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Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront und zum Widerstand | APuZ 18/1963 | bpb.de

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APuZ 18/1963 Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront und zum Widerstand Artikel 1

Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront und zum Widerstand

Erich Kosthorst

Die Haltung der deutschen Gewerkschaften ist nach Beendigung des ersten Weltkrieges durch ein neugewonnenes Machtgefühl gekennzeichnet. Es ist das Selbstbewußtsein, das politische Selbstbewußtsein von Verbänden, die eben jetzt, in der Konsequenz der Novemberrevolution, aus der ersten Phase ihrer Geschichte, einer nur widerwillig geduldeten Existenz, in ihre zweite Phase einrücken — als eine nunmehr voll legitimierte, ja bald schon mythisierte Ordnungskraft, die von vie-len Zeitgenossen zur republikanischen Hauptbastion hypostasiert wird und von der man noch eineinhalb Jahrzehnte später, in den Jahren 1932 und 1933, eine tatbereite Verteidigung der Demokratie vielerorts sich erwartet hat. Die Gewerkschaften haben jedoch zur Überraschung vieler ohne bemerkenswerten Widerstand vor Hitler kapituliert und sind von der sogenannten Deutschen Arbeitsfront (DAF) nahezu reibungslos aufgesogen worden, womit das Ende des zweiten Kapitels der Gewerkschaftsgeschichte scharf markiert ist. Die Enttäuschung der damals in die Gewerkschaften gesetzten Erwartungen klingt in man-chen Publikationen der letzten Jahre deutlich nach und wird in der Logik der Prämisse von einem politischen Rocher de bronce der Gewerkschaften folgerichtig zum Schuldspruch wegen politischen Versagens. Auf derselben Ebene, nur auf der anderen Seite des Hügels, bewegt sich der Triumph des Leiters der NSBO, Walter Schuhmann, wenn er nach der Liquidierung der Gewerkschaften seine Überraschung offenbart, daß der von seiner Seite bisher „für unüberwindlich gehaltene marxistische Koloß eigentlich nur ein Luftballon war, der beim ersten gewaltigen Stoß unsererseits die Luft verlor und freiwillig alle die Positionen räumte, die er innehatte"

Diese angenehme Enttäuschung so gut wie jene unangenehme weist unseren Fragen eine Richtung, der wir nachgehen wollen. Um so mehr als die Gewerkschaften sich ihrerseits in ihrem Selbstverständnis keineswegs nur mehr als Arbeitsmarktpartei, sondern zunehmend als eine gewichtige politische Größe ansahen. Offenbar liegt hier ein echtes historisches Problem vor, dessen Erhellung nicht nur Licht auf Ort und Funktion der Gewerkschaften in der Weimarer Gesellschaft allgemein, sondern speziell auf ihr Verhältnis zu Staat und Politik, zur Nation auch, zu werfen vermöchte. Bestimmt diese Fragestellung den Hauptteil des Aufsatzes, so wird im Zusammenhang damit in einem Schlußstück zu erörtern sein, ob, gegebenenfalls in welcher Weise repräsentative Gewerkschaftsführer aus dem Erlebnis des totalitären Staates Folgerungen für eine künftige Neugestaltung der Gewerkschaften gezogen haben. Bei all dem muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß für wichtige Komplexe der beiden Fragenbereiche die Quellenlage noch immer unzulänglich ist das gilt insonderheit für die Schlußperiode des Weimarer Staates für die Ge- nach dem 30. Januar 1933 bis zum Ende der Gewerkschaften, und nicht zuletzt für die Widerstandszeit

Sieht man die Gewerkschaften unter wirtschaftlichem Aspekt, dann sind sie, nach Goetz Briefs, „ein Preis-und Konditionenkartell mit Angebotskontingentierung." Sind sie aber schon in ihrer klassischen Periode bis 1918 nicht im rein wirtschaftlichen Bereich einzugrenzen gewesen, so erst recht nicht in der nun folgenden, in der sie in ihrer Existenz gesichert und befestigt sind. Die traditionelle Sozialfunktion, als Selbsthilfebewegung der Arbeiterschaft einen Modus vivendi im System eines inhuman kapitalistischen Wirtschaftens durchzusetzen und durchzuhalten, verblieb der Gewerkschaft auch jetzt; insofern verblieb ihr auch der existentielle Widerspruch, das liberal-kapitalistische System zu bekämpfen, obwohl dieses zugleich die Grundlage ihrer Existenz war.

Das Gesetz, nach dem sie angetreten, der Impetus zur stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft vornehmlich durch Lohnvereinbarungen, bleibt für die Gewerkschaften wirksam, doch wird mit Kriegsende ihr Aufgaben-und Wirkungsbereich erheblich erweitert und damit auch ihr Habitus verändert. In diesem Zusammenhang wird besonders die institutioneile Verankerung dieser Funktionserweiterung in der Weimarer Verfassung bedeutungsvoll Zwar konnten die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft von den Unternehmern schon längst nicht mehr negiert werden, zwar waren die Gewerkschaften im Laufe des Krieges praktisch schon zu Partnern des Staates geworden, sichtbar im vaterländischen Hilfsdienst seit dem Dezember 1916; doch war die rechtliche Anerkennung ihrer faktischen Stellung nur zögernd gewährt, die noch immer prekäre Koalitionsfreiheit überhaupt erst am 22. Mai 1918 juristisch gesichert worden, über diese eben erst gegebene Rechtsgarantie, die „Lohn-und Arbeitsbedingungen" (RGO) frei aushandeln zu dürfen, geht nunmehr die Weimarer Reichsverfassung entschieden hinaus. Im § 159 RV ist nicht mehr nur von „Lohn-und Arbeitsbedingungen" die Rede, der Staat macht sich hier zum Garanten einer „Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaltsbedin- gungen . . .“ ) Der Artikel 165 RV präzisiert diese Funktionserweiterung noch. Es heißt hier (I): „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn-und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschattlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken." Indem Art. 165 nicht in den aufhebbaren Grundrechtskatalog des Art. 48 (II) ausgenommen wird, bleibt sogar dem Reichspräsidenten ein Eingriffsrecht verwehrt.

So waren also die Gewerkschaften staatlich anerkannte und gesetzlich geschützte Organe der Sozialordnung und der Volkswirtschaft geworden. In dem Maße, in dem entgegen dem klassischen kapitalistischen Modell der Staat zunehmend für die Gestaltung der wirtschaftlichen Bedingungen und sozialen Verhältnisse sich verantwortlich weiß, waren die Gewerkschaften in ihrem neuen legislativ gesicherten Status damit auf den Staat verwiesen. Das will besagen sie waren als die eben definierten Interessenverbände nicht mehr nur allgemeine politische Faktoren, insofern wirtschaftliche und soziale Fragen im modernen Staat immer auch schon eine politische Qualität haben; die Gewerkschaften waren jetzt mehr als je zuvor konkret auf diesen Staat hic et nunc, auf die Nation hingeordnet.

Gewiß hatte die Weimarer Nationalversammwerkschaftshaltung schaftliche Positionen reagiert. Aber die staatliche Legalisierung war doch mehr als nur die zwangsläufige Wirkung eines mechanischen Massendrucks sie schlug ihrerseits eine Schneise nach vorn und stellte den Gewerkschaften durchaus auch eine Aufgabe, die von diesen erst noch zu lösen war. Die Gewerkschaften würden in Zukunft nicht mehr in einem staatsfreien Raum zu operieren haben, Staat und Nation waren ihnen nun geradezu zum Schicksal geworden.

Haben die deutschen Gewerkschaften diesen Befund in ihr Selbstverständnis richtig ausgenommen und künftig entsprechend wirklichkeitsgerecht gehandelt?

Wir sprachen eingangs von einem wachsenden politischen Selbstbewußtsein der Gewerkschaften, das zunächst als unbestimmtes Kraftgefühl wirksam war. Zu untersuchen bleibt die artikulierte Stellungnahme zum neuen Staat sowie die Art des staatsbezogenen praktischen Handelns. Dabei müssen wir nun unterscheiden nach den großen Richtungsgewerkschaften, die für das deutsche Gewerkschaftswesen charakteristisch waren; wir beschränken uns hier auf die größten, die so-genannten freien und die christlichen Gewerkschaften.

Die freien Gewerkschaften

Die freien Gewerkschaften, seit frühestem eng der Sozialdemokratie verbunden, hatten sich bisher wie diese als eine Kampfgruppe der Arbeiterbewegung verstanden, deren gemeinsames strategisches Ziel der von Marx entworfene Sozialismus war. Demgemäß sahen sie sich als ein Klassenkampforgan ebenso wie die sozialdemokratische Partei, mit dem Unterschied freilich, daß die freien Gewerkschaften sich von vornherein pragmatisch mit der gegnerischen Arbeitsmarktpartei der Unternehmer einließen, um immer von neuem soziale Kompromisse auszuhandeln. Dieser Pragmatismus einer alltäglichen Praxis setzte sich als das Lebensprinzip der Gewerkschaften schließlich um so mehr dem revolutionär sozialistischen Vokabular entgegen, als sich die Erfolge häuften und sich der soziale Standard des Arbeiters zusehends besserte. Die sozialistischen Gewerkschaften führten sozusagen eigenhändig die Verelendungstheorie ad absurdum. Dementsprechend wurde die orthodoxe sozialistische Ideologie zuerst in den Gewerkschaften entthront, von hier aus griff der Prozeß einer langsamen Entideologisierung auf die Sozialdemokratie als der politischen Vertretung der Arbeiterschaft über. So ist mit Recht gesagt worden, der Revisionismus sei gewerkschaftlicher Provenienz. Das bewußte Verhältnis zum Staate blieb jedoch auch bei den freien Gewerkschaften zwiespältig. Der Staat, auch derjenige, der dem gewerkschaftlichen Pragmatismus die Basis gab, mit dem man sich von Fall zu Fall arrangierte, galt prinzipiell weiterhin als zu liquidierender Klassenstaat, der durch die Herrschaft der Arbeiterklasse ersetzt werden sollte. Diesem Generalziel einer absolut zu setzenden Arbeiterschaft wollten auch die freien Gewerkschaften mit den ihr eigenen, bewährten Mitteln sozialer und wirtschaftlicher Pression dienen. Die internationale Solidarität der Klassengenossen hatte über nationalen Verbindlichkeiten zu stehen. Der kapitalistische Staat konnte, so verstand sich auch der frei-gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, kein Vaterland sein.

Kaum war jedoch der Krieg 1914 ausgebrochen, als sich die freien Gewerkschaften, noch vor dem Votum der sozialdemokratischen Partei, für die Nation entschieden. Sie hielten an dieser Entscheidung während des ganzen Krieges hindurch fest. „Die Rücksichtnahme der freien Gewerkschaften auf das Nationalgefühl ging so weit, daß sie ihren Mitgliedern internationale Gewerkschaftsabkommen verheim5 lichten." Man kann die politische Bedeutung dieser Haltung für die innerdeutsche Situation kaum hoch genug einschätzen.

Wie wurde ein solches ideologiewidriges Verhalten möglich? Sicher hat die nationale Dynamik alle ideologischen Barrieren einfach überspült; das schlichte Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit und vaterländischer Not-gemeinschaft erwies sich als radikaler denn alles andere. Und doch haben jene Stimmen, die von gewerkschaftlichem Opportunismus reden, nicht gänzlich unrecht. Es gibt vergleichbare Ereignisse, die nachdenklich stimmen: die christlichen Gewerkschaften, staats-bejahend und monarchiefreundlich von Beginn an, hatten noch am 29. und 30. Oktober 1918 unter Hinweis auf die vorbildliche Sozialpolitik dem deutschen Kaiser wie der Monarchie im ganzen eine Gefolgschaft durch dick und dünn zugeschworen — kaum waren die Novembertage verrauscht, stellte sich die christliche Gewerkschaftsleitung auf den Boden des „neuen deutschen Volksstaates" Sieht man darin jedoch nichts als peinliche Gesinnungstüchtigkeit und makabren Opportunismus, so geht man sicher fehl. In diesem zweiten Fall sowohl wie auch im ersten, nur dort nicht so dominant, tritt das Aktionsgesetz der historischen Gewerkschaft zutage, das Gesetz einer pragmatischen Anpassung an gegebene Verhältnisse. Stattdessen von einem gewerkschaftsimmanenten Opportunismus zu sprechen, ist mißverständlich, weil das Wort Opportunismus zu sehr wertbeladen ist. Die Gewerkschaften hatten im Laufe ihrer Geschichte die Erfahrung gemacht, deß ihr Gedeihen nicht in Krisen, sondern nur in florierenden Unternehmungen und in einer florienden Wirtschaft zu finden sei. Daher ihre tiefsitzende Bereitschaft, eine gegebene Situa10) tion zu akzeptieren, um aus ihr das Beste zu machen. Das Sichabfinden mit dem konkreten Staat war vor allem bei den freien Gewerkschaften die Übertragung solcher Erfahrungen aus dem wirtschaftlich-sozialen auf das politische Feld. Man glaubte nur durch zeitige Mitwirkung die eigene Einflußnahme sichern und gegebenenfalls steigern zu können, womit durchaus auch ein allgemeines Verantwortungsgefühl verbunden war.

So kann es auch nur dem Außenstehenden befremdlich erscheinen, wenn die christlich-nationalen Gewerkschaften 1918/19 schnell bereit waren, in den von ihnen grundsätzlich abgelehnten, revolutionsgeborenen Arbeiter-und Soldatenräten mitzuarbeiten 13).

Für die Gewerkschaften war eine solche Mitarbeit kein Sacrificium intellectus, sondern gewohntes Agieren. Dieser eingeborene Pragmatismus hat später auch die Vorgänge des Frühjahres 1933 mitbestimmt. Wir werden darauf zurückkommen.

Bei allem Gewicht des skizzierten gewerkschaftlichen Pragmatismus ist die Option der sozialistischen Gewerkschaftsführung für das Vaterland am 2 August 1914 jedoch eine nationale, keine gewerkschaftliche Tat gewesen. Gewerkschaftliche Tendenzen mochten unterschwellig mitwirken, den Einsatz für die Landesverteidigung erleichtern, entscheidend war das elementare nationale Gefühl. Seitdem war die Nation in das gewerkschaftliche Bewußtsein ausgenommen, und das Erlebnis nationalen Zusammenstehens prägte sich tief ein. Das zeigte sich im Zusammenbruch 1918, das zeigte sich in der Reaktion auf den Versailler Vertrag, das zeigte sich besonders im nationalen Engagement der freien Gewerkschaften in Oberschlesien und im Ruhrkampf.

Doch war damit das Verhältnis zur Nation im Bewußtsein noch keineswegs voll geklärt, war die Zuordnung zu Klassenkampf und Internationale theoretisch noch offen. Die Frage nach der innergewerkschaftlichen Auseinan-dersetzung mit diesem Problem hat historisch ein um so größeres Gewicht, als die sogenannten nationalen Verbände in der Weimarer Republik mehr und mehr Anhänger gewannen und schließlich, um in ihrer Terminologie zu sprechen, als nationale Bewegung über diesen „marxistischen Koloß" obsiegten.

Man kann zumindest sagen, daß die freien Gewerkschaften den Prozeß der nationalen Klärung weiter vorangetrieben haben als die sozialdemokratische Partei, der gegenüber sie sich auf ihrem ersten Nachkriegskongreß 1919 ohnehin ein neues Stück verselbständigten. In der repräsentativen Gewerkschaftszeitschrift stand 1925 in einem Friedrich Ebert gewidmeten Gedächnisartikel zu lesen, daß die Idee der internationalen Einheit der Gewerkschaftsbewegung einer vergangenen Periode der Gewerkschaftsgeschichte zugehöre. Nach dem Kriege sei es für den Sozialismus um die geistige Eroberung der Nation gegangen, um die Weiterführung der Arbeiterbewegung „zur repräsentativen nationalen Bewegung"

Unter solchem Aspekt wird von Lothar Erdmann (Chefredakteur der zentralen Gewerkschaftszeitschrift und Theodor Leipart sehr nahestehend) auch der Heidelberger Programmentwurf der SPD (1925) mit den Ausführungen über den internationalen Sozialismus entschieden kritisiert. Der Sozialismus habe übernational und national zu sein. Die internationale Solidarität finde grundsätzlich und tatsächlich ihre natürlichen Grenzen in der Vertretung der Gesamtinteressen der Nation Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß sich in der Ersetzung des Begriffes international durch übernational der Wandel der Anschauungen besonders deutlich offenbart. Ist der Sozialismus nämlich übernational, so „umfaßt er das nationale Element in seiner Eigenständigkeit und der ihm zukommenden Bedeutung"

Wie weit diese Bewußtseinsklarheit vom Redaktionsstab der führenden Gewerkschaftszeitschrift und der Gewerkschaftsspitze auch in die breite Mitgliederschaft durchgedrungen ist, läßt sich schwer absehen. Sicher erfuhr der Klärungsprozeß von oben nach unten eine abnehmende Beschleunigung, einmal wegen der größeren Beharrungskraft der Basis, zum anderen aber auch wegen des Einflusses widerstreitender Tendenzen, die teils aus der Gewerkschaft selbst kamen, teils aus der Sozialdemokratischen Partei stammten, deren festes Wählerreservoir die freien Gewerkschaften ja ohnehin darstellten. Die Partei löste sich schwerer und weitaus langsamer von ihren ideologischen Wurzeln. So viel ist festzustellen: eine nationale Empfänglichkeit war in den freien Gewerkschaften gegeben, und sie darf für die Interpretation der gewerkschaftlichen Haltung 1933 eben-falls nicht außer acht gelassen werden Gegenläufige oder doch mindestens umbiegend-verunklärende Tendenzen finden sich allerdings innerhalb der gewerkschaftlichen Zielvorstellungen hinsichtlich der Nation in solcher Stärke, daß demgegenüber das nationale Bewußtsein in ein gefährliches Zwielicht geriet. Es erschien in dem Augenblick schon auf nur taktische Positionen zurückgeworfen, wo das alte Klassenkampfrezept auch den gegenwärtigen Weimarer Staat nur als Durchgangsstadium zum Hochziel des Sozialismus zu erkennen vermochte. In der aufschlußreichen Dissertation von Rolf Thieringer ist eine Reihe von Beispielen dafür angeführt Auch der frühzeitige Austritt aus der Zentralarbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern liegt mit auf dieser Linie.

Für den gewerkschaftlichen Funktionär des Mittelbaus und für den gewerkschaftlichen Alltag blieb der Klassenkampfgedanke bestimmend.

Und nach ihm waren der gegenüberstehenden Arbeitsmarktpartei Konzession auf Konzession zu entringen, jede Konzession als Stufe neuer Machterhöhung zu benutzen und schließlich der Gegner nicht nur aus den sozialen, sondern auch aus den politischen Machtpositionen zu verdrängen Die ideologische Absolutsetzung der Arbeiterschaft blieb also geistig wirksam. Die Folge davon war, daß auf der Seite der Gewerkschaften das konkrete nationale Gemeinschaftsgefühl ständig absorbiert wurde von konstruierten, abstrakten Staatsvorstellungen; und daß auf der Seite anderer Volksgruppen der gewerkschaftliche nationale Anspruch als die freundliche Seite eines in Wahrheit doppelköpfigen Gebildes erscheinen mußte. Tatsächlich waren die Gewerkschaften ein konservativ-revolutionäres Doppelwesen auch in dieser Hinsicht.

Als verhängnisvolle Wirkung solcher Zweispältigkeit ergab sich ein unklares Verhältnis zum konkreten Staat der Weimarer Republik, obwohl dieser die Gewerkschaften sehr gefördert hatte.

Die freien Gewerkschaften bejahten die Weimarer Demokratie, das ist nicht zu leugnen; bei näherem Zusehen erweist sich diese Staatsbejahung aber als ideologisch und verbandsegoistisch gehemmt.

„Und dieser Staat wird bejaht, weil im gegenwärtigen Stadium die konzessionierten Rechte nur gesichert erscheinen, solange die Weimarer Republik selbst besteht. Schutz und Bejahung des Staates sind Schutz und Verteidigung der eigenen gewerkschaftlichen Machtpositionen im gegenwärtigen Staat." Man könnte eine solche Haltung noch für unverfänglich halten, wenn sich nicht in Konfliktsfällen mehrfach erwiesen hätte, daß die freien Gewerkschaften ihr partielles Gruppeninteresse auch dann massiv mit der res publica identifizierten, wenn das Risiko des Dammbruches zu gewärtigen stand. So geschah es am 27. März 1930, als durch die kompromißlose Haltung der Gewerkschaftsleitung in der Frage der Kostendeckung für die Arbeitslosenversicherung die letzte parlamentarische Koalitionsregierung zum Scheitern gebracht wurde. Es ist charakteristisch, daß die Gewerkschaften eine solche Haltung auch gegenüber einer von derSPDgeführtenRegierung einnahmen.

Kurz vor der Machtergreifung kommt der Gewerkschaftsvorsitzende Leipart darauf zurück, um zu beweisen, daß sich die Gewerkschaften niemals an eine Regierung bänden

Im ganzen freilich hatten die Gewerkschaften einigen Grund, auch in dem ihnen gegenüber so großzügigen Weimarer Staat auf der Hut zu bleiben: Der Kapp-Putsch hatte die Gefahr einer Restauration ihnen anschaulich vor Augen geführt; die Unternehmer hatten in der Ruhr-Krise versucht, den zum Symbol der sozialen Errungenschaften gewordenen 8-Stunden-Tag anzutasten; im Eisenkonflikt 1928 die staatliche Schlichtung zu annullieren.

Es mochten also Klassenstaatsassoziationen nicht gänzlich unverständlich sein. Aber die Gewerkschaften gaben ihrerseits im norma-len Alltag oft selbst provozierend schlechte Beispiele: Sie nutzten die im Oktober 1923 eingeführte staatliche Schlichtung bei Tarifauseinandersetzungen weidlich aus, indem sie ihre Lohnforderungen so in die Höhe trieben, daß kein freier Kollektivvertrag zustandekommen konnte und der staatliche Schiedsspruch unumgänglich wurde. Das brachte stets einige Prozente an Lohngewinn mehr ein, als man bei dem üblichen Aushandeln zwischen den Arbeitsmarktparteien hätte erwarten können, führte aber naturgemäß zur Verschärfung der Spannungen mit den Unternehmern, die nicht ohne weiteres auf das Konto naturgegebener Klassengegensätze abzubuchen waren.

Eine weitere Versteifung der Fronten trat ein, als die Gewerkschafteil auf ihrem Hamburger Kongreß 1928 ein Aktionsprogramm zur Um-Wandlung des Wirtschaftssystems in eine Wirtschaftsdemokratie vorlegten. Man wollte nunmehr ansetzen zur „Neugestaltung der Gesellschaft". Dazu gehört, so wurde damals in Hamburg ausgeführt, „daß alle einzelnen Anstrengungen und sozialen Kämpfe durch den einheitlichen Willen und alle Teilforderungen durch einen Grundgedanken zusammengefaßt werden. Aus diesem Bedürfnis entsteht nun das Programm der Wirtschaftsdemokratie: durch Demokratisierung der Wirtschaft zum Sozialismus"

Wenn schon die christlichen Gewerkschaften zu den vorgebrachten Plänen kritisch anmerkten, dieses Konzept der Wirtschaftsdemokratie intendiere nicht die Überwindung, sondern die Beherrschung der kapitalistischen Wirtschaft durch die Gewerkschaften, bedeute „nichts anderes als die Erweiterung gewerkschaftsorganisatorischer Macht" dann kann man sich leicht vorstellen, wie die Unternehmer und insgesamt bürgerliche Kreise reagiert haben. Von jetzt an wurde jeder sozialpolitische Vorstoß der freien Gewerkschaften mit verstärktem Mißtrauen beobachtet und schnell als Teilstück eines Umfassungsangriffs gewertet. Die soziale Spaltung der Nation, die an der Schwelle neuer schwerer Krisen stand, war also vertieft.

Bevor wir jedoch das Verhalten der Gewerkschaften in der. krisengeschüttelten Schlußphase der Weimarer Republik erörtern können, müssen wir uns noch die reale Stärke der Gewerkschaften vor Augen führen.

Das Machtgefühl der Gewerkschaften war nicht nur durch die institutionell gefestigte und legalisierte Stellung, durch die Erweiterung der Funktionen, durch die Mitwirkung in Arbeitsrecht und Sozialversicherung, sondern auch und nicht zuletzt durch den gewaltigen Mitgliederzuwachs bedingt. Der Mitgliederstand der freien Gewerkschaften stieg von 1, 2 Millionen im Jahre 1917 auf 7, 3 Millionen 1919, erreichte 1920 seinen höchsten Stand mit 8 Millionen, sank bis 1924 auf seinen niedrigsten Stand mit 3, 9 Millionen, um dann bis 1932 zwischen 4 und 5 Millionen Mitgliedern zu pendeln. Die christlichen Gewerkschaften hat-ten 1917 rund 290 000 Mitglieder, gewannen 1919 eine Million, gingen 1924 auf 600 000 Mitglieder zurück und blieben fortan etwa auf dieser Höhe stehen. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften zählten 1920 220 000 Angehörige und hielten von 1924 an einen durchschnittlichen Mitgliederstand von 150 000

Sieht man diese Zahlen zusammen, erkennt man ein bedeutsames Wahlpotential von durchschnittlich 5 bis 6 Millionen Stimmen. Das ist bei rund 40 Millionen Wahlberechtigten ein Sechstel bis ein Siebtel. Da diese Stimmen mit Löwenanteil der SPD, unter den übrigen Parteien vor allem dem Zentrum zugute kamen, ist es nicht verwunderlich, wenn in den Fraktionen der genannten Parteien die Gewerkschaftsvorstände stark vertreten waren und dort ein gewichtiges Wort mitzusprechen hatten, überdies bildeten beide Parteien regelrechte Gewerkschaftsflügel aus, bei der SPD die rechte Seite, beim Zentrum die linke Seite verstärkend. So reichte der lange Arm des voluminösen Gewerkschaftskörpers auch direkt in die Politik hinüber.

So sehr die numerische Stärke ein politisches Kraftgefühl fördern mußte, die Quantitätssteigerung war ambivalent. Die Gewerkschaften waren vor dem Kriege unbestreitbar gut geschulte und disziplinierte Arbeiterschaftskader gewesen, denen Stresemann im April 1919 nachrühmte, sie hätten mehr von Politik verstanden als die akademischen Bürger Im Rückblick auf den immensen Mitgliederzuwachs hat Theodor Brauer, der führende Theoretiker der christlichen Gewerkschaften, gesagt, die Gewerkschaften seien nie schwächer gewesen als im Augenblick ihrer größten Stärke. Zwar stieg die Mitgliederkurve in den späteren zwanziger Jahren ab, doch waren die Zahlen noch immer recht hoch, weit über den kritischen Werten, auf die die Gewerkschaften vor dem Weltkrieg eingestellt gewesen waren und die es gerechtfertigt hatten, von einer elitären Arbeiterauslese zu sprechen. Die Folge des Massenzulaufes war jetzt zwangsläufig eine Bürokratisierung. Auch ein solcher Sachverhalt will beachtet sein, will man den Zusammenbruch 1933 verstehen. Nicht zuletzt im Hinblick darauf haben die Gewerkschaftsführer selbst nie den 1920 gegen den Kapp-Putsch angesetzten und damals unter günstigsten Umständen erfolgreichen Generalstreik als ein all-zeit verfügbares prophylaktisches Mittel angesehen, das man bei Existenzbedrohungen oder Staatsgefährdungen jederzeit aus der Kiste holen könnte. Erwartungen dieser Art sind dagegen von außen als Hoffnungen oder Befürchtungen mit den Gewerkschaften verbunden worden. Sie zeigen, wie sehr die seit dem Kapp-Putsch erfolgte Mythisierung der Gewerkschaften zu einem Politikum geworden war, das bis zum Ende der Weimarer Zeit wirksam blieb.

Halten wir an dieser Stelle einen Augenblick inne und führen uns die wichtigsten Punkte der bisherigen Darlegungen erneut vor Augen:

Die freien Gewerkschaften als mächtigster Arbeiterinteressenverband standen keineswegs mehr außerhalb der Nation und fühlten durchaus national. Dennoch blieb der begonnene Prozeß nationaler Bewußtseinsklärung ideologisch gehemmt, wurde die Nation als Schicksalsgemeinschaft verschiedener gleichberechtigter Gruppen nicht genügend klar gesehen. Das alte Klassenkampfschema und traditionelle sozialistische Zielvorstellungen griffen weiterhin in die gewerkschaftliche Pragmatik hinein, verschärften ihrerseits die wachsenden Gruppenspannungen und störten auch die volle Bejahung des konkreten Staates, obwohl dieser mehr und mehr zur Schicksalsmacht wurde. Dem Bürgertum wurden die Gewerkschaften nicht nur wegen ihrer permanenten Forderungen zunehmend lästig, sondern als politische Sphinx unheimlich.

Die christlichen Gewerkschaften

Die christlichen Gewerkschaften können jetzt nur noch gestreift werden. Zahlenmäßig weit schwächer als die freien Gewerkschaften, darf man sie jedoch nicht in ihrer Bedeutung unterschätzen, zumal sie ihr Hauptverbreitungsgebiet in den wichtigen westfälischen und rheinischen Industriegebieten hatten und dort dem konkurrierenden Verband nicht erheblich nachstanden In den Mittel-und Kleinstädten, ihrem eigentlichen Reservoir, waren sie sogar meist stärker Sie wollten nach den Worten langjähihres rigen Vorsitzenden Jakob Stegerwald „deutsch, christlich, demokratisch, sozial" sein. Auf diese von Stegerwald 1920 ursprünglich für die geplante neue Volkspartei beanspruchten Attribute berief man sich bis in die letzten Tage der Republik immer wieder. Tatsächlich waren die christlichen Gewerkschaften von Grund auf national; das nationale Bewußtsein hatte neben dem christlichen Element überhaupt zur Gründung einer so firmierten Gewerkschaftsgruppierung verhülfen, die sich demgemäß von den sozialistischen Gewerkschaften betont absetzte. National, das wollte über den allgemein üblichen Begriff hinaus noch besagen, daß die christliche Arbeiterschaft den Klassenkampf ablehnte, sich in gar keiner Weise absolut setzen wollte und Sich als ein Organ neben anderen des Volkskörpers sah. Um diese „Organstellung", wie Sie es nannten, zu konkretisieren und ihren sozialen Ort im Volksganzen, im „Volksstaat", zu bestimmen, adaptierten sie aus der Soziallehre die berufsständische Theorie, kamen aber dabei bis zu ihrem Ende nicht zu voller Klarheit und haben sich nie in toto für sie entschieden. Die sich zum Schluß in ihren Reihen häufenden Bekenntnisse zur berufsständischen Ordnung haben m. E.den Charakter einer Flucht nach vorn, wie wir später noch sehen werden.

Das Bekenntnis zur Demokratie war als Bekenntnis zum „deutschen Volksstaat“ nicht gleichbedeutend mit einer vollen Anerkennung des Weimarer Staates. Deutsch bedeutet, so hatte Stegerwald auf dem ersten Nachkriegskongreß 1920 ausgerufen, „daß die Form unserer Verfassung, daß unsere Rechtsanschauungen in der deutschen Geschichte; nicht aber in den aus fremden Verfassungen herbeigeholten Paragraphen einer Notverfassung liegen. Die deutsche Demokratie ist für uns die Demokratie der Selbstverwaltung. Mit ihrer Verwirklichung wollen wir etwas grundsätzlich anderes als die formale Demokratie des französischen Zentralismus" Die in dieser von Brüning und Brauer mitformulierten Rede ausgesprochene und später oft erneuerte Reservatio ist unüberhörbar. Ihre Bedeutung wurde noch dadurch verstärkt, daß der mit den christlichen Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossene Deutschnationale-Handlungsgehilfenverband (DHV) verfassungspolitisch unverkennbar konservativ-restaurative Tendenzen zeigte. Stegerwald sah sich, auf dem Zentrumsparteitag 1925 wegen seiner Offenheit nach rechts angegriffen, veranlaßt, mit der Erklärung um Verständnis zu werben, daß er in der christlichen Gewerkschaftsbewegung Hun-derttausende von Mitgliedern habe, „die sich nicht ohne weiteres zur Republik bekennen und zwar nicht bloß im evangelischen Lager" „Hunderttausende", das braucht man nicht wörtlich zu nehmen; was aber den DHV angeht, der vornehmlich gemeint war, so machte er immerhin 80 Prozent der den christ-lichen Gewerkschaften angeschlossenen Angestelltenverbände aus, und im Reichstag 1930/32 stellte er der NSDAP-Fraktion bereits 16 Mitglieder. Damit waren ein ganzes Drittel aller im Reichstag befindlichen Gewerkschaftsmitglieder aus dem DGB, nämlich 16 von 47 Abgeordneten, Nationalsozialisten Eine sol-che Bundesgenossenschaft war in der Entscheidung 1933 alles andere als eine Stärkung der Abwehrfront gegen Hitler. Wenn im Haus des deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Berlin am 1. Mai 1933 eine große Hakenkreuzflagge aus den Fenstern des DHV das darunterliegende Stockwerk der christlichen Gewerkschaften überschattete, so liegt darin eine aufschlußreiche Symbolik. Verhängnisvoller ist im ganzen jedoch sicher die auch von den christlichen Gewerkschaften nur mit halbem Herzen gegebene Stützung des Weimarer Staates gewesen, so sehr auch Reformen an sich wünschbar sein mochten.

So standen schließlich alle Gewerkschaftsorganisationen, obschon aus verschiedenen Motiven, diesem Staat innerlich reserviert gegenüber. Was sollte nun werden, wo im Laufe der großen, Ende der zwanziger Jahre anhebenden wirtschaftlichen und politischen Krise die Nationalsozialisten zur kalten Eroberung dieses Staates sich anschickten? Für das traditionelle Gewerkschaftswesen hatten diese Leute bisher keine sonderlichen Sympathien gezeigt. Die Gewerkschaften spürten die Gefahr durchaus. Konnte das reservierte und an die Gewerkschaftsbelange gekoppelte Staatsinteresse ausreichen, eine Verfassung retten zu helfen, die man nicht liebte, von der man sich aber immerhin geschützt wußte? Würden sich die Gewerkschaften gegen einen Diktator zur Wehr setzen, der ihre Privilegien, ihre Stellung antastete? Oder ließ sich bei gutem Willen auch in einem nationalsozialistischen Staat eine Chance für die Gewerkschaften erkennen, für die man die Organisation retten mußte?

Nationalsozialismus und Gewerkschaften, NSBO

In den letzten Jahren ist mehrfach von kompetenter Seite auf die erstaunliche Übereinstimmung hingewiesen worden, die zwischen den elementaren Gedanken von Hitlers „Mein Kampf" und der späteren nationalsozialistischen Herrschaftspraxis besteht. Auch für die Behandlung des Gewerkschaftsphänomens besteht eine solche frappierende Folgerichtigkeit. Was Hitler im ersten Band seines Buches über seine Wiener Erfahrungen mit den Gewerkschaften abschließend erklärt, bleibt tatsächlich für ihn gültig: „Im Laufe der Jahre hat sich meine Anschauung über sie erweitert und vertieft, zu ändern brauchte ich sie nicht."

In „Mein Kampf" billigt Hitler der Gewerkschaftsbewegung die historische Funktion einer notwendigen sozialen Selbsthilfebewegung der Arbeiterschaft zu, die von ihr auch bis etwa zur Jahrhundertwende sinnvoll wahrgenommen worden sei. Von da an sei sie jedoch nur noch „als Ramme des Klassenkampfes" anzusehen, als Instrument der Sozialdemokratie zur Zertrümmerung der nationalen Wirtschaft „um so dem Staatsbau, nach Entzug seiner wirtschaftlichen Grundmauern, das gleiche Schicksal leichter zufügen zu können" 35). Einen — wenn auch latenten — Prozeß der zunehmenden Entideologisierung und Verselbständigung der Gewerkschaften anerkennt Hitler nicht; wie auf anderen Gebieten generalisiert er auch hier für dauernd persönliche Vorweltkriegserfahrungen. Entgegen den eben zitierten eindeutigen Formulierungen läßt Hitler bei näherem Zusehen das Phänomen der Gewerkschaften jedoch in einer merkwürdigen und wohl nicht nur taktisch bedingten Schwebe. Im zweiten Bande seines Werkes, der 1927 herausgekommen ist, rekurriert er erneut auf den sozialpolitischen, nicht-klassenkämpferischen Kerngehalt der Gewerkschaften und erklärt sie „zu den wichtigsten Einrichtungen des wirtschaftlichen Lebens der Nation", die unter den derzeitigen Umständen unentbehrlich seien Offenbar geht es bei Hitler aber weniger um eine Würdigung der gewerkschaftsgemäßen sozialpolistischen Tätigkeit als solcher; die Legitimierung der Gewerkschaften liegt nach ihm in ihrer, wie er es nennt, nationalpolitischen Bedeutung. Die Begründung für diese These ist nun höchst bemerkenswert. Nach Hitler führt die soziale Selbsthilfebewegung der Gewerkschaften im Endeffekt zu einer Stärkung der „gesamten Widerstandskraft" des Volkes „im Daseinskampf" insofern sie mithelfe, „die sozialen Voraussetzungen zu schaffen, ohne die eine allgemeine nationale Erziehung gar nicht zu denken ist. Sie erwirbt sich höchstes Verdienst, indem sie durch Beseitigung sozialer Krebsschäden sowohl geistigen als aber auch körperlichen Krankheitserregern an den Leib rückt und so zu einer allgemeinen Gesundheit des Volkskörpers mit beiträgt."

Ganz offensichtlich ist das hier erkennbare Interesse Hitlers an den Gewerkschaften kein originär soziales, sondern ein national-völ-kisches. Was Ernst Nolte zur Phänomenologie des NS ausgeführt hat, wie sehr nämlich der sachliche Gehalt des Begriffes „Sozialismus" von dem des „Nationalismus" aufgesogen werde zeigt sich in Hitlers Betrachtung zur „Gewerkschaftsfrage" vielleicht überhaupt am deutlichsten.

Die sozialpolitische Aufgabe der Gewerkschaften wird in Hitlers Gedankengang also zum Vehikel nationaler Kraft. Diese Funktion bleibt den Gewerkschaften auch im künftigen NS-Staat zugewiesen, doch wird ihr Wirkmodus sich insofern verändern, als sie dort „Bausteine des künftigen Wirtschaftsparlaments bzw.der Ständekammern" sein werden. Der Streik entfällt dann als Kampfmittel, weil der völkische Staat Gerechtigkeit für alle verbürgt und die Unternehmer und Arbeiter im Bewußtsein der Volksgemeinschaft ihre Probleme anstatt in Lohn-und Tarifkämpfen friedlich in Ständekammern und in einem zentralen Wirtschaftsparlament lösen werden. Mit solchen an Othmar Spanns Lehren angelehnten ständischen Perspektiven wird der NS anfangs der dreißiger Jahre sich in einer breiten Bewegung des „konservativen Protestes" finden und Illusionen, auch im Lager der Gewerksdiaftsbewegung, nähren.

Wenn Hitler dennoch keine nationalsozialistischen Gewerkschaften aufbaut, dann tut er das aus mehreren Gründen nicht, zunächst aus der nüchternen Einschätzung der geringen Chancen, neben den anderen sich durchzusetzen. Eine nationalsozialistische Gewerkschaft sollte nach Hitlers Willen von vornherein auf Ausschließlichkeit eingestellt werden. Denn, so erklärt er mit Nachdruck, „eine nationalsozialistische Gewerkschaft neben anderen ist sinnlos. Denn auch sie muß sich durchdrungen fühlen von ihrer weltanschaulichen Aufgabe und der aus dieser geborenen

Verpflichtung zur Unduldsamkeit gegen andere ähnliche oder gar feindliche Gebilde und zur Betonung der ausschließlichen Notwendigkeit des eigenen Ich. Es gibt auch hier kein Sich-Verständigen und keinen Kompromiß mit verwandten Bestrebungen, sondern nur die Aufrechterhaltung des absoluten alleinigen Rechtes. ’

Die Gewerkschaften, auch die christlichen Gewerkschaften, waren von Natur sehr mißtrauisch gegenüber berufsständischen Ordnungsmodellen — nun noch solche Totalitätsansprüche für eine nationalsozialistische Gewerkschaft innerhalb einer berufsständischen Ordnung! Welche Hoffnungen konnten sich die Gewerkschaftsführer wohl noch machen, wenn sie diese Ausführungen lasen? Sie haben sie aber so wenig gelesen wie fast alle anderen Betroffenen auch. Wir brauchten also Hitlers Darlegungen deswegen kaum zu rekapitulieren, sie waren für die Gewerkschaftler keine Größe, der sie sich gestellt haben. Dennoch muß ein solches Versäumnis auch in diesem Zusammenhang einfach festgestellt werden. Darüber hinaus geht es aber vor allem darum, das nationalsozialistische Verständnis der Gewerkschaftsfrage uns vorzuführen, das sich an Hitlers Autorität orientierte. Wieviel skeptischer hätten die Gewerkschaftsführer erst werden müssen, wäre von ihnen wahrgenommen worden, was Hitler gegen Schluß seines Gewerkschaftskapitels als weiteren Grund für sein Zögern, eigene Gewerkschaften ins Leben zu rufen, angibt: die Über-zeugung nämlich, „daß es gefährlich ist, einen großen politisch-weltanschaulichen Kampf zu frühzeitig mit wirtschaftlichen Dingen zu verknüpfen. Denn hier wird in einem solchen Falle das wirtschaftliche Ringen sofort die Energie vom politischen Kampf abziehen. Sowie die Leute erst die Überzeugung gewonnen haben, daß sie durch Sparsamkeit auch zu einem Häuschen gelangen könnten, werden sie sich bloß dieser Aufgabe widmen und keine Zeit mehr erübrigen zum politischen Kampf..

Als historisches Beispiel für seine These führt Hitler dann die Novemberrevolution an, die, wie er richtig feststellt, nicht von den Gewerkschaften gemacht wurde, sondern sich gegen diese durchsetzte. Und er schließt den Gedanken ab mit dem aufschlußreichen Satz: „Es könnte dann leicht dahin kommen, daß gewerkschaftliche Momente die politische Bewegung lenkten, statt daß die Weltanschauung die Gewerkschaft in ihre Bahnen zwingt. * 44)

Es drängt sich uns die Erinnerung an Lenins These auf, daß die Arbeiterschaft aus eigenen Kräften nur zu einem gewerkschaftlichen Bewußtsein zu gelangen vermöge und deswegen der revolutionäre politische Wille von außen in sie hineingetragen werden müsse. Bei allem Antimarxismus, wie er zum Wesen des NS gehört, wird doch immer wieder eine politische Verwandtschaft sichtbar.

Mit dem Erscheinen des zweiten Teils von „Mein Kampf" war für die NSDAP zwar noch keine volle Klarheit in der Gewerkschaftsfrage gewonnen, doch war der gröbsten Unsicherheit, wie sie sich vordem gezeigt hatt, gesteuert. Sehr bald — 1927 — wurden, von Berlin augehend, nationalsozialistische Betriebszellen gegründet und von Reinhold Muchow, einem Idealisten und begabten Organisator, in einem später für die Reichsorganisation übernommenen Organisationsplan gegliedert. Die einheitliche Reichs-Betriebszellen-Organisation war aber erst im Januar 1931 geschaffen, nachdem im Laufe der sich steigernden Krise nunmehr auch ein stärkerer Zulauf von Arbeitern sich einstellte

Die Gründung der NSBO war nicht auf „Führerbefehl"

erfolgt, man trifft den Sachverhalt eher, wehn man sagt, sie sei von Hitler zugelassen, geduldet worden. Die Gewerkschaftsfrage War eben noch „nicht restlos gelöst" wie es in „Mein Kampf" hieß. Wohl aber spielte Hitlers dort ausgesprochene Empfehlung, in den traditionellen Gewerkschaften zu verbleiben und in ihnen destruktiv zu wirken, für die NSBO die Rolle des Organisationsprinzips.

Der Verband wurde straff hierarchisch nach dem Führer-und Gefolgschafts-System gegliedert wie alle anderen NS-Formationen auch. Sie war seit Mitte 1932 eine Hauptabteilung (VI) der Parteiorganisation, deren Leitung Gregor Strasser innehatte. Damals zählte die NSBO etwas mehr als 100 000 Mitglieder. Jeder in einem Industriebetrieb tätige Nationalsozialist war vorerst verpflichtet, der NSBO beizutreten, und hatte nach ihren Weisungen in seinem Betrieb Parteiagitation zu betreiben. So war die NSBO nicht etwa nur eine der Partei nahestehende, mit ihr gemeinsam operierende Organisation, sondern ein direktes Organ der Partei selbst, keine Gewerkschaft. Auch hier wird wieder eine Verwandtschaft, diesmal eine Verwandtschaft in der Methodik, mit dem kommunistischen Gegenpol erkennbar; die NSBO ist der kommunistischen „Revolutionären Gewerkschaftsopposition" (RGO) nicht unähnlich, wahrscheinlich dieser sogar direkt nachgebildet.

Entgegen späteren schematisierenden Vorstellungen war die NSBO jedoch nicht lediglich ein fremdgesteuertes, mechanisch bewegtes Gebilde, sie nahm im Betriebsalltag durchaus auch ernsthafte gewerkschaftlich-soziale Tendenzen auf, ihr Eigengewicht vergrößerte sich; ja, es wurden von den Gruppen um Gregor Strasser und Reinhold Muchow sogar Sozialrevolutionäre Pläne in sie eingebracht, die in ihrer seit 1931 bestehenden Wochenschrift „Arbeitertum" offen zum Ausdruck kamen, Das „liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem* sollte danach beseitigt, nach Absetzung der „Hyänen der Wirtschaft" die Großindustrie vergesellschaftet werden; die traditionellen Gewerkschaften sollten, ihrer alten Führung entledigt und zu einer Einheitsorganisation umgebaut, ein Pfeiler des schon in Hitlers Buch genannten Ständeparlaments werden. Der umerzogenen Arbeiterschaft gebührte nach der Intention dieser Kreise überhaupt die beherrschende Stellung im neuen Staat Wohl gerade im Hinblick auf die hier durchbrechenden Tendenzen glaubte Hugenberg auf der Reichsführertagung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) im Juli 1932 vor dem Nationalsozialismus warnen zu müssen, weil er in der Gefahr stünde, sich sozialistisch zu entwickeln und daher für Deutschland ebenso bedrohlich sei wie der Marxismus.

Offenbar schien sich auch in Hitlers Augen der soziale Ballast seines Schiffes zu verstärken, das er vornehmlich vor dem nationalen Wind zu halten gedachte. Um bestimmte Befürchtungen bei den Unternehmern zu zerstreuen, erklärte er am 18. Mai, schon zwei Monate vor Hugenbergs Warnruf, vor einem Kreis von befreundeten Wirtschaftlern, daß er neben den Parteien auch die Gewerkschaften zu beseitigen gedenke Ob Hitler inzwischen in der Gewerkschaftsfrage zu einem endgültigen Entschluß gekommen war, bleibt dennoch ungewiß. In einer neuen Zusammenkunft mit Unternehmern fast ein Jahr später, am 20. Februar 1933, sprach er nur von einer notwendigen nationalsozialistischen Kontrolle der Gewerkschaften Auch rechnete der gut orientierte Reichsverband der deutschen Industrie noch Anfang April 1933 weiterhin mit Gewerkschaften. Krupp von Bohlen und Halbach wollte, nachdem er sich am 6. April außerordentliche Vollmachten vom Präsidium hatte geben lassen, die Beziehungen zu den Gewerkschaften künftig in der Weise regeln, daß eine ständige Zusammenarbeit mit ihnen nach dem Muster der alten Zentralarbeitsgemeinschaft gewährleistet würde. Erst im Laufe des April wurden solche Pläne fallen gelassen, weil die führenden Ruhrindustriellen jetzt erst den Gewerkschaften keine Chance mehr gaben und sie als Quantite negligeable ansahen

Bis dahin war die NSBO, die nach den März-wahlen getreu ihrem Gleichschaltungskonzept die Gewerkschaften durch gewaltsame Aktionen in ihre Hand bringen wollte, mehrfach zurückgepfiffen worden, zuletzt noch durch einen Erlaß der politischen Zentralkommission der NSDAP vom 7. April 1933, der von Rudolf Heß unterzeichnet war Erst am 16. April erteilte Hitler schließlich seine endgültige Genehmigung für die Zerschlagung der freien Gewerkschaften am 2. Mai 1933.

Die Gewerkschaften in der Phase der Präsidialkabinette

Wenden wir uns nach diesem Exkurs wieder den freien und christlichen Gewerkschaften zu. Wir knüpfen an unsere Feststellung an, daß beide Gruppen mit einem ungefestigten Staatsverhältnis in die große wirtschaftliche und politische Krise hineingingen.

Die ansteigende Wirtschaftskrise nahm ihnen zunehmend Mitglieder, den freien Gewerkschaften einige Hunderttausend, den christlichen Gewerkschaften nahezu im gleichen Verhältnis einige Zehntausend; doch sind diese Zahlen unerheblich. Die sich vergrößernde Arbeitslosigkeit traf sie weitaus schwerer. Viele Gewerkschaftsangehörige waren bald ohne Arbeit über den andern schwebte das Damoklesschwert. Wo man in der Bedrohung steht, seinen Arbeitsplatz ebenso zu verlieren wie die vielen anderen, die aus-zehrende Resignation der anderen vor Augen, gar nicht zu reden von der Not der be-troffenen Familien, da vermeidet man natürlicherweise alles, was die so kostbare Arbeitsstelle gefährden könnte. Die Mobilität der Gewerkschaften nahm in solcher Lage naturgemäß ab, der Streik wurde zu einer stumpfen Waffe, der Generalstreik vollends ein unabsehbares Risiko.

Zugleich mit solcher Belastung sahen sich die Gewerkschaften vor andere schwierige Probleme gestellt. Der Staat, dem sie in den zwanziger Jahren in der Gunst der Verhältnisse so viel sozialpolitische und wirtschaftliche Verantwortung zugebilligt hatten, — dieser Staat war in der Krise nunmehr zu einschneidenden sozialpolitischen Restriktionen gezwungen. Was sich einst günstig für die Gewerkschaften ausgewirkt hatte, etwa der staatliche Eingriff in Form der Schlichtung von Tarifauseinandersetzungen, was einst auch kräftig von den Gewerkschaften ausgenutzt worden war, begann sich nunmehr gegen ihre partikulären Interessen zu kehren. Ja, schließlich begannen sich unter der Kanzlerschaft Papens die sozialpolitischen Pläne der Staatsleitung von den gewohnten gewerkschaftlichen Vorstellungen erheblich zu entfernen, selbst das traditionelle Tarifrecht wurde in Frage gestellt. Was sollten in solcher Lage die Gewerkschaften tun? Ihr Operationsfeld war generell beschnitten, ihre Aktionsfähigkeit war zudem konkret gehemmt, außerdem war die Notlage der gesamten res-publica nicht zu übersehen.

Hatte man sich unter Brüning und seinen Notverordnungen noch durchlavieren können, die freien Gewerkschaften mit einigem Zähneknirschen, die christlichen Gewerkschaften mit weitreichendem Vertrauen für ihren ehemaligen Geschäftsführer (des DGB), so waren mit Papen die Gewerkschaften vor grundsätzliche Entscheidungen gestellt. Damit ist nicht der „Preußenschlag" Papens gemeint, ihn nahm die Gewerkschaftsführung entsprechend dem pragmatischen Gesetz der Bewegung und c’em Legalitätsprinzip ohne tiefere Konflikte hin; gemeint ist die Absicht Papens, u. a. die Stellung der Gewerkschaften im Staat neu zu ordnen. In der Interpretation der Notverordnung „zur Belebung der Wirtschaft" vom 4.

September 1932, nach der die Unternehmer die Tariflöhne unterschreiten durften, wurde den Gewerkschaften offiziell für diesen Fall das Streikrecht bestritten, ihnen die Friedenspflicht auferlegt im Interesse staatlich angegeordneter Maßnahmen zur Rettung des Gan-zen.

Das war die Entscheidungssituation! Dadurch, daß die freien Gewerkschaften auswichen — die christlichen stellten sich vorerst noch nicht —, und dadurch, daß die Regierung Papen sehr bald schon abgelöst wurde, war das grundsätzliche Problem nur aufgeschoben;

die unklare verfassungsmäßige Stellung der Gewerkschaften als privatrechtlicher Verbände mit öffentlich-rechtlichen Funktionen drängte jetzt nach einer Klärung.

In den gleichen Monaten stand das in den Erfahrungen der Krise geborene neue Wirtschaftsprogramm der freien Gewerkschaften, veröffentlicht im Juli 1932, zur Debatte. Die darin erhobene Forderung nach staatlicher Planwirtschaft übrigens so wenig als möglich mit marxistischen Vokabeln vorgetragen, bedeutete in der Logik des Gedankengangs das Aufgeben der Gewerkschaften als der traditionellen wirtschaftlich-sozialen Kampforganisation der Arbeiterschaft. Waren die Gewerkschaften sich dieser Konsequenzen bewußt? Sie wurden schnell darauf aufmerksam gemacht, und zwar von den Journalisten des Tat-Kreises, die das Wirtschaftsprogramm zustimmend besprachen und die Gewerkschaften aufforderten, sich „einmal Gedanken zu ma-chen . . . welche Stellung, Funktion und Aufgabe als staatstragende Körperschaft sie sich selbst in diesem Staat vorbehalten wollen" Mit solchen Überlegungen war auch der dem Tat-Kreis nahestehende Kurt von Schleicher befaßt, schon als Reichswehrminister unter Papen hatte er im Gespräch mit dem Bundes- Vorstand der freien Gewerkschaften und zugleich mit dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, an den Parteien vorbei aktiv eine Entwicklung vorwärtszutreiben versucht, in der den Gewerkschaften noch mehr öffentlich-rechtliche Funktionen zufallen, dafür aber auch die staatlichen Direktivrechte erweitert werden sollten. Als Kanzler bemühte er sich erst recht, die Gewerkschaftsachse einem neuen staatlichen System einzuziehen, doch ist er vorzeitig gescheitert, nachdem vor allem seine Hoffnungen auf eine Spaltung der NSDAP mit Hilfe des in ernsthafter Weise sozial engagierten und auch gewerkschaftlich interessierten Gregor Strasser sich zerschlagen hatten. Strasser hatte nicht die Kraft, sich gegen Hitler durchzusetzen; mit der Niederlegung seines Amtes als Organisationsleiter der Partei am 8. Dezember 1932 schaltete er sich selbst aus. Die damals wohl überschätzte, sicher aber nicht geringe Zahl der Strasser-Anhänger wurde von Hitler absorbiert; für Schleicher, aber auch für die Gewerkschaften, war damit eine Schlacht verloren. Schleicher war bald infolge der wirksamen Intrigen seines Amtsvorgängers Papen in der Lage eines Getriebenen, dem keine Zeit mehr blieb, die gewünschte Annäherung an die Gewerkschaften eindringlich und geduldig genug zu betreiben. Die christlichen Gewerkschaften waren sofort zu ernsthafter Zusammenarbeit bereit, die freien Gewerkschaften brauchten trotz ihrer 1932 wieder verstärkten Hinwendung zu Nation und Volk einfach mehr Zeit. So mußte schon wegen dieses Zeitfaktors die Entwicklung über das Schleicher’sche Konzept hinwegrollen; das vielberufene Sich-vferweigern des SPD-Vorstandes gegenüber der Bereitschaft der Gewerkschaftsführung ist sicher nicht der alleinige Grund für das Nichtzustandekommen der Gewerkschaftsachse.

Auf keinen Fall ist der Präsidialcharakter der Regierung ein Hinderungsgrund für eine mögliehe Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften und Schleicher gewesen; der „Autoritätsgedanke" wurde von den Gewerkschaften sogar ausdrücklich gebilligt. Bei den christ-lichen Gewerkschaften war der Zug zum star-ken, über Parteien und Interessen stehenden, objektiven und schiedsrichterlichen Staat schon von jeher deutlich und fand nun verstärkt Nahrung und Ausdruck.

Man hat gesagt, daß in den letzten Wochen vor dem Machtantritt Hitlers das abstrakte Staatsverhältnis der Gewerkschaften also ganz offenkundig vor aller Augen liege Tatsächlich ist die zum Beweis herangezogene letzte Rede Leiparts vor dem „Umbruch", am 22. Januar 1933 vor der Betriebsrätekonferenz, ein sehr wichtiges Indiz dafür. Hier war das faktische gewerkschaftliche Verhalten in der Geschichte noch einmal ausdrücklich zum Grundgesetz erhoben: Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit jeder Regierung! Das bedeutete: keine Bindung an eine Regierung und schließlich auch keine Bindung an eine Staatsform 57).

Freilich darf man die Verbindlichkeit solcher Thesen nicht verabsolutieren. Die Geschichte, auch die der Gewerkschaften, ist kein Exercitium logicum. Es ist nicht nur gewerkschaftlicher Pragmatismus, der hier unvermischt zutage tritt; es kündigt sich hier auch ein Einverständnis zu politischen Reformen an, deren der funktionsunfähige Weimarer Staat bedurfte. Die demokratische Republik als Ganzes preiszugeben, dazu waren die Gewerkschaften gewiß nicht leichthin bereit, und das nicht nur aus egoistischen Interessen. Gerade in der Krise, in der dieser konkrete Staat nun auf dem Spiele stand, spürten sie doch stark, wie sehr sie in seiner Geschichte eingewurzelt waren. Das läßt sich ablesen daran, daß die freien Gewerkschaften ihren Kongreß im April 1932 bewußt im Reichstagsgebäude abhielten und diesen Kongreß mit einem dreifachen Hoch auf die Republik abschlossen; das läßt sich gut erkennen auch an der Rede Jakob Kaisers auf dem Düsseldorfer Kongreß der christlichen Gewerkschaften am 19. September 1932.

Ein letztes Stück Unsicherheit aber blieb, und am Ende ließ diese Unsicherheit gegenüber dem. konkreten Weimarer Staat dem gewerkschaftlichen Pragmatismus, der im Blick auf die Erhaltung der eigenen Wirkmöglichkeit gebannt war, die Zügel.

Das Ende der Gewerkschaften

Wer die Geschichte der Gewerkschaften verfolgt, kann sich nicht darüber wundern, daß diese sich nicht der Regierungsübernahme durch Hitler entgegenstellten. Dem, was die Spitzen-verbände aller Gewerkschaften am 28. Januar 1933 in einem gemeinsamen Telegramm an Hindenburg gefordert hatten, eine verfassungsmäßige Lösung der Krise nämlich, — dem war mit dem 30. Januar noch keineswegs widersprochen worden: Hitlers Regierung trat als Präsidialkabinett an wie die vorhergehenden auch. In dieser Weise registrierten die Gewerkschaften die Veränderung auch; der Aufruf der christlichen Gewerkschaften unterscheidet sich darum nicht wesentlich von dem anläßlich des Regierungsantritts Papens Diese Gewerkschaften erkannten ebenso wenig wie die meisten anderen Gruppen in Deutschland, daß mit Hitlers Kanzlerschaft eine tiefe Zäsur der Geschichte gesetzt war. Hitler stand nicht einmal im Zentrum ihrer Sorgen, sie sahen in ihm vielmehr ein Instrument von Hugenberg und Papen, deren „volks-und arbeiterfeindlicher Wille" nach dem Wortlaut des Aufrufes der christlichen Gewerkschaften „den Regierungskurs bestimmen“ würden; vor allem Hugenberg betrachteten sie als ihren direkten Feind, auf seine „gewerkschaftsfeindliche Gesinnung" wurde in dem Aufruf ausdrücklich hingewiesen.

Die Meinung Papens, Hitler und den Nationalsozialismus an der Kandare halten zu können, ist also augenscheinlich nicht nur Ausdruck einer subjektiven Selbstüberschätzung, sondern auch ein Indikator für allgemein atmosphärische Strömungen; das Selbstgefühl der Regierungsmacher findet jedenfalls eine höchst bemerkenswerte Entsprechung in der Lagebeurteilung der Gewerkschaften.

Der Aufruf der freien Gewerkschaften sah die politische Lage zwar als entscheidend verändert an, doch war nach ihm der „Ernstfall", für den man sich abwehrbereit halten wollte, noch nicht gegeben Der Ernstfall, das waren illegale Gewaltmaßnahmen, die man für möglich hielt und an die man wiederum doch nicht so recht glauben wollte Die Technik der gleitenden Revolution, die hinter der Fassade der Legalität operiert und ungestört vollendete Tatsachen schafft, war noch nicht in den Vorstellungskreis getreten. Im Hinblick auf diese Lagebeurteilung kann man es verstehen, daß für die Gewerkschaften „Organisation — nicht Demonstration" das Gebot der Stunde war. Man wollte die Verbände für die möglicherweise kommenden schweren Kämpfe stärken. Ein anderes Motiv der Parole „Organisation" war das Bestreben, durch strikte Legalität der Gegenseite Vorwände für Aktionen gegen die Gewerkschaften von vornherein zu nehmen. Sicher ist in diesem Zusammenhang auch das sozialpsychologische Gesetz der Beharrungskraft bürokratisierter Verbände von Bedeutung gewesen

Das Legalitätsdenken der Gewerkschaften darf nicht als Taktik oder Vorwand interpretiert werden. Es war ihrem Charakter tief eingeprägt und mußte sie dem skrupellosen Gegner gegenüber nahezu wehrlos machen. Als Beispiel für die weltentrückte Ebene, auf der die Gewerkschaften kämpften, sei der Brief genannt, den Leipart nach dem Aufruf Hitlers am 2. Februar 1933 an Hans von Nostiz, den ersten Vorsitzenden der Gesellschaft für soziale Reform, schrieb. Er bat in diesem Briefe von Nostiz darum, „Männer aus den gebildeten Schichten", Nationalökonomen und Historiker zu veranlassen, in einem Offenen Brief die geschichtlichen Lügen und Fälschungen der Hitlerschen Erklärung zurückzuweisen Bis zu den Märzwahlen blieben die Gewerkschaften im ganzen ungeschoren. Sie bewegten sich nun schneller in der Richtung, die schon vor Hitlers Regierungsantritt angebahnt war, und schwenkten in die Linie ein, die Papen kurz vor den Wahlen als Chance folgendermaßen kennzeichnete: „Wenn die Gewerkschaften das Zeichen der Zeit erkennen und sich in starkem Maße entpolitisieren, so können sie gerade jetzt ein starker Pfeiler einer neuen Volksordnung werden."

An solche Hoffnungen klammerten sich die Gewerkschaften erst recht nach den Wahlen; jetzt sahen sie sich erst recht auf absolute Legalität verpflichtet.

Nun blieb nur noch der Weg der Anpassung. Die Gewerkschaften haben auf diesem Wege sehr weitgehende Zugeständnisse angeboten, um die Organisation und ihr soziales Mitwirkungsrecht zu retten. Sie hatten eine Weile Grund, auf eine ständische Ordnung der Dinge zu hoffen, in der ihnen ein Platz bleiben mochte. Schon vor Ende März rangen sie sich in diesem Zusammenhang die Anerkennung einer Staatsaufsicht und die Bereitschaft zu einer Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern sowie den Verzicht auf jegliche politische Betätigung ab In der Absicht, die jetzt erneut von der NSBO gestellte Forderung nach einer Einheitsgewerkschaft zu unterlaufen, entschlossen sich die Gewerkschaften aller Richtungen schließlich zu später Stunde, Mitte April, zu der längst erwogenen Fusion.

All diese Versuche, im Spiel zu bleiben — so sehr sie einerseits in der Kontinuität einer lange angebahnten Entwicklung standen, sie trugen doch andererseits die Zeichen zunehmender Gehetztheit an sich. Hier von würdelosem Verhalten der Gewerkschaftsführer zu sprechen, ist verfehlt. Der nationalsozialistische Gegner operierte im Dunkeln und war nicht faßbar; er lavierte wohl auch selbst noch und entschied sich relativ spät, erst in der zweiten Märzhälfte. Demgegenüber haben die Gewerkschaftsführer nicht einmal ungeschickt reagiert, aber die Würfel waren endlich gegen sie gefallen So mag man sie naiv nennen, wie Josef Goebbels es in seinem Tagebuch getan hat aber das ist unsererseits eine Feststellung und kein Vorwurf. Eher kann man sich fragen, ob sie nicht kraftvoller hätten handeln können. Aber die Zaghaftigkeit hatte in hohem Maße sachliche Gründe.

Das krampfhafte Betonen der nationalen Verdienste durch die freien Gewerkschaften wirkt wie das ängstliche Suchen nach einem nationalen Alibi. Es rächte sich jetzt, daß man die vielfachen Ansätze zur Entideologisierung und nationalen Bewußtseinsklärung nicht weit genug vorwärtsgetrieben hatte. Gerade hier setzte der Nationalsozialismus seinen Hebel nun an und sprengte unter dem Motto des Antimarxismus und der Klassenaussöhnung die immer noch starke Gewerkschaftsfrpnt auseinander. Die „Volksgemeinschaft" war eine wirksame Parole der sogenannten nationalen Erhebung, die nicht einfach als eine nationalsozialisti-sehe Stilisierung abgetan werden kann. So war es verteufelt geschickt von der nationalsozialistischen Führung, den 1. Mai zum großen Versöhnungsfest der Klassen zu machen, den alten Kampftag der Gewerkschaften zum Nationalen Feiertag zu erheben, um am Tage darauf den freien Gewerkschaftsverband als den überlebten Träger des überwundenen Klassenkampfes zu zerschlagen.

Es paßte gut in diesen Rahmen, wenn die Christlichen Gewerkschaften unter Hinweis auf ihren traditionellen nationalen Charakter nicht angetastet und ihre bedeutendsten Vertreter in den Großen Arbeitskonvent der jetzt (am 10. Mai) gebildeten „Deutschen Arbeitsfront" (DAF) berufen wurden. Was sich hier als gewerkschaftlicher Neubeginn unter einem anspruchsvollen Namen vorstellte, war nach einigen Monaten schon zur Farce herabgewürdigt. Als die 17. Internationale Arbeitskonferenz in Genf Anfang Juni der DAF die internationale Anerkennung versagte, die christlichen Saargewerkschaften sich von der Berliner Zentrale lösten (am 1. Juni) und die Konkordatsverhandlungen zum Abschluß kamen wurden auch die Christ-lichen Gewerkschaften aufgelöst, ihre Konventsdelegierten als Verräter an der nationalen Revolution aus der DAF ausgestoßen. Ein halbes Jahr später begann die Ausschaltung des sozialpolitischen Mitsprachewillens der NSBO; die DAF wurde, der letzten ernsthaften gewerkschaftlichen Funktionen entkleidet, ein Institut für Freizeitgestaltung und Arbeitshygiene. Der totalitäre Staat duldet keine autonomen Potenzen.

Gewerkschaftsbewegung und Widerstand

Mit dem Zusammenbruch der Gewerkschaftsbewegung fiel die ältere Generation ihrer leitenden Männer gänzlich in den Hintergrund. Weder Leipart noch Stegerwald haben im Widerstand eine Rolle gespielt Jetzt trat eine jüngere Generation, die zweite gewerkschaftliche Generation, auf den Plan, die erst mit Beginn der Weimarer Republik, mit Beginn der Phase der befestigten Gewerkschaft ihre Laufbahn begonnen hatte. Aus ihr ragen zwei Männer hervor, denen schon allein wegen ihrer würdigen Haltung während der Agonie der Gewerkschaften unser Interesse gebührte: Wilhelm Leuschner von den ehemaligen freien und Jakob Kaiser von den ehemaligen christlichen Gewerkschaften. Die-se beiden sind es, die sich nun sehr bald zu enger Zusammenarbeit finden und mit dem hinzutretenden Max Habermann vom ehern.

DHV, einem Freunde Brünings, einen bedeutsamen Kristallisationskern der Widerstandsbewegung bilden.

v Es ist nicht meine Absicht, die Geschichte dieser gewerkschaftlichen Gruppe und ihrer Planungen hier darzustellen; es sei nur noch ein kurzer Blick auf den geistigen Gehalt ihrer Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat gestattet.

Wie sich hier zeigt, zerstörte das äußere Ende der Gewerkschaften keineswegs die geistige Kontinuität, sondern entband den längst im Gange befindlichen geistigen Klärungsprozeß nun vollends.

Die Einheitsgewerkschaft, wie sie unter dem Druck der Verhältnisse im April 1933 von allen Gruppen gebilligt worden war, hatte sich in ihrer Charta zu drei Prinzipien bekannt: 1. Zur „Förderung eines gesunden Staates und Volkes" als der Basis auch des Arbeiterstandes, 2. zur Achtung und Anerkennung der,, religiösen Grundkräfte in ihrer staats-und gesellschaftsaufbauenden Bedeutung", 3. zur parteipolitischen Neutralität.

Diese von dem führenden Theoretiker der Christlichen Gewerkschaften, Theodor Brauer, entworfenen Grundsätze forderten von den freien Verbänden einen zwar nicht unvorbereiteten, aber dennoch recht gewaltsamen Sprung. Es ist sehr daran zu zweifeln, ob sie, wäre die Einheit unter diesem Zeichen damals realisiert worden, mit einem Schlage das ideologische Gepäck tatsächlich hätten abwerfen können, wie es hier von ihnen gefordert wurde. Die Gewichte der Geschichte wogen noch immer schwer, wie wir gesehen haben. Im Zusammenhang damit war es weiterhin zweifelhaft, ob die Christlichen Gewerkschaften ihre traditionellen Vorbehalte gegen die Vereinigung, die Befürchtung vor der Majorisierung durch die sozialistische Mehrheit, wirklich hätten aufgeben und schnell genug das Vertrauen hätten gewähren können, das für eine gedeihliche Zusammenarbeit unerläßlich war. Nach dem Kriege hat sich herausgestellt, wie stark die Spannungen innerhalb der unter neuen Bedingungen geschaffenen Einheitsgewerkschaft auch nach der Erfahrung des totalitären Staates noch waren. In dieser Hinsicht darf man m. E. vergleichen; im übrigen ist die Einheitsgewerkschaft nach dem Kriege aus mehreren Gründen keineswegs als Probe aufs Exempel der Widerstandspläne anzusehen.

Leuschner, Kaiser und Habermann, intensiv unterstützt von der klugen und mutigen Akademikerin Elfriede Nebgen, haben sich zwar gleich mit Beginn ihrer illegalen Zusammenarbeit spontan auf die gewerkschaftliche Einheit verschworen, aber durch die ganzen Jahre des gemeinsamen Wirkens hindurch richtet sich ihre Anstrengung auf die geistige Fundierung dieser Einheit, auf die alles ankam. Was sie selbst instinktiv als Notwendigkeit erfühlten, worin sie sich ihrer selbst auch sicher waren, das bedurfte gründlicher theoretischer Klärung und überzeugender Argumente. Nach mehrjährigem Tasten, nach vielen Gesprächen fanden sie schließlich 1938 in dem damals dreißigjährigen Österreicher Ludwig Reich-hold den Kopf, der die Erfahrung des Zusammenbruchs der Arbeiterbewegung und die des ständestaatlichen Experiments in Österreich eindringlich zu durchdenken begonnen hatte. Im engen Kontakt mit ihm wurde nunmehr das sich von Jahr zu Jahr vertiefende Erlebnis des totalitären Staates gedanklich analysiert und der Ort der Arbeiterschaft im Geschehen bestimmt. Die Argumentation Reich-holds wirkte auf den freigewerkschaftlichen Funktionär und Sozialdemokraten Leuschner so überzeugend, daß er sie zu der seinen machte. Sein Biograph fand sie in seinen nachgelassenen Papieren und hielt sie für Leuschners eigene Gedanken

Ich schließe mit einem kurzen Überblick über einen zentralen Gedankengang dieses leben-digen gewerkschaftlichen Widerstandskreises

Der Zusammenbruch der Arbeiterbewegung ist ein Urteil der Geschichte über sie, die es nicht rechtzeitig vermocht hat, ihr klassenpolitisches Weltbild aufzugeben. Obwohl im Laufe von 100 Jahren faktisch zu einem integrierten Element der Gesellschaft geworden, stand die Arbeiterschaft in ihrer Terminologie noch immer jenseits der konkreten Gesellschaft und trachtete sie aufzuheben, um sie total auf sich hin zu ordnen. Die von der Arbeiterschaft so wesentlich mitverursachte Erstarrung einer geschichtswidrigen Klassengesellschaft hat Kräfte aus allen Schichten, auch aus dem „Proletariat" geweckt, die zum Faschismus übergingen in der Hoffnung, daß dieser die ungeschichtliche Klassengesellschaft überwinde. Sie haben sich über alle soziale Spaltung hinweg wieder als Volk gesucht, sie wollten sich wieder als Volk empfinden und organisieren. Der faschistische totalitäre Staat aber hat das Problem lediglich im Sinne der Mechanik gelöst, in der Gemeinschaften nicht zu leben, sondern nur zu funktionieren vermöchten. Der totalitäre Staat als das gewaltsame Ende der Klassengesellschaft gibt jedoch der Arbeiterschaft die Chance, sich ihrer selbst in der geschichtlichen Wirklichkeit endlich bewußt zu werden und ihre Aufgabe zu erkennen. Indem sie sich der Realität der Geschieh te, dem wirklichen Gehalt ihrer eigenen historischen Erfahrungen als Gewerkschaftsbewegung stellt, ist sie über den totalitären Staat hinausgeführt und wird einen wichtigen Platz in der künftigen, in Freiheit zu gliedernden Gesellschaft einnehmen. Auf keinen Fall darf es zu der in der Emigration gedachten bloßen Wiederherstellung vorfaschistischer Zustände kommen.

Im Blut des gescheiterten Aufstandes vom 20. Juli 1944 sind diese Gedanken und die darauf abgestellten — noch unzureichend be kannten — organisatorischen Planungen ei stickt worden. Die Geschichte hat sich ihnen versagt. Unsere Auseinandersetzung mit ihnen müßte erst noch beginnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. bes. H. -G. Schumann, Nationalsozialismus u. Gewerkschaftsbewegung, Band 6 der Schriftenreihe des Instituts f. Wiss. Politik in Marburg, Hannover u. Frankfurt 1958.

  2. Rede W. Schuhmanns am 1. Juli 1933 in Frankfurt/M., in: Arbeitertum, Folge 11/1933, S. 3.

  3. Gewerkschaftliches Schrifttum ist zum erstenmal in großem Umfang verarbeitet in den aufschlußreichen Dissertationen von Rolf Thieringer, Das Verhältnis der Gewerkschaften zu Staat und Parteien in der Weimarer Republik, Tübingen 1953, und Ursula Hüllbüsch, Gewerkschaften und Staat, Heidelberg 1958. Beiden Arbeiten verdanke ich wertvolle Anregungen und Materialien.

  4. Das jüngst erschienene Werk von Thilo Vogel-sang, Reichswehr, Staat und NSDAP, Stuttgart 1962, gibt leider die für die Schleicher-Periode erwarteten Aufschlüsse bezgl.der Gewerkschaften nicht.

  5. Die im Laufe des Jahres 1962 erschienene Bio-Igraphie über Wilhelm Leuschner (von Joachim G. Leithäuser, Köln) läßt ebenfalls viele Fragen offen.

  6. Goetz Briefs, Zw. Kapitalismus und Syndikalismus, Bern 1952, S. 52.

  7. Vgl § 153 der Reichsgewerbeordnung (RGO) von 1869 Vgl dazu die Stellungnahme des Zentral-blattes 1/1919, S. 2 und 20/1919, S. 153.

  8. Kursive Heraushebung vom Vers

  9. Rolf Thieringer a. a. O., S. 38.

  10. Vgl R Thieringer, a a O., S 49

  11. Zentralblatt 23/1918 vom 4 11 1918. S 191. Bei Thieringer (a a O , S 55. Anm 226) ist die Belegstelle falsch angegeben.

  12. So Thieringer, a a. O., S. 58 Die Durchsicht des Jahrgangs 1919 des Zentralblatts zeigt übrigens unmißverständlich, daß die Christi Gewerkschaften dem monarchischen Gedanken keineswegs abgeschworen hatten.

  13. Vgl. bes. Zentralblatt 24/1918, S. 195 u. 196.

  14. Die Arbeit, Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, Berlin 1924— 1933.

  15. Die Arbeit II, 1925, S. 129; zitiert nach Ursula Hüllbüsch, a. a. O., S. 65; auch im folgenden Anlehnung an H., S. 65/66.

  16. Die Arbeit II, 1925, S. 129; zitiert nach Ursula Hüllbüsch, a. a. O., S. 65; auch im folgenden Anlehnung an H., S. 65/66.

  17. U. Hüllbüsch, a. a. O., S. 66.

  18. Vgl. U. Hüllbüsch, a. a O., S. 64.

  19. Vgl. R. Thieringer, a. a. O., S. 79/80.

  20. Vgl. R. Thiennger, S. 80 oben.

  21. So mehrfach bei R. Thieringer, z. B. S. 79 u 84.

  22. So R Thieringer, a. a. Ö., S. 80.

  23. Eröffnungsrede Leiparts auf der Betriebsrätekonferenz am 22. Janüar 1933.

  24. Fritz Naphtali (Hrsg.), Wirtschaftsdemokratie, ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928, S. 13, zitiert bei Hüllbüsch, S. 75.

  25. Zitiert bei Thieringer, a. a. O., S. 126, aus Zentralblatt 19/1928, S. 253 ff.

  26. Zahlen nach den statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich.

  27. Vgl. R. Thieringer, a. a. O., S. 42.

  28. „Ende 1929 von insgesamt 792 827 Mitgl. allein 350 184 in Rheinland und Wests organisiert . . im selben Gebiet hatten die freien Gewerkschaften 503 299 Mitgl", nach Thieringer, S 17, Anm. 46.

  29. Vgl. Thieringer, a. a O., S 17, Anm 46.

  30. Kursive Heraushebung vom Vers.

  31. Niederschrift der Verhandlungen des 10. Kongresses der christl. Gewerkschaften Deutschlands. Abgeh. Vom 20 bis 23. Nov. in Essen, Köln 1920, S. 193.

  32. Zitiert nach Josef Deutz, Adam Stegerwald, S 109.

  33. Zahlen bei Thieringer, a. a. O., S. 103.

  34. Vgl besond. Trevor-Roper, VfZ 1960, S. 121 ff; vgl auch E Nolte, VfZ 1962. S. 406

  35. Hitler, Mein Kampf, (Ausgabe 1938) S. 53.

  36. Hitler, a a O., S 51.

  37. a a O„ S 56

  38. a a. O„ S. 672.

  39. Hitler, a a. O., S. 672.

  40. Hitler, a a O., S. 49; die hier gegebene Begründung entspricht dem gedanklichen Gehalt derj. von S. 672, ist aber ausführlicher und klarer als diese und wurde deswegen hier angeführt.

  41. E. Nolte, VfZ. 4. Heft 1962, zur Phänomenologie des Faschismus, S. 395.

  42. So das Kapitel in „Mein Kampf", S. 670 ff.

  43. Gerhard Schulz, in: Die nationalsoz. Machtergreifung, S. 400.

  44. Hitler, a. a. O., S. 678.

  45. Ebenda, S. 680.

  46. Nach Schumann, a. a. O., S. 36, sollen die Arbeiter 1930 einen Mitgliederanteil von 15 bis 20% in der NSDAP gestellt haben.

  47. Hitler, a. a. O., S. 670.

  48. Nach H. -G. Schumann, a. a. O., S. 39; dort auch die Belege für die Zitate.

  49. Gerhard Schulz, a. a. O., S. 395.

  50. H. -G. Schumann, a a. O., S. 47.

  51. G. Schulz, a. a. O., S 631/32.

  52. H. -G Schumann, a. a O., S 65.

  53. Nach dem Zentrallblatt 19/1962, S. 246, hatten einige Verbände bis zu 90% arbeitsl. Mitglieder.

  54. Eine Verstaatlichung des Bergbaus forderte auch Imbusch, der Vorsitzende des Christi. Bergarbeiterverbandes; vgl. Zentralbi. 4/1932, S. 56 ff.

  55. Von U. Hüllbüsch (a. a. O , S. 175) zitierte Stelle aus Zehrer: Revolution oder Restauration? Die Tat 1932/33; S. 389.

  56. Vgl. Die Reden von Leipart im Oktober 1932 vor der Bundesschule in Bernau und am 22. 1. 1933 vor der Betriebsrätekonferenz.

  57. Vgl. Jakob Kaiser, Zentralblatt 19/1932, S. 249, 250; Theodor Brauer, Zentralblatt 6/1933, S. 211.

  58. So U. Hüllbüsch, a. a. O., S. 211.

  59. Zentralblatt 4/1933, S. 37.

  60. Der Aufruf im Auszug bei U. Hüllbüsch, a. a. O., S. 218, und H. -G. Schumann, a. a. O., S. 55.

  61. Vgl. Leiparts Rede vom 21. Februar 1933.

  62. Gewerksch. Ztg. 1933, S. 67, hier zitiert nach Hüllbüsch, S. 218.

  63. So W. Abendroth in der Einleitg. zu Schumann, a. a. O., S. 3.

  64. Dok. Nr. 22 auf S. 232 bei Matthias-Morsey, Das Ende der Parteien.

  65. Schreiben des ADGB an Hitler am 21. und 29. März 1933; vgl. auch den Besuch der Vertreter der Christl. Gewerkschaften bei Goebbels am 17. März, in: Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 283.

  66. Vgl. die am 4. 4. 1933 vorgenommenen Änderungen des Betriebsrätegesetzes, Kommentar i . Zentralblatt 8/1933, S. 97.

  67. a. a. O., S. 297. Es handelt sich hier um eine Naivität, die vor den Erfahrungen mit dem totalitären Staat verständlich, seither jedoch nicht mehr statthaft ist.

  68. Vgl Schreiben Robert Ley's an den DGB vom 6. Mai 1933, zitiert bei Schumann, a a O., S. 79/80.

  69. Vgl. R. Morsey, in: Matthias-Morsey, a. a. O., S. 411.

  70. Siehe das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit v. 20. 1. 1934.

  71. Leipart hat gelegentlich die gewerkschaftliche Widerstandsgruppe beraten.

  72. Joachim G. Leithäuser, Wilhelm Leuschner, Köln, 1962, S. 208 ff.

  73. Detaillierter Nachweis durch Elfriede Kaiser-Nebgen in: Soziale Ordnung, Nr. 10/1962, S. 171/72.

  74. Aus einem erhalten gebliebenen handschriftlichen Manuskript von Reichhold aus den Jahren 1943/44, das mir vom Vers, zur Verfügung gestellt wurde.

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Erich Kosthorst, Dr. phil., Prof. f. politische Bildung u. Didaktik der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Münster I. Geb. 1. 12. 1920 in Bocholt/Westf. Veröffentlichungen: „Die deutsche Opposition gegen Hitler zwischen Polen-und Frankreichfeldzug", Heft 8 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1954; , Das Dritte Reich und seine Behandlung im Oberstufenunterricht der Höheren Schule'in: „Politische Bil-dung in der Höheren Schule", Heft 57 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1961; Aufsätze zum Problem der politischen Bildung in: Pädagogische Provinz, Nr. 10, 1961 und Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Nr. 2 u. 4, 1961.