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Tatbestände, Ziele und Gefahren Wandlung der Deutschen? | APuZ 1/1963 | bpb.de

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APuZ 1/1963 Tatbestände, Ziele und Gefahren Wandlung der Deutschen?

Tatbestände, Ziele und Gefahren Wandlung der Deutschen?

Ich bin mir gleichermaßen der Ehre wie des Wagnisses bewußt, nach allem, was hinter und zwischen uns liegt, in der für mich ehrwürdigsten Stadt der Welt sprechen zu dürfen. Vielleicht wäre es für Sie, gewiß aber für mich einfacher, wenn ich über die Deutschen und ihre Wandlungen hier etwa so sprechen könnte, wie wir das in Deutschlands dunkelsten Jahren im Kreis derer taten, die den Unmenschen umzubringen gedachten, oder so, wie wir es darnach im Kreis der Leidens-und Schicksalsgefährten in den Gestapogefängnissen und Zuchthäusern getan haben. Die Geschichte hat uns jedoch inzwischen auf einen anderen Platz gestellt. Was das heißt, ist mir in den Apriltagen 1945 zum Bewußtsein gekommen, als amerikanische Truppen in das rauchende Bayreuth einrückten. Sie ließen die vier-oder fünftausend politischen Gefangenen frei, die in der Nachbarschaft von Richard Wagners Musentempel zusammengetrieben worden waren. Zuvor hatte es so etwas wie eine Solidarität der Leidenden zwischen uns gegeben ohne Ansehen der Nation und Herkunft. Aber als wir frei wurden, war es damit zu Ende. Wir hatten nur die Wahl, uns von Deutschland zu trennen oder auch für unsere Person Ja zu sagen zu.der kollektiven Haftung des deutschen Volkes für das, was hinter ihm lag. Die meisten von uns sagten Ja. Damit war unser Platz gewählt. Es ist der Platz, von dem aus ich spreche.

I.

Der Bankrott der Weimarer Republik und die sogenannte Machtergreifung Hitlers, sein Rassenwahn und der von ihm entfesselte Krieg haben insgesamt 50 Millionen Menschen, davon 6 Millionen Juden und 7 Millionen Deutschen, das Leben gekostet; sie haben Deutschland gedreiteilt und den Herrschaftsbereich des Kommunismus von der alten Ostgrenze Polens bis in die Mitte Deutschlands erweitert. Deutschland hat aufgehört, eine Großmacht, geschweige gar eine Weltmacht zu sein. Es ist nicht in der Lage, aus eigener Kraft sich selbst oder auch nur seine Hauptstadt zu sichern. Es konnte zwar 12 bis 13 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen eine neue Existenz ermöglichen, aber es kann 17 Millionen seiner Bürger in Mitteldeutschland keine erträglichen Lebensbedingungen verschaffen, geschweige gar das gesellschaftliche und staatliche Zusammenleben mit ihnen ermöglichen.

Daß Hitler den Krieg schließlich verlieren mußte, ist, wie ich glaube, im größten Teil des deutschen Volkes heute mindestens eine intellektuelle, wenn nicht eine moralische Erkenntnis. Aber daß darnach die freie Welt den Frieden verlieren mußte, das geht über das hinaus, was den meisten Deutschen bis heute faßbar ist. Darin lag eine der großen unteschwelligen Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Adenauerschen Außen-und Sicherheitspolitik. Die Errichtung der Bundeswehr, die Wehrpflicht, der NATO-Eintritt, stießen auf heftigen Widerstand, denn sie verlangten ein Engagement im Kreise von Mächten, denen viele Deutsche nicht deshalb gram waren, weil sie unsere Kriegsgegner waren, sondern weil sie sich von Sowjetrußland hinters Licht hatten führen lassen.

Mit Ressentiments solcher Art verband sich eine vielfach hemmungslose Resignation.

„Kleiner Mann, was nun?", das war schon im Vorkriegstamtam des Nazismus die geheime Frage vieler Deutscher angesichts der brutalen Gewalt des totalitären Staates gewesen. Im Krieg potenzierte sich dieses Gefühl des bloßen Objektseins zur völligen Ohnmacht auch bei solchen Leuten, die anfangs voll Hingabe mitgemacht hatten. Die bedingungslose Kapitulation wirkte schließlich weithin nur wie die Besiegelung dieses Zustands durch andere absolute Gewalten. Die von den Amerikanern in Deutschland betriebene Reeducation kam dagegen nicht auf. Und die weltpolitische Entwicklung mit ihrer Ausbildung zweier riesiger Weltblöcke, die sich auf deutschem Boden Gewehr bei Fuß gegenübertraten, war auch nicht dazu angetan, im Bewußtsein der Deutschen die Anschauung zu widerlegen, daß sie eben nur ein Objekt der Weltpolitik seien. Objekt unter Hitler, Objekt darnach — dieses Gefühl wurde und ist auch eine heute noch nicht ganz überwundene innere Gefahr.

Es hat zwar auch einen Beitrag geleistet für den Abbau vieler Illusionen. Denn in dem Gefühl, daß Deutschland nur noch ein Objekt jeweils überlegener Mächte sei, hat sich bei den Deutschen der Ruin des Nationalsozialismus und der Ruin des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Nationalismus zugleich vollendet. So hoch man das jedoch auch werten mag: Einsichten und Gefühle dieser Art sind nicht genug. So sehr die Wirklichkeit für sie zu sprechen scheint, sie werden ihr nicht gerecht mit ihrer faktischen Bestreitung jeder nennenswerten Handlungsmöglichkeit. Ja, die damit verbundene praktische Freistellung vom Widerstand, vom persönlichen und nationalen Engagement für das, was Recht und Pflicht gebieten, ist amoralisch. Gewiß: die schreckliche Übermacht bedenkenloser Gewalten wirkt lähmend, aber es ist schuldhaft, sie dadurch in eine Vorabkapitulation der eigenen Verantwortung fallenzulassen. Ihre Folgen sind jenes Vakuum, das einen einzelnen wie ein Volk unfähig macht, seine Taten und Untaten, und damit sich selbst und seine Bestimmung ernst und verpflichtend ins Auge zu fassen.

Die Kernfrage, der ich mich mit einem Thema zu stellen habe, geht also nicht darum, ob es in Deutschland überhaupt eine Wandlung gegeben habe — natürlich gab es sie —, sondern sie geht darum, ob jene Wandlung bewirkt ist von einer solchen ernsten und kritischen Einkehr der Deutschen, von welchen Kräften sie gesteuert wird und worauf sie hinaus will.

II.

Die politische Wandlung Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg beruht auf der programmatischen Absage der deutschen Politik an die nationalstaatliche Souveränitätspolitik. Ich habe keinen Zweifel daran, daß diese Absage auch von der großen Mehrheit der Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang gebilligt wird. Sie hat weittragende Bedeutung schon deshalb, weil sich darin die Absage Deutschlands an eine eigene Großmachtpolitik zwischen West und Ost vollendet. Es ist zugleich das Nein zu einem deutschen Alleingang gegenüber dem Osten Diese Absage ist auch heute noch nicht ganz unumstritten in Deutschland; aber nicht deshalb, weil alte Denkmodelle der Bismarckzeit noch sehr lebendig wären sondern deshalb, weil noch nicht allen Leuten die Illusion vergangen ist, daß ein neutrales

Deutschland seine Einheit zu erlangen und seine freiheitliche Existenz zu behaupten vermöge. Seit dem Eintreten der sozialdemokratischen Opposition auf die Linie der Adenauer-sehen Außenpolitik fehlt diesem Neutralismus in Deutschland aber jede ernsthafte politische Möglichkeit.

Ein wesentlicher Grund dafür ist die als Bedrohung empfundene Machtentfaltung Sowjetrußlands und seiner Satelliten. Aber man kann es riskieren zu sagen, daß auch ohne diese Bedrohung ein grundlegender Wandel des deutschen außenpolitischen Denkens eingetreten wäre und praktische Konsequenzen gefordert hätte. Der kürzliche Besuch des französischen Staatschefs in der Bundesrepublik hat dafür ein höchst eindrucksvolles Beispiel geliefert. General de Gaulle wurde in Deutschland eine so herzliche, ja stürmische Aufnahme zuteil, daß alle Voraussagen weit übertroffen wurden. Es fehlte nicht an Stimmen, die darin eben die Neigung der Deutschen zum Führerkult sahen. Aber diese Deutung geht mit Sicherheit am Entscheidenden vorbei. Wer einmal über den blutgetränkten Boden der deutsch-französischen Schlachtfelder zweier oder dreier Kriege ging, und wer seine Augen aufgemacht hat für das Friedensbedürfnis beider Völker, der allein hat eine Ahnung davon, aus welcher Tiefe Frankreichs Staatschef in Deutschland willkommen geheißen wurde. Schluß mit dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich! Schluß mit der langen Geschichte'des Unheils zwischen uns und unseren Nachbarvölkern!

Dieser Wille schlug Frankreichs Staatschef in Deutschland mit eruptiver Gewalt entgegen.

Dieser Wille hat die Deutschen in breiter Front hinter den Gedanken der europäischen Einigung gebracht. Im Kreisauer Kreis hatten wir schon seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zukunft Deutschlands nur in einer dauernden staatlichen Gemeinschaft mit unseren europäischen Nachbarn gesehen. Andere sahen es ebenso. Aber es bedurfte offensichtlich erst noch der Schlachten des Zweiten Weltkrieges und des Aufkommens übermächtiger weltpolitischer Realitäten wie der USA und Sowjetrußlands, um die keineswegs nur in Deutschland dagegen bestehenden Widerstände wegzureißen. Die Einigung Europas und darüber hinaus der Zusammenschluß der atlantischen Gemeinschaft wurde von den Deutschen jedenfalls nicht nur als eine Möglichkeit empfunden, aus der Not der Niederlage eine politische Tugend zu machen, son-dem wir sahen in ihr den positiven, weltgeschichtlichen Sinn eines grauenhaften Geschehens. Diesem Sinn, nämlich einer neuen dauerhaften Freiheits-und Friedensordnung Europas mußte die deusche Politik dienstbar gemacht werden.

Darin vereinten sich politischer Verstand und umkehrwillige sittliche Einsicht. Die deutsche Außenpolitik war nur eine Probe darauf. Sie ließ davon auch nicht ab, als sie im Namen der nationalen Einigung in Frage gestellt wurde. Die Wiederherstellung der nationalen Einheit ist in Deutschland als Verpflichtung anerkannt. Aber dies ändert nichts daran, daß die deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit bestimmt wird von einer klar verantworteten Rangordnung, in der die Freiheit — und damit die Solidarität mit der freien Welt — den ersten, der Friede und damit der Verzicht auf jeden Angriffs-und Revisionskrieg den zweiten und die nationale Einheit damit logischerweise den dritten Platz einnehmen. Es ist keine problemlose Orientierung der Politik, die sich dergestalt orientiert und sittlich begründet. Aber es ist eine von der großen Mehrheit der Deutschen immerhin frei bestätigte Orientierung. Ich glaube, man darf in ihr ebenso wie in ihrem Motivzusammenhang einen Ausdruck tatsächlicher deutscher Wandlung sehen.

III.

Es versteht sich, daß in einer Wandlung solcher Art sich nicht nur die Struktur der Außen-und Militärpolitik wandeln muß, sondern daß von ihr auch das überlieferte Nationalgefühl und Staatsbewußtsein in Mitleidenschaft gezogen wird. Noch besser kann man sagen, daß die Wandlung beider die Voraussetzung einer so durchgreifenden politischen Neuorientierung ist. Nun ist freilich sehr umstritten, von welcher Art denn heute das deutsche Nationalgefühl sei. Schon ob es ein solches überhaupt noch gibt, ob von ihm geredet werden kann, ist umstritten. Mir ist zwar sicher, daß dieses Nationalgefühl schon unablässig durch das Verlangen nach der Wiedervereinigung Deutschlands angesprochen und auch durch den Kampf um Berlin sehr wachgehalten wird. Aber es kann kein Zweifel sein, daß auch dieses Nationalgefühl und Staatsbewußtsein durch und durch gewandelt ist.

Das gilt nicht nur von seinen Ausdrucksformen. Wer sich heute etwa im Stil der traditionellen patriotischen Rede oder mit dem überlieferten nationalen Liedgut in Deutschland an das Gefühl seiner Hörer wenden würde, machte sich einfach lächerlich. Das ist nicht nur eine Folge des allgemeinen Stilwandels in der Sprache und im nationalen Emblem, sondern es tritt darin so etwas wie die Ablehnung ganzer Epochen der deutschen Geschichte und ihrer Wertordnung in Erscheinung. Man kann freilich nicht sagen, daß alles klar und überzeugend wäre, was in dieser Wandlung bis jetzt zutage trat. Oft ist es auch hier bloß die Verneinung des Gewesenen, seine ersatzlose Streichung, die dann ein Vakuum schafft. Der vom Nationalsozialismus in der Gleichschaltung erzwungene Konformismus ist weithin von einem habituellen Nonkonformismus abgelöst worden, dem es oft weniger um das Was geht, zu dem er sich verhält, als um eine nonkonformistische Demonstration. Sie befriedigt vielleicht das Selbstbewußtsein einiger ihrer Vertreter, aber sie wird selten produktiv. Sie wird oft als Nihilismus denunziert, aber nicht selten ist dieser Vorwurf durchaus begründet. Wahrscheinlich finden sich in allen Völkern der Weltzivilisation ähnliche Symptome; aber ich bezweifle, daß sie ähnlich konformistisch nonkonform sind wie bei uns in Deutschland.

Das Positivste was sich vielleicht sagen läßt, ist, daß es sich auch dabei noch immer um Symptome einer heftigen Instinktreaktion gegen die Verseuchung des deutschen Volkes durch den Nationalsozialismus handelt. Man muß im heutigen Deutschland z. B. einmal die spontane Reaktion von Studenten und höheren Schülern auf Schallplatten von Hitler-Reden beobachten, um diese Instinktreaktionen zu verstehen. Mir ist unvergeßlich das ungläubig fassungslose Erstaunen junger Leute darüber, daß auch nur halbwegs vernünftige Leute auf jenes hysterische Geschrei hereinfallen konnten. Die Diskussionen, die sich daran anschließen, leiden alle an der faktischen Unmöglichkeit, den jungen Leuten von heute auch nur eine Ahnung von der äußeren und inneren Situation und Atmosphäre zu vermitteln, in der Hitler und seine Leute ihre Schreie ausstießen. Mit einiger Vorsicht kann man sagen, daß bei derartigen Gesprächen eben nicht nur Hitler und seine Bande auf der Anklagebank sitzen, sondern so ziemlich die ganze mittlere und ältere Generation Deutschlands.

Daß Hitler und seine Leute Großverbrecher aller Art waren, das weiß ohnehin jeder. Unerledigt aber ist die Frage an die ältere Generation: Wie konnte es geschehen, daß ihr ihm gefolgt seid, daß ihr ihm gehorchtet? Die Frage ist in sich ein so unüberhörbarer Vorwurf, daß sie gar nicht erst als solcher formuliert zu wer-den braucht. Alles, was darauf gesagt werden kann, reicht nicht hin, um diesen Vorwurf auszulöschen. Folge: Man weicht diesem Gespräch oft lieber aus in der Hoffnung, die Zeit mit ihren Sorgen des neuen Tages werde die Frager ihre Frage vergessen lassen. Denn daß sie selten anders als mit einer offenen Selbstdemütigung zu beanworten ist, das wissen die meisten auch dann, wenn sie das Wort von der Kollektivschuld als unzutreffend ablehnen.

Man hat für dieses zwar nicht generelle, aber weitverbreitete Verhalten das Wort von der unbewältigten Vergangenheit geprägt. Es ist nicht falsch, aber nutzlos. Denn wer soll, wer kann eigentlich die Vergangenheit, die hier gemeint ist, überhaupt „bewältigen"? Wäre sie denn bewältigt, wenn die noch lebenden Mitverantwortlichen vor Gott und der Welt , mea culpa, mea maxia culpa'sagten? Gewiß, viele haben es getan, und die anderen sollten es tun. Aber ich wäre damit weder in meinem Denken noch in meinem Gewissen über die unauslöschlichen Brand-und Schandmale hinweg, die in jener Epoche dem deutschen Volk eingebrannt wurden. Wir Deutsche haben seit dem Ende des Krieges eine große Erfahrung gemacht mit der verwandelnden Kraft der Versöhnung. Aber sie ist ein Wunder, das wir nicht bewirkt haben. Es hat uns tiefer bestimmt, als es nach außen kund wird, aber dieses Wunder kann uns erst recht nicht freimachen von der Scham über das, was eben doch im deutschen Namen — wenn auch ohne, ja gegen den Willen vieler Deutscher — zu unserer Zeit geschah. Ich brauche nur Dokumentationen wie die von Poliakow, Wulf und anderen durchzublättern, um mir sicher darin zu sein, daß es für uns, d. h. für meine eigene Generation, in Deutschland zeitlebens keine Möglichkeit gibt, diese Vergangenheit „zu bewältigen". Dieses Wort verlangt mehr, als gewissenhafte Leute leisten können.

Aber vielleicht könnte das schwer gestörte deutsche Geschichtsbewußtsein wieder in Ordnung gebracht werden. Es ist durch die Ereignisse der letzten dreißig Jahre so aus den Fugen geraten, so unsicher und diffus geworden, daß es mir noch problematischer erscheint als unser derzeitiges Staatsbewußtsein. Man kann dazu zwar auf manche ehrenwerte Bemühung hinweisen, von der gründlichen Überholung unserer Schulbücher, über die gewissenhaften Arbeiten des Instituts für Zeitgeschichte in München bis zu wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen von Niveau und Rang. Aber was es mit unserer Geschichte auf sich hat — mindestens vom Siebenjährigen Krieg bis zum Rapallo-Vertrag —, das liegt dennoch für viele, vielleicht für die meisten Deutschen, noch immer im Nebel. Der Deutsche lebe zwischen den Trümmern seiner Geschichte, so hat es ein deutscher Publizist kürzlich formuliert, und so empfinden es nicht wenige. Sicher gibt es auch andere, die sich über diesen Tatbestand wenig oder überhaupt keine Rechenschaft geben. Aber auch die positivste Beurteilung der Lage kann nicht daran vorübergehen, daß sich in Verbindung damit viele vor jenem Vakuum sehen, an dem sich Nationalbewußtsein und Nationalgefühl eben gar nicht orientieren und klären lassen.

Das deutsche Nationalbewußtsein ist nicht erst durch den Nationalsozialismus überholt und übersteigert worden, sondern es ist, ähnlich wie das Nationalbewußtsein anderer Völker, schon im 19. Jahrhundert, mindestens zeitweilig, einem überhitzten Nationalismus verfallen. Der deutsche Konservativismus und erst recht der deutsche Liberalismus waren im ganzen nicht kräftig genug, um diese Überhitzung und Korrumpierung zu verhindern. Der Verlust des Ersten Weltkrieges und die uns im Versailler Friedensvertrag aufgezwungene Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg, haben die Gesundung und Normalisierung des deutschen Nationalbewußtseins nach 1918 nicht gefördert, sondern gehindert. Aber erst der Nationalsozialismus hat mit seinem Rassenwahn und mit der Hemmungslosigkeit seiner Ansprüche das fiebrige deutsche Nationalbewußtsein der Weimarer Zeit durch und durch vergiftet. Nationalismus, hysterischen Nationalismus, gab es zuvor und danach auch in anderen Völkern. Der Rassenwahn des Nationalsozialismus aber hat den deutschen Nationalismus so vergiftet, daß in seinem Namen die Massenverbrechen begangen und technisch durchgeführt werden konnten, für die es in der neueren Geschichte nur wenig Beispiele gibt. Es ist nach meiner Überzeugung nicht wahr, daß es allein der Befehlszwang des totalitären Staates war, was diese Ausrottung von Millionen Menschen ermöglichte. Dazu bedurfte es des puren tödlichen Giftes einer Ideologie, deren Wahn die für eine solche Aktion erforderliche große Henker-und Helfersschicht auf die Beine bringt.

Ich glaube, daß es nicht zweifelhaft ist, daß das deutsche Nationalbewußtsein von diesem Rassenwahn des Nationalsozialismus, von seiner pervertiert nationalistischen Zielstellung und dem Zynismus seiner Methoden gründlich befreit ist. Aber was übrig blieb, war ein tief gestörtes, wenn nicht überhaupt zerstörtes deutsches Nationalbewußtsein. An seiner Stelle steht im Bewußtsein das Gefühl vieler Deutschen jenes Vakuum. Eine der großen inneren Existenzfragen der Deutschen besteh, darum heute darin, ob und wie sie zu einem geklärten Nationalbewußtsein und zu einem geordneten Verhältnis zur deutschen Geschichte kommen. Denn in ihnen muß schließlich jene zusammenhängende — nicht nur auf Hitler und seine Epoche beschränkte — Rechenschaft gelegt werden über das Vergangene und zugleich die innere Voraussetzung geschaffen werden für den Weg in die Zukunft.

IV.

Ebenso wichtig wie die entschiedene Läuterung des traditionellen Nationalismus ist die Klarstellung der sich daraus ergebenden Loyalitätsverhältnisse im Volksbewußtsein.

Als ich ein Junge war, erinnerte der aufkommende Nationalismus in meiner rechtschaffenen württembergischen Heimat oft daran, daß man Denken und Handeln lernen müsse, wie es die Engländer täten: right or wrong — my countryl Das war im Ersten Weltkrieg. Bei den Nazis hieß es dann: „Recht ist, was dem Volke nützt“. Heute kann im freien Teil Deutschlands die Geisteshaltung keinesfalls mehr öffentlich verkauft oder angepriesen werden, und zwar nicht deshalb, weil dann der Kadi käme, sondern deshalb, weil die Öffentlichkeit allergisch geworden ist gegen alles, was auch nur von der Ferne an den Nationalsozialismus wie an den alten Nationalismus und sein Staatsverhältnis erinnert.

Die jüngste Auseinandersetzung, die wir in Deutschland zu bestehen haben — die „Spiegel" -Affäre —, ist mindestens dafür ein interessantes Beispiel. Nach allem, was man weiß, kann nicht in Zweifel gezogen werden, daß ein begründeter dringlicher Verdacht des Landesverrats gegen jene Zeitung besteht. Aber die in dieser Sache gemachten tatsächlichen oder vermuteten Fehler der Behörden haben einen solchen Sturm in Deutschland hervorgerufen gegen alles, was nach opportunistischem Machtmißbrauch und Freiheitsbeschränkung auch nur von der Ferne riecht, daß darüber der des Landesverrates verdächtige „Spiegel" nicht nur in den Windschatten geriet, sondern sich heute des öffentlichen Wohl-wollens auch vieler seiner Kritiker und Gegner erfreut.

Ich will mit diesem Beispiel lediglich andeuten, eine wie tiefe Bewußtseins-und Gefühls-wandlung der Deutschen sich spätestens seit dem Ende Hitlers vollzogen hat. Denn viele nervöse und überproportionierte Reaktionen in Deutschland auf mögliche Formalverstöße der Behörden oder gegen mache politischen Entscheidungen sind nur verständlich, wenn man sich klarmacht, daß wir es dabei mit dem überhöhten Positiv zu einem abgrundtiefen Negativ der Hitlerzeit zu tun haben. Hitler und seine Leute haben nicht nur das materielle Recht brutal mißachtet, sondern sie haben auch mit einem Zynismus sondergleichen das formale Recht hemmungslos in den Dienst dessen gestellt, was sie für zweckmäßig hielten. Es ist entweder eine grobe Verleumdung der Bundesrepublik oder eine zynische Verniedlichung der Hitlerzeit, wenn von Gestapo-Methoden im heutigen Deutschland gesprochen wird. Aber das ganze, von Krampf leider gar nicht freie Bild der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland ist nicht verständlich, wenn man sich nicht vergegenwärtigt, daß diese überhitzten und verkrampften Reaktionen eben in einem Lande stattfinden, in dem heute noch eine schreckliche Erinnerung an die Gestapo und von Mitteldeutschland her auch an die politische Polizei des kommunistischen Ostens lebendig ist und die Angst vor allem, was dazu gehört.

Die Reaktion eines großen Teiles der deutschen Öffentlichkeit in der „Spiegel“ -Affäre ist auch für das, was ich hier über die Loyalitäten sagen möchte, interessant. Ein national, jedenfalls nationalistisch gestimmter Staat wird immer dazu neigen, den Landesverrat für das todeswürdigste aller Verbrechen zu halten. Daß sich Deutschland heute in der Gegenbewegung, sozusagen in der bloßen Antithese zum Nationalismus befindet, zeigt sich, wie mir scheint, auch in der Tatsache, daß z. B. im Falle „Spiegel“ viele sonst urteilsfähige Leute dazu neigen, den Landesverrat zwar nicht gerade für ein Kavaliersdelikt zu halten, aber doch etwaige Verfahrensfehler der Behörden als Infragestellung des Rechtsstaates unvergleichlich viel schwerer zu nehmen. Man kann die politische Seite der „Spiegel“ -Affäre so oder anders beurteilen. Sicher aber scheint mir die bis jetzt analysierbare Reaktion der Öffentlichkeit dafür zu sprechen, daß jenes , right or wrong'oder . recht ist, was dem Volke nützt'im deutschen öffentlichen Bewußtsein keinerlei Chancen mehr haben. Die Brandmale der Vergangenheit sind so sehr im deutschen Bewußtsein, daß, wenn nicht die Staatsautorität überhaupt und von vornherein suspekt ist, so doch nur ihre sittlich verantwortete Autorität eine effektive Chance hat, sich durchzusetzen. Aber auch diese legitime Autorität hat es heute in Deutschland schwer, vor allem deshalb, weil der sittliche Wert staatlicher Entscheidungen oft von vornherein in Frage gestellt wird. Die deutsche Bundesregierung hat sich z. B. bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vor einigen Jahren gegen große, zum Teil auch sittlich begründete Widerstände eines Teils ihrer Bürger durchsetzen müssen. Auch die Widerstände gegen ein Notstandsgesetz zeigen, daß es bitter schwer, ja unmöglich ist, jedermann in Deutschland zu der Einsicht zu bringen, daß der Anspruch auf die Rechte, die das Grundgesetz verbürgt, hin und wieder zurückzutreten hat hinter die Notwendigkeiten des Bestandes und der Sicherheit des Staates. Diese Grenzgebiete der Verantwortung, in denen nicht einfach Wert gegen Unwert, sondern ein Wert gegen einen anderen steht, werden vom deutschen Volk denkbar schwer und mühsam durchwandert. Man begreift diese Tatsache nur, wenn man sie als Ausdruck unserer Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und als einen bewußten Korrekturwillen vor diesem Hintergrund erfaßt.

Dazu gehören nun freilich auch kritische, ja negative Erscheinungen, die sich im Zweifelsfall zu einer echten Gefahr verdichten können. Der totalitäre Staat des Nationalsozialismus hat den Opfermut und die Hingabebereitschaft für die Nation so hemmungslos ausgebeutet, er hat die Leidensfähigkeit des Volkes so überfordert und den Staatsbegriff selbst so ins Zwielicht gerückt, daß dem Ruf zu Opfern und Hingabe für das Vaterland auch heute noch in Deutschland oft ein nahezu unüberwindbares Mißtrauen entgegensteht. Nicht nur das alte Pathos des nationalen Stils ist heute unmöglich, nein, auch das Ethos ist nicht mehr selbstverständlich und wird nicht mehr von vornherein respektiert.

Wie verwirrend die Lage ist, ergibt sich daraus, daß sich mit den Symptomen einer gar nicht gerechtfertigten Staatsverdrossenheit auf der anderen Seite zugleich ein immer ungehemmter werdender Schrei nach dem Staat, nach steigenden Staatsleistungen auf allen Gebieten verbindet. Tatsächlich weiten sich denn auch im freien Teil Deutschlands die Staatsleistungen zusammen mit den staatlichen Kompetenzen immer mehr aus, und das, obwohl die Bundesregierung dieser Erweiterung eher bremsend als fördernd gegenübersteht. Sicher sind das Erscheinungen, die es auch in anderen Ländern gibt. In Deutschland aber werfen sie tiefe Schatten und gewinnen vielleicht auch den Charakter ernster Krisensymptome, weil sie sich eben vor der Kulisse eines beispiellosen, von uns selber erlebten Staatsruins vollziehen.

V.

Im Vergleich zu den Schwierigkeiten und Gefahren, die in diesem Bereich liegen, schätze ich die Gefahren, die der deutschen Demokratie als solcher drohen, gering ein. Sehr besorgte Gemüter sehen diese Gefahren übernervös schon in einer starken Regierung. Die Erinnerung an die Weimarer Republik zeigt jedoch, daß ein Regierungschef mit Autorität nicht a priori eine Gefahrfür die Demokratie zu sein braucht, daß im Gegenteil solche Gefahren bei schwachen Regierungen weit größer sind. Die Weimarer Republik ist jedenfalls nicht an starken Reichskanzlern zugrunde gegangen, sondern daran, weil keiner ihrer demokratischen Kanzler Hitler so entgegentrat, wie es notwendig gewesen wäre. Nein: Die deutsche Demokratie braucht starke Regierungen; aber sie braucht allerdings ebenso notwendig Parlamente, die ihnen gewachsen sind. Das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler, das in bewußter Korrektur der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz der Bundesrepublik ausgenommen wurde, hat sich als richtig erwiesen.

Zur inneren Stabilisierung der Demokratie in Deutschland hat auch beigetragen die durch ein besonnenes Wahlgesetz geförderte Reduktion der Zahl der politischen Parteien. 1949 zogen zehn Parteien in den Bundestag ein. 1961 waren es noch drei. Es ist kein Zweifel, daß diese Entwicklung die Parteien vor große Aufgaben stellt. Sie müssen in ihrer geistigen Orientierung, in ihrer politischen Programmatik und in ihrer sozialen Schichtung wesentlich weiträumiger sein als sie es in Deutschland je gewesen sind. Aber sie müssen bei aller Weiträumigkeit dennoch ein sie klar charakterisierendes Gesicht behalten. Praktisch hat das zur Folge, daß die großen Parteien Deutschlands sich zwar vor ihrem geschichtlichen und ideologischen Hintergrund noch immer mit unterschiedlicher Betonung ihrer Unterschiede zur Darstellung zu bringen suchen, daß sie aber gleichzeitig darauf bedacht sind, allen nennenswerten Schichten und Gruppen in unserer pluralistischen Gesellschaft mehr oder weniger attraktiv zu erscheinen Das hat zur Folge, daß sie sich in ihrer Pro-grammatik und weithin auch in ihrer politischen Praxis erheblich weniger unterscheiden als früher. Insbesondere das Mitte des Jahres 1960 vor dem. Bundestag vollzogene Eintreten der sozialdemokratischen Opposition auf dia Adenauersche Außenpolitik hat diese allgemeine Tendenz gefördert. Das Kernproblem der heutigen politischen Parteien ist es, so reibungslos als möglich die Integration möglichst vieler Gruppen und Bewußtseinslagen in sich selber zu vollziehen und dabei ein Optimum an Aktionskraft zu behalten.

Das Verhältnis der deutschen Öffentlichkeit zu den Parteien ist trotz der außerordentlichen Anstrengungen, die die Parteien schon in Anbetracht der fortgesetzten Wahlkämpfe in Deutschland machen müssen, ein distanziert kühles. Mit anderen Worten: Die Parteien sind noch immer nicht wirklich populär. Man kann daraus nicht auf Restbestände des Nationalsozialismus in Deutschland schließen, sondern man muß Tatbestände und Verhaltensweisen ins Auge fassen, die in Deutschland schon immer weit verbreitet waren. Es gibt z. B. einen Objektivitätsdusel bei vielen Intellektuellen, die ihrem geistigen Rang und ihrem Anspruch auf Objektivität den Abstieg in die Niederungen der politischen Praxis und damit auch der politischen Partei glauben nicht zumuten zu dürfen. Selbstverständlich kommen darin auch gewisse Vorbehalte gegen die parlamentarische Demokratie als der uns gegebenen Organisationsform des freiheitlichen Rechtsstaates zum Ausdruck.

Ich mache diese Unterscheidung bewußt, weil ich weiß, daß es viele Kritiker unserer Parteien als unfair empfinden, wenn man ihre Vorbehalte gegen die Parteien als eine Distanzierung vom freiheitlichen Rechtsstaat begreifen oder beschreiben würde. Immerhin stecken in diesen Vorbehalten gegen die Parteien auch Vorbehalte gegen die parlamentarische Demokratie. Sie nähren sich erstens aus einer noch immer weitverbreiteten Abneigung gegenüber manchen wenig schönen Formen des politischen Kampfes und auseinerinstinkthaften Ablehnung dieses Kampfes als solchem. in dem ja auch nicht selten eine Überfremdung sachlicher Notwendigkeiten stattfindet. Zweitens nähren sich diese Vorbehalte aber auch aus alten Ressentiments, die sich mit der Erinnerung an die Weimarer Republik verbinden. Ich erinnere mich lebhaft an eine leidenschaftliche Debatte, die zwischen uns halbverhungerten politischen Gefangenen ausbrach, als wir im Februar 1945 in einem Kohlenkahn auf die Brandenburger Seenplatte gefahren wurden, um von dort aus, je nach Zweckmäßigkeit, weiterbefördert oder versenkt zu werden. Die Flüche, die damals und zuvor schon unter uns ausgestoßen wurden, galten eben nicht nur der Herrschaft der Nazis, sondern auch der Weimarer Demokratie, weil sie einen Hitler nicht rechtzeitig vernichtet habe. Ressentiments gibt es aber nicht nur bei dem Häuflein unbelehrbarer Nazis, sondern auch bei vielen, die mit dem Nationalsozialismus wenig oder gar nichts im Sinne gehabt haben.

Damit sind wir drittens bei der Frage nach dem Rest des Nationalsozialismus in Deutschland. Ich bin mir bewußt, daß das Wesentliche daran nicht das ist, was sich organisatorisch oder polizeilich nachweisen läßt, sondern das, was sich im öffentlichen Bewußtsein der Deutschen allenfalls davon aufzeigen läßt. Aber das Bild wäre nicht vollständig, wenn man nicht auch sorgfältig das organisatorisch und politisch Feststellbare des nationalsozialistischen Restes ins Auge fassen würde. Vor kurzem hat das Bundesministerium des Innern dazu eine Dokumentation vorgelegt. Das Ergebnis dieser von den Verfassungsschutzämtern durchgeführten Untersuchung zeigt, daß es nicht weniger als 90 rechtsextremistische, und das heißt mit dem Nationalsozialismus mehr oder weniger offen sympathisierende Organisationen und Verbände im Bereich der Bundesrepublik Deutschland gibt. Der Bericht des Bundesministeriums des Innern weist nach, daß diese Organisationen im Laufe der vergangenen zwei Jahre etwa 35 v. H. ihrer Anhänger verloren haben. Am 31. Dezember 1961 haben diese 90 Organisationen insgesamt 12 300 Mitglieder besessen. Die rechtsextremistischen Jugendorganisationen seien sogar auf 2100 Mitglieder abgesunken. Ihnen stehen 4, 5 Millionen in demokratischen Jugendorganisationen erfaßte Deutsche gegenüber. Interessant und gefährlich zugleich ist die auf einwandfreies Beweismaterial gestellte Mitteilung des Bundesministeriums des Innern, daß, je mehr der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik zurückgehe, er um so stärker von außen her gefördert werde. So habe z. B.

das Ministerium für Staatssicherheit in Ulbrichts Ost-Berlin, im Mai 1961, während hier in Jerusalem der Eichmann-Prozeß lief, antisemitische Flugblätter gedruckt und nach Westdeutschland geschmuggelt, um damit den Anschein zu erwecken, als sei in der Bundesrepublik eine SS-Untergrundorganisation am Werke. Dem Bundesministerium des Innern in Bonn seien annähernd 450 ausländische Parteien und Organisationen bekannt, die sich um die Wiederbelebung des Faschismus in der Bundesrepublik bemühten.

Ich glaube nicht, daß diese Brandstifter in den kommenden Jahren mehr Erfolg haben werden als in den vergangenen. Das gilt erst recht vom Antisemitismus. In diesem Stück hat die Erinnerung an die Untaten des Nationalsozialismus auch zu gesetzlichen Maßnahmen und Strafverschärfungen geführt, die es selbst dem Unbelehrbarsten geraten erscheinen läßt, vorsichtig zu sein. Antisemitische Reaktionen sind jedenfalls selten geworden in Deutschland. Man könnte sogar etwas generalisierend sagen, daß an die Stelle des ehemaligen Antisemitismus ein ernst bemühter Philosemitismus getreten ist. Er ist deshalb nicht problemlos, weil es wahrscheinlich wünschenswert wäre, wenn es zu jenem ganz selbstverständlichen und unbefangenen Verhältnis käme, in dem rassische Gefühle, Ressentiments und Tabus spontan als Verrücktheit abgelehnt werden. Die junge Generation wird es so empfinden, aber ob die Älteren es noch einmal zu der Unbefangenheit bringen, die dazu gehört, ist mir fraglich. Solange wir uns noch in relativ großer zeitlicher Nähe zum Reiche Hitlers befinden und solange die Abrechnung mit seinen Untaten noch nicht beendet ist, kann an diesem Punkt jedoch nicht mehr erwartet werden. Die Qual der Last und Schuld, die wir tragen müssen, ist zu groß, als daß sie in unserer Generation Unbefangenheit zulassen würde. Es ist eben immer wieder quälende Frage: Wie möglich? die alte war Wie haben wir es zulassen können? Haben wir wirklich nichts davon gewußt? Diese Fragen werden mit jedem Kriegsverbrecherprozeß imer neu gestellt und fordern immer erneut die Gewissensprüfung einer ganzen deutschen Generation. Ich kann nicht in Abrede stellen, daß sich dabei allmählich auch eine gewisse Müdigkeit der eigenen Gewissensanstrengung einzustellen scheint. Uber dieser Anstrengung liegt eben nicht nur das Licht der Erkenntnis, sondern auch der Schatten der Einsicht, daß selbst die strengste Sühne nicht imstande ist, jenes Gebirge von Schuld abzutragen. Daraus folgern allerdings auch nicht wenige, daß es an der Zeit sei, einen Strich unter die Sache zu ziehen und auf weitere Strafverfolgung zu verzichten. Ich glaube jedoch nicht, daß sich in den deutschen Parlamenten diese Ansichten durchsetzen werden. Darum wird es auch bei Strafverfolgung und Sühne bleiben.

VI.

Macht man den Versuch, dergestalt einen Blick auf die Landschaft der deutschen Seele zu werfen, so sieht man, daß weite Teile im Schatten, andere im wogenden Nebel liegen.

Das es auch solche gibt, die klar einsichtig sind, weiß jeder Beobachter Deutschlands, auch wenn er dabei nur an die rationalen Bereiche der wirtschaftlichen, technischen und politischen Entwicklung denkt. Vielleicht läßt sich das aber auch von einigen darüber hinaus liegenden Bereichen sagen wie dem religiös-kirchlichen und dem geistig-kulturellen.

In ihnen verbinden sich Glaube und Vernunft in mehr oder weniger überzeugenden Gestaltungen und Dokumentationen des Geistes.

Nietzsche hat dem 20. Jahrhundert vorausgesagt, daß es die Zeit des Nihilismus werden würde. Ich erlaube mir kein Urteil über den geistigen Zustand der Welt in unserer Zeit.

Aber ich glaube, daß es falsch wäre, wenn das Vakuum im derzeitigen Dasein vieler Deutscher kurzweg für Nihilismus gehalten würde. Es ist kein Zweifel zwar, daß es auch heute in Deutschland Nihilismus, ruinösen Nihilismus gibt. Aber das Vakuum, von dem ich spreche, ist etwas anderes. Es besteht aus innerer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, die als Unverbindlichkeit und Unentschiedenheit zutage treten.

Es fehlt ihnen die Kraft zu wirklichem persönlichem Engagement über sich selbst hinaus. Dieser Unverbindlichkeit und inneren Kraftlosigkeit fehlt indessen fast immer jener brutale Egoismus und überhebliche Zynismus, der dem Nihilismus eigen ist. Soweit jene Kraftlosigkeit vor den Härten der Zeit resigniert, neigt sie der „Lust am Untergang" zu, von der ein kritischer deutscher Schriftsteller gesprochen hat. Im ganzen aber scheint mir jenes Vakuum in der derzeitigen nationalen Existenz der Deutschen mehr ein unentschiedenes Offensein für alles Mögliche zu sein als ein zynischer Nihilismus.

Dafür spricht z. B. die Geschichte, die kürzlich ein bekannter deutscher Universitätsprofessor erählte. Er berichtete, daß ihm seine Studenten in Tübingen eines Tages sagten, wie gern sie auch einmal einen jener Fackel-züge machen würden, die in früheren Zeiten an den deutschen Universitäten gang und gäbe waren. Sie wüßten aber nicht, wem sie eine solche Huldigung darbringen sollten, welcher Sache, welcher Idee, welchen Werten. Der Professor wollte mit der Geschichte — wie ich meine — zu Recht dokumentieren, daß Deutschlands Jugend eben nicht nur von rationalen Einsichten leben möchte, sondern daß sie in der Tiefe ihrer Seele nach etwas verlange, für das es sich über die eigene Person hinaus zu leben lohne. Er beschrieb damit etwas von dem Vakuum, von dem hier die Rede ist. Auf diese Geschichte anwortete eine der größten Tageszeitungen unter der Schlagzeile: „Wir brauchen keinen Fackelzug für Werte." Denn — so meinte der Verfasser dieser Antwort — „die einzige, allerdings fundamentale Differenz", die uns vom kommunistischen Osten unterscheide, sei „die Offenheit, die Mehrstimmigkeit und undirigierbare Vielfalt unseres Bewußtseins."

An dieser Antwort ist nicht alles falsch. Sicher aber weigert sich ein großer Teil der Deutschen, ein großer Teil insbesondere der deutschen Jugend, darin den einzigen Unterschied zwischen dem kommunistischen Zwangsstaat und der Welt der Freiheit zu sehen. Sie suchen, ja, sie drängen nach sittlich vertretbaren, großen Konkreationen, nach Gehalten und Gestalten, für die man sich engagieren kann und darf, ohne Gefahr zu laufen, damit noch einmal, wie unter Hitler, mißbraucht zu werden. Die Last der Vergangenheit und nicht nur das leichte Getändel des Alltags um Geld und Spiel stehen ihnen dabei im Wege. Immerhin wird auch bei diesem Stand der Dinge von der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes gewußt, daß der Kampf zwischen Ost und West eben nicht ein herkömmlicher nationaler Machtkampf ist, sondern eine Auseinandersetzung zwischen Ideen und Wert-ordnungen. In ihm steht auch im öffentlichen Bewußtsein Deutschlands noch nicht einmal die physische, sondern die zukünftige geistige Existenz der Menschheit in erster Linie in Frage. Daß diesem Aspekt des heutigen weltgeschichtlichen Ringens der Vorrang zukomme, auch vor ganz berechtigten nationalen Ansprüchen — wie dem auf staatliches Zusammenleben —, das ist eine der politischen sittlichen Einsichten, die dem deutschen Volk heute abverlangt werden.

In Einsichten dieser Art vollzieht sich wiederum jener Wandel der Loyalitäten, von dem ich in anderem Zusammenhang schon gesprochen habe. Das Recht steht über dem Zweck. Die Sache der Freiheit geht auch anderen nationalen Ansprüchen vor. Dies ist übrigens die Grunderkenntnis, von der der deutsche Widerstand gegen Hitler lebte, jedenfalls soweit er im Staatsstreich vom 20. Juli 1944 Ausdruck fand. Ich kann und will nicht sagen, daß der deutsche Widerstand das politische und staatliche Leben im heutigen Deutschland bestimme. Dazu vollzog er sich unter zu außergewöhnlichen Umständen und dazu erlitt er zu hohe Opfer an Kraft und Blut. Dazu griffen auch die westlichen Besatzungsmächte bei der ersten staatlichen Reorganisation nach 1945 zu unbekümmert auf Kräfte und Ideen der Weimarer Zeit zurück. Aber es gibt auch heute in Deutschland eine breite Zustimmung zu jener Grunderkenntnis des deutschen Widerstandes auf vielen Stufen. Aber es gibt eben auch heute noch vielgestaltige Vorbehalte gegen das eigene Engagement. Sie sind charakteristisch für jenes Vakuum, das positiv beurteilt Offensein ist. Offensein freilich auch für das Unmögliche, ausgenommen wahrscheinlich Kommunismus und Faschismus.

Dieses Bild wäre jedoch nicht vollständig, wenn nicht auch noch ein Wort von jenem Teil der deutschen Seelenlandschaft gesprochen würde, der von den religiösen Energien, von den Kräften des Glaubens großer geistiger Traditionen und neuer Ideale gestaltet wird. Die Hinwendung zu den Kirchen und Glaubensgemeinschaften schon in der Zeit des Nationalsozialismus, erst recht aber gleich darnach, war ein Ereignis, das Millionen ergriff. Es erklärt sich nicht nur aus den seelischen Belastungen durch den Nationalsozialismus, durch den Krieg und die Katastrophe. Es erklärt sich auch nicht nur aus den Bedürfnis, nach dem Zusammenbruch des Staates in der Kirche aufgehoben zu sein. Das alles hat dazu beigetragen. Aber in der Bewegung der Zeit und in ihrem Gericht erfuhren eben Ungezählte an sich selber etwas von der Wahrheit Hiobs: „Ich hatte von Dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge Dich gesehen, darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“

Die Intensität dieser Erkenntnis ist von dem sich normalisierenden Alltag abgeschliffen worden. Ich glaube aber nicht, daß sie sich überhaupt wieder aufgelöst hat. Darauf läßt auch schließen die öffentliche Einwirkung religiöser Energien auf den deutschen Alltag und die deutsche geistige Auseinandersetzung. Dem klerikalen Mißbrauch dieser Energien steht die Verfassung entgegen. Sie garantiert gleichermaßen die Rechtsgleichheit wie die Glaubensfreiheit. Sie schließt damit nicht nur die Verwirklichung eines „christlichen Staates" aus, sondern sie verhindert auch, daß der säkulare Staat seiner Struktur wie seinem tatsächlichen Gehalte nach klerikal oder glaubensfeindlich mißbraucht werden kann. 17 Millionen Schicksalsgenossen, denen das Menschenrecht der Selbstbestimmung verweigert wird. Es ist unser Ziel, zusammen mit ihnen im dauernden Verband der freien Welt zu leben und jedem rechtlich Gesinnten ein verläßlicher Partner zu sein. 3. Die Gefahr der Deutschen ist weder die Wiederkehr des Nationalsozialismus in irgendeiner Gestalt, noch die Hinwendung zu Kommunismus oder Revanchismus. Die innere Gefahr Deutschlands ist vielmehr ein noch weithin unbezwungenes geistig-seelisches Vakuum und die verbreitete Illusion, es durch die maximale Befriedigung materieller Bedürfnisse überwinden zu können. Die äußere Gefahr Deutschlands ist die Verweigerung eines sittlich vertretbaren Ausgleichs von selten Sowjetrußlands.

Wandlung der Deutschen? Worin besteht sie? Lassen Sie mich zusammenfassend darauf wie folgt antworten: 1. Sie besteht in der Tatsache einer grundlegenden Wandlung der deutschen Politik. Die Abkehr der deutschen Politik unserer Zeit von der nationalstaatlichen Souveränitätspolitik und die Einfügung des freien Teiles Deutschlands in die Integrationsgebilde der europäischen und der atlantischen Welt ist ebenso geschichtlich erwiesene Wahrheit wie die geistig-religiöse Wandlung in Deutschland. Sie hat nicht nur den Staatsbegriff verändert, sondern sie ist in die Tiefe des nationalen Bewußtseins gedrungen und hat es verwandelt. Sie hat nicht nur eine kritische Distanz vom Nationalsozialismus bewirkt, sondern sie hat zu seiner gewissensmäßigen Verwerfung geführt. Sie hat nicht nur das deutsche Geschichtsbild in Frage gestellt, sondern sie hat auch das geschichtliche Denken der Deutschen verändert. 2 Die Ziele der deutschen Wandlung sollen nach dem Willen aller heute im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, Kräfte und Gruppen keine anderen sein als die Festigung unseres teuer erworbenen freiheitlichen Rechtsstaates. Er ist bereit, nach dem Maße seiner Kraft einzustehen für das, was er an geschichtlicher Last und Verpflichtung zu tragen hat. Die Verwirklichung der nationalen Einheit Deutschlands empfindet er auch als eine menschliche Verpflichtung gegenüber Diese Betrachtung Deutschlands ist mit großen Bedenken unternommen und in dem Bewußtsein durchgeführt worden, daß dabei überhaupt nur einzelne Aspekte ins Bild gebracht und angesprochen werden können. Fast in allem mußten Aussagen gewagt werden, die es sich gefallen lassen müssen, in Frage gestellt oder auch abgelehnt zu werden. Vielleicht ist es dennoch erlaubt zu zeigen, wie ein dem Irrtum unterworfener, aber um Redlichkeit bemühter Deutscher heute Deutschland sieht oder sehen kann.

Ich weiß dabei ganz gut, daß sich fast alles, was ich gesagt habe, auch in das Licht des Zweifels stellen läßt. Niemand braucht sich mir gegenüber erst um Beispiele zu bemühen für Borniertheit, Gedankenlosigkeit, ja selbst für bösartiges Beharren auf all dem, was in dieser Rede verworfen wurde. Das alles gibt es auch heute. Aber es ist nicht typisch, sondern es ist weit eher atypisch. Immerhin, es ist auch da. Es bestätigt sich darin, daß das deutsche Volk weder im Bösen noch im Guten jemals eine in sich identische Einheit war und ist. Das Bild, das ich hier auf dem Boden Israels entworfen habe, stammt aus dem Umgang eines Deutschen mit seinem Volk in sehr verschiedenen Bereichen des äußeren und inneren Daseins. Es mag sein, daß das Licht, in dem es vorgestellt wird, mehr, als ich es selber weiß, aus der Hoffnung und aus dem Glauben kommt.

Sobald ich mir freilich vergegenwärtige, wo und vor wem ich diesen Versuch gemacht ha12 be, fallen mir mit schrecklicher Gewalt wieder einige der Bilder und Dokumente ein, die nicht nur zwischen Ihnen und den Deutschen stehen, sondern zwischen einem großen Teil der Welt und meinem Volk. Diese Bilder der Vergan-genheit genügen, um uns Deutsche zum Schweigen zu bringen. Es ist das Schweigen der Scham und des Herzeleids ungezählter Menschen meines Volkes vor dem Volke Israel. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Robert J. Alexander:

Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Walter Bußmann:

Friedrich Meinecke Jakob Hommes:

Kommunistische und freie Gesellschaft philosophisch kontrastiert K. A. Jelenski:

Die Literatur der Enttäuschung Wanda Kampmann:

Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System der Sowjetunion Frhr. v. Lansdorf:

Sowjetische Wirtschaftspolitik Walter Z. Laqueur:

Rußland mit westlichen Augen Boris Meissner:

Die marxistisch-leninistische Lehre von der «Nationalen Befreiung“ und dem «Staat der nationalen Demokratie“ aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Felix Messerschmid:

Historische und politische Bildung Günther Rönnebeck:

Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung Helmut Schmidt:

Was bedeutet heute eigentlich rechts?

Gerhard Stoltenberg:

Was heißt heute eigentlich links?

Helmut Wagner:

Ich habe nur das Beste gewollt Hermann Weber:

Die Parteitage der KPD und SED Egmont Zechlin:

Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Epstein, Gollwitzer, Herzfeld, Snell:

Dreißig Jahre danach. Hitlers Machtergreifung in der Sicht deutscher und ausländischer Historiker

Fussnoten

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