen dienen nur zur Etikettierung der Aktionen, die autonom sind. Ein Zusammenhang mit einer Philosophie ist also nicht möglich.“ (Hitler in uns selbst, 1946, S. 195 f.) Dabei kann allerdings nicht übersehen werden, in welchem Maße durch die neunationalistische Literatur der Weimarer Zeit eine intellektuelle Atmosphäre geschaffen wurde, in der die Republik nicht gedeihen konnte.

III. Nationalsozialismus -Zäsur oder Kontinuität in der deutschen Geschichte

Hiermit stehen wir aber schon mitten in der Erörterung der Frage, die uns als nächste beschäftigen soll: Wie ist es zu verstehen, daß es überhaupt zum 30. Januar 1933 kam? Ist das Dritte Reich ein Bruch mit der deutschen Geschichte, das Aufkommen von etwas Wildem und Fremdem, das gar nicht erklärbar ist aus den geschichtlichen Entwicklungen und Gegebenheiten Deutschlands? Oder ist der Nationalsozialismus, wie die radikale Gegenthese lautet, vielleicht gar die Quintessenz, die Summe und der eigentliche Inhalt der deutschen Geschichte? So hat sich der Nationalsozialismus bekanntlich selbst verstanden. Der Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche war kennzeichnend hierfür. Bekannt ist das millionenfach verbreitete Bild: Hindenburg in der Uniform des kaiserlichen Generalfeldmarschalls und tief sich vor ihm, dem Träger einer großen Überlieferung, verneigend, Hitler. Sicherlich hat dieses Bild am Anfang manche konservativen Illusionen genährt, die Hitler auszunutzen verstand. Die gleiche These, nur mit umgekehrten Wertakzenten, findet sich in jener bekannten Literatur, die das deutsche Unglück von Bismarck herleiten möchte oder von Friedrich dem Großen, Luther, oder von noch weiter her. Der Frage, in wel-

chem Maße der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte verwurzelt ist, kommt man vielleicht näher, wenn man sich zunächst klarmacht, in welchem Umfange das deutsche Volk hinter den Nationalsozialisten stand, als diese an die Macht kamen.

Man geht hier am besten von einigen nüchternen Zahlen aus. Die Mitgliedschaft der Partei betrug Ende 1932, also unmittelbar vor der Beauftragung Hitlers mit dem Kanzleramt, 11/2 Millionen. Größer war die Zahl der nationalsozialistischen Wähler. Die beiden letzten freien Reichstagswahlen, die ein zutreffendes Bild von den politischen Strömungen im deutschen Volke geben, fanden 1932 statt. Im Juli dieses Jahres erhielten die Nationalsozialisten 37, 4 Prozent der deutschen Wählerstimmen. Bei den Wahlen im November des gleichen Jahres war die Stimmenzahl geringer. Sie betrug nur noch 33, 1 Prozent. Die Märzwahlen 1933 mit ihren 43, 9 Prozent standen schon unter dem Druck der propagandistischen und terroristischen Mittel, die die Nationalsozialisten jetzt als Inhaber der Regierungsgewalt in der Hand hatten. Es war also etwa ein Drittel der deutschen Wähler, das sich für Hitler entschied, mit einer vor 1933 zuletzt abfallenden Tendenz, ein Drittel, nicht mehr, nicht die Mehrheit des deutschen Volkes — allerdings auch nicht weniger als ein Drittel, ein gewichtiger Teil des deutschen Volkes. Man muß nun in doppelter Richtung weitersragen: Wie konnte es dazu kommen, daß dieses Drittel des deutschen Volkes sich für Hitler entschied, und weiter: Wie konnte es dazu kommen, daß den Nationalsozialisten, obwohl sie die Minderheit waren, die Macht zufiel und daß sie schließlich das ganze deutsche Volk unter ihre Macht bringen konnten?

Was die Zahl der nationalsozialistischen Stimmen angeht, so ist zunächst einmal auf eine eindeutige Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung hinzuweisen. Der erste große Einbruch in den Reichstag erfolgte in den Septemberwahlen 1930, d. h., nachdem die von Amerika ausgehende Weltwirtschaftskrise Deutschland erreicht hatte und viele Millionen arbeitslos wurden. Im Ablauf der Weltwirtschaftskrise war der Tiefpunkt der deutschen Wirtschaft, der niedrigste Index der industriellen Produktionsziffer im Sommer 1932 erreicht. Es ist der Augenblick des höchsten nationalsozialistischen Wahlerfolgs. Dann fing sich die Krise. Die industrielle Produktionsziffer begann langsam wieder zu steigen mit dem Ergebnis, daß die Zahl der nationalsozialistischen Stimmen zu sinken begann.

Diese eindeutige Beziehung zur Entwicklung der Wirtschaftskrise erklärt freilich nicht alles, denn riesige Arbeitslosenziffern gab es auch in den anderen Ländern des Westens, ohne daß es hier zu einer entsprechenden politischen Radikalisierung kam.

Eine Analyse der deutschen Wahlen und regionale Untersuchungen — soweit bisher überhaupt durchgeführt — zeigen, daß die nationalsozialistischen Stimmen sich überwiegend aus Angehörigen des mittleren und kleinen Bürgertums und aus der ländlichen Bevölkerung zusammensetzten, wobei die einzelnen deutschen Regionen erhebliche Unterschiede aufweisen. Die schwere Landwirtschaftskrise der ausgehenden zwanziger Jahre und die Erinnerung an die 1923 erlittene Geldentwertung sind für die Deutung der besonderen deutschen Lage mit heranzuziehen. Die Furcht, ins Proletariat abzusinken, förderte die Bereitschaft, auf radikale nationalsozialistische Heilsparolen zu hören. Die Ansprechbarkeit für politischen Radikalismus erklärt sich zu einem erheblichen Grade auch aus den Belastungen, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben.

Hier ist vielleicht weniger an die realen Lasten zu denken, die dem deutschen Volke 1919 aufgebürdet worden waren; denn in mancher Hinsicht war es der Außenpolitik der Weimarer Republik gelungen, einen Revisionsprozeß in Gang zu setzen und Belastungen abzubauen, z. B. in den Reparationen und der Rheinland-besetzung, und die ersten Schritte zu tun, um Deutschland wieder einen gleichberechtigten Status im Kreise der europäischen Völker zu verschaffen. Schwerer jedoch sind die psychologischen Belastungen gewesen, die sich aus dem verlorenen Krieg und dem Versailler Frieden ergaben: Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen Österreichs und des Sudetenlandes trotz der 14 Punkte Wilsons und des Vorfriedensvertrages, koloniale Schuldlüge, Kriegsschuldthese. Die psychologische Reaktion war nach außen eine Diskreditierung der universalen Rechtsidee, die geistesgeschichtlich dem Völkerbund zugrunde lag. Und nach innen war die Antwort auf Kriegsschuldthese und Niederlage die verhängnisvolle Legende vom Dolchstoß. Hier bot sich als direkt greifbares Angriffs-ziel für nationalistische Ressentiments die Republik, die in völliger Verzerrung des historischen Ablaufs mit dem Makel der Niederlage und des Zusammenbruchs belastet wurde. Parlamentarismus und Demokratie wurden als schlechthin undeutsch verschrieen. Man lese darüber Oswald Spengler und Möller van den Bruck, um zu begreifen, was durch diese Literatur des neuen Nationalismus den kommenden Zerstörern Deutschlands an Schlagworten wie ein Bündel vergifteter Pfeile in die Hand gelegt wurde.

Dennoch muß es mit aller Deutlichkeit gesagt werden: die Weimarer Republik ist nicht durch die Angriffe ihrer Gegner zu Fall gebracht worden. Die Gründe sind vielmehr in ihr selber, in der Struktur der deutschen politischen Gesellschaft, zu suchen. Um dies zu verdeutlichen, muß man noch einmal etwas weiter in der Geschichte ausholen.

Die deutsche Reichsgründung im 19. Jahrhundert war ein Zusammenschluß der verschiedenen deutschen Einzelstaaten. Dieser bundesstaatlichen Einigung des deutschen Volkes entsprach jedoch nicht ein ähnlich fester innerer Zusammenschluß der deutschen Nation in seinen verschiedenen sozialen Schichten und Gruppen. Es sind vor allen Dingen drei Gruppen zu nennen, zwischen denen auf der einen Seite und dem neuen Reich bzw. Bismarck auf der anderen Seite zu verschiedenen Augenblicken, verschieden lange dauernd und mit verschiedener Heftigkeit Konflikte ausbrachen. Zunächst der politische Katholizismus. Zwischen dem modernen Staat und den politisch-gesellschaftlichen Interessen der katholischen Kirche sind in vielen europäischen Staaten Kämpfe um die gegenseitige Abgrenzung ihrer Rechts-und Einflußsphäre ausgefochten worden. In Deutschland waren diese Kämpfe im Jahrzehnt nach der Reichsgründung besonders heftig. Die Erschütterungen haben lange nachgewirkt. Dann sind die Sozialisten zu nennen, gegen die das Reich mit Sondergesetzen vorging, und die während der ganzen Zeit des monarchischen Deutschlands vergeblich um ihre volle politische Gleichberechtigung, z. B. in der Frage des preußischen Wahlrechtes, gerungen haben. Eine dritte Gruppe sind die auf der linken Seite der liberalen Bewegung angesiedelten Parteien mit wechselnden Namen, der Freisinn, der Fortschritt, die in den sechziger Jahren mit Bismarck den preußischen Verfassungskonflikt ausgefochten haben und niemals über diesen Graben hinwegkamen. Diese Gruppen sind von ihren Gegnern bisweilen sehr zu Unrecht und verächtlich mit dem zusammenfassenden Namen der „Reichsfeinde" bezeichnet worden. Der Name geht jedoch gänzlich an der Sache vorbei, da alle diese drei Gruppen — und das gilt ganz ausdrücklich auch von der deutschen Sozialdemokratie — im Grunde auf den Staat und die Nation ausgerichtete Parteien gewesen sind.

Dem standen nun auf der anderen Seite diejenigen politischen Gruppen gegenüber, die sich an der Bismarckschen Reichsgründung von Hause aus und unmittelbar orientierten, nämlich ein Teil, wenn auch nicht alle Konservativen und namentlich der rechte Flügel der Liberalen, die sogenannten Nationalliberalen. Der Konflikt zwischen diesen Gruppen ist in wechselnden Konstellationen geführt worden. Zeitweilig standen Zentrum und Linksliberale im Regierungslager; aber völlig ist die im Verfassungskonflikt mit den Liberalen, im Kulturkampf mit den Katholiken und im Sozialistengesetz mit der Bewegung der Arbeiterschaft aufgerissene Kluft niemals zugedeckt worden.

Als dann dieses Reich in die Bewährungsprobe des Ersten Weltkrieges gestellt wurde, da schien es, als ob hier in der großen, allgemeinen Entflammung für die Sache der Verteidigung des Vaterlandes die verschiedenen Gruppen ineinandergeschmolzen würden und sich die innere Nationalbildung vollendete. Die Augusttage 1914 sind ein tiefes Erlebnis der Deutschen gewesen, die sich hier ihrer selbst, wie vielleicht niemals vorher und nachher, als geschlossener Nation inne wurden; aber es folgte die Belastung des langen Krieges, der Niederlagen, des Zusammenbruchs, der Revolution. Die alten Gruppen brachen wieder auseinander.

Noch einmal kam es zu einem denkwürdigen Bündnis zwischen rechts und links, zwischen konservativen Kräften und Sozialisten in jenem Pakt zwischen Gröner, d. h.dem Generalstab, und Ebert, dem Führer der Mehrheitssozialisten, in der Abwehr der von links drohenden Räte-revolution in den Jahren 1918 und 1919, im Kampf gegen Spartakisten und Kommunisten. Erst auf Grund dieses zeitweiligen Zusammenwirkens ist es überhaupt möglich geworden, die Wahlen zur Nationalversammlung durchzuführen, die Verfassung der Weimarer Republik zu schaffen und diesen Staat ins Leben zu rufen. Das Gesetz, nach dem diese Republik ins Leben getreten war, blieb auch die Grundlage ihrer Existenz. Ihr Gedeihen war davon abhängig, daß es zur weitgespannten Zusammenarbeit verschieden orientierter politischer Gruppen von rechts bis links kam; denn den Parteien jener alten oppositionellen Gruppen — Sozialisten, Katholiken und Demokraten — war es wohl beschie-den gewesen, mit einer Mehrheit in der Weimarer Nationalversammlung die Verfassung zu schaffen, aber in den nachfolgenden Reichstagen haben die deutschen Wähler diesen Parteien der sogenannten Weimarer Koalition niemals wieder eine Mehrheit gegeben. Es kam also darauf an, über den alten Graben hinwegzukommen und weitgespannte Koalitionen zu bilden. So ist die Außenpolitik Stresemanns durch die Parteien von den Sozialisten bis zur deutschen Volkspartei (der Nachfolgepartei der ehemaligen Nationalliberalen) getragen worden. Und zweimal haben sich diese Gruppen auch zur Regierungsbildung in der sogenannten Großen Koalition zusammengefunden. Dies war die Leistung Stresemanns, für deren Aufrechterhaltung er mit seiner ganzen Kraft bis zu seinem Tode im Jahre 1929 gerungen hat. Nach seinem Tode brach die Große Koalition auseinander. Man kann es vereinfachend so formulieren, daß die verschieden miteinander ringenden Gruppen nicht wie Regierung und Opposition ihre Auseinandersetzung auf der Basis des gleichen Staatsverständnisses führten, sondern daß unter vier verschiedenen Fahnen vier verschiedene Staats-und Gesellschaftsauffassungen einen unversöhnlichen Kampf miteinander führten: hinter der schwarz-rot-goldenen Fahne der Republik standen die Nachfolgeparteien jener früheren sogenannten Reichsfeinde aus der Bismarckschen Zeit; hinter der schwarz-weiß-roten Fahne diejenigen Parteien, die sich im wesentlichen am monarchischen Vorkriegsdeutschland orientierten; und auf der äußersten Rechten und auf der äußersten Linken unter den roten Fahnen mit Hammer und Sichel oder Hakenkreuz die Anhänger des Rätestaates und einer faschistischen Diktatur. Als die Große Koalition im Mai 1930 an einer sozialpolitischen Frage auseinander-brach und der Reichstag hinfort nicht mehr imstande war, ein gesetzgeberisches Programm durchzuführen, besaßen die radikalen Gruppen der äußersten Rechten und der äußersten Linken in Deutschland noch keine bedrohliche Stärke.

Diese erreichten sie erst, nachdem der Reichstag in Deutschland sich tatsächlich selber ausgeschaltet hatte. Nachdem die Parteien der Großen Koalition sich nicht imstande gezeigt hatten, in den aus der Wirtschaftskrise sich ergebenden sozialpolitischen Fragen einen staatspolitischen Kompromiß zu finden, entstand ein gesetzgeberisches Vakuum. In diesem Vakuum gelangten zunächst die präsidialautoritären Momente der Weimarer Verfassung zum Zuge, um dann den Nationalsozialisten das Feld zu räumen.

Um die Kraft der Faszination zu verstehen, mit der die Hitlerpartei in das politische Vakuum einbrach und große Teile des deutschen Bürgertums gewann, muß man sich klarmachen, daß die Proklamation einer Synthese von Nationalismus und Sozialismus auf eine „große objektive Idee“ der Zeit hinwies. Der Historiker Friedrich Meinecke hat in seinem Buch über „Die deutsche Katastrophe“ mit Nachdruck auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Er ging in seiner Deutung des Nationalsozialismus von dem Ge-danken aus, daß es im 19. Jahrhundert zwei große Massenbewegungen gegeben habe, den Nationalismus, von dem das Bürgertum, und den Sozialismus, von dem die Industriearbeiterschaft aller Völker ergriffen wurde. Diese beiden Wellenströmungen überkreuzten sich an manchen Stellen der geschichtlichen Entwicklung. Es lag in der Natur der Sache, daß sie zueinander hinstrebten. Das Suchen nach einer Möglichkeit, sie miteinander ins Gespräch zu bringen, eine Synthese zu finden, ist geradezu eines der Leitmotive in der deutschen politischen Ideen-geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen. Auf einige Namen sei hier wenigstens kurz hingewiesen. In erster Linie ist Friedrich Naumann zu nennen. In seiner Schrift über Demokratie und Kaisertum und in seiner „nationalsozialen“ Bewegung machte er den Versuch, den monarchischen Staat und das nationale Bürgertum für die Belange der Arbeiterschaft und die Arbeiterschaft für den Gedanken des nationalen Macht-staates aufzuschließen. Seine Parteigründung war ein Fehlschlag, aber Naumann hat doch seine Wirkung gehabt als Erwecker des sozialen Gewissens im liberalen nationalen Bürgertum.

Die letzten Kräfte seines Lebens widmete er nach dem Zusammenbruch der Monarchie dem Verfassungswerk der deutschen Republik, von der er eine Erfüllung dieser sozialen, nationalen Synthese erwartete. Neben ihm ist Max Weber zu nennen, der Soziologe: er wie Naumann zeitweilig stark verbunden mit sozial-politischen Bemühungen im Raume des deutschen Protestantismus. Seine Vorstellung nationaler Machtgeltung, deren verfassungspolitische Voraussetzung er im Parlamentismus sah, trägt starke Züge sozialreformerischer Aufgeschlossenheit. Schließlich ist auf den Theologen und Historiker Ernst Troeltsch hinzuweisen, der die Anfangsentwicklung der Weimarer Republik in seinen Spektator-Briefen kommentierend durchdachte. Seiner geschichtsphilosophisch geforderten Kultursynthese zwischen den tragenden geistigen Strömungen der europäischen Überlieferung, seiner Forderung nach einem Ausgleich zwischen deutschem und westeuropäischem Geist, entsprach politisch die Überzeugung, daß eine weitgespannte parlamentarische Verbindung von den Sozialisten bis hin zu den Liberalen und Konservativen erforderlich sei. Naumann starb 1919, Weber 1920, Troeltsch 1923. Sie stehen am Anfang der Republik. Ihre unmittelbar lebendige Einwirkung fehlte in der nachfolgenden Entwicklung. Charakteristisch für alle drei ist, daß sie, vom monarchischen Deutschland herkommend, aus politischen Vernunftüberlegungen sich zur Republik bekannten und die Verbindung des Nationalen und Sozialen in dem nüchtern-praktischen Zusammenwirken von Parteien suchten.

Bei Stresemann begegnen wir gelegentlich dem Begriff der Volksgemeinschaft. Er hat bei ihm eine realistische, pragmatische Beziehung zur Großen Koalition. Stresemann hat gelegentlich davon gesprochen, daß die Aufgabe unserer Zeit darin bestehe, eine emanzipierte Arbeiterschaft mit den alten Schichten der Gesellschaft im nationalen Staate zu verbinden, ähnlich wie das Bauerntum durch seine Befreiung seit der preußischen Reformbewegung zu einer tragenden Schicht des Staates geworden sei. Schließlich sei der Name Thomas Mann in diesem Zusammenhang genannt. Als Konservativer, der von sich sagte, daß seine „Aufgabe in dieser Welt nicht revolutionärer, sondern erhaltender Art" sei, fand er den Weg zur Republik als der von Vernunft und Geschichte geforderten Staatsform der Deutschen in jener Stunde. In einem Appell an die Vernunft, den er bald nach dem ersten Wahlerfolg der Nationalsozialisten Ende 1930 an die Deutschen richtete, bekannte er sich in beschwörenden Worten zum außen-und innenpolitischen Vermächtnis Stresemanns in der Überzeugung, wie er sagte, „daß der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie" sei.

Dem Gedanken, Sozialismus und nationales Bürgertum in der nüchtern pragmatischen Weise parlamentarischer Zusammenarbeit im Rahmen der Republik zusammenzuführen, trat aber nun schon in der Entstehungsstunde der Republik eine andere Weise der sozialistisch-nationalen Ideenverbindung entgegen. Oswald Spengler, Möller van den Bruck, auch Ernst Jünger seien hier wieder stellvertretend genannt. Spengler proklamierte die Identität von Preußentum und Sozialismus, sah den Moment kommen, wo eines Tages Konservative und Spartakisten das ihnen Gemeinsame entdecken würden, und forderte einen autoritativen Sozialismus, wo befohlen und gehorcht werde. Dachte er hierbei ursprünglich an eine monarchisch-sozialistische Ordnung (Preußentum und Sozialismus), so hieß es in seiner letzten Schrift (Jahre der Entscheidung), daß „das Schicksal, einst in bedeutungsschweren Formen und großen Traditionen zusammengeballt, in der Gestalt formloser Einzelgewaltcn Geschichte machen“ werde. Von welchen Kräften wird dieser Staat gelenkt? Das „Blut entscheidet über die Zukunft", lesen wir in „Preußentum und Sozialismus"; und weiter: „Ideen, die Blut geworden sind, fordern Blut. Krieg ist die einzige Form höheren menschlichen Daseins, und Staaten sind um des Krieges willen da.“ Ernst Jünger gab mit seinen Kriegsbüchern und in seinem Buch über das Arbeitertum den beiden Eckfiguren eines irrationaldynamischen nationalen Sozialismus, dem Krieger und dem Arbeiter, wirkungsvolle literarische Gestalt. Und Möller van den Bruck forderte von einem kommenden Dritten Reich die „Nationalisierung des Sozialismus und Sozialisierung des Nationalismus“.

Bei diesen Schriftstellern vollzog sich statt der positiven Bemühung um einen staatspolitischen Kompromiß zwischen Parteien der Rechten und Linken über den alten Graben hinweg eine Synthese, die man als negativ bezeichnen muß. Negativ, weil man in diesem ganzen Schrifttum vergeblich nach klaren, praktikablen Zielsetzungen sucht. Konkret in ihrer politischen Willensrichtung ist nur die maßlose Verschmähung der Republik und ihrer Politiker, und die Verächtlichmachung aller als westlich verschrieenen universalen, humanitären Ideen. Es war das Verhängnis Deutschlands, daß die Große Koalition auseinanderbrach, daß Stresemann keinen entsprechenden Nachfolger fand, daß die Republik in der Tat versagte und der ihr von der Zeit gestellten Aufgabe nicht gerecht wurde. So wurde der Raum frei für die Hitler-Bewegung, die unter Verwendung der Vokabeln der neunationalistischen Literatur nun eine nationale und sozialistische Synthese vollzog unter dem negativen Vorzeichen eines aller humanen Werte entleerten Nationalismus, bei dem schließlich als das Grundmotiv von der ersten bis zur letzten politischen Äußerung Hitlers ein infernalischer Haß gegen das Judentum zu verzeichnen ist.

Nun muß man dieses Motiv historisch aber noch weiterverfolgen und feststellen, daß in der Zeit der absoluten Gewaltherrschaft in Deutschland und in entschiedener Opposition gegen diese Herrschaft des extremen Nihilismus sich erneut Angehörige verschiedener weit auseinanderlieg-gender sozialer Gruppen in der Widerstandsbewegung zusammengefunden haben. Die Bedeutung dieser Bewegung, der kein unmittelbarer Erfolg beschieden gewesen ist, muß wohl darin gesehen werden, daß hier in der äußeren Notlage die positive Synthese neu durchdacht und erstrebt wurde. Im Kreisauer Kreis, der sich besonders darum bemühte, zukünftige deutsche Möglichkeiten gedanklich zu klären, sehen wir Konservative und Liberale, Katholiken und Protestanten, Bürgerliche und Sozialisten, Gewerkschafter und Gutsbesitzer vereint. Was sie innerpolitisch erstrebten, war ein sozialer Ausgleich innerhalb der deutschen Gesellschaft. Außenpolitisch suchten sie für Deutschland Mitarbeit in einem föderierten Europa. Diese Männer waren überzeugt, daß die Überwindung der Spaltungen im deutschen Volk wie auch der Feindschaften zwischen den europäischen Völkern letztlich davon abhinge, wie das Bild des Menschen wieder hergestellt werden könnte. Sie haben hierbei bewußt angeknüpft an die christliche Überlieferung und an die humanitären Gedanken des deutschen Idealismus. Jenseits aller Fragen politischer Zweckmäßigkeit war das entscheidende Motiv der Männer des aktiven Widerstandes der Protest gegen das Unmenschliche.

Das deutsche Volk hat die Zwangsherrschaft nicht widerstandslos hingenommen. Der Umfang des Widerstandes ist größer gewesen, als wir uns gemeinhin klarmachen. Auch hier ist es angebracht, einige Zahlen anzuführen. Sie deuten die Dimensionen an, obwohl wir aus begreiflichen Gründen keine genauen Ziffern besitzen. In den Jahren 1933 bis 1944 wurden an die 12 000 offizielle Todesurteile verzeichnet, hiervon ein erheblicher Teil auf Grund von politischen Delikten. Nicht einberechnet sind die Hinrichtungen der letzten Kriegsmonate, auch nicht die Morde und Gewalttaten außerhalb der regulären Justiz oder die Militärgerichtsurteile. Die Zahl der außerhalb der regulären Justiz in Konzentrationslagern und Gefängnissen gesetzlos Ermordeten ist nicht erfaßbar. Überhaupt sind in Konzentrationslagern etwa 100 000 Deutsche inhaftiert gewesen, ungerechnet die zahlreichen wilden Lager namentlich der ersten Zeit. Sehr viel größer wiederum als diese Zahl der von der Polizei und der Justiz Gegriffenen muß die Zahl derjenigen gewesen sein, die den verschiedenen oppositionellen Strömungen von den Kommunisten bis zur Gruppe des militärischen Widerstandes überhaupt angehörten. Lind wieder größer der Kreis derjenigen, die, hin-und hergerissen im Konflikt der Loyalitäten gegenüber dem eigenen Lande, das im Kriege stand, und gegenüber den Einsichten der Vernunft und Menschlichkeit, weitermachten und zugleich einen Umschwung der Dinge herbeiwünschten. Es ist dem deutschen Volke versagt geblieben, sich selbst zu befreien. Aber es ist mit dem Widerstand ein Zeichen aufgerichtet worden, das auch in der Zeit der Zerstörung die tragenden Überlieferungen der deutschen Geschichte nicht völlig verschüttet gewesen sind. Einige der persönlichen Bekenntnisse aus dem Kreise jener Männer werden vielleicht einmal als Ausdrude hoher Möglichkeiten menschlichen Daseins zu den kostbarsten Überlieferungen unseres Volkes gehören.

Zuletzt hängt die historische Intensität einer Epoche, der Grad, mit der sie im Gedächtnis haften bleibt, davon ab, was sie dem Erinnerungsschatz der Nachfolgenden an ausgeprägten Bildern menschlicher Existenzweisen, auf bestimmte Art zu leben und sich selbst in der Welt zu verstehen, hinzufügt.

Die Frage, auf die im Grunde alle anderen zulaufen, ist die nach dem Menschen. Was der Mensch sein kann und was aus ihm werden mag, erfährt er aus dem, was er gewesen ist. Man hat zutreffend gesagt, daß die Geschichte „das Mögliche“ zum Thema habe. Wir wissen nun, in Erinnerung an das Dritte Reich, was dem Menschen, was uns Deutschen möglich ist. Es war uns möglich, einem Manne zu verfallen, der das Gewissen für eine jüdische Erfindung hielt und darum die Freiheit des Wissens und Denkens nicht dulden konnte. Und es war Deutschen möglich, für die Freiheit des Gedankens das Opfer ihrer selbst zu bringen, wie einer jener freien Deutschen, Helmuth James von Moltke, im Angesicht des Todes schrieb: „Wir haben keine Gewalt anwenden wollen . . . wir haben nur gedacht . . . wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben; und wenn wir schon sterben müssen, bin ich allerdings dafür, daß wir über dieses Thema fallen.“

Beide gehören zu uns, von Moltke und seine Freunde — und Hitler, auch er. Beide sind Deutsche, beide sind Teil unserer Geschichte. Beide zeigen, was uns im Guten und Bösen möglich ist, Wegemarken der Orientierung. Ein waches Geschichtsbewußtsein, das nichts beschönigt, ist eine Kraft der Versöhnung, je unerbittlicher es ist, um so mehr. „Besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich-Wiedererkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten“, so lesen wir in einem erbarmungslos wahrhaftigen Porträt, das Thomas Mann von Hitler gezeichnet hat und über das er die Überschrift setzte: „Bruder Hitler“. „Daß seine gequälte Seele in Frieden ruhen möge“, war ein die Zuhörer erschütterndes Wort, das Victor Gollancz, der jüdische Menschen-freund, der unerbittliche Bekämpfer des Hitler-tums, in der Paulskirche aussprach.

Manche von uns sind es müde geworden, ständig an das Dritte Reich erinnert zu werden. Aber selbst wenn es möglich wäre, nicht erst im Reiche der Schatten, sondern schon hier in den Fluß der Vergessenheit einzutauchen, so können wir dies nicht tun, wenn anders wir uns nicht selbst verlieren wollen.

Fussnoten

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Anmerkung: Karl Dietridi Erdmann, Dr. phil., geb. 28. April 1910, o. Prof, für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Kiel.