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Die Komintern Vom Internationalismus zur Diktatur Stalins | APuZ 2-3/1964 | bpb.de

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APuZ 2-3/1964 Die Komintern Vom Internationalismus zur Diktatur Stalins

Die Komintern Vom Internationalismus zur Diktatur Stalins

Günther Nollau

Einleitung Im Jahre 1914 waren alle großen sozialistischen Parteien Europas in der II. Internationale vereinigt. Sie hatten Millionen von Anhängern gewinnen können, und ihre Politik war gegen den Krieg gerichtet. Sozialistische Politiker hofften den Krieg verhindern zu können. Ein sozialdemokratischer Abgeordneter erklärte 1912 im Deutschen Reichstag:

„Früher haben sich die Massen blindlings von denen, die Interesse an einem Krieg hatten, gegeneinanderhetzen und in den Massenmord treiben lassen. Das hört auf.

Die Massen hören auf, willenlos Instrumente und Trabanten irgendwelcher Kriegsinteressenten zu sein "

Und der bekannte französische Sozialist Jean Jaures, ein Freund des deutschen Volkes, bestätigte im Frühjahr 1914:

„Vier Millionen Sozialisten würden sich in Deutschland wie ein Mann erheben und den Kaiser hinrichten, wenn er einen Krieg anfangen wollte.“

Am 31. Juli wurde Jaures von einem jungen Franzosen erschossen. Der Mörder hatte die Beschuldigung geglaubt, die in nationalistischen Blättern erhoben worden war: Jaures sei ein Verräter.

Wenige Tage später stimmten die Sozialisten — den Antikriegserklärungen zum Trotz, die sie vorher abgegeben hatten — in den Parlamenten Österreichs, Deutschlands und Frankreichs für die Kriegskredite. Auch Karl Lieb-knecht fügte sich. Nur im serbischen Parlament lehnten zwei Sozialisten die Kredite ab und in der russischen Duma enthielten sich vierzehn sozialdemokratische Delegierte der Stimme. In den europäischen Ländern rückten die Reservisten zum Kriegsdienst ein, unter ihnen viele Sozialisten. Sie hatten nicht den Kampf-ruf der II. Internationale auf den Lippen: Krieg dem Kriege, sondern sangen die Marseillaise oder die Wacht am Rhein. Lenin, damals mit seiner bolschewistischen Fraktion noch Angehöriger der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, genoß wenig Ansehen in der II.

INHALT Einleitung I. Phase des Internationalismus Die Gründung (I. Weltkongreß 1919, II. Weltkongreß 1920)

Die Statuten Die 21 Bedingungen Die Thesen über die Nationalitäten-und Kolonialfrage Der Erste Kongreß der Völker des Ostens II Die internationale Revolution scheitert Das Ende der revolutionären Welle Die sowjetische Krise von 1921 Die erste große Linienänderung Die Gleichberechtigung wird untergraben 1923 — ein Jahr neuer Niederlagen III. Die Komintern — Schauplatz sowjetischer Machtkämpfe Sozialismus in einem Lande Bolschewisierung der kommunist. Parteien Gewerkschaftspolitik der Komintern Die Niederlage in China Fraktionskämpfe in der Komintern IV. Linkswendung und neue Niederlagen Die Linkswendung von 1928 Bewaffneter Aufstand?

Hitler an der Macht V. Die Organisation der Komintern Organe wie jede kommunistische Partei Die Organisation der Weltpartei Die Hilfsorganisationen der Komintern Die Abteilung für internationale Verbindungen (OMS)

VI. Volksfront Ursprung der Volksfront VII. Weltkongreß Die antifaschistische Agitationsoffensive Volksfront in Spanien Zerfall der Volksfront in Frankreich Die deutsche und andere Volksfronten VII. Säuberungen Die Säuberungen in der Komintern Die Säuberungen und die Kominternarbeit im Westen VII I. Stalin-Hitler-Pakt und Auflösung der Komintern Der Stalin-Hitler-Pakt und seine Folgen Die Auflösung Schluß Internationale. Im Juli 1914 hatte er nicht einmal die allrussische Einigungskonferenz besucht, auf der die Führer der II. Internationale bestrebt gewesen waren, die russische Sozialdemokratie zu einigen.

Dieser Außenseiter der II. Internationale war der erste, der ihr Versagen geißelte. Schon im November schrieb Lenin:

„Die II. Internationale ist tot, vom Opportunismus besiegt. Nieder mit dem Opportunismus, es lebe die nicht nur von den . Über-läufern', sondern auch vom Opportunismus gesäuberte III. Internationale! . . .

Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zu organisieren zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!"

Damit forderte er, eine neue, die III. Internationale zu gründen. Ferner arbeitete er daran, den „imperialistischen" Weltkrieg in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie zu verwandeln.

Lenin trug diese Kampfparolen den Konferenzen internationaler Sozialisten vor, die während des Krieges in der Schweiz (Zimmer-wald 1915, Kienthal 1916) stattfanden. Jedoch gewann er für sie keine Mehrheit.

Nach der russischen Frühjahrsrevolution forderte Lenin in den April-Thesen erneut:

„Unsere Partei darf nicht warten, sondern muß sofort die dritte Internationale gründen . “ „Es gibt in der Welt kein Land, in dem jetzt eine solche Freiheit herrscht wie in Rußland. Benutzen wir diese Freiheit ...

zur kühnen und ehrlichen, Liebknechtschen Gründung der Dritten Internationale.“

Karl Liebknecht hatte seit Herbst 1914 offen gegen den Krieg agitiert und 1916 mit Rosa Luxemburg den Spartakusbund gegründet. Als Lenin die April-Thesen verkündete, saß Lieb-knecht wegen Verrats im Kriege im Zuchthaus. Bevor aber die III. Internationale gegründet werden konnte, verwandelte Lenin, wie er propagiert hatte, den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg Mit Trotzki leitete er im Oktober den Aufstand, der die bürgerliche Kerenski-Regierung hinwegfegte. Das bolschewistische Regime schloß den verlustreichen Frieden von Brest-Litowsk mit dem kaiserlichen Deutschland (März 1918) und konnte danach den Kampf gegen seine inneren Feinde aufnehmen. Der russische Bürgerkrieg entbrannte in aller Schärfe. Sobald die härtesten Kämpfe überstanden und auch die ausländischen Interventionen abgewehrt waren, drängte Lenin erneut, die III., die Kommunistische Internationale zu gründen. Er war überzeugt — und mit ihm die anderen Führer der Bolschewiki, das Sowjetregime in Rußland werde sich nur halten können, wenn weitere Revolutionen in den europäischen Ländern ausbrechen würden. Schon Marx und Engels hatten im März 1850 in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund" (der Kommunisten) geschrieben, die kleinbürgerliche Revolution müsse fortgesetzt werden, bis das Proletariat die Staatsgewalt erobert habe. Nicht nur in einem, sondern in allen Ländern müsse das Proletariat die produktiven Kräfte beherrschen. übereinstimmend damit erklärte Lenin im März 1918:

„Wenn wir, die bolschewistische Partei, allein das ganze Werk in unsere Hände ge, nommen haben, so haben wir das in der Überzeugung getan, daß die Revolution in allen Ländern heranreift, daß die internationale sozialistische Revolution letzten Endes — und nicht gleich zu Anbeginn — ausbrechen wird, trotz aller Schwierigkeiten, die wir durchzumachen haben werden, trotz aller Niederlagen, die uns beschieden sein werden —, die internationale sozialistische Revolution marschiert; denn sie reift und wird völlig ausreifen. Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten — das wiederhole ich nochmals — ist die Revolution in ganz Europa.“

Es schien, als ob die europäische Revolution marschiere. Die kriegsmüde Arbeiterschaft begrüßte die Oktoberrevolution mit Sympathie. Im letzten Kriegsjahr streikten Arbeitermassen in Osterreich-Ungarn und Deutschland. Linksstehende Kräfte erhielten Zulauf auch in Frankreich, Italien, England und in den Vereinigten Staaten. Sogar in der vom Kriege wenig betroffenen Schweiz fand Ende 1918 ein Generalstreik statt. Seit März 1918 nannte sich Lenins „Fraktion" Kommunistische Partei Ruß-4 lands. Weitere kommunistische Parteien wurden im Laufe des Jahres 1918 gegründet (in Lettland, Finnland, Holland, Ungarn, Österreich, Polen und Deutschland).

Nun hielt Lenin die Zeit für gekommen: am 24. Januar 1919 veröffentlichte die Kommunistische Partei Rußlands den Entwurf eines Manifests, das die Proletarier aller Länder aufrief, sich in der Kommunistischen Internationale zu vereinigen.

Die Einladung zum Gründungskongreß traf bei der KPD, wie Hugo Eberlein später berichtet hat, erst ein, nachdem sie einen Umweg über Finnland und Schweden zurückgelegt hatte. Die Blockade der Westmächte gegen Sowjetrußland war noch wirksam.

I. Phase des Internationalismus

Die Gründung (I. Weltkongreß 1919, II. Weltkongreß 1920)

Zu Beginn des Kongresses, der am 2. März 1919 in Moskau zusammentrat, war nicht klar, ob er der Gründungskongreß der III. Internationale werden würde. Der Absicht Lenins, die neue Internationale sofort aus der Taufe zu heben, trat der Delegierte der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) schon in den Vorbesprechungen entgegen. Hugo Eberlein, der im Auftrage Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts nach Moskau gereist war, schlug vor, die Gründung zu verschieben, da die kommunistische Bewegung in Europa noch zu schwach sei. Trotzki, Bucharin und Radowski, der rumänische Kommunist, zerpflückten Eberleins Argumente und bewiesen, es sei notwendig, die Internationale sofort zu gründen. Aber Lenin entschied, die Gründung müsse verschoben werden, wenn die KPD nicht zustimme. Damals waren die kommunistischen Parteien also gleichberechtigt. Die kommunistischen Parteien? Eberlein schrieb später, bei Beginn der Konferenz habe er als einziger der Gäste eine kommunistische Partei vertreten. Aus dem Ausland waren nur noch drei weitere Delegierte gekommen (Rutgers aus Holland, Grimlund aus Schweden, Stange aus Norwegen). Sie vertraten linke sozialistische Gruppen. Später traf noch Steinhardt aus Österreich ein. Offiziell wurde mitgeteilt, 35 Delegierte seien anwesend. Angelica Balabanowa, die dem Kongreß als „Sekretärin" beiwohnte, schrieb später, die übrigen Delegierten seien vom Zentralkomitee der KPR aus Emigranten und Kriegsgefangenen ausgewählt worden, die schon in Sowjetrußland weilten.

Kaum einer von ihnen sei berechtigt gewesen, die Gruppe zu vertreten, als deren Delegier-ten man ihn ausgegeben habe. Der Franzose Jacques Sadoul war sogar als Mitglied der Militärmission seines Landes nach Sowjetrußland gekommen und hatte sich dort für den Kommunismus begeistert. Eberlein drang mit seiner Meinung durch, eine solche Versammlung habe kein Recht, über die Gründung der Internationale zu entscheiden.

Am nächsten Tag traf aber die Nachricht ein, in Ungarn sei die Räterepublik ausgerufen worden. Die Konferenz war begeistert. Der Österreicher Steinhardt berichtete, die Arbeiter seien überall bereit, dem russischen Beispiel zu folgen. Es entstand ein verlockendes Bild von den Aussichten der Revolution in Europa. Angelica Balabanowa behauptet, Steinhardt habe auf Weisung des intriganten Karl Radek so optimistisch berichtet. Die russischen Delegierten nutzten jedenfalls die Begeisterung und beantragten, erneut abzustimmen, ob die Internationale sofort zu gründen sei. Alle stimmten zu, nur Eberlein enthielt sich der Stimme. (Die KPD trat der Komintern bei, sobald Eberlein nach Berlin zurückgekehrt war.) Auf dem I. Kongreß beriet er trotz seiner Stimmenthaltung mit über die grundlegenden Resolutionen. Diese Resolutionen waren von den besten Köpfen der sowjetischen Partei entworfen worden. Bucharin hatte die „Richtlinien des Internationalen Kommunistischen Kongresses“ vorgelegt. Von Lenin stammten die „Leitsätze über bürgerliche Demokratie und proletarische Diktatur“. Trotzki war der Autor des „Manifestes der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt". Die Entwürfe wurden in der Diskussion geringfügig geändert und danach angenommen. Ihre Grundgedanken waren: Die Krise des Kapitalismus könne nur durch Revolution überwunden werden. Danach müsse das Proletariat seine Diktatur über die bisherigen Ausbeuter errichten. Der nationale Staat sei aber zu eng, um die Produktivkräfte zu entwickeln. Daher müsse sich das Proletariat der verschiedenen Länder gegenseitig helfen und, um seine Aktionen zu koordinieren, in einer wirklich kommunistischen Internationale geeint sein.

Die Konferenz faßte nicht nur programmatische Beschlüsse: Eine der Resolutionen ließ erkennen, warum der erste Kominternkongreß gerade zu diesem Zeitpunkt einberufen worden war. Die Resolution richtete sich gegen die Berner Konferenz, die sozialistische Parteien vom 3. bis 10. Februar 1919 abgehalten hatten. Lenin wollte verhindern, daß revolutionäre Kräfte der Arbeiterschaft mit der II. Internationale zusammenarbeiteten, die in Bern wiederbelebt werden sollte.

Lenin hatte an der II. Internationale kritisiert, sie sei handlungsunfähig gewesen. Die Komintern sollte sofort Organe erhalten, die arbeiten konnten, bevor der nächste Kongreß die Statuten annehmen würde. Daher schuf schon der I. Weltkongreß ein Exekutivkomitee. Bis andere Parteien ihre Vertreter entsenden konnten, d. h. bis zum II. Weltkongreß, gehörten ihm nur sowjetische Kommunisten und Vertreter kleiner osteuropäischer Parteien an. Die russische Partei konnte auch den Präsidenten der Internationale stellen. Sinowjew erhielt diese Funktion. Als Sitz der Internationale wurde Moskau gewählt, da nur dort ihre Organe ungestört arbeiten konnten. Die Delegierten waren aber einig, das Hauptquartier zu verlegen, sobald die Revolution in einem Lande Mittel; oder Westeuropas siegen würde. Die „wissenschaftlichen" Voraussagen Marx', die Revolution werde sich auf die fortgeschrittenen Länder ausdehnen, schienen durch den Lauf der Geschichte bestätigt zu werden. Am 7. April 1919 wurde in Bayern eine weitere Räterepublik proklamiert. Hoch gingen die Wogen des Optimismus Sinowjews. Er schrieb in der ersten Nummer der Zeitschrift der Komintern, „Die Kommunistische Internationale": „Jetzt, wo wir diese Zeilen niederschreiben, hat die III. Internationale als ihre Haupt-basis bereits drei Sowjetrepubliken: In Ruß-land,in Ungarn und in Bayern. Aber niemand wird sich wundern, wenn zur Zeit, wo diese Zeilen im Druck erscheinen, wir bereits nicht drei, sondern sechs oder eine größere Anzahl von Sowjetrepubliken haben werden. In tollem Tempo saust das alte Europa der proletarischen Revolution entgegen ... Nach Jahresfrist werden wir bereits zu vergessen beginnen, daß es in Europa einen Kampf für den Kommunismus gegeben hat, denn nach einem Jahre wird ganz Europa kommunistisch sein."

Dieser Optimismus dauerte an, obwohl diese Räterepubliken nicht lange bestanden. Die bayerische zerbrach schon am 1. Mai, die ungarische am 1. August 1919. Die Hoffnungen der Bolschewiki hatten ihre Ursache in der revolutionären Situation, die in jenen ersten Nachkriegsjahren in Europa fortbestand. In Deutschland waren nach Ansicht der Bolschewiki die besten Voraussetzungen für einen revolutionären Umsturz gegeben, und die KPD entwickelte sich im Lauf der Jahre zur stärksten kommunistischen Partei außerhalb der Sowjetunion. Anfang 1920 wurde die Weimarer Republik durch schwere Unruhen erschüttert. Ein Generalstreik der sozialdemokratischen Arbeiterschaft brachte — ohne Zutun der KPD-Führer — den nationalistischen Kapp-Putsch zum Scheitern (März 1920). Das Exekutivkomitee der Komintern erklärte in einem Aufruf „an die Arbeiter der ganzen Welt": „Mit verhaltenem Atem verfolgen die Arbeiter aller Länder den heldenhaften Kampf der ruhmvollen deutschen Proletarier. Die werktätigen Massen der ganzen Welt hegen mit Liebe die unter unseren Augen erwachende deutsche proletarische Revolution.'

Weitere ermutigende Anzeichen wurden in der Zentrale der Komintern registriert: Noch vor dem II. Weltkongreß entstanden kommunistische Parteien in Jugoslawien, den USA (April 1919), in Bulgarien (Mai 1919), Indonesien (Mai 1920), England, Griechenland, Türkei und Persien (Juli 1920). In Deutschland aber spaltete sich die KPD (Oktober 1919). Linksradikale Elemente, die ablehnten, sich an Parlamentswahlen zu beteiligen, gründeten im April 1920 die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD). Um diese links-6 radikalen Kräfte zu belehren und zu überzeugen, veröffentlichte Lenin im Juni 1920 seine Schrift „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Dieser meisterhafte Leitfaden kommunistischer Taktik ist noch immer aktuell. Noch heute beherzigen die Kommunisten Lenins Lehren in ihrer Gewerkschaftspolitik: „Man ... muß zu allen und jedweden Opfern entschlossen sein und sogar — wenn es sein muß — zu allen möglichen Kniffen, Listen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein, um nur in die Gewerkschaften hinein-zukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.“

Im Jahre 1960 benutzten die sowjetischen Kommunisten die 40-Jahrfeier des Erscheinens dieser Schrift, um den linksradikalen Chinesen ihre Fehler vorzuhalten. 1920 aber bekannte sich Lenin darin zu dem Optimismus Sinowjews: „Die Kommunisten müssen wissen, daß die Zukunft auf jeden Fall ihnen gehört, und daher können (und müssen) wir die größte Leidenschaftlichkeit in dem gewaltigen revolutionären Kampf mit der kaltblütigsten und nüchternsten Einschätzung des Tobens der Bourgeoisie verbinden ... Aber in allen Fällen und in allen Ländern stählt und entwickelt sich der Kommunismus; er hat so tiefe Wurzeln geschlagen, daß die Verfolgungen ihn nicht schwächen, nicht entkräften, sondern stärken."

In weiten Kreisen der europäischen Arbeiterschaft herrschte damals eine kominternfreundliche Stimmung. Nicht nur kommunistische Parteien wurden gegründet, sondern in den großen sozialistischen Parteien Europas (z. B. in der deutschen USPD, der sozialistischen Partei Italiens und in der Section Frangaise International Ouvriere) drängten linke Kräfte darauf, sich der Komintern anzuschließen.

Diese Anzeichen mißverstehend, meinten die Bolschewiki, der Sieg der kommunistischen Revolution stehe in zahlreichen Ländern bevor. Sinowjew fragte z. B. die amerikanische Kommunistin Emma Goldman zu ihrem Erstaunen, nicht ob, sondern wie bald die Revolution in den Vereinigten Staaten zu erwarten sei.

Der II. Weltkongreß (19. Juli bis 7. August 1920)

Aufgabe des II. Weltkongresses war es, der Komintern handlungsfähige Organe zu geben, um das Proletariat für den Kampf um die Revolution zu organisieren. Als er eröffnet wurde, war die Lage des sowjetischen Regimes gefestigt. Die Bolschewiki hatten im Bürgerkrieg gesiegt. Im Juli 1920 marschierte die Rote, Armee, nachdem sie Pilsudskis Angriff auf Kiew abgewehrt hatte, in Richtung Warschau. Dieser Marsch diente nicht nur dazu, den Feind zu verfolgen. Die Armee der Weltrevolution sollte vielmehr, nach Westen vorstoßend, sich mit dem deutschen Proletariat, dem „fortgeschrittensten in Europa“, vereinigen. Dieses Abenteuer endete — nach dem II. Weltkongreß — mit der Niederlage vor Warschau. Es war nicht der erste und nicht der einzige Versuch, die Revolution durch Waffengewalt zu exportieren. Schon im Mai 1920 war Fedor Raskolnikow, der Befehlshaber der Roten Flotte des Kaspischen Meeres, im persischen Hafen Enzeli gelandet. Die roten Seeleute riefen gemeinsam mit persischen Kommunisten und lokalen Insurgenten in der Provinz Gilan die „Persische Sozialistische Sowjetrepublik" aus. Als Polizeichef amtierte Dschafar Dschawad Sade, der 1945 unter dem Namen Dschafar Pischewari in Tabriz Ministerpräsident der „Autonomen Republik von Aserbeidschan“ wurde. Als Berater diente ihm der Tschekist Jakob Blumkin, der im Juli 1918 den deutschen Botschafter Graf Mirbach in Moskau erschossen hatte. Dieser Exkurs auf persischem Boden war offenbar das Werk Stalins, des damaligen Volkskommissars für Nationalitäten. Georgi Tschitscherin, der Außenminister, nannte sie spöttisch „Stalins Sowjetrepublik Gilan". Die Existenz dieser Republik wurde auf dem II. Weltkongreß, anders als das Vordringen in Polen, nicht erwähnt. Der Einbruch in Persien war offensichtlich weder mit dem Vertrage von Brest-Litowsk vereinbar, in dem Sowjetrußland sich verpflichtet hatte, die Integrität Persiens zu achten, noch mit dem Selbstbestimmungsrecht für die Perser, das in dem sowjetischen Aufruf „An die werktätigen Moslems Rußlands und des Ostens" vom 7. Dezember 1917 anerkannt worden war.

Als der II. Weltkongreß eröffnet wurde, waren 217 Delegierte aus 41 Ländern anwesend. Die kommunistische Bewegung war seit dem I. Kongreß (nur 35 Delegierte!) beträchtlich gewachsen Dennoch waren die wenigen Massenparteien, die Vertreter nach Moskau entsandt hatten, nicht kommunistisch: die deutsche USPD, die französische SFIO und die Sozialistische Partei Italiens. Die Frage, ob ihre Delegierten zum Kongreß zugelassen werden sollten, wurde eingehend erörtert und schließlich bejaht. Sie erhielten beratende Stimmen. Auf dem Kongreß, der 20 Tage dauerte, wurde ein großes Pensum bewältigt. Von bleibender Bedeutung sind drei Beschlüsse geblieben: Die Statuten, die 21 Bedingungen und die Thesen über die „Nationalitäten-und Kolonialfrage". werden. Die Rote Jugendinternationale war im November 1919 in Berlin durch den deutschen Kommunisten Willy Münzenberg gegründet worden. Das EKKI hatte diktatorische Befugnisse. Es konnte verlangen, daß aus den Sektionen einzelne Mitglieder ausgeschlossen wurden, die die „internationale Disziplin" verletzt hatten. Das EKKI war aber auch berechtigt, Sektionen (d. h. nationale kommunistische Parteien) aus der Komintern auszuschließen. Dieses Recht ist einmal — 1938 gegenüber der KP Polens — ausgeübt worden.

Nach den Statuten sollten die Sektionen — außer in dringenden Fällen — über das EKKI miteinander verkehren. Auch diese Bestimmung stärkte die Macht der Zentrale.

Die Statuten ordneten ferner an, das EKKI habe eine internationale Zeitschrift, die „Kommunistische Internationale" herauszugeben.

Die Statuten Mit der Annahme der Statuten gaben die kommunistischen Parteien ihr Eigendasein auf. Die gesamte kommunistische Bewegung wurde zu einer Partei, einer Weltpartei. Die nationalen kommunistischen Parteien wurden Sektionen dieser einen Weltpartei. Höchstes Organ war der Weltkongreß, zu dem die Sektionen (d. h. die nationalen Kommunistischen Parteien) jährlich einmal ihre Delegierten nach Moskau senden sollten. Der Weltkongreß hatte über die wichtigsten Aufgaben des Programms und der Taktik zu beschließen. Der Weltkongreß wählte auch das Exekutivkomitee, EKKI genannt. Dieses in der Praxis mächtigste Organ hatte die Internationale zwischen den Weltkongressen zu leiten. Dem EKKI gehörten fünf Vertreter der Partei des Landes an, in dem die Komintern ihren Sitz hatte. Das war während des ganzen Bestehens der Internationale Rußland. Ferner entsandten die bedeutendsten Kommunistischen Parteien ihre Vertreter ins Exekutivkomitee. Zur Zeit des II. Weltkongresses gehörten ihm 25 Parteivertreter an, die sich ständig in Moskau aufhielten. Auch die Gewerkschaftsinternationale (Profintern) und die Jugendinternationale wirkten im EKKI durch je einen Vertreter mit. Die Profintern wurde während des II Weltkongresses gebildet. In ihr sollten kommunistische Gewerk-Schalter aus aller Welt zusammengeschlossen Die 21 Bedingungen Die Bolschewiki wollten die Führer der II. Internationale, die sie als wankelmütig ansahen, hindern, den Schwung „ihrer" Komintern zu bremsen. Die meisten Führer der II. Internationale standen aber an der Spitze der europäischen Massenparteien, deren Mitglieder die Kommunisten gewinnen mußten, wenn ihre Bewegung erstarken sollte. Deswegen wurde die Aufnahme in die Komintern an Bedingungen geknüpft, die jenen Führern unannehmbar waren. Zugleich betrieb die Komintern eine radikale Politik, die auf die revolutionäre Stimmung weiter Kreise der europäischen Arbeiterschaft jener Tage abgestellt war und daher Anklang bei den Massen fand. Dem Zweck, die Führer der II. Internationale auszuschalten, dienten die 21 Bedingungen. Dagegen sollten radikale Parolen, die in die Statuten und andere Resolutionen ausgenommen wurden, die revolutionär gesinnten europäischen Proletarier gewinnen, z. B.:

„Die Kommunistische Internationale stellt sich zum Ziel: mit allen Mitteln, auch mit den Waffen in der Hand, für den Sturz der internationalen Bourgeoisie und für die Schaffung einer internationalen Sowjetrepublik, als Ubergangsstufe zur vollen Vernichtung des Staates, zu kämpfen". Gegen die. wankelmütigen Führer war die 2.der 21 Bedingungen gerichtet, in der ver langt wurde, die „reformistischen und Zentrumsleute" müßten aus allen verantwortlichen Posten jeder Organisation entfernt werden, die sich der Komintern anschließen wolle.

Wankelmütige Sozialisten abzustoßen und radikale Kräfte anzuziehen, war die Aufgabe der 3. und 4. Bedingung, die alle Kommunisten verpflichteten, neben der legalen Parteiorganisation einen illegalen revolutionären Apparat zu schaffen und eine intensive illegale Zersetzungspropaganda im Heer zu treiben. In der 7. Bedingung wurden einige der „opportunistischen“ Führer der II. Internationale genannt, mit denen alle Komintern-Organisationen zu brechen hätten: Die Italiener Turati und Modigliani, die Deutschen Kautsky und Hilferding, der Engländer MacDonald und der Amerikaner Hillquith sowie der Franzose Longuet.

Durch die 12. Bedingung wurde das Prinzip des demokratischen Zentralismus (Wahl aller Parteiorgane von unten nach oben; Befehls-gewalt der gewählten Organe gegenüber den Untergliederungen) für alle Parteien eingeführt, die der Komintern angehören wollten. Die Mitglieder schuldeten den Parteizentralen nunmehr „eiserne Disziplin". Diese Regelung sollte demokratische Sozialisten abhalten, für den Beitritt ihrer Organisationen zur Komintern zu stimmen. Nach der 19. Bedingung hatten aile Parteien, die der Komintern beitreten wollten, binnen 4 Monate:, nach dem II. Weltkongreß einen Parteitag abzuhalten, der über den Beitritt entscheiden sollte. Mitglieder, die mit den Bedingungen der Komintern nicht einverstanden waren, sollten ausgeschlossen werden (21. Bedingung).

Aus der 19. Bedingung ging klar hervor: Die Kominternführung wollte die sozialistischen Parteien spalten und die Masse ihrer Mitglieder für die kommunistische Organisation gewinnen. In einigen Fällen ist das gelungen, und zwar auch in Deutschland, wo schon eine kommunistische Partei bestand.

Zu dem entscheidenden Kongreß der USPD (Oktober 1920 in Halle) reiste Sinowjew selbst. Durch eine mehrstündige, schwungvolle Rede brachte er — zusammen mit Paul Levi, dem Führer der KPD — die Mehrheit dazu, die 21 Bedingungen anzunehmen. Die USPD, die 800 000 Mitglieder hatte, wurde gespalten. Die ausgeschiedene Mehrheit bildete im Dezember 1920 mit der KPD (Spartakusbund) die neue große Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD).

In Frankreich bestand noch keine Kommunistische Partei. Aber auch dort hatte ein Parteitag der sozialistischen Section Francaise International Ouvriere (SFIO) über den Anschluß an die Komintern zu entscheiden. Zum Kongreß von Tours (Dezember 1920) hatte die Komintern die alte deutsche Kommunistin Clara Zetkin gesandt, die schon durch ihr Erscheinen begeisterte. Sie hatte das Einreise-verbot der französischen Regierung umgangen. Clara Zetkin rief die Delegierten auf, sich von den Opportunisten zu trennen. Eine Zweidrittelmehrheit folgte ihr. Die Minderheit verließ den Kongreß, an dessen letztem Tage die KP Frankreichs gegründet wurde.

Auch die Sozialistische Partei Italiens wurde gespalten. Auf dem Kongreß von Livorno (Januar 1921) taktierten jedoch die Kominterndelegierten, der Ungar Rakosi und der Bulgare Kabaktchieff ungeschickter als Sinowjew in Halle und Zetkin in Tours. Sie verlangten die Annahme der 21 Bedingungen und beschimpften die zögernden Delegierten als „Opportunisten", „Sozialpatrioten", ja sogar als Verräter. Nur ein Drittel der Stimmen entfielen auf die Anhänger der Komintern, die von Bordiga geführt wurden. Die Mehrheit stimmte für zwei sozialistische Gruppen, deren Führer Turati und Serrati waren.

Auch die sozialistischen Parteien der Tschechoslowakei und Schwedens spalteten sich über der Frage, ob die 21 Bedingungen angenommen werden sollten. Nur in kleineren Ländern Osteuropas (Bulgarien, Polen, den Baltischen Staaten) blieb die Arbeiterbewegung unberührt, meist weil dort schon kommunistische Parteien bestanden. In England konnte die schwache KP die solide Labour Party nicht beeinflussen.

Im Ganzen hatten die 21 Bedingungen ihren Zweck erfüllt: „Reformisten" gelangten nicht in die Komintern. Starke sozialististische Parteien wurden gespalten. Radikale Kräfte verstärkten die kommunistischen Parteien. Die Thesen über die Nationalitäten-und Kolonialfrage Lenin bewies sein taktisches Genie nicht nur im „Linken Radikalismus", der für den Westen geschrieben war, sondern auch durch die „Thesen über die Nationalitäten-und Kolonial-frage". In kapitalistischen Ländern sollten die Kommunisten die Gewerkschaftsbewegung und den Parlamentarismus benutzen. Im Osten, d. h. in den Kolonialgebieten, erschien ihm der Nationalismus geeignet, den Kommunisten als Steigbügel zur Macht zu dienen. Deswegen schlug Lenin dem II. Kongreß in seinem Thesenentwurf vor, in den kolonialen und halbkolonialen Gebieten sollten die Kommunisten die „bürgerlich-demokratische Freiheitsbewegung" unterstützen. Ähnliche Gedanken hatte schon Bucharin auf dem VIII. Kongreß der KPR (März 1919) ausgesprochen: „Wenn wir vorschlagen, den Kolonien das Selbstbestimmungsrecht zu geben , .. . verlieren wir nichts. Im Gegenteil, wir gewinnen . . . Die schärfste nationalistische Bewegung . . . treibt nur Wasser auf unsere Mühlen, denn sie trägt dazu bei, den englischen Imperialismus zu zerstören."

Lenin hielt es für richtig, diese Manifestation von „Realpolitik" etwas zu verhüllen. Er erklärte dem II. Kongreß, nationale Bewegungen müßten einen bürgerlichen Charakter haben. Man könne sie unterstützen, wenn sie duldeten, daß die Kommunisten — mangels eines Proletariats — die Bauernschaft revolutionär ausbildeten. Dieser Ansicht trat der Inder Manabendra Nath Roy an der Spitze einiger Delegierter aus Ländern des Ostens entgegen. Er verwies auf die schnelle industrielle Entwicklung in Indien, durch die — unabhängig vom bürgerlichen Nationalismus — eine revolutionäre Bewegung unter den Ausgebeuteten geschaffen worden sei. Diese Bewegung sei imstande, den Zusammenbruch des europäischen Imperialismus herbeizuführen. Lenin setzte seine Ansicht durch. Jedoch kam er Roy in der Formulierung entgegen Statt „bürgerlich-demokratische" Freiheitsbewegungen sollten die Komunisten im Orient nun .. nationalrevolutionäre“ unterstützen In der Sache war damit wenig geändert. Es kam darauf an, diese Taktik in der Praxis anzuwenden.

Der Erste Kongreß der Völker des Ostens Die Mobilisierung des Nationalismus richtete damaligen sich gegen Sowjetrußlands Haupt-feind: England. Das ging schon aus Bucharins Worten an den VIII. Parteitag hervor. Das EKKI richtete gleichfalls scharfe Angriffe gegen England, als es im Juli 1920 die Arbeiter und Bauern des Nahen Ostens nach Baku zu einem Kongreß einlud, der am 1. September begann.

Auf diesem Ersten Kongreß der Völker des Ostens stachelte Sinowjew, der Präsident des EKKI, schon in der Eröffnungsrede den Haß der Perser, Türken, Mesopotamier und Inder gegen den britischen und französischen Imperialismus an. Er — ein Atheist — rief zum „Heiligen Krieg" auf und fand damit begeisterten Widerhall. Aber weder er noch Radek und Bela Kun, die mit ihm das EKKI vertraten, hielten sich an Lenins elastische Taktik. Radek griff die Schahs, Emirs und Khans an. Kun hetzte gegen die nationale Bourgeoisie der Länder des Ostens. Die Kominterndelegierten folgten damit der „linken" Taktik, die in den Statuten der Internationale verankert war und keinen Raum dafür ließ, „nationalrevolutionäre Freiheitsbewegungen" zu unterstützen. Mißtönend mögen in Sinowjews Ohr die Worte eines Delegierten geklungen haben, der aus Turkestan kam, wo seit 1917 freiheitsliebende Turkmenen um Autonomie kämpften Er forderte, die Bolschewik! sollten beweisen, daß sie nicht rote Imperialisten seien. Sie sollten ihre Kolonisatoren beseitigen, die unter der Maske des Kommunismus arbeiteten.

Das einzige greifbare Ergebnis des Kongresses von Baku war die Bildung des „Rates für Aktion und Propaganda", der in Baku seinen Sitz haben sollte. Er hatte die Aufgabe, im Osten Propaganda zu treiben, die lokalen Freiheitsbewegungen zu einigen und eine Zeitung in drei Sprachen herauszugeben.

Der „Rat" bestand nur etwa ein Jahr. Er entfaltete keine nennenswerte Tätigkeit, denn schon im März 1921 schloß Sowjetrußland mit England, der Macht, gegen die der „Heilige Krieg" hatte entbrennen sollen, einen Handelsvertrag ab Darin verpflichtete sich Sowjetrußland, seine propagandistischen Angriffe auf Großbritannien einzustellen. Durch diesen Ver trag kam auch ein anderes phantastisches Projekt zum Erliegen, der Plan, eine Befreiungsarmee von Taschkent nach Indien marschieren zu lassen, um die englische Herrschaft zu zerschlagen. Der schon erwähnte M. N. Roy berichtet in seinen Memoiren, er sei nach dem II. Weltkongreß von Lenin nach Taschkent in das Zentralistische Büro gesandt worden, in dem noch Safarow, der erste Leiter der Ostabteilung der Komintern, und Genera] Sokolnikow, der die sowjetischen Truppen in Zentral-asien befehligte, gearbeitet hätten. Der Rat der Volkskommissare habe seinen — Roys — Plan gebilligt, aus indischen Moslems, die damals zu Tausenden nach Afghanistan und Turkestan emigriert seien, eine Befreiunasarmee aufzustellen. Zwei Eisenbahnzüge mit Waffen, Gold und Geld in indischer Währung habe die Sowjetregierung ihm zur Verfügung gestellt.

Die Befreiungsarmee marschierte aus dem gleichen Grunde nicht, der den „Rat" von Baku an Aktionen hinderte: Der britische Handel sollte helfen, die wirtschaftliche Notlage in Sowjetrußland zu überwinden. Nicht nur mit England schloß der Sowjetstaat im Frühjahr 1921 Verträge ab, sondern auch mit der Türkei, mit Persien und mit Afghanistan. Das bedeutete: der Kampf gegen die „Emirs und Schahs'wurde aufgeschoben. Die Bolschewik! wandten sich Mitteleuropa zu, wo ein Industrieproletariat, der vom klassischen Marxismus anerkannte Bundesgenosse, bereitstand.

II. Die Internationale Revolution scheitert

Das Ende der revolutionären Welle Auf dem II. Weltkongreß erreichte die revolutionäre Stimmung der Kommunisten ihren Höhepunkt. Unmittelbar nach dem Kongreß brach der sowjetische Vormarsch nach Mitteleuropa in der Schlacht bei Warschau zusammen (15. August 1920).

Auch revolutionäre Aktionen im Inneren europäischer Länder scheiterten. Im September 1920 versuchten in Italien kommunistische Arbeiter vergeblich, Fabriken und Latifundien zu besetzen In der Tschechoslowakei mißlang der Versuch revolutionärer Elemente, im Dezember 1920 einen Generalstreik auszurufen. Auch in Deutschland stand den Kommunisten eine schwere Niederlage bevor.

Die VKPD hatte — entsprechend der im Kominternstatut enthaltenen Pflicht — begonnen, illegale Kampforganisationen aufzustellen. Eine MP-(militärpolitische) Organisation und ein N-(Nachrichten)

Apparat waren entstanden. Die MP-Organisation bildete ihre Mitglieder waffentechnisch aus und ließ Nachtmärsche unternehmen. Der N-Apparat widmete sich der Zersetzung von Reichswehr und Polizei. Die deutschen Kommunisten nahmen die revolutionären Losungen des II. Weltkongresses wörtlich. Sie bereiteten die „Offensive mit dem Bajonett" vor.

Die Bolschewiki glaubten noch immer, eine Revolution in dem „fortgeschrittenen" Deutschland könne das mit inneren Schwierigkeiten schwer ringende sowjetische System retten. Das EKKI sandte „Vertrauensleute" nach Deutschland: die Ungarn Bela Kun, Matthias Rakosi, Josef Pogany, die Erfahrungen während der ungarischen Rätediktatur gesammelt hatten, und den Litauer August Guralski. Zeit und Ort des Aufstandes bestimmten die Kommunisten nicht selbst. Sie schlugen los, als im März 1921 die preußische Polizei in das Mansfeldsche Industrierevier, eine mitteldeutsche Hochburg der Kommunisten, einrückte. Um die Arbeiterschaft aufzuputschen, wurden von Angehörigen der kommunistischen Apparate provokatorische Bombenexplosionen (in Halle und Breslau) und Eisenbahnattentate verübt. Das Zentralorgan der VKPD, die „Rote Fahne“, erschien am 20. März mit der Überschrift „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich", ein Schlagwort des Anarchisten Bakunin, durch das die sozialdemokratischen Arbeiter zurückgestoßen wurden. Nachdem in Mansfeld Kämpfe ausgebrochen waren, rief die VKPD in ganz Deutschland zum Generalstreik auf. Die Streikparolen wurden jedoch nur in Teilen von Sachsen, im Ruhrgebiet und in Berlin befolgt. Zum bewaffneten Aufstand kam es nur in Mitteldeutschland, wo Polizei und Reichs-wehr in blutigen Kämpfen die Oberhand gewannen. In der VKPD entstand eine schwere Krise. Paul Levi, der ihr erster Vorsitzender war, gewesen wandte sich öffentlich gegen die „Putschisten" in der VKPD und der Komintern. Er wurde im April 1921 aus der Partei ausgeschlossen.

Die sowjetische Krise von 1921

Während in den Monaten nach dem II. Weltkongreß die Aufstände in Europa einer nach dem anderen zusammenbrachen, stand das Sowjetsystem einer schweren inneren Krise gegenüber. Zwischen Januar 1918 und Juli 1920 sind nach vorsichtigen Schätzungen sieben Millionen Menschen an Epidemien und Unterernährung gestorben. Die „Arbeiteropposition", eine Gewerkschaftsbewegung, wandte sich, geführt von Alexander Schljapnikow und Juri Lutowinow, gegen die Diktatur der Partei. Die Kontrolle der Industrie, so forderte sie, müsse auf die Gewerkschaften übergehen. Diese Opposition versuchte, ihre Vorschläge innerhalb der Partei durchzusetzen. Sie stützte sich auf breite unzufriedene Bevölkerungsschichten und bedeutete deshalb — nicht wegen des Inhalts ihrer Forderungen — eine Gefahr für die zentralistische Parteiherrschaft. Lenin wollte das Regime der Partei unter allen Umständen halten. Er ließ auf dem X. Parteitag (März 1921) eine Resolution „Uber die Einheit der Partei" fassen, die jede Fraktionsbildung mit strengen Disziplinarmaßnahmen bedrohte. Wie eine Bombe traf die Delegierten des Parteitags die Nachricht aus Leningrad, daß die Kronstädter Matrosen sich gegen die Parteidiktatur erhoben hätten. Seit 1917 hatten diese Matrosen den Ruf, zu den Kerntruppen der Revolution zu gehören. Jetzt verlangten sie in der „Generalversammlung der Linienschiffe": Wiederwahl der Sowjets in geheimer Abstimmung, Freiheit für Gewerkschaften und Bauernbünde. Auf Befehl der Partei griff die von Trotzki geschaffene Rote Armee die Kronstädter Meuterer an. Das revolutionäre Komitee der Matrosen funkte eine Botschaft an die Welt:

„Der erste Schuß ist gefallen. Aber die ganze Welt weiß es. Der blutige Feldmarschall Trotzki, der bis zu den Hüften im Bruderblut der Arbeiter watet, hat als erster das Feuer gegen das revolutionäre Kron12 stadt eröffnet, das sich gegen die kommunistische Regierung empörte, um die wirkliche Macht der Sowjets wiederherzustellen. Wir stehen oder fallen mit den Ruinen von Kronstadt, im Kampf für die blutbefleckte Sache der werktätigen Menschheit. Es lebe die Macht der Sowjets, es lebe die sozialistische Weltrevolution!"

Der Aufstand wurde militärisch niedergeschlagen. Aber damit war die Krise nicht überwunden. Lenin gab zwar den Angriffen gegen die zentralistische Parteiherrschaft nicht nach. Er versuchte jedoch, die wirtschaftliche Produktion durch Konzessionen an kapitalistische Wirtschaftsformen zu heben. Die Neue ökonomische Politik (NEP) wurde begonnen. Lenin suchte auch, die sofortige Hilfe der Arbeiterschaft der Welt für Sowjetrußland zu mobilisieren. Für diese Aufgabe fand er einen fähigen Organisator: Willy Münzenberg. Münzenberg gründete im September 1921 die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) und konnte noch im selben Jahre 21 Schiffsladungen mit Sachspenden in die Sowjetunion expedieren. 1922 folgten weitere 78 Schiffe.

Die erste große Linienänderung Das Scheitern der Revolution in Europa bewirkte zweierlei: Die Taktik der Internationale mußte der Lage angepaßt werden, und das Kräfteverhältnis in der Komintern verschob sich zugunsten der sowjetischen Partei.

Die Taktik des bewaffneten AufStandes hatte geringe Erfolgsaussichten, solange das Bürgertum sich entschlossen wehrte und die Kommunisten nicht die Masse der Arbeiterschaft gewonnen hatten. Lenin und Trotzki versuchten, diese Einsicht den Führern der Komintern auf dem III. Weltkongreß (Juni/Juli 1921) verständlich zu machen. Trotzki erklärte später:

„Die Parole des III. Kongresses lautete nicht einfach . Heran an die Massen', sondern:

. Heran an die Macht durch eine vorherige Eroberung der Massen-."

Und Lenin verkündete auf dem III. Kongreß:

„Unsere einzige Strategie jetzt ist, mächtiger zu werden, und darum klüger, mäßiger, opportunistischer, und das müssen wir den Massen sagen.“

Mäßiger, opportunistischer zu werden und damit die Massen zu gewinnen, das war die neue Taktik. Die Massen standen im Lager der sozialistischen Parteien. Sollten die Kommunisten sich etwa mit den Sozialisten einigen, die sie noch auf dem II. Weltkongreß als Zentralisten, Reformisten, als Verräter an der Revolution beschimpft hatten? Das wurde auf dem III. Weltkongreß noch nicht offen gesagt. Aber die „Thesen über die Einheitsfront“, die das EKKI im Dezember 1921, also noch vor dem IV. Weltkongreß, annahm, riefen die Kommunistischen Parteien auf, mit den Sozialisten und den „gelben“ Gewerkschaftern zusammenzuarbeiten. Karl Radek ließ keinen Zweifel, wie diese Zusammenarbeit gemeint war:

„Wir haben diesen Weg nicht beschritten, weil wir uns mit den Sozialdemokraten vermischen wollen, sondern wir wissen, daß wir sie in unserer Umarmung ersticken werden.“

Obwohl diese löbliche Absicht allen führenden Kommunisten bekannt war, haben einige Parteien der neuen Taktik scharf widersprochen. Die deutschen Kommunisten waren zwar bereit, die Einheitsfront der Arbeiter zu unterstützen. Aber die KP Frankreichs erklärte: da sie in ihrer Propaganda die Sozialdemokraten als die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse hingestellt habe, werde die neue Taktik die Arbeiter nur verwirren. Auch die italienische Partei verwarf die Einheitsfronttaktik für die politische Arbeit. Die Franzosen verlangten, das Problem solle auf die Tagesordnung des nächsten Weltkongresses gesetzt werden. Sie erklärten aber nicht ausdrücklich, das EKKI sei nicht befugt gewesen, die Taktik der Internationale so völlig umzuwerfen. (Nach dem Statut hatte das höchste Organ, der Weltkongreß, auch taktische Grundfragen zu entscheiden.) Bevor der nächste Weltkongreß stattfand, schuf das EKKI weitere „vollendete“ Tatsachen. Seine Vertreter verhandelten mit der jahrelang geschmähten II. Internationale und mit der verhöhnten „Internationale 21/2" (so nannten die Kommunisten die von dem Wiener Friedrich Adler gegründete Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien). Die Konferenz der drei Internationalen fand im April 1922 im Berliner Reichstagsgebäude statt. Sie scheiterte, weil die westlichen Sozialisten die Absicht der Kommu-B nisten erkannten: die Arbeiter von ihren Führern zu trennen, sie für den Kommunismus zu gewinnen und damit die sozialistischen Parteien zu vernichten.

Emil Vandervelde, Sprecher der II. Internationale, der mehrmals belgischer Ministerpräsident gewesen war, erklärte auf dieser Konferenz:

„Man appellierte an die Einheit aller, man schlägt uns vor, die Einheitsfront zu verwirklichen, aber man verbirgt den Hintergedanken nicht, uns zunächst zu umarmen, dann uns zu ersticken oder zu vergiften.“

Auch nach dem Scheitern der Konferenz hielt das EKKI an der Einheitsfronttaktik fest. Auf dem IV. Weltkongreß (5. November bis 5. Dezember 1922) widersprachen „linke“ Kommunisten offen der neuen Taktik: Duret (Frankreich), Dombsky (Polen), Bordiga (Italien) und Ruth Fischer (Deutschland). Der Kongreß bestätigte jedoch die Einheitsfronttaktik und nahm in seinen Beschluß über die Taktik folgenden Abschnitt auf:

„Internationale Disziplin Um die Taktik der Einheitsfront international und in jedem einzelnen Lande durchzuführen, bedarf es jetzt mehr denn je der strengsten internationalen Disziplin in der Kommunistischen Internationale und in jeder ihrer einzelnen Sektionen.

Der IV. Kongreß fordert kategorisch von allen Sektionen und allen Mitgliedern die strengste Disziplin in der Durchführung der Taktik, die nur dann Früchte zeitigen kann, wenn die einmütige und planmäßige Durchführung dieser Taktik in allen Ländern nicht nur in Worten, sondern auch durch Taten geschehen wird.“

Nach den Statuten war das EKKI berechtigt, den Ausschluß von Mitgliedern zu verlangen, die gegen die Internationale Disziplin verstießen. Der Beschluß des IV. Kongresses über die Internationale Disziplin gab dem EKKI eine Waffe, Abweichler in taktischen Fragen scharf zu bekämpfen.

Die Gleichberechtigung wird untergraben Bei Kominterngründung und noch auf den ersten Weltkongressen waren die kommunistischen Parteien gleichberechtigt, und ihre Ver13 treter diskutierten frei. Nach und nach wurde jedoch der Einfluß, den die sowjetische Partei im EKKI hatte, größer, als er nach den Statuten und nach der Zahl der russischen Vertreter im EKKI hätte sein dürfen. Worauf beruhte das? Die russische Partei regierte als einzige einen Staat. Ihr Weg zur Macht wurde vom II. Weltkongreß als vorbildlich erklärt. Auf dem Gebiet des sowjetischen Staates fanden die Weltkongresse statt und hatte das EKKI seinen Sitz. Die russische Partei stellte zahlreiche hauptamtliche Funktionäre, die im EKKI arbeiteten. Sie gab — last not least — die finanziellen Mittel, ohne die das EKKI nicht hätte arbeiten können.

Die Machtposition, die auf diese Weise der russischen Partei zufiel, entsprach nicht den Ansichten der Klassiker des Marxismus. 1870 — zur Zeit der I. Internationale — schrieb Engels an Marx:

„ ,,. eine kostbare Zumutung, daß, um Einheit ins europäische Proletariat zu bringen, es russisch kommandiert werden muß!

... unter dem Vorwande des principe international werden sie sich überall bei den Arbeitern einschleichen, sich Führerrollen erschleichen, ihren bei Russen unvermeidlichen Privatintrigenkrakeel in die Sektionen tragen, und dann wird der Generalcouncil Arbeit genug haben."

Auch Lenin dachte nicht an eine dauernde Vorherrschaft seiner Partei. Im „Linken Radikalismus" erklärte er;

„Ebenso wäre es verfehlt, außer acht zu lassen, daß nach dem Sieg der proletarischen Revolution, sei es auch nur in einem der fortgeschrittenen Länder, aller Wahrscheinlichkeit nach ein jäher Umschwung eintreten wird, nämlich: Rußland wird bald danach nicht mehr ein vorbildliches, sondern wieder ein (im sowjetischen und im sozialistischen Sinne) rückständiges Land werden."

Die Entwicklung verlief jedoch anders, als Lenin 1920 erwartete: In keinem der „fortgeschrittenen" Länder siegte die Revolution. Infolgedessen wog in der Internationale das Gewicht der einzigen kommunistischen Partei, die sich — schwer ringend — an der Macht hielt, um so schwerer. Noch auf dem II, Welt-14 kongreß (1920) hatte Lenin erklärt, die Interessen eines einzelnen Landes müßten dem internationalen proletarischen Kampf untergeordnet werden. Auf dem IV. Weltkongreß (1922) verlangte Bucharin dagegen, das Proletariat der anderen Länder müsse den sowjetischen Staat verteidigen. Das war ein Blick in die Zukunft. Die Komintern sollte zum Schauplatz der Kämpfe in der KPdSU und zum Instrument der sowjetischen Außenpolitik werden. 1923 — ein Jahr neuer Niederlagen Auf den Weltkongressen der Jahre 1921 und 1922 gab die Kominternführung zu, daß der Kapitalismus in Europa durch die revolutionäre Welle nicht „hinweggeschwemmt“ werden konnte. Aber sie sah nicht voraus, welche schwere Niederlagen ihr noch bevorstanden.

In Italien hatte Mussolini im Oktober 1922 die Macht erobert. Sein Kampf war durch die Uneinigkeit zwischen Sozialisten und Kommunisten erleichtert worden.

In Bulgarien regierte seit 1918 die Bauernpartei unter Stambulijski. Die Kommunistische Partei wuchs, sie beherrschte einige Gewerkschaften und erhielt bei den Wahlen etwa 25 ’/o der Stimmen. Im Juni 1923 stürzten konservative Kräfte, geführt von Zankoff, durch einen Staatsstreich die Regierung der Bauernpartei. Ein kurzer Bürgerkrieg folgte, in dem die Kommunistische Partei passiv blieb. Statt gemeinsam mit der Bauernpartei zu kämpfen, erklärten die Kommunisten den Bürgerkrieg als einen Konflikt zweier Gruppen der Bourgeoisie. Das EKKI kritisierte die bulgarische Partei und sandte Kolaroff nach Bulgarien. Er sollte gemeinsam mit Dimitroff, der im Lande war, einen bewaffneten Aufstand organisieren. Schlecht vorbereitet, scheiterte der kommunistische Umsturz im September. Der Regierung Zankoffs war ein Anlaß geliefert, die Kommunisten scharf zu verfolgen.

In Deutschland verschärfte sich die Inflation, nachdem Frankreich im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzt hatte. Die Bevölkerung litt mehr als im Weltkriege. In weiten Kreisen erwachte der Wunsch, den Eindringlingen einen geeinten nationalen Widerstand entgegenzustellen. Auf dieser nationalen Welle versuchte auch die Komintern zu schwimmen. Im Juni 1923 hielt der wendige Radek — er war auch einer der Väter des Einheitsfrontgedankens — auf einer EKKI-Sitzung seine „Schlageter-Rede". Damit leitete er als Kominternbeauftragter für die KPD den Schlageterkurs ein. Der Volks-kampf gegen Frankreich wurde zum Schlachtruf für Nationalisten und Kommunisten. Große gemeinsame Aktionen fanden jedoch nicht statt. Der Schlageterkurs wurde im Herbst 1923 aufgegeben. Was die bittere Not des Volkes nicht vermocht, was Unruhen vor Lebensmittelgeschäften in Berlin, Dresden, Hamburg und Köln, Landarbeiterstreiks in Ostpreußen, nicht bewirkt hatten — ein Ereignis veranlaßte die Komintern zum Handeln: Im August übernahm Stresemann die Reichsregierung und versuchte, sich mit Frankreich zu einigen. Am 11. September 1923 beschloß das Politbüro der KPdSU — schon war das EKKI nicht mehr die entscheidende Stelle — in Deutschland einen bewaffneten Umsturz zu unternehmen. Auf einer geheimen Sondersitzung in Moskau berieten die Komintern-funktionäre mit den deutschen Kommunisten, wie dieser Entschluß zu verwirklichen sei. Der Vorschlag Brandlers, des Führers der KPD, in Sachsen und Thüringen sollten die Kommunisten in die linkssozialistischen Regierungen eintreten, wurde gebilligt. Brandler, Heckert und Böttcher traten in die sächsische Regierung ein, Korsch in die thüringische. Die Komintern beauftragte sie, sich darauf zu konzentrieren, die Arbeiter zu bewaffnen. Kern der proletarischen Armee sollten die schon bestehenden Roten Hundertschaften sein. Der Plan sah weiter vor, die Rote Armee Sachsens nach Berlin, die Thüringens nach München marschieren zu lassen. Die Zeit für die Aufstandsvorbereitungen war knapp. Die KPD bildete einen „Ständigen Militärischen Rat", den Ernst Schneller leitete. Darunter standen sechs MP-(militärpolitische) Oberleitungen, die den sechs Wehr-kreisen der Reichswehr entsprachen. Da nicht genügend militärisch ausgebildete Kräfte vorhanden waren, sandte das sowjetische Politbüro Offiziere der Roten Armee nach Deutschland, die militärische Formationen ausbilden und bei Operationen mitwirken sollten. „Militärischer Reichsleiter" war Alexander Skoblewski, der sich in Rußland Gorew nannte. Er wurde nach dem Scheitern des Aufstandes vom Reichsgericht zum Tode verurteilt. Politischer

Leiter des Militärapparats der KPD warAugust Guralski, der schon an der Märzaktion von 1921 als Kominternbeauftragter mitgewirkt hatte. 1923 weilten im Auftrage des EKKI auch Radek und Pjatakow in Deutschland und hielten engen Kontakt mit der Zentrale der KPD. Gemeinsam wurde beschlossen, den Aufstand am 23. Oktober zu beginnen. Am 20. Oktober rückte die Reichswehr auf Befehl der Reichs-regierung in Sachsen ein. Die KPD-Führung ging von Berlin nach Chemnitz, wo auf einer Betriebsrätekonferenz beschlossen werden sollte, den Generalstreik auszurufen. In Chemnitz entschieden sich die Kommunisten jedoch — offenbar unter dem Eindruck des Vorrükkens der Reichswehr und der Mängel der eigenen militärischen Vorbereitungen — Generalstreik und Aufstand abzusagen. Kuriere wurden zu den sechs „MP-(militärpolitischen) Ober-leitungen" gesandt, die den Aufstandsbefehl zu widerrufen hatten.

In Hamburg brach der Aufstand dennoch aus, weil Hermann Remmele, der Kurier zur MP-Oberleitung „Wasserkante", den Zug verpaßte. Er traf nicht rechtzeitig genug in Hamburg ein, um den Ausbruch der Kämpfe zu verhindern. Der Aufstand der isoliert kämpfenden Hamburger Kommunisten wurde schnell niedergeworfen. Polizei und Arbeiter brachten blutige Opfer, sinnlose Opfer.

Damit war auch dieser Versuch, die Revolution durch bewaffneten Umsturz auf Deutschland auszudehnen, gescheitert. Warum gescheitert? Die Voraussetzungen einer Revolution waren in den katastrophalen Zuständen von 1923 durchaus gegeben. Die Komintern-führung hatte aber verkannt, daß der Staatsapparat intakt war und daß Polizei und Reichs-wehr hinter der Regierung standen. Gegen eine solche Macht ist der Kampf kurz ausgebildeter, schlecht bewaffneter Arbeitermilizen aussichtslos. Das mag Brandler klar geworden sein, als die Reichswehr marschierte. Was machten aber die Komintern und die KPD aus dieser rühmlosen Niederlage? In leuchtenden Farben wird die Tragikomödie von Hamburg als spontaner Aufstand der Arbeiterschaft unter Führung von Ernst Thälmann geschildert. Die Erfahrungen in Bulgarien und Deutschland, so deprimierend sie waren, lehrten die Moskauer Kominternführung, daß die Taktik des bewaffneten Aufstandes in Europa gescheitert war. Die Vision eines europäischen „Oktobers", der die Bolschewik! nachgejagt waren, hatte sich als Trugbild erwiesen.

III. Die Komintern — Schauplatz sowjetischer Machtkämpfe

Sozialismus In einem Lande Lenin starb am 21. Januar 1924. In einem Briel . an den Parteitag'vom 23. /24. Dezember 1922 hatte er Trotzki als den „vermutlich fähigsten Mann im gegenwärtigen ZK" bezeichnet und vorgeschlagen, Stalin als Generalsekretär abzusetzen. Stalins Versuch, sich dennoch an der Spitze der KPdSU zu behaupten, wurde durch die Rivalität Trotzkis zu Sinowjew und Kamenew erleichtert. Der Machtkampf in der sowjetischen Partei spiegelte sich in den Diskussionen wieder, die über die „verpaßte Gelegenheit“ der deutschen Revolution um die Jahres-wende 1923/24 in Moskau stattfanden. Sinowjew, besorgt um seine Stellung in der KPdSU, versuchte Radek, den Anhänger Trotzkis, und Brandler zu Sündenböcken zu machen.

Stalin war in einer günstigen Lage. Er hatte vor dem Aufstand an Sinowjew und Bucharin geschrieben:

„Sollen wir Kommunisten (in der gegenwärtigen Phase) versuchen, ohne die Sozialdemokraten die Macht zu ergreifen? Sind wir reif genug dafür? Das ist nach meiner Ansicht die ganze Frage. Als wir die Macht übernahmen, hatten wir in Rußland als Reserven: a) das Brot, b) konnten wir den Bauern das ganze Land geben, c) unterstützte uns die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse, d) sympathisierten die Bauern mit uns. Die deutschen Kommunisten haben im gegenwärtigen Augenblick nichts dergleichen. Gewiß, sie haben in ihrer Nachbarschaft die Sowjetunion, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen im gegenwärtigen Augenblick bieten? Wenn die Macht heute in Deutschland sozusagen fallen würde und die deutschen Kommunisten sie aufnähmen, würden sie mit Krach durchfallen "

Trotzki erklärte dazu:

„Dieses jämmerliche Dokument, in dem jede Zeile von krasser Ignoranz zeugt, stellt den Beginn von Stalins Teilnahme an den Arbeiten der Kommunistischen Internationale dar;

er hatte an keinem der Kongresse der Internationale teilgenommen, und es ist leicht zu verstehen, warum die Leitung der russischen Kommunistischen Partei ihn davon ferngehalten Stalin hielt sich nicht länger der Komintern fern, die eine Machtposition Sinowjews, aber nicht nur Sinowjews war. Auch Trotzki hatte zahlreiche Anhänger in der Komintern. Am V. Weltkongreß (Juni/Juli 1924) nahm Stalin teil. Seine Erfahrung in der sowjetischen Partei hatte ihn gelehrt, Machtpositionen auf organisatorischem Wege zu schaffen. Er bemühte sich, mit zahlreichen europäischen Delegierten persönlich bekannt zu werden. Sein nächster Schritt war, im EKKI seinen Vertrauten Dimitri Manuilski unterzubringen, der dort eine Schlüsselstellung einnahm, bis es aufgelöst wurde.

Von den Aussichten der Revolution in Europa hatte Stalin nie viel gehalten. Schon im Januar 1918 erklärte er bei Beratungen über die Friedensbedingungen von Brest-Litowsk:

„Es gibt keine revolutionäre Bewegung im Westen. Es gibt hierfür keine Tatsachen.“ Stalin verhehlte nicht, daß er die europäischen Kommunisten wegen des Scheiterns ihrer Revolutionsversuche verachte. Die Komintern nannte er eine „Lawotschka", einen Krämerladen. Sein gefährlichster Gegner, Trotzki, vertrat die Theorie der permanenten Revolution:

„Entweder die russische Revolution wird eine revolutionäre Bewegung in Europa auslösen oder die reaktionären Mächte Europas werden das revolutionäre Rußland zerstören." Trotzki fußte damit auf den Lehren von Marx und Engels („Ansprache der Zentralbehörde an den Bund“):

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasd und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprache zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.'

Auch Lenin hatte wiederholt die gleiche Ansicht vertreten, z. B. (III. Weltkongreß):

„Entweder kommt uns die internationale Revolution zu Hilfe, dann ist unser Sieg ganz sicher, oder wir machen unsere bescheidene revolutionäre Arbeit in dem Bewußtsein, daß wir im Falle einer Niederlage immerhin der Sache der Revolution nützen, daß unsere Erfahrungen den anderen Revolutionen von Nutzen sein werden. Es war uns klar, daß ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder gleich oder wenigstens sehr schnell kommt die Revolution in den übrigen Ländern, in den kapitalistisch entwickelten Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen.“

übereinstimmend hatte auch Stalin noch im Frühjahr 1924 erklärt:

„Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande zu errichten, heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. ... Dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig. Deshalb ist die Entwicklung und Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern eine wesentliche Aufgabe der siegreichen Revolution.

Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes nicht als eine sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Mittel zur Beschleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern.“ Mit dieser gesicherten marxistisch-leninistischen Ansicht brach Stalin im Dezember 1924. Der Lehre von der Permanenz der Revolution stellte er die Theorie vom Sozialismus in einem Lande entgegen:

„Der Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten unserer Revolution, der Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten des russischen Proletariats — das ist die Grundlage der Theorie der . permanenten R* evolution'.

„Da aber nun im Westen der Sieg noch nicht da ist, so bleibt der Revolution in Rußland nur die . Wahl': entweder auf dem Halme zu verfaulen oder zu einem bürgerlichen Staat zu entarten.“

Hier ließ Stalin ein Motiv erkennen, das ihn bewog, die Gegentheorie aufzustellen: Es war nicht gelungen, die Revolution auf andere Länder zu übertragen. Sollte deswegen die russische Revolution verloren sein? „Nein“, erklärte Stalin:

„Infolgedessen ist der Sieg des Sozialismus in einem Lande, selbst wenn dieses Land kapitalistisch weniger entwickelt ist, bei Fortbestehen des Kapitalismus in den anderen Ländern, selbst wenn diese Länder kapitalistisch entwickelter sind, durchaus möglich und wahrscheinlich.“

Die Sowjetunion besitze alles Notwendige, um die sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Daher müsse der Sozialismus mit den Kräften, über die Sowjetrußland verfüge, errichtet werden. So ließ sich auch das Weiterbestehen des „Sozialismus“ in der Sowjetunion trotz der Rückschläge rechtfertigen, die alle weltrevolutionären Bestrebungen von 1919 bis 1923 erlitten hatten.

Zu Unrecht behauptete Stalin, die Lehre vom Sozialismus in einem Lande stamme von Lenin und bezog sich dabei auf Worte des „Meisters“, die in anderem Zusammenhang gefallen waren.

Was folgerte Stalin aus der neuen Theorie für die Kominternpolitik? Auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (Dezember 1925) verlangte er, die Beziehungen der Sowjetunion zum Proletariat des Westens müßten von Grund auf geändert werden. Die Arbeiterklasse Europas habe die Sowjetunion gegen den Kapitalismus zu verteidigen.

Lenin hatte auf dem II. Weltkongreß den Begriff des proletarischen Internationalismus wie folgt definiert: „... Der proletarische Internationalismus fordert: erstens, daß die Interessen des proletarischen Kampfes des einen Landes den Interessen des internationalen proletariB sehen Kampfes untergeordnet werden; zweitens, daß die Nation, die über die Bourgeoisie siegt, fähig und bereit sei, die größten nationalen Opfer für den Sturz des internationalen Kapitals zu b*ringen.

Stalin erklärte 1927, ein Internationalist sei, wer vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen, bereit sei, die UdSSR zu schützen, weil die UdSSR die Basis der revolutionären Bewegung der ganzen Welt sei. Die Lehre vom Sozialismus in einem Lande bedeute keinen Verzicht auf die Weltrevolution. Nur hielt Stalin sie zur damaligen Zeit nicht für realisierbar. Unzweideutig erklärte er aber (XIV. Parteitag):

„In letzter Instanz aber können wir die Gegensätze, die zwischen der Welt des Kapitalismus und der Welt des Sozialismus auf Gebiet äußerem bestehen, nicht aus eigener Kraft allein überwinden, dazu brauchen wir die Hilfe der siegreichen proletarischen Revolution in einer Reihe von *Ländern.

Bolschewisierung der kommunistischen Parteien Lenin hatte im „Linken Radikalismus'geschrieben, einige Grundzüge der bolschewistischen Revolution hätten internationale Bedeutung. Das war 1920 gewesen. Im Jahre 1924, nach dem Scheitern der Revolutionsversuche in Europa, wog das Gewicht der sowjetischen Partei schwerer: Der V. Weltkongreß (Juni/Juli 1924) beschloß, die kommunistischen Parteien zu „bolschewisieren".

Dazu gehörte, in allen Sektionen das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" durchzusetzen, „eiserne bolschewistische *Parteidisziplin zu üben und als Grundeinheit die Betriebszelle statt der bisherigen Wohngebietsorganisation einzuführen.

Nach dem „demokratischen Zentralismus“ sind alle Parteiorgane von unten nach oben zu wählen. Das ist seine demokratische Komponente. Die zentralistische Komponente (straffe Befehlsgewalt von oben nach unten) ist aber von den Parteizentralen ständig dazu benutzt worden, Parteiangestellte (hauptamtliche Funktionäre) zu ernennen, Mitglieder auszuschließen, mißliebige Funktionäre zu versetzen oder kaltzustellen und Kandidaten für den Parteitag aufzustellen oder abzulehnen. Auf diese Weise konnte Stalin als Generalsekretär mit Hilfe ergebener Funktionäre das höchste Organ, den Parteitag, beherrschen. Auch in den Sektionen der Komintern sollten die Zentralen über die Partei herrschen. Dieser Zustand wurde bis zum Anfang der dreißiger Jahre erreicht und er ist noch heute charakteristisch für jede kommunistische Partei.

Um die Mitglieder fester an die Partei zu binden, sollten sie künftig den Betriebszellen statt den Wohngebietsorganisationen angehören. In den großen Wohngebietsorganisationen bestanden nachbarliche, freundschaftliche und familiäre Beziehungen der Mitglieder, durch die ein unerwünschter Zusammenhalt gegenüber der Parteiführung geschaffen wurde. In den kleineren Betriebszellen sollte es diese Bindungen nicht geben. Die Kontrolle der Mitglieder durch die Parteileitungen sollte dadurch verbessert werden. Dieses Ziel wurde nicht völlig erreicht, da der Anteil an Mitgliedern, die nicht in Betrieben arbeiteten (Arbeitslose, Hausfrauen, Künstler), ziemlich hoch war.

An der Einheitsfronttaktik hielt der V. Kongreß fest. Er beschloß aber, die Einheitsfront „von oben“ (d. h. ein Bündnis mit den Spitzen der Sozialdemokratie) nicht anzustreben, wie Brandler und Heckert durch ihren Regierungseintritt in Sachsen sie versucht hatten. Vielmehr sei die Einheitsfront von kommunistischen Arbeitern mit sozialdemokratischen und parteilosen Kollegen im Betrieb zu verwirklichen. Diese Taktik war gegen die sozialdemokratischen Führer gerichtet, die in der Konferenz der drei Internationalen abgelehnt hatten, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. „Von unten“ hofften die Kommunisten in den westlichen Ländern revolutionäre Massen-bewegungen organisieren zu können.

Gewerkschaftspolitik der Komintern Die Masse der Arbeiter war gewerkschaftlich organisiert. Daher mußte die Komintern sich mit den Gewerkschaften auseinandersetzen. Im „Linken Radikalismus“, der wenige Wochen vor Beginn des II. Weltkongresses er schienen war, hatte Lenin empfohlen, mit List und Tücke in die Gewerkschaften einzudringen. Unvereinbar damit erschien der Beschluß, den kommunistische Gewerkschafter am 15. Juli 1920 in Moskau faßten, eine Rote Gewerkschaftsinternationale zu gründen. In die Gewerkschaften einzudringen, sie von innen zu erobern, war die Politik auf nationaler Ebene. Die internationale Gewerkschaftspolitik richtete sich gegen den „Internationalen Gewerkschaftsbund", den sozialistische Gewerkschafter im Mai 1919 mit dem Sitz in Amsterdam gegründet hatten (daher „Amsterdamer Internationale“ genannt). Die Kommunisten verleumdeten diese Internationale als „Stützpunkt der internationalen Bourgeoisie" und versuchten, sie zu spalten.

Der erste Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale (Profintern) fand im Juli 1921 in Moskau statt. Die Spaltung der Amsterdamer Internationale mißlang aber. Nur die bulgarischen Gewerkschaften schlossen sich der Profintern an, der sonst nur Gruppen linker Gewerkschafter aus aller Welt angehörten und die auf die Unterstützung der sowjetischen Gewerkschaften angewiesen war. Ein Sowjetrusse, Salomon A. Losowski, wurde zum Generalsekretär des Exekutivbüros der Profintern gewählt.

Von Anfang an vertraten kommunistische Gewerkschafter die Ansicht, die traditionellen Gewerkschaften arbeiteten nur daran, das Los der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft zu verbessern. Für revolutionäre Zwecke seien sie nicht zu gebrauchen. Eigene kommunistische Gewerkschaften müßten gegründet werden. In der Periode der Einheitsfrontpolitik drängte die Kominterleitung Tendenzen zurück, die auf Spaltung auch der nationalen Gewerkschaften zielten. Noch der V. Weltkongreß (1924) beschloß, die Kommunisten sollten die Einheit der nationalen freien Gewerkschaften erhalten und in ihnen arbeiten. Der Kongreß rief aber auch dazu auf — und das war neu —, eine vereinigte Internationale der Gewerkschaften zu bilden und — folgerichtig — die Profintern und die Amsterdamer Internationale aufzulösen. Derart reagierte die Komintern auf einen Antrag britischer Gewerkschafter, die im Mai 1924 der Amtsterdamer Internationale vorgeschlagen hatten, über die Lage der Arbeiterschaft gemeinsam mit den russischen Gewerkschaften zu beraten. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Aber britische Gewerkschafter verhandelten nach wenigen Monaten unmittelbar mit ihren russischen Kollegen und bildeten ein englisch-russisches Beratungskomitee (1925).

Die Bolschewiki kannten die scharfen Gegensätze zwischen Arbeitgebern und den Gewerkschaften in England. Wieder schätzte Sinowjew die Lage falsch ein und schrieb, nichts könne die revolutionäre Entwicklung der britischen Arbeiterklasse aufhalten. Als die britischen Gewerkschaften im Mai 1926 zum Generalstreik aufriefen, erklärte das EKKI in einem Manifest, das britische Proletariat kämpfte für das ganze Weltproletariat. Deshalb müßten alle Anhänger der Komintern das Äußerste tun, um den großen Kampf zu unterstützen. Aber die englischen Kommunisten konnten die führenden britischen Gewerkschafter nicht für revolutionäre Aktionen gewinnen. Sowjetische Hilfsangebote, z. B. eine Überweisung der sowjetischen Gewerkschaften in Höhe von etwa zwei Millionen Rubel, wurden abgelehnt. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung brachen die Gewerkschaften den Generalstreik schon nach zwei Wochen ab. Die britischen Gewerkschafter waren so ernüchtert, daß sie auch das britisch-russische Beratungskomitee auflösten. Stalin, der die Politik der Gewerkschaftseinheit befürwortet hatte, beschimpfte die Führer der britischen Gewerkschaften als käufliche, feige, charakterlose Verräter. Damit war die Einheitsfrontpolitik „von oben", die man hier betrieben hatte, erneut diskreditiert. Sie sollte bald aufgegeben werden.

Die Niederlage in China Als die Kommunistische Partei Chinas 1921 gegründet wurde, war ein Kominterndelegierter anwesend, der Holländer Sneevliet. Die Partei wuchs langsam. 1922 hatte sie 200 Mitglieder, 1925 waren es 1000. Die weit stärkere politische Kraft war die Kuomintang. Dr. Sun Yat-sen hatte sie 1912 gegründet und zu einer nationalistisch-revolutionären Bewegung entwickelt, deren Hauptstärke Anfang der zwanziger Jahre im Süden Chinas (Kanton und Provinz Kwantung) lag. Die Komintern war — völlig im Einklang mit den Thesen des II. Weltkongresses über die Kolonial-frage — durch Sneevliet von Anfang an bestrebt, die chinesischen Kommunisten zur Zusammenarbeit mit dieser stärksten politischen Kraft Chinas zu bewegen. Mit dem gleichen Ziel verhandelte der Sowjetbotschafter Adolf Joffe mit Sun Yat-sen. Im Januar 1923 unterzeichneten sie eine Erklärung, die den Anfang der weiterenZusammenarbeit sowohl zwischen der Kuomintang (KMT) und der Sowjetunion als auch zwischen KMT und chinesischen Kommunisten darstellte. Schon im Herbst 1923 traf Michael Borodin, ein Kominternmann mit Ausländserfahrung, in Kanton ein. Er brachte zivile „Berater" und Offiziere mit, die darangingen, die Organisation der KMT und ihrer Armeen nach sowjetischem Muster zu gestalten. Der prominenteste Offizier, der nach China ging, war General Blücher. Zu den Kominternfunktionären, die neben oder nach Borodin in China arbeiteten, gehören Ho Chiminh, der Gewerkschaftsführer Losowski, der Amerikaner Earl Browder, der Inder Manabendra Nath Roy, der Russe Besso Lominadse und aus Deutschland Heinz Neumann. Zu Studienzwecken wurden auch Chinesen in die Sowjetunion geschickt, z: B. weilte Tschiangkaischek im Herbst 1923 für einige Monate in Moskau, wo er auch auf einer EKKI-Sitzung das Wort ergriff.

In den ersten Jahren war die Zusammenarbeit zwischen den Kommunisten und der KMT eng. Mitglieder der KP Chinas traten in die Kuomintang ein und waren damit deren Disziplin unterworfen. Borodin und sein Stab konnten ihre Aufgaben erfüllen, die KMT und ihre militärischen Kräfte zu reorganisieren. Das Gebiet der Kanton-Regierung wurde im Laufe des Jahres 1925 erweitert. Sun Yat-sen erklärte kurz vor seinem Tode (1925), die Zusammenarbeit der KMT mit den Kommunisten sei die Grundlage der Befreiung Chinas.

Die Kommunisten hatten nie verhehlt, aus welchem Grunde sie mit nichtkommunistischen Kräften (den Sozialisten in Europa, den Nationalisten in den Kolonialgebieten) Zusammenarbeiten wollten. Ihr Ziel war, Einfluß bei den Massen zu gewinnen und damit eine Basis für die kommunistische Herrschaft. Jedoch durf20 ten die Kommunisten bei dieser Bündnispolitik nie ihre organisatorische Unabhängigkeit und ihre Handlungsfreiheit aufgeben. Ob dieses Prinzip in China gewahrt war, wurde bald zu einer heißumstrittenen Frage in der KPdSU. Trotzki und Sinowjew warfen Stalin vor, durch seine Chinapolitik der KP Chinas und auch der Komintern die Handlungsfreiheit genommen zu haben. Trotzkis Besorgnisse erwiesen sich als begründet, denn Tschiangkaischek hatte in seiner Studienzeit in Moskau begriffen, daß die Bolschewik! die Kuomintang nur zu benutzen gedachten, um selbst die Macht zu erobern. Er kam ihnen zuvor. Im März 1926 ließ er einige sowjetische Berater und chinesische Kommunisten verhaften, die als politische Kommissare in der KMT-Armee dienten. Tschiangkaischek erklärte diesen Zwischenfall zwar wenig später als ein Mißverständnis, aber im Mai beschloß seine Partei, künftig sollten Kommunisten keine höheren Posten in der KMT bekleiden.

Das Politbüro der KPdSU und das EKKI übersahen diese Warnungen. Der Zwischenfall vom März wurde nicht einmal in der sowjetischen Presse erwähnt. Offenbar waren Stalin und Bucharin von Borodin beruhigt worden, der seine Mission nicht scheitern sehen wollte. Auf Streiks anspielend, die 1925 in Schanghai, Hankan, Peking und Nanking ausgebrochen waren, schrieb Manuilski, Stalins Vertrauter, im Februar 1926 in der „Kommunistischen Internationale": „Die Ereignisse von Schanghai eröffnen eine neue Periode in der menschlichen Gesellschaft". Das Scheitern der China-politik des Politbüros hätte auch die Stellung der Gegner Stalins und Bucharins im ZK der KPdSU, vor allem die Position Trotzkis, entscheidend stärken können. Deshalb mußten die chinesischen Kommunisten trotz ihrer Bedenken die Einheitsfront mit der KMT fortsetzen. Im Juni rückte die Kuomintang-Armee nach Norden vor. Tschiangkaischek hatte überraschende Erfolge. Ende 1926 erreichte er den Jangtsekiang. Im Frühjahr 1927 stand seine Armee vor Nanking und Fchanghai. Borodin und der linke Flügel der Kuomintang verlegten ihren Sitz in das nördlicher gelegene Wuhan, wo sie die „Wuhan-Regierung“ bildeten. Tschiangkaischek erklärte dagegen Nan-B tschang zum Sitz der Nationalregierung. Risse in der Einheitsfront zeigten sich.

Als Tschiangkaischeks Truppen Schanghai besetzten, fanden sie dort bewaffnete kommunistische Streikposten vor. Der Generalissimus der Kuomintang ließ die Streikposten entwaffnen und zerschlug die kommunistischen Gewerkschaften in Schanghai (12. April 1927). Wenige Tage später bildete Tschiangkaischek eine nationale Regierung in Nanking, an der keine Kommunisten beteiligt waren.

Tschiangkaischek brach also mit den chinesischen Kommunisten und mit der Komintern. Er hatte die militärische und finanzielle Hilfe der Russen benutzt, um so stark zu werden, daß er ohne Kommunisten regieren konnte. Die Komintern brandmarkte ihn als Verräter, als Feind der Arbeiterklasse. Trotzki aber höhnte, Tschiangkaischek habe nur Verrat an Stalins Illusion (in China mit Hilfe der nationalen Bourgeoisie herrschen zu können) geübt. Dem Bruch mit Tschiangkaischek folgte im Sommer 1927 der Ausschluß der Kommunisten aus der Wuhan-Regierung. Dennoch wollte Stalin die Niederlage nicht zugeben oder erst dann zugeben, wenn er über seine innerpolitischen Gegner gesiegt hatte. Borodin wurde im Juli durch Besso Lominadse als neuen Kominterndelegierten ersetzt. Stalin behauptete im September 1927, nachdem die Kuomintang durch ihre Verbindung mit der Konterrevolution diskreditiert sei, scharten sich die Arbeiter und Bauern Chinas um die Kommunisten. Er schlug damit einen revolutionären Kurs ein, obwohl die chinesischen Kommunisten bisher auf Geheiß der Komintern revolutionäre Aktionen um der Einheitsfront willen hatten unterdrücken müssen. Stalin hatte gute Gründe für diesen Kurswechsel. Im Dezember sollte der XV. Parteitag stattfinden. Hätte Stalin dort das Scheitern seinerChinapolitik zugeben müssen, so wäre sein Sieg über Trotzki und Sinowjew fraglich gewesen. Deshalb sandte er den deutschen Kommunisten Heinz Neumann nach China, damit er mit Lominadse in Kanton einen Aufstand organisierte. Der Aufstand brach am 7. Dezember aus und wurde in wenigen Tagen niedergeschlagen. Der XV. Parteitag aber besiegelte den Ausschluß Trotzkis und Sinowjews aus der KPdSU. Die Kominterndelegierten entkamen aus Kanton. Die chinesischen Kommunisten jedoch erlitten schwere blutige Verluste und mußten die Kritik des EKKI hinnehmen, das ihnen Passivität, Schwäche und organisatorische Fehler vorwarf. Als sinnloser Putsch, der er war, bezeichneten die Kommunisten den Kantoner Aufstand aber nie, weil Stalin, wie die Eingeweihten wußten, sein Urheber war.

Fraktionskämpfe In der Komintern Der V. Weltkongreß (Sommer 1924) hatte eine Wendung nach „links" gebracht, eine Abkehr von der Einheitsfront „von oben“, von den „Arbeiterregierungen“, in denen Kommunisten in Sachsen und Thüringen mitgearbeitet hatten. Die Einheitsfrontpolitik „von unten“ sollte betrieben werden. In der KPD mußten Brandler und Thalheimer einer „linken" Führung weichen, an deren Spitze Ruth Fischer, Maslow und Thälmann standen. Brandler und Thalheimer wurden jedoch noch nicht aus der KPD ausgeschlossen.

Nicht nur das deutsche Problem hatte den V. Kongreß beschäftigt. Auch die Führer der KP Frankreichs bekämpften sich scharf. Boris Souvarine, der französische Delegierte beim EKKI, lag in Fehde mit dem Generalsekretär der KPF, Treint, der ein Anhänger Sinowjews war. Souvarine hingegen hatte Trotzki sogar in der Diskussion des XIII. russischen Partei-tages unterstützt. Der russische Fraktionskampf, damals noch zwischen Trotzki und Sinowjew im Gange, drohte die KP Frankreichs zu spalten. Der V. Kongreß schloß Souvarine aus und bestätigte auch den Ausschluß eines anderen Gründers der KPF, Alfred Rosmers, der gleichfalls ein Anhänger Trotzkis war. Trotzki war 1924 noch von der Troika Stalin, Sinowjew und Kamenjew bekämpft worden. Aber schon im Jahre 1925 entstand der Konflikt zwischen Stalin und Sinowjew, in dessen Verlauf Sinowjew seinen Rückhalt, die Leningrader Parteiorganisation, verlor (Januar 1926). Eine Machtposition blieb ihm noch, das Exekutivkomitee der Komintern, dessen Präsident er noch war.

Stalins Einfluß hatte seit dem V. Weltkongreß auch in der Komintern ständig zugenommen. Wie Sinowjew Trotzkis Anhänger aus der Komintern eliminiert hatte, begann Stalin gegen die Freunde Sinowjews in der Internatio-B nale vorzugehen. Anlaß dazu bot ihm der Widerstand, den Sinowjews Freunde, insbesondere Ruth Fischer und Arkadi Maslow, den Versuchen Stalins entgegensetzten, die KPD völlig zu unterwerfen. Fischer und Maslow hatten starke Kräfte der Partei hinter sich. Auf dem X. Parteitag der KPD (Juli 1925) versuchte Manuilski, Stalins Vertrauter, sich in die Wahl der ZK-Mitglieder einzumischen. Dem widersprachen zahlreiche Delegierte scharf. „Scher Dich nach Moskau", wurde gerufen. Unbeirrt arbeitete Stalin auf den Sturz der Fischer-Maslowgruppe hin. Er veranlaßte einen deutschen Kommunisten, der ihm ergeben war, Heinz Neumann, eine Broschüre „Der ultralinke Menschewismus" zu schreiben. Darin griff Neumann nicht nur Fischer und Maslow, sondern auch die „Ultralinken" in Polen (Dombsky) und Italien (Bordiga) scharf an.

Fischer und Maslow verloren Ende 1925 die Führung der KPD. Der Kampf gegen die „Linken” ging weiter. Henryk Dombsky, der erst nach dem V. Weltkongreß auf Empfehlung der Komintern an die Spitze der KP Polens gewählt worden war, verlor seine Position mit der Begründung, er habe die „Ultra-Linken" in Deutschland und Frankreich unterstützt. Anfang 1926 wurden der „Linke“ Bordiga und seine Gruppe aus der KP Italiens ausgeschlossen und 1927 schied Sinowjews Anhänger, Treint, aus seiner Position als Generalsekretär der KP Frankreichs. Der VI. Weltkongreß lehnte Treints Gesuch um Wiederaufnahme ab. Auch aus der KP der USA wurden Trotzkisten (James Cannon, Max Schachtman) entfernt. Der tschechische Parteiführer Smeral wurde nach Moskau gerufen. Er unterwarf sich. Andere „Linke" (Jilek, Neurath, Bolen) wurden ausgeschlossen. Mit dem Sieg über die „Linken" waren die Fraktionskämpfe nicht beendet. In der KPdSU standen Bucharin ind seine Anhänger, „die Rechten", der Alleinherrschaft Stalins im Wege Bucharin hatte seit dem I. Weltkongreß im EKKI mitgearbeitet. Nach dem Ausscheiden Sinowjews (1927) wurde er Vorsitzender des Präsidiums und war auf dem VI. Weltkongreß (1928) der Hauptsprecher der russischen Delegation Aber schon flüsterten die ausländischen Delegierten über neue Streitigkeiten unter den russischen Führern. Stalin trat solchen Gerüch22 len zwar heuchlerisch entgegen. Aber außerhalb Moskaus trafen sich Rykows „rechte“ Anhänger ausder KPdSU mit den deutschen „Rechten" und Thälmanns Anhänger, die Stalin unterstützten, hatten geheime Besprechungen mit dessen Beauftragten.

In seinen Resolutionen rückte der Kongreß — Stalin bewog Bucharin, das selbst vorzuschlagen — von der „rechten" Einheitsfrontpolitik ab, die Bucharin verfochten hatte. Folgerichtig beschloß der Kongreß die Kommunistischen Parteien hätten künftig die „rechten" Abweichler, die noch nicht namentlich genannt wurden, zu bekämpfen.

In der KPdSU setzte dieser Kampf bald nach dem Kongreß ein. Schon im Juli 1929 verlor Bucharin seinen Posten als Vorsitzender des EKKI-Präsidiums, im November schloß das Zentralkomitee ihn aus dem Politbüro der KPdSU aus. Seine Anhänger Rykow, Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, und der Gewerkschaftsführer Tomski, wurden streng verwarnt. Tomski wurde nach dem XVI. Parteitag (Juni/Juli 1930) nicht wieder ins Politbüro gewählt, dem Rykow noch bis Ende 1930 angehörte.

Der Kampf gegen die „Rechten" wurde in den Sektionen der Komintern fortgesetzt. Thälmann, der Parteivorsitzende, hatte schon auf dem VI. Weltkongreß erklärt, von den „Rechten" drohe der KPD Gefahr. Ein Versuch der Versöhnler und „Rechten", Thälmann, Stalins Günstling, einer Korruptionssache wegen zu stürzen (Wittorf-Fall), benutzte das EKKI, um die „Rechten“ auszuschalten. Ende 1928 schloß die KPD Brandler, Thalheimer, Frölich, Walcher, Enderle und andere aus. Die Kommunistische Partei Schwedens hatte erfolgreich Gewerkschaftsarbeit, d. h. „rechte“ Politik, betrieben. Ihre Führer, mit Kilbom an der Spitze, wurden aus der Partei entfernt und ihnen folgten etwa 10 000 der 18 000 Mitglieder. In der KP der USA folgte dem VI. Weltkongreß der Ausschluß des Generalsekretärs Jay Lovestone, Bertram D. Wolfes, B. Gitlows und anderer. In China wurde 1930 der Generalsekretär Li-Li-san des Rechtsopportunismus beschuldigt und trat zurück.

Dieser Kampf gegen die „Linken" und „Rechten" verminderte das Potential der kommunistischen Parteien, aber er leitete einen Prozeß ein, der sich über ein Jahrzehnt erstredete: Stalin brächte Führer der Parteien ans Ruder, denen er vertraute, die er beherrschte: Thälmann in Deutschland, Thorez in Frankreich, Gottwald in der Tschechoslowakei. Dieser Prozeß dauerte an, seinen Höhepunkt erreichte er in den blutigen Säuberungen der dreißiger Jahre.

IV. Linkswendung und neue Niederlagen

Die Linkswendung von 1928

Die Einheitsfrontpolitik hatte der Komintern in England (Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften) und China (Bündnis mit der Kuomintang) schwere Niederlagen eingebracht. Im Innern der Sowjetunion hatte Stalin in dieser Zeit seine „linken“ Gegner (Trotzki, Sinowjew, Kamenow) verdrängt. Nun übernahm er ihre Politik, um sich gegen seinen Verbündeten, den „Rechten“ Bucharin zu wenden. Für eine Linkswendung schien auch die internationale Lage Anhaltspunkte zu bieten. Die „Stabilisierung“ des Kapitalismus, von der die Kommunisten seit 1924 sprachen, war zu Ende. Die Weltwirtschaftskrise nahte. Sie mußte revolutionäre Situationen in den Ländern des Kapitalismus nach sich ziehen. Diese galt es auszunutzen. Die Einheitsfronttaktik war nach Meinung der herrschenden Kommunisten dazu ungeeignet. Eine „linke“, revolutionäre Taktik mußte betrieben werden, die Taktik des bewaffneten Aufstandes. In der russischen Innenpolitik schlug Stalin gleichfalls einen Linkskurs ein (Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und Industrialisierung im ersten Fünfjahrplan 1928— 1933).

Die Bedeutung des VI. Weltkongresses (17. Juli bis 1. September 1928) ist oft überschätzt worden. Zwar wurden der Bericht des EKKI, neue Statuten und ein neues Programm einstimmig angenommen, aber hinter der Fassade von Einheit schwelten die Gegensätze zwischen „Linken“ und „Rechten". Zwar enthielt das Programm weltrevolutionäre Forderungen und radikale Schlagworte, aber über Kräfte, die revolutionäre Aktionen ausführen konnten, verfügten zu dieser Zeit weder die Komintern noch ihre Sektionen. Zwar trat Bucharin als Hauptsprecher der sowjetischen Delegation und des EKKI auf, aber Stalin, der die sowjetische Partei durch seine Bürokratie beherrschte, organisierte hinter den Kulissen Bucharins Sturz. Dieser Dualismus, schrieb Trotzki, habe enthüllt, daß in dem von Partei-bürokraten beherrschten Regime die Ideologie nur eine dekorative Rolle spiele.

Die Bolschewik! haben die Weltwirtschaftskrise auf dem VI. Weltkongreß vorausgesagt, bevor ihre Anzeichen (Kursstürze an der New Yorker Börse am 24. Oktober 1929) allen sichtbar wurden. Den entschiedenen Linkskurs konnte Stalin aber erst einschlagen, nachdem Bucharin aus dem Wege war. Wie wirkte sich der Linkskurs aus? In allen Ländern lehnten die Kommunisten jede Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten ab, die sie . Sozial-faschisten“ schimpften. In Deutschland wandten die Kommunisten ihre neue „*Linie bei der Maifeier 1929 an. Seit 10 Jahren hatten alle Arbeiter gemeinsam an einer Gewerkschaftsdemonstration teilgenommen. Im April 1929 kündigten die Kommunisten eine eigene Demonstration für den 1. Mai an. Der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel, ein Sozialdemokrat, verbot darauf alle Maidemonstrationen, um Gewalttätigkeiten zu verhüten. Die Kommunisten versuchten, dennoch zu demonstrieren. In Berlin-Neukölln brachen Kämpfe aus. Kommunistische Arbeiter bauten Barrikaden, die KPD rief zum Generalstreik auf. Aber der Widerstand auf den Barrikaden dauerte nur zwei Tage und niemand streikte.

Eine ähnliche Niederlage erlitten die Kommunisten in Paris. Auch sie versuchten, einer Weisung des EKKI folgend, am 1. Mai 1929 zu demonstrieren. Die Polizei verhaftete etwa 4000 Kommunisten am Vorabend der Feier. Die Maidemonstrationen fanden nicht statt, aber das EKKI gab die Kämpfe in Berlin als die große Wende aus: Das Proletariat sollte überall in der Welt zur Gegenoffensive übergehen.

In der Gewerkschaftspolitik forderte der neue Linkskurs gleichfalls eine Schwenkung. Im Zeichen der Einheitsfrontpolitik war die Existenz der roten Gewerkschaften fraglich geB worden. Nadi 1928 versuchte die Profintern, dem Linkskurs folgend, die freien Gewerkschaften zu spalten. In Deutschland betrieben die Kommunisten 1929 ihre Spalterpolitik durch eine rote Sondergewerkschaft, die revolutionäre Gewerkschafts-Opposition (RGO). Im November 1930 wurde der Rote Metallarbeiterverband gegründet, im Januar 1930 folgte der Rote Bergarbeiterverband. Der Einfluß der roten Gewerkschaften war eng begrenzt, da die überwältigende Mehrheit der Arbeiter den freien Gewerkschaften treu blieb. Im Jahre 1931 z. B. errang die RGO bei der Reichsbahn nur 4 % der Mandate, während die freien Gewerkschaften 70 °/o erhielten. Auch im internationalen Bereich ließ die Profintern neue Gewerkschaftsorganisationen entstehen: im Fernen Osten das Pan-Pazifistische Gewerkschaftssekretariat, in Montevideo die Syndikalistische Lateinamerikanische Konföderation (Mai 1929). Die Kommunisten gründeten auch internationale Fachgewerkschaften, z. B. die „maritime Sektion" der Profintern, die „Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter" (ISH), deren Sitz Generalsekretariat seinen in Hamburg hatte. Die ISH war für die Komintern nicht nur der Streiks wegen von Bedeutung, durch die ihre Agitatoren die Seeverbindungen der kapitalistischen Staaten unterbrechen konnten. Die Mitglieder der ISH reisten als Seeleute in alle Welthäfen und dienten als Kuriere oder transportierten kommunistisches Propagandamaterial.

Das Entscheidende am neuen Linkskurs und das Verhängnisvolle für die Arbeiterbewegung in Europa war, daß die Kommunisten die Sozialisten überall als Hauptfeinde, als Sozial-faschisten angriffen und die von Jahr zu Jahr wachsende Gefahr der rechtsradikalen Revolution übersahen. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die die Industrieländer in ihren Grundfesten erschütterte, und die Gefahr des Faschismus und Nationalsozialismus hätten von einer geeinten Arbeiterbewegung — vielleicht— überwunden oder in Schach gehalten werden können. Der gespaltenen Arbeiterschaft war die Niederlage gewiß. Trotzki, der aus der Sowjetunion verbannt worden war, rief dazu auf, eine Einheitsfront zu bilden und schrieb im Jahre 1932 prophetisch:

„ . . . für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre würde der Sieg des Faschismus in Deutschland die Unterbrechung in der Entwicklung der revolutionären Erfolge bedeuten, Zusammenbruch der Komintern, Triumph des Weltimperialismus in seinen abscheulichsten und blutgierigsten Formen. . . . Der Sieg des Faschismus in Deutschland würde den unvermeidlichen Krieg gegen die UdSSR bedeuten."

Ernst Thälmann lehnte — im Einklang mit der Komintern-Linie— diese Voraussage scharf ab: „Die Kommunistische Partei Deutschlands muß mit der Sozialdemokratischen Partei gemeinsame Sache machen. Das ist nach Trotzki der einzige Weg, auf dem sich die deutsche Arbeiterklasse vor dem Faschismus retten kann. . . . Das ist wirklich die schlimmste, die gefährlichste und die verbrecherischste Theorie, die Trotzki in den letzten Jahren seiner konterrevolutionären Propaganda aufgestellt hat."

Nachdem Trotzkis Voraussage Punkt für Punkt eingetroffen war, behaupteten die Kommunisten, sie hätten damals gefordert, eine breite antifaschistische Kampffront zu schaffen. Aufrufe, die Einheitsfront herzustellen, wurden — als es zu spät war — zwischen dem 30. Januar und 5. März 1933 an die SPD gerichtet. Aber die Grundlinie — nicht nur der KPD, sondern der Komintern — blieb: Zuerst muß der Sozialfaschismus geschlagen werden, dann der Faschismus; „Verjagt die Sozial-faschisten aus den Betrieben!" Diese verfehlte Frontstellung veranlaßte die Kommunisten sogar, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Im Juli 1931 entschloß sich die KPD — auf Weisung der Komintern — überraschend, den Volksentscheid gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen zu unterstützen, der von Hitlers Partei und den Deutschnationalen betrieben wurde. Der Volksentscheid führte nicht zum Ziel, aber 1932 gab die KPD ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit mit der NSDAP: Im Berliner Verkehrsarbeiterstreik wirkten die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation und die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) gemeinsam gegen den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. Dieses Schauspiel stieß viele Gewerkschafter, aber auch weite Bevölkerungskreise ab, so daß der Streik nach fünf Tagen zusammenbrach. Der Haß gegen die „Sozialfaschisten" blieb. Noch im Mai 1933, vier Monate nach Hitlers Sieg, erklärte die KPD:

Die völlige Ausschaltung der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat, die brutale Unterdrückung auch der sozialdemokratischen Organisation in ihrer Presse, ändern nichts an der Tatsache, daß sie nach wie vor die soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur darstellt.'

Aber wie sollten die Zwillinge — Sozial-faschismus und Nationalsozialismus — geschlagen werden? Die Komintern empfahl dafür ihre ursprüngliche Taktik: Den bewaffneten Aufstand.

Bewaffneter Aufstand?

Die Weltwirtschaftskrise schuf, was seit dem Herbst 1923 in Europa nicht bestanden hatte: eine revolutionäre Situation. Millionen wurden in den Industrieländern erwerbslos. Allein in Deutschland waren sechs Millionen registriert. Nach zuverlässigen Schätzungen hat damals ein Drittel der deutschen Bevölkerung von unzulänglichen Unterstützungen gelebt. Das EKKI drängte darauf, diese Lage auszunutzen. Schon das XI. Plenum (1930) nannte vier Länder, in denen die Revolution marschiere (Deutschland, Polen, Spanien und Indien). Die Komintern konzentrierte aber ihre Anstrengungen auf Deutschland. Dort widmete sie sich dem Aufbau der Instrumente des Aufstands, dem Aufbau der geheimen Apparate. In Berlin wurde schon 1928 das Westeuropäische Büro der Komintern (WEB) wiedererrichtet (schon 1919 hatte ein bescheidenes Propagandainstitut diesen Namen getragen), in das die besten Kräfte der Komintern gesandt wurden. Zuerst wurde es von Manuilski geleitet. 1929 trat Grigori Dimitroff an die Spitze dieser Geheimorganisation. Die wichtigsten kommunistischen Parteien Europas entsandten ihre Vertreter. Frankreich z. B. war durch Jacques Duclos vertreten. In Personal-union leitete Dimitroff zugleich die „Kommunistische Balkan-Föderation", deren Sekretariat im Frühjahr 1929 nach Berlin verlegt wurde. Auch mit den internationalen Massenorganisationen der Kommunisten, die ihren Sitz damals in Berlin hatten, arbeitete das WEB zusammen: mit dem Zentralkomitee der Internationalen Arbeiterhilfe, einer Gründung Willy Münzenbergs, mit dem Europäischen Büro der Roten Hilfe und mit dem Europäischen Büro der Roten Sportinternationale.

Die Komintern sprach damals offen aus, der Sieg der deutschen Revolution bedeute den wichtigsten Schritt zur Weltrevolution, mit der deutschen Revolution werde das Schicksal der proletarischen Revolution in West-und Mitteleuropa entschieden (XII. EKKI-Plenum).

Die Komintern beließ es nicht bei Deklamationen. Der Mitarbeiter ihrer Militärabteilung, der Finne Ture Lehen, verfaßte unter dem Pseudonym A. Lange ein Buch „Der Weg zum Sieg", das praktische Anleitungen zum bewaffneten Aufstand enthielt. Ture Lehen weilte oft in Deutschland und betrieb den Ausbau der Geheimorganisationen der KPD, die nach der Niederlage von 1923 in den Hintergrund getreten waren.

Hans Kippenberger, der schon 1923 der „militärpolitischen Leitung" des Hamburger Auf-standes angehört hatte, leitete 1932 den Militärapparat der KPD, der nur zur Tarnung AM-(Antimilitär-) Apparat hieß. Dieser Apparat hatte die Aufgabe, Waffen, Munition und Sprengstoffe für den Aufstand zu beschaffen. Diese „Ware“ wurde häufig in Waffenfabriken oder -geschäften oder in Betrieben, die Sprengstoffe verwendeten, gestohlen. Auch Reichs-wehr und Polizei waren vor Diebstählen nicht sicher. Im Jahre 1933 lief z. B. beim Reichsgericht ein Prozeß gegen kommunistische Diebe, die beim Leipziger Reichswehrstandort 37 Maschinengewehre und 217 Gewehre gestohlen hatten. Ein anderer Zweig der Tätigkeit des AM-Apparates galt der Zersetzung von Reichswehr und Polizei. Die Aktionsfähigkeit der Organe, die bei einem Aufstand die Republik verteidigen mußten, sollte gelähmt werden. Allein im Jahre 1932 waren 1225 Zersetzungsversuche Gegenstand polizeilicher Ermittlungsverfahren. 169 Personen wurden wegen Zersetzungsarbeit vom Reichsgericht verurteilt. Militärische Vorbereitungen der Apparate wurden dadurch gestört. Daneben versuchte die Parteiorganisation, die Weiterarbeit nach einem — erwarteten — Verbot zu gewährleisten. Aus den Parteibüros wurden Mitgliederlisten entfernt. Funktionäre, die illegal arbeiteten, durften offene Partei-büros nicht mehr betreten. Sie hatten sich geheime Quartiere zu suchen, die sie nach einem Verbot aufsuchen konntest. Geheimdruckereien wurden eingerichtet. Büros wurden unter der Deckung von Verlagen und Handelsgesellschaften gemietet, um den illegalen Funktionären die Weiterarbeit nach dem Verbot zu ermöglichen. Dem diente auch ein geheimes Kuriersystem, das die Verbindung zwischen den illegalen Parteigliederungen gewährleisten sollte.

Hitler an der Macht Als Hitler am 30. Januar 1933 die Regierung übernahm, riefen die Kommunisten zum Generalstreik auf, forderten die „Einheitsfront der Tat". Die Regierung ließ nach dem Reichstagsbrand Tausende kommunistischen von Funktionären festnehmen. Aber kein Aufruhr brach Arbeiterschaft aus, die streikte nicht. Warum? Die KPD hatte doch eine festgefügte Parteiorganisation mit den Betriebszellen als Grundeinheiten? In der letzten freien Wahl (November 1932) hatten fast sechs Millionen Wähler für sie gestimmt. Die SPD hatte 7, 25 Millionen Stimmen erhalten, die NSDAP 11, 75 Millionen.

Von den etwa 300 000 Mitgliedern der KPD waren 70 bis 80 Prozent erwerbslos. Nur ein geringer Prozentsatz der Beschäftigten gehörte der KPD oder der RGO an. Die freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter und die Mitglieder der SPD folgten den Streikparolen der Kommunisten nicht. Ebenso wenig waren die Führer der SPD bereit, ihre Organisationen in die Einheitsfront mit den Kommunisten einzureihen. Das war die Folge der jahrelangen kommunistischen Angriffe gegen die „sozialfaschistische" Sozialdemokratie.

Zwar hatten sechs Millionen für die kommunistische Liste gestimmt. Aber das waren keine revolutionären Proletarier, sondern verzweifelte Erwerbslose, die nicht auf die Barrikaden steigen, sondern ihre wirtschaftliche Lage bessern wollten.

So wird verständlich, warum keine Massen-streiks gegen Hitlers Regierung zustande-kamen. Wo aber blieb der AM-Apparat, der, in den Traditionen der Komintern erzogen, auch vor einem isolierten Aufstand nicht hätte zurückzuschrecken brauchen? In A. Neu-bergs Buch „Der bewaffnete Aufstand“, das die Komintern 1928 veröffentlichen ließ, waren die isolierten Aufstände von Hamburg und Kanton als Musterbeispiele behandelt. Die Führung des AM-Apparats war durch die Massenverhaftungen nicht außer Gefecht gesetzt. Hans Kippenberger und sein Vertreter waren untergetaucht, aber frei. Sie handelten nicht, weil Moskau den Befehl zum bewaffneten Aufstand nicht gab. Das EKKI blieb in den Gleisen der bisherigen Taktik. Man unterschätzte dort die Kraft des Nationalsozialismus und glaubte, Hitler werde sich nicht lange an der Macht halten können. Hinter dem EKKI stand Stalin. Seine Motive sind nicht völlig klar. Möglicherweise hat er angenommen, einmal an der Macht, würden sich die Nationalsozialisten gegen den Westen wenden, so daß er in der Sowjetunion „in Ruhe den Sozialismus aufbauen“ könne.

An den staatlichen Beziehungen der Sowjetunion zu Deutschland änderte sich zunächst nichts. Die Leiden Tausender Kommunisten in Hitlers Konzentrationslagern hinderten Stalin nicht, die Rote Armee ihre Zusammenarbeit mit der Reichswehr fortsetzen zu lassen. Hitler war es, der 1934 befahl, diese Beziehungen abzubrechen.

Fritz Heckert, Vertreter der KPD im EKKI, schrieb damals, durch Verhaftung einiger tausend Kommunisten könne man eine Partei nicht zerbrechen, die über fünf Millionen Anhänger habe. Das deutsche Proletariat werde neue Kräfte entwickeln. Die KPD gab also — zunächst — ihre Niederlage nicht zu und setzte ihren Kampf gegen die Sozialdemokratie als Hauptfeind noch in den Konzentrationslagern fort. Das war keine linke Abweichung der deutschen Kommunisten, sondern entsprach der politischen Linie der Komintern, wie die Beschlüsse des XIII. EKKI-Plenums im Dezember 1933 bestätigten. Auch die Kommunisten anderer Länder mußten dieser Linie folgen. So ließ die Komintern behaupten, das wahre Ziel der Rooseveltschen Politik des „New Deal“ sei es, einen Krieg vorzubereiten. In Österreich unterstützten die Kommunisten den Aufstand der Sozialisten (Februar 1934) nicht, und in Frankreich arbeiteten sie nicht mit den Führern der Sozialisten zusammen, als es galt. einer faschistischen Demonstration vor dem Palais Bourbon entgegenzutreten (Februar 1934). Aber das war eine der letzten Manifestationen der Einheitsfront „von unten" Nachdem Hitler jede Zusammenarbeit mit der Sowjetunion abgelehnt hatte, entschloß Stalin sich, neue Bundesgenossen zu suchen. Neue Bundesgenossen konnten in der Bourgeoisie der westeuropäischen Länder gefunden wer-den. Stalin ließ daher seinen Volkskommissar des Äußeren, Litwinow, mit den Regierungen der westlichen Länder verhandeln. Er schloß mit der französischen und der tschechoslowakischen Regierung Bündnisse ab. 1934 trat die Sowjetunion dem Völkerbund bei. Litwinow spielte in Genf den Vorkämpfer der „kollektiven Sicherheit“, des Widerstandes gegen die aggressive Politik Hitlers.

V. Die Organisation der Komintern

Zu Anfang der dreißiger Jahre war die Komintern schon zum Werkzeug der Außenpolitik der Sowjetunion geworden. Um die „linke" Politik betreiben zu können, die der VI. Weltkongreß vorgeschrieben hatte, mußte die Organisation der Komintern wirksam sein und fest in der Hand der Zentrale liegen.

Wie sah sie zu dieser Zeit aus?

Die Komintern war eine kommunistische Weltpartei. Sie besaß Organe, die jede kommunistische Partei auch aufzuweisen hatte. Außerdem sollte sie ein weltumspannender organisatorischer Apparat befähigen, als Welt-partei zu fungieren.

Organe wie jede kommunistische Partei Der Weltkongreß, nach dem Buchstaben der Statuten das oberste Organ der Komintern, war mit dem Parteitag einer kommunistischen Partei zu vergleichen. Nach den Statuten von 1920 sollte er jährlich tagen. Von 1919 bis 1922 fand dementsprechend jährlich ein Weltkongreß statt. Der V. Kongreß (1924) beschloß: Weltkongresse sollten nur alle zwei Jahre einberufen werden. Dieser Vorschrift wurde nicht entsprochen. Der VI. Kongreß fand 1928, der VII. und letzte Kongreß erst 1935 statt. Diese langen Intervalle deuten an, daß ein anderes Organ regierte. Nach den Statuten sollte das Exekutivkomitee, dem Zentralkomitee einer kommunistischen Partei vergleichbar, die Internationale in der Zeit zwischen den Weltkongressen leiten. In den ersten Jahren seines Bestehens erfüllte das EKKI diese Aufgabe. Je mehr aber die sowjetische Partei das Übergewicht in der Komintern gewann, desto größer wurde die Bedeutung der Entscheidungen des Politbüros der KPdSU. Schon im September 1923 beschloß z. B. das Politbüro der KPdSU, in Deutschland einen Aufstand stattfinden zu lassen. Das EKKI beriet nur noch darüber, wie dieser Beschluß auszuführen sei. Aber auch die Rolle des sowjetischen Politbüros wandelte sich. Es wurde mehr und mehr von Stalin beherrscht, der nach seinem Sieg in der KPdSU auch die Komintern regierte.

Wie das ZK jeder kommunistischen Partei ein Politbüro (oder ein verwandtes Organ) hat, so wählte auch das EKKI ein Präsidium. Vorsitzender des Präsidiums war von 1919 bis 1927 Sinowjew; ihm folgte bis 1929 Bucharin. Danach besetzte Stalin den Posten nicht mehr.

Dem Sekretariat—ab 1922 Generalsekretariat genannt — oblag die Aufgabe, die Beschlüsse des Weltkongresses, des EKKI und des Präsidiums zu vollziehen oder ihre Ausführung zu überwachen. Wie in jeder kommunistischen Partei unterstanden dem Sekretariat eine Reihe von Abteilungen, die einzelne Sachgebiete zu bearbeiten hatten. Organisationsabteilung, Kaderabteilung, Agit-Prop-Abteilung sind als die wichtigsten zu nennen. Daneben sind die Verwaltungsabteilung, die Abteilung für Statistik und Information, die Frauenabteilung, die Militärabteilung und ein Pressebüro erwähnt worden. Eine Internationale Kontrollkommission (IKK) erhielt die Aufgabe, Abweichungen von der Kominternlinie, disziplinäre Verstöße und parteifeindliches Verhalten zu untersuchen und zu ahnden.

Der VI. Weltkongreß (1928) wählte ein EKKI, dem 59 Mitglieder und 43 Kandidaten angehörten. Von heute noch bekannten Kommunisten waren damals EKKI-Mitglieder: für die KPdSU: Stalin, Bucharin, Losowski, Molotow, Manuilski für die KPD: Pieck, Thälmann, Ulbricht (Kandidat) für die KP Ungarns: Bela Kün für die KP Bulgariens: Kolaroff und Dimitroff (Kandidat)

für die KP Österreichs: Koplenig für die KP Italiens: Togliatti Persönliche Mitglieder: Otto Kuusinen und Klara Zetkin Die EKKI-Mitglieder mußten nicht ständig in Moskau sein. Sie hatten nur zu den Plenarsitzungen, die mindestens alle 6 Monate stattfinden sollten, in Moskau zu erscheinen. Zwischen den Sitzungen führte das Präsidium die Geschäfte des EKKI.

Die Organisation der Weltpartei Der Komintern als Weltpartei waren Organe gegeben, die den Zweck hatten, der Weltorganisation von der Zentrale aus Weisungen zu erteilen, die Ausführung dieser Weisungen zu überwachen und die Zentrale mit ihren über die ganze Welt verstreuten Gliedern zu verbinden.

Die Arbeit in der Zentrale war territorial nach Ländersekretariaten aufgeteilt. Z. B. gab es im EKKI ein Lateinisches, ein Angloamerikanisches, ein Westeuropäisches, ein Fernöstliches, ein Skandinavisches und das Balkansekretariat.

Wichtige — außerhalb der Moskauer Zentrale liegende — Organe der Komintern waren die „ständigen Büros", Außenstellen des EKKI in verschiedenen Ländern. Ein Westeuropäisches Büro hatte schon 1919 in Berlin Propagandamaterial für die Komintern verbreitet. Auf dem VI. Weltkongreß wurde beschlossen, das Westeuropäische Büro in Berlin wieder zu errichten. Schon vorher hatte das Büro seine Tätigkeit ausgenommen. Zunächst wurde es von Dimitri Manuilski geleitet, dessen Nachfolger von Mai 1929 bis zum Frühjahr 1933 Georgi Dimitroff war. Das Statut der Komintern von 1928 nennt ferner das Südamerikanische und das „Ostbüro". Das Südamerikanische Büro hatte seit 1928 seinen Sitz nacheinander in Buenos Aires, Montevideo und Rio de Janeiro. Nach der mißglückten kommunistischen Revolution in Brasilien (1935) wurde es aufgelöst. Das „Ostbüro“ war hervorgegangen aus einer Außenstelle, die die Komintern Anfang der zwanziger Jahre in Irkutsk unterhalten hatte. Später — zur Zeit der Zusammenarbeit der Komintern mit der Kuomintang — gab es ein „Fernöstliches Büro" in Wladiwostok, das eine Zweigstelle in Schanghai errichtete. Dieses Büro mußte seine Tätigkeit 1931 einstellen, als die Japaner Schanghai besetzten. Aus dem Südostbüro in Wien ging das zuerst in Sofia, später in Wien ansässige Balkanbüro hervor. Die Sektionen der Komintern hatten die Weisungen der „Ständigen Büros“ auszuführen. Sie konnten sich zwar gegen derartige Weisungen beim EKKI beschweren, aber ihre Beschwerde hatte keine aufschiebende Wirkung.

Außerdem war das EKKI berechtigt, „Beauftragte" zu den verschiedenen Sektionen zu senden. Sie durften an allen Sitzungen der Sektionen teilnehmen und auch den Entscheidungen dieser Sektionen widersprechen, wenn sie den Direktiven des EKKI zuwiderliefen. Bei Anwendung derartiger Befugnisse gerieten die Kominternbeauftragten leicht in Streit mit den Führern der Sektionen, zu denen sie gesandt waren. Widerstände dieser Art blieben aus, nachdem die Sektionen mehr und mehr bolschewisiert wurden.

Ferner hatte das EKKI das Recht, Instrukteure zu den Sektionen zu senden, um Einzelfragen zu regeln. Da gab es Spezialisten für Agitation, für Streiks, für militärische Probleme, für Frauenfragen.

Gelegentlich ist das geheime Wirken derartiger „Kominternagenten" in Gerichtsverfahren oder durch Publikationen aufgedeckt worden. 1925 wurde z. B. in Deutschland im sog. Tschekaprozeß enthüllt, daß ein russischer Kominternbeauftragter und deutsche Kommunisten eine Terrororganisation gegründet und die Terroristen beauftragt hatten, den Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, die Großindustriellen Borsig und Stinnes zu ermorden. Nach der mißglückten Revolution in Brasilien (1935) wurden mit dem Führer der KP Luis Carlos Prestes zwei „Kominternagenten', der deutsche Arthur Ewert und der Argentinier Rodolfo Ghioldi, verurteilt. In Schanghai stand 1931 der Schweizer Kommunist Paul Ruegg vor Gericht, der das Fernöstliche Büro geleitet hatte. Das Buch eines „Kominternagenten" wurde sogar in den USA ein Bestseller: Richard Krebs’ (Schriftstellername Jan Valtin) " Out of the night“ *.

Die Hilfsorganisationen der Komintern Schon bald nach Gründung der Komintern wurden, um bestimmte Personenkreise anzusprechen oder Sonderzwecke zu verfolgen, Hilfsorganisationen gegründet.

Der Gewerkschaftsarbeit diente die Profintern; der Arbeit unter den Seeleuten widmete sich die Internationale der Hafenarbeiter und Seeleute. Die Rote Jugendinternationale sollte die Jugend für die kommunistische Sache gewinnen. Ebenso offensichtlich sind die Aufgaben der Roten Fraueninternationale, der Sport-internationale, der Bauerninternationale, der Kinderinternationale, der Gesellschaft der Freunde der Sowjetunion, der Roten Lehrer-internationale und der Internationale Proletarischer Freidenker.

Nicht an bestimmte Personenkreise (Frauen, Jugend) wandten sich Organisationen wie die „Internationale Rote Hilfe“ (IRH, MOPR), die „Liga gegen Krieg und Faschismus" und die „Liga gegen den Imperialismus“. Nur über den Zweck der IRH braucht hier etwas gesagt zu werden: Sie wurde 1923 in der Sowjetunion gegründet und bezeichnete sich als „Selbständige, außerhalb der Parteien stehende Hilfsorganisation". Ihre Hilfe sollte sie „allen Opfern des revolutionären Kampfes" zuteil werden lassen. Größte Bedeutung gewann die IRH nach 1933, als Tausende von Emigranten aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in Not waren. Ein Netz von Hilfsstellen der IRH überzog damals die europäischen Staaten. Die IRH half allerdings nicht nur karitativ, sondern war z. B. auch bei illegalen Grenzübertritten von Kommunisten behilflich. Das Pariser Büro der IRH war zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs mit der Auswahl und dem Transport von Freiwilligen nach Spanien befaßt.

Die Abteilung für internationale Verbindungen (OMS)

Die riesigen Organisationen der Komintern selbst, ihrer Sektionen, des Westeuropäischen und des Fernöstlichen Büros, der Profintern und der Internationalen Roten Hilfe liefen an einer Stelle im EKKI zusammen, in der Abteilung für internationale Verbindungen (OMS), die das Herz der Komintern genannt worden ist. Sie unterstand dem Org-Büro des EKKI, dessen Leiter Ossip Piatnitzki, von 1919 bis zu seinem Ende, das er in den Säuberungen fand, einer der einflußreichsten Komintern-funktionäre gewesen ist. Er verfügte über ein Mittel, ohne das organisatorische Arbeit des Umfangs, wie sie in der Komintern geleistet wurde, nicht möglich ist, über Geld.

Die OMS sandte besondere Beauftragte zu den Sektionen der Komintern, die mit der Moskauer Zentrale in Kurierverbindung standen. Durch diese Kuriere wurden Geldmittel und Anweisungen transportiert, die über die OMS-Beauftragten den Sektionen oder sonstigen Stellen zugingen. In Berlin war von 1921 bis 1930 Jakob Mirow-Abramow als OMS-Beauftragter tätig. Er gehörte pro forma der Presseabteilung der Sowjetbotschaft an und empfing seine Sendungen aus Moskau durch die diplomatische Post.

Die Sektionen erhielten Gelder der Komintern in größter Heimlichkeit. Meist war nur ein Vertrauensmann dazu bestimmt, die Gelder von dem Vertreter der OMS entgegenzunehmen. In Deutschland haben Wilhelm Pieck und nach ihm Leo Flieg jahrelang diese Rolle gespielt. Im Südamerikanischen Büro genoß der Argentinier Vittorio Codovilla, von den dänischen Kommunisten Richard Jensen das besondere Vertrauen der OMS.

Die Beauftragten der Komintern, ihre Instrukteure und Kuriere reisten unter falschen Namen von Land zu Land. Dazu brauchten sie Pässe. Die Paßabteilung der OMS besorgte Pässe und verfälschte sie.

Im ersten Jahrzehnt der Komintern verband allein das Kuriersystem der OMS die Moskauer Zentrale mit ihren Außenstellen. Mitte der dreißiger Jahre begann die OMS, auch einen Funkverkehr zu ihren Außenstellen und zu einzelnen Sektionen einzurichten. In Westeuropa arbeitete an diesen) Funknetz Hermann Wenzel, der in Moskau ausgebildet worden war. Für die Auslandsleitung der KPD in Paris stellte 1934 Johannes Firl eine Funkverbindung mit Moskau her. Und die holländische KP hatte in Daniel Goulooze einen gleichfalls in Moskau ausgebildeten Funker.

Im ganzen gesehen hat sich die Organisation der Komintern durchaus bewährt. Wenn die III. Internationale ihr Ziel, den Kapitalismus in der ganzen Welt zu stürzen, nicht erreicht hat, so waren die Ursache dafür nicht Mängel der Organisation. Oft überschätzte die Führung der Komintern die Stärke der Kommunisten, wie 1923 in Deutschland, oder sie jagte Revolutionäre auf die Barrikaden (wie 1928 in Kanton), um im sowjetischen Machtkampf Argumente zu gewinnen. Derartige politische Fehler konnte auch eine perfekte Organisation nicht aufwiegen.

VI. Volksfront

Ursprung der Volksfront Anfang 1934 hatte der französische Schriftsteller Henri Barbusse Stalin vorgeschlagen, alle, „die die Freiheit liebten", im Abwehrkampf gegen den Faschismus zu einer „Volksfront" zusammenzuschließen. Diese Volksfront sollte nicht nur — wie die Einheitsfront — Sozialisten und Kommunisten, sondern auch Kräfte der Mitte umfassen. Im EKKI standen sich, bevor Stalin entschied, zwei Gruppen gegenüber: der Bulgare Dimitroff, Mao Tse-tung, der Amerikaner Earl Browder und die Franzosen Thorez und Guyot unterstützten Barbusses'Vorschläge. Demgegenüber meinten der einflußreiche Manuilski, der Tscheche Gottwald, der Finne Kuusinen sowie Pieck und Ulbricht, bei einer solchen Politik könne es zu rechten „Abweichungen" und zur Aufweichung ihrer Parteien kommen. Im Frühsommer 1934 entschied sich Stalin für die Volksfrontpolitik.

Die neue Taktik wurde zuerst in Frankreich angewandt. Zunächst wies die Komintern die französischen Kommunisten an, die Politik der Einheitsfront „von unten“ aufzugeben, d. h. aufzuhören, die Sozialistische Partei (Section Francaise Internationale Ouvrire = SFIO) zu zersetzen. Am 27. Juli unterzeichneten Sozialisten und Kommunisten den „Pakt der Aktionseinheit". Damit war zwischen den Spitzen, Sozialisten und Kommunisten, eine Einheitsfront („von oben") hergestellt, die ein Jahr später durch ein Abkommen zwischen KP, SFIO, Radikalsozialisten, Confedöration General du Travail (CGT), Confederation General du Travail Unitaire auf Kräfte der politischen Mitte ausgedehnt wurde (14. Juli 1935:

Volksfront). An der Spitze eines riesigen Demonstrationszuges marschierten der Sozialist Lon Blum, der Radikalsozialist Edouard Daladier und Maurice Thorez als Vertreter der KPF.

Bei den nächsten Wahlen (April/Mai 1936) errangen die Parteien der Volksfront einen überwältigenden Sieg. In einem Jahr stieg die Mitgliederzahl der Gewerkschaft CGT von 1 Million auf etwa 5 Millionen.

VII. Weltkongreß (25. Juli bis 20. August 1935)

Sieben Jahre nach dem sechsten Kongreß fand der siebente statt. In der Komintern war Stalins Herrschaft unbestritten, der in der Sowjetunion begonnen hatte, seine Gegner physisch zu vernichten (Kirow-Mord im Dezember 1934). Auf dem VII. Kongreß opponierte keiner der Delegierten gegen die Vorschläge des EKKI, die Stalins Günstlinge Manuilski, Dimitroff und Palmiro Togliatti vortrugen. Sie proklamierten die „Einheitsfront von oben“, Aktionseinheit mit den sozialistischen Parteien, die Volksfront. Sie erwähnten aber nicht, und keiner der Delegierten hatte den Mut, das zu kritisieren, daß die linke Politik gescheitert war und die Beschlüsse des VI. Weltkongresses sich als grundfalsch erwiesen hatten. Auf Antrag Togliattis richtete der Kongreß eine Begrüßung an „den Genossen Stalin, den Führer, Lehrer und Freund des Proletariats und der Unterdrückten der ganzen Welt“, ein erstes Beispiel für Personenkult in der Internationale. Der Kongreß feierte die französische Delegation wegen ihres Volksfront-Erfolges und be30 stätigte die neue Taktik als verbindlich für die Sektionen der Komintern. Außerdem wiederholte der Kongreß, was Stalin schon seit 1925 gefordert hatte: Leitstern für die Politik der Kommunistischen Parteien war das Interesse der Sowjetunion. Im Falle eines Krieges hatten die Kommunisten um jeden Preis den Sieg der Roten Armee über den Imperialismus zu fördern.

Das kommunistische Ziel, die Weltrevolution, schien damit hinter Stalins Forderung zurückzutreten, die Arbeiter der ganzen Welt sollten die Sowjetunion schützen. Aufgegeben war der Gedanke der Weltrevolution aber nicht. In der Resolution über die Tätigkeit des EKKI hieß es:

„Uns Arbeitern, nicht aber den gesellschaftlichen Parasiten und Nichtstuern, gehört die Welt, die von Arbeiterhänden aufgebaute Welt. Die jetzigen Herrscher der kapitalisierten Welt sind vorübergehende Leute.

Das Proletariat ist der wirkliche Herr der Welt, der Herr von morgen. (Stürmischer Beifall.) Und es muß in seine historischen Rechte eintreten, in jedem Lande, in der ganzen Welt die Zügel der Herrschaft in seine Hände *nehmen.

Das verstand jeder Kommunist und hätte jeder Politiker verstehen sollen, zumal die Komintern im gleichen Jahr bewies: Die Weltrevolution war nicht aufgegeben. In Brasilien brach im November 1935 ein Aufstand aus, der von der »Nationalen Befreiungsallianz", einer volksfrontähnlichen Koalition, und der Kommunistischen Partei Brasiliens organisiert war. Der Entschluß zum Aufstand war auf einer »Lateinamerikanischen Konferenz" gefaßt worden, die kurz vor dem VII. Weltkongreß in Moskau stattgefunden hatte. In Brasilien schlug die Regierung Präsident Vargas'den Aufstand nieder, Luis Carlos Prestes, der Führer der KP Brasiliens, wurde vor Gericht gestellt. Mit ihm teilten die Kominternfunktionäre Arthur Ewert (Deutscher), Rodolfo Ghioldi (Argentinier) und andere die Anklagebank. Infolge dieser Ereignisse mußte das Lateinamerikanische Büro der Komintern aufgelöst werden, das seinen Sitz zuletzt in Rio de Janeiro gehabt hatte.

Trotz dieses offenen Revolutionsversuchs gelang es den Kommunisten angesichts der Bedrohung, der die europäischen Völker durch eine faschistische oder nationalsozialistische Aggression ausgesetzt waren, viele zu überzeugen, daß sie echte Antifaschisten waren und ehrlich mit ihren Volksfrontpartnern Zusammenarbeiten wollten. Auch Stalin trug dazu bei, die Welt zu täuschen. Am 1. März 1936 gab er dem amerikanischen Journalisten Roy Howard ein Interview, in dem er auf eine entsprechende Frage erklärte, die UdSSR habe keine weltrevolutionären Absichten.

Diese Äußerung war Bestandteil einer weltweiten antifaschistischen Agitationskampagne, die der deutsche Kommunist Willy Münzen-berg für die Komintern betrieb.

Die antifaschistische Agitationsoffensive Die Agitationsarbeit Willy Münzenbergs war kein Produkt der Volksfrontpolitik. Münzen-berg war einer der Gründer der Roten Jugend-internationale. Lenin beauftragte ihn 1921, in der westlichen Welt eine Hungerhilfeaktion für das russische Volk zu organisieren, das an den Folgen des Kriegskommunismus litt. Münzenberg schuf die Internationale Arbeiterhilfe (September 1921), seine Werbung hatte materielle und propagandistische Erfolge. Die Hungerhilfsaktion war der Beginn des agitatorischen Wirkens Münzenbergs. Er gründete Verlage, Zeitungen, Zeitschriften. Seine „Arbeiteri*llustrierte erreichte 1926 eine Auflage von etwa einer Million. Seine Filmverleihgesellschaft vertrieb die revolutionären Filme der zwanziger Jahre (z. B. „Panzerkreuzer Potemkin", und »Sturm über Asien") in der ganzen Welt. Den Höhepunkt seines Wirkens erreichte Münzenberg als Emigrant in Paris. Er leitete das „Hilfkomitee für die Opfer des deutschen Faschismus“, das zu einem Werkzeug der Kominternagitation wurde. Durch das „Komitee zur Untersuchung der Hintergründe des Reichstagsbrandprozesses“ und durch das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror" erzielte er große politische Wirkungen. Das Braunbuch schilderte, wie die angeblichen Brandstifter durch einen unterirdischen Gang in den Reichstag eingedrungen seien. Es wirkte auch durch Berichte über Judenverfolgungen und Konzentrationslager in Deutschland. Das Braunbuch wurde in 17 Sprachen übersetzt und erschien in Millionenauflagen. Münzenberg gewann durch seine erstaunliche Kunst der Menschenbehandlung bedeutende Persönlichkeiten. In seiner 1927 gegründeten «Liga gegen den Imperialismus" begegneten sich Jawaharlal Nehru, der spätere burmesische Ministerpräsident U Nu und der amerikanische Negerführer James W. Ford. Albert Einstein beteiligte sich an Solidaritätsaktionen. Henri Barbusse sprach bei Eröffnung des Kongresses gegen den imperialistischen Krieg (Amsterdam 1932). Lord Marley, Mitglied des englischen Oberhauses, schrieb das Vorwort zum Braunbuch. An der „Liga gegen Krieg und Faschismus" beteiligten sich Edu Fimmen, Sekretär der Internationalen Transportarbeiter-föderation und Ellen C. Wilkinson, führendes Mitglied der Labour Party. Münzenbergs „Komitee zur Untersuchung der Hintergründe des Reichstagsbrandprozesses" inszenierte einen Gegenprozeß, bevor der Reichstagsbrandprozeß in Leipzig überhaupt begonnen hatte. Im Gegenprozeß wirkten namhafte Juristen mit, z. B. Sir Stafford Cripps, späterer britischer Schatzkanzler, und Kronanwalt D. N. Pritt.

Das Ergebnis dieses großen Feldzuges wurde dazu benutzt, die Weltöffentlichkeit zu folgendem Schluß zu verleiten: Wenn die Kommunisten den Reichstag nicht angesteckt hatten, dann waren ihnen auch sonst Aufstands-vorbereitungen nicht zuzutrauen. Arthur Koestler, damals ein Mitarbeiter Münzenbergs, erklärt zu den Erfolgen dieser Agitation:

„Kommunistische Terroraktionen wurden fortan als eine Erfindung der Nazis betrachtet, mit der sie ihre Hauptgegner in Verruf zu bringen suchten; in Wirklichkeit, so glaubte man nun, waren die Kommunisten aufrechte Verteidiger von Freiheit und Demokratie, tapferer und entschlossener als alle anderen. Nannte man Dimitroff einen . Kominternagenten', so sprach man eben die Sprache der Nazis. Dimitroff wurde das Symbol jenes tapferen und aufrechten Typs des modernen Liberalen, des . AntiFaschisten'. Noch bemerkenswerter war, daß es den Kommunisten gelang, im öffentlichen Gedächtnis die Tatsache auszulöschen, daß sie jahrelang in Deutschland und anderswo Gewalttätigkeit und bewaffneten Aufstand gepredigt hatten. Der Beweis war da — auf der Titelseite jeder kommunistischen Zeitung. Da aber der Prozeß bewies, daß sie am Tage des Reichstagsbrandes keinen bewaffneten Aufstand geplant hatten, betrachtete es das Publikum als mittelbar bewiesen, daß sie dergleichen überhaupt nie getan hatten und nie tun würden."

Dieser antifaschistischen Agitation stimmten in der westlichen Welt Hunderttausende liberaler westlicher Intellektueller, Schauspieler, Sänger, Ärzte und Rechtsanwälte begeistert zu. Der Boden, der so bereitet war, wurde von den russischen Nachrichtendiensten noch genutzt, um Intellektuelle anzuwerben, als die Volksfrontpolitik schon längst aufgegeben worden war.

Volksfront in Spanien Nach dem VII. Weltkongreß ging auch die — bis dahin sehr schwache — KP Spaniens zur Volksfrontpolitik über. An den Wahlen, die im Februar 1936 stattfanden, nahm ein „Volksfrontblock“ teil, dem angehörten: die Sozialistische Partei, die KP Spaniens, die Republikanische Union unter Martinez Barrio, die Republikanische Linke unter Manuel Azana, die Partido Obrero de Unification Marxista (POUM) unter Andres Nin und andere. Der Volksfrontblock errang eine knappe Mehrheit. Die Regierung wurde von den linken bürgerlichen Parteien gebildet, die Kommunisten tolerierten sie. Schon im April kam es zu einem Aufstandsversuch rechter Kräfte. Im ganzen Lande stießen paramilitärische Kräfte mit der Arbeiterschaft zusammen. Attentate beider Seiten verschärften die Lage, bis schließlich der Mord an Calvo Sotelo, einem rechten Politiker, einen neuen Aufstand rechter Kräfte nach sich zog. Im Juli 1936 meuterten Truppen in Spanisch-Marokko. General Franco verließ die Kanarischen Inseln, wohin er versetzt worden war, und trat an die Spitze der Aufständischen. Der Spanische Bürgerkrieg begann. Der bürgerliche Republikaner Jose Giral führte die Volksfrontregierung. Erst in der Regierung des Chefs der Sozialistischen Partei, Largo Caballero, die im Herbst 1936 gebildet wurde, beteiligten sich die spanischen Kommunisten auf ausdrückliche Weisung der Komintern, wie Jesus Hernandez, einer der kommunistischen Minister, in sei-32 nem Buch „La Grande Trahison" bestätigt hat. Damit gehörten zum ersten Mal seit Gründung der Komintern Kommunisten einer nicht-proletarischen Regierung an. Die erste Phase des Kampfes der vom spanischen Volk gewählten Volksfrontregierung gegen nationalistische Aufrührer erweckte in demokratischen Kreisen des Westens Sympathie und wurde von den kommunistischen Parteien aller Länder nach Kräften unterstützt. Freiwillige, deren Zahl auf 40 000 geschätzt wird, gingen nach Spanien, um in den Internationalen Brigaden für die Volksfrontregierung zu kämpfen. Durchaus nicht alle waren Kommunisten. Sie waren auch nicht die einzigen „Freiwilligen" in Spanien. Die Aufständischen erhielten von Anfang an Truppen und Waffen aus Deutschland (Legion Condor) und Italien. Erst vier Monate nach Beginn der Kämpfe lieferte die Sowjetunion spärliche Quantitäten an Waffen. Politische und militärische Berater der Komintern, geführt von Togliatti, und Agenten des NKWD erschienen bald nach Beginn der Kämpfe in Spanien. Diese Berater drängten die Kommunistische Partei, die stark angewachsen war, an die Spitze der Volksfront. Im Auftrag der Komintern verleumdeten die spanischen Kommunisten ihre Volksfrontpartner. Caballero trat zurück. Nachfolger Sein Negrin leitete eine Regierung, die zwar dem Namen nach eine Volksfrontregierung war. In Wahrheit unterlag aber Negrin dem Einfluß der sowjetischen Berater. Sein Kriegsminister Prieto widersetzte sich der kommunistischen Herrschaft. Er mußte die Regierung nach einigen Monaten verlassen. Die zweite Regierung Negrin war völlig in der Hand der Kommunisten. Der Kampf der Volksfrontpartner gegeneinander und die Verhaftung angeblicher Franco-Spione in den Internationalen Brigaden und in spanischen Arbeiterorganisationen, Terrorakte des NKWD-Beauftragten Alexander Orlow (z. B der Mord an Andres Nin) untergruben die Moral der republikanischen Truppen. Seit Frühjahr 1938 zeichnete sich ihre Niederlage ab. Im Herbst zog die Komintern die Internationalen Brigaden aus Spanien zurück. Im März 1939 endeten der Bürgerkrieg und damit auch die spanische Volksfront mit einer schweren Niederlage.

Zerfall der Volksfront in Frankreich Bei den französischen Wahlen im Jahre 1936 erhielt die Volksfront 334 von 618 Sitzen, also die absolute Mehrheit. Zwei Volksfrontpartner, die Sozialistische und die Radikalsozialistische Partei, bildeten die Regierung mit Leon Blum an der Spitze. Die Kommunisten lehnten ab, in die Regierung einzutreten, versprachen aber, sie zu unterstützen.

Noch im Jahre 1936 wurde die Volksfront durch die Agitation belastet, die von den Kommunisten gegen die Regierung Blum betrieben wurde, weil sie gegenüber Spanien die Politik der Nichteinmischung verfolgte. Als die Kammer über diese Politik abstimmte, enthielten sich die Kommunisten der Stimme. Die Partner entfremdeten sich weiter, als die Sozialisten ablehnten, eine Einheitspartei mit den Kommunisten zu bilden. Bereits im November 1937 druckte die „Humanite" einen Artikel Dimitroffs ab, in dem es hieß, man könne den Kapitalismus nicht überwinden, wenn man nicht mit der Sozialdemokratie in der Arbeiterbewegung Schluß mache. Das Ende der Volksfront war da, als Daladier im April 1938 eine Regierung ohne Sozialisten und Kommunisten bildete.

Die deutsche und andere Volksfronten Die Beschlüsse des VII. Weltkongresses hatten implicite eine Kritik an der linken Politik enthalten, die die KPD in den Abgrund geführt hatte. Offen wurde diese Kritik auf der sog. „Brüsseler Parteikonferenz" ausgesprochen, die im Oktober 1935 in der Nähe von Moskau stattfand. Im Manifest der Konferenz hieß es, die KPD habe nun als wichtigste Aufgabe, die deutsche Volksfront zu schaffen.

Die deutsche Volksfront konnte nicht die gleiche Bedeutung wie entsprechende Bündnisse in Frankreich und Spanien erlangen. Deutsche Emigranten verhandelten in Paris und Prag über einen volksfront-ähnlichen Zusammenschluß. In Paris gründeten sie im Februar 1936 ein „Komitee zur Schaffung der Deutschen Volksfront“, das ein Manifest annahm. Prominente Kommunisten (z. B. Münzenberg, Dahlem, Matern, Abusch), Sozialdemokraten (z. B. Rudolf Breitscheid, Albert Grzesinski, Paul Hertz) und hervorragende Intellektuelle (z. B. Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Klaus Mann, Ernst Toller) unterzeichneten. Eine umfassende deutsche Volksfront kam aber nicht zustande, weil der Parteivorstand der SPD ablehnte, mit den Kommunisten die „Einheitsfront von oben" einzugehen, die Voraussetzung der Volksfront war.

Auch in anderen Ländern wurde — der Kominternlinie folgend — versucht, Volksfronten zu bilden.

Die Vorschläge der KP Großbritanniens an die Labour Party, die Einheitsfront herzustellen, wurden zwar abgelehnt, aber die KP stärkte sich durch ein Bündnis mit kleinen Gruppen (der Independent Labour Party und der Socialist League). Auch in Schweden brachte die KP keine Volksfront zustande, aber sie konnte durch diese Taktik Mitglieder gewinnen und die Zahl ihrer Wahlstimmen erhöhen.

In Jugoslawien beteiligte sich die verbotene KP nicht an Wahlen. Aber durch die Volksfronttaktik konnte sie Anhänger in der Jugend gewinnen. In Polen fiel die Einführung der neuen Taktik mit dem Tode Pilsudskis zusammen (1935). Die Volksfronttaktik brachte der KP zwar einige Erfolge, aber ihr Schicksal wurde in Moskau bestimmt: Im April 1938 beschloß das EKKI, die KP Polens als eine Partei, die völlig von Agenten durchsetzt sei, aufzulösen. Das große Ereignis — der Stalin-Hitler-Pakt — warf seine Schatten voraus.

Auch in Lateinamerika wurde versucht, die neue Taktik anzuwenden. In Chile gelang es dem Kominternagenten Eudocio Ravines, eine Volksfront zu bilden. Auch hier gingen die Kommunisten nach einem Wahlsieg der Volksfront (Dezember 1938) nicht in die Regierung. Die Volksfront zerbrach im ersten Jahre des Weltkrieges.

In Brasilien versuchte Juan Carlos Prestes, in der „Nationalen Befreiungsallianz" alle „antiimperialistischen" Kräfte zu einigen (1935). Im Kampf um die Macht wandte er die Taktik des bewaffneten Aufstandes an. Im November 1935 begannen die Kämpfe mit der Regierung Vargas. Prestes und einige Kominternagenten wurden zu hohen Strafen verurteilt. Die Periode der Volksfront war überschattet und die Glaubwürdigkeit der Volksfrontpolitik wurde bei vielen beeinträchtigt durch die Ereignisse, die gleichzeitig in Moskau stattfanden, die Vernichtung der alten Bolschewik! und vieler ausländischer Kommunisten in den Säuberungen.

VII. Säuberungen

Die Säuberungen in der Komintern Die kommunistischen Parteien zu säubern, d. h. unwürdige Mitglieder auszuschließen, war seit dem VIII. Parteitag der KPR (1919) Tradition. In den 21 Bedingungen, die der II. Weltkongreß angenommen hatte, waren die Sektionen der Komintern verpflichtet worden, von Zeit zu Zeit ihre Parteiorganisationen zu säubern. Diese Säuberungen spielten sich wie folgt ab: Alle Parteimitglieder wurden aufgefordert, sich neu zu registrieren. Bei dieser Gelegenheit wurde die Mitgliedschaft von Personen nicht erneuert, die „unwürdig", d. h. als „kleinbürgerliche Karrieristen" in die Partei eingetreten zu sein schienen. 1919, bei der ersten dieser Säuberungen, verloren von etwa 150 000 Mitgliedern der sowjetischen Partei ca. 100 000 ihr Parteibuch. Nach dem X. Parteitag (1921) wurde die KPR erneut gesäubert, und etwa 136 000 Mitglieder wurden ausge34 schlossen. In den nichtsowjetischen Parteien waren derartige Massensäuberungen zur Zeit des Bestehens der Komintern nicht erforderlich. Diese Parteien hatten keine Staatsstellen zu vergeben, und kleinbürgerliche Opportunisten bewarben sich nicht darum, Mitglieder zu werben. Im Gegenteil, alle kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion waren daran interessiert, Mitglieder aufzunehmen, um eine Massenbasis zu gewinnen. Zwar waren in den Sektionen der Komintern seit 1920 fortgesetzt Mitglieder, auch führende Genossen, ausgeschlossen worden. Der erste, den dieses Los traf, war wohl Paul Levi, der Vorsitzende der KPD. Er hatte die Märzaktion von 1921 öffentlich als „putschistisch" kritisiert. Levi war ebensowenig ein kleinbürgerlicher Opportunist wie Ernst Reuter, Boris Souvarine, Leo Trotzki und Dutzende anderer Führer, die in den zwanziger Jahren der Ausschluß traf. Die Fälle dieser „Abweichler" glichen nicht denen der Opfer von Massensäuberungen der Frühzeit, aber sie hatten mit ihnen eins gemein: Leben und Freiheit der Ausgeschlossenen wurden durch die Säuberung nicht berührt. Das änderte sich, sobald Stalin seine Herrschaft soweit konsolidiert hatte, daß er dazu übergehen konnte, seine Gegner oder solche, die Gegner werden konnten, physisch zu vernichten. Physische Vernichtung ist das Kriterium der Säuberungen der dreißiger Jahre. Deshalb fällt ihr Beginn mit einem Akt physischer Vernichtung zusammen, mit dem Mord an Sergei Kirow (1. Dezember 1934), des Leningrader Parteisekretärs, der dank seiner Beliebtheit ein Konkurrent Stalins beim Kampf um die Macht hätte werden können. Nach den Hinweisen, die Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag gegeben hat, kann man nicht bezweifeln, daß Kirow auf Befehl Stalins umgebracht worden ist. Das Teuflische an diesem Mord ist, daß er nicht nur dazu benutzt worden ist, einen potentiellen Konkurrenten zu beseitigen. Unmittelbar nach dem Mord setzte eine Welle blutiger Säuberungen ein. Kirow war von einem jungen Kommunisten, L. Nikolajew, erschossen worden. Nikolajew und 13 angebliche Komplizen wurden sofort hingerichtet. Noch am Tage desMordes erließ das Zentralkomitee der KPdSU einen Geheimbefehl, durch den Personen, die man terroristischer Akte beschuldigte, jeglicher Verteidigungsrechte beraubt wurden. Weitere Exekutionen folgten in Moskau, der Ukraine und Weißrußland. Auch Sinowjew und Kamenew wurden beschuldigt, den Mörder indirekt ideologisch beeinflußt zu haben, und, obwohl sie nicht gestanden hatten, zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Nachfolger Kirows als Sekretär des Zentral-komitees wurde Jeschow, der später als Leiter des NKWD die Säuberungen auf Stalins Befehl ihrem Höhepunkt zutreiben und danach selbst ihr Opfer werden sollte. In dieser Periode der Panik und des Mißtrauens vergab Stalin Schlüsselpositionen nur an treue Anhänger. Zu ihnen gehörten Mikojan, der im Februar 1935 Politbüromitglied wurde, und N. S, Chruschtschow, den Stalin im März zum Ersten Sekretär der Moskauer Parteiorganisation ernannte und 1938 als Kandidat in das Politbüro aufnahm. Der gleiche Chruschtschow berichtete zwei Jahrzehnte später dem XX. Parteitag der KPdSU, von den 139 Genossen, die der XVII. Parteitag (1934) in das Zentralkomitee der KPdSU gewählt hatte, seien 70 °/o in den Säuberungen verhaftet und erschossen worden. Chruschtschow erwähnte nicht, wie er selbst im Jahre 1936 gegen Stalins Gegner gehetzt hatte: „Jeder, der .... über die Siege der Partei unter der Führung des großen Stalin frohlockt, wird für die gedungenen faschistischen Hunde der trotzkistisch-sinowjewistischen Bande nur ein Wort haben. Dieses Wort lautet: Hinrichtung.“

Die Zahl der ermordeten Zentralkomitee-Mitglieder, die Chruschtschow zwanzig Jahre später nannte, ist eindrucksvoll, dennoch gibt sie kein Bild von dem Massenterror, der von 1935 bis 1938 herrschte. Hunderttausende seiner Opfer gingen durch die Gefängnisse des NKWD, wurden erschossen oder landeten in Zwangsarbeitslagern. Der Terror wütete in allen Teilen der Sowjetunion. In der Ukraine wurden fast alle Führer der Partei beseitigt, einschließlich des Ersten Sekretärs Kossior. Stalin fand bald einen Nachfolger: Nikita Chruschtschow. Weißrussische Kommunisten wurden 1938 im Märzprozeß abgeurteilt, dessen Hauptangeklagter Bucharin war. In Kirgisien, Usbekistan, Tadschikistan, in Karelien und im Kaukasus wurden „Volksfeinde" entlarvt. Auf diese Weise trugen die Säuberungen dazu bei, die Nationalitätenfrage zu „lösen".

Die „Gesellschaft der Alten Bolschewiki" war schon im Mai 1935 aufgelöst worden. Ihre Mitglieder Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Radek, Rykow und viele andere ließ Stalin in den Schauprozessen, die 1935 begannen, als Mörder, Spione der Imperialisten, Gestapoagenten, Trotzkisten und Terroristen brandmarken. Sämtliche führenden Bolschewiki, die auf den Weltkongressen des ersten Jahrzehnts die repräsentativen Referate gehalten, Manifeste und Aufrufe verfaßt hatten, wurden beseitigt. Stalins Mörder erreichten (1940) auch Leo Trotzki, der als Verbannter in Mexiko lebte. Nur der Ruf des toten Lenin blieb unberührt. Die Eingriffe in die menschliche Substanz ihrer stärksten Sektion, die KPdSU, trafen die Komintern schwer. Die Säuberungen machten aber weder vor den anderen Sektionen noch vor dem hauptamtlichen Personal der Internationale halt. Besonders die deutschen, österreichischen, ungarischen, jugoslawischen und polnischen Kommunisten, deren Parteien in der Heimat verboten waren, wurden als Emigranten mit ihren Familien von den Säuberungen schwer betroffen. Amerikaner und Staatsbürger westeuropäischer Länder blieben im allgemeinen verschont, weil sie auf den Schutz ihrer Botschaften rechnen konnten. Jedoch auch von diesen Kommunisten verschwanden einzelne spurlos, z. B. die Engländerin Rose Cohen, der Däne Arne Munch-Petersen und der Schweizer Fritz Platten, der 1917 Lenin im Sonderzug nach Rußland begleitet hatte.

Die polnische Partei wurde 1938 vom EKKI aufgelöst. In dem Beschluß hieß es, sie sei mit Agenten durchsetzt (1956 erklärten die Vertreter der kommunistischen Parteien der Sowjetunion, Polens, Italiens, Bulgariens und Finnlands die Anschuldigungen gegen die polnische Partei hätten auf gefälschtem Material beruht; sie sei zu Unrecht liquidiert worden.) 1938 aber traf das Schicksal die Führer dieser „Agentenpartei" hart. Jerzy Morawski, ein polnischer Kommunist, erklärte 1956:

„Fast alle Führer und Aktivisten der Kommunistischen Partei Polens, die damals in der Sowjetunion wohnte., wurden verhaftet und in Lager gesandt."

Das betraf den Kominternveteran Adolf Warszawski ebenso wie Kostrzewa, Dombai, Valecki, Unschlicht, Dombski, Prochniak, Lenski und viele andere führende polnische Kommunisten. Nur die Witwe Felix Dsershinskis, des der Tscheka, blieb verschont. Gomulka entging dem Morden, da er in Polen lebte. Nicht minder schwere Opf r brachte die KP Jugoslawiens. Tito berichtete 1959, er habe dem Generalsekretär der Komintern, Dimitroff, 1938 vorgeschlagen, die Leitung der illegalen jugoslawischen Partei von Paris nach Jugoslawien zu verlegen. Dimitroff habe ihm erwidert: „Aber welche Leitung? Du bist als einziger übrig! Mehr als hundert jugoslawische Kommunisten kamen in den Säuberungen um, darunter vier ehemalige Generalsekretäre der KP Jugoslawiens.“

Noch größer ist die Zahl der deutschen Kommunisten gewesen, die — in der Sowjetunion Schutz vor den nazistischen Verfolgungen suchend — in den Strudel der Säuberungen gerieten. Man kann nicht sagen, in den Gefängnissen und Lagern des NKWD seien mehr deutsche Kommunisten umgekommen als in Hitlers KZ's. Unter den einfachen Kommunisten forderte Hitlers Terror mehr Opfer als die „Säuberung“ Stalins, denn Hitler hatte mehr deutsche Kommunisten in seiner Gewalt. Aber es sind mehr führende Funktionäre der KPD in der Sowjetunion getötet worden als in Deutschland. Von neun Politbüromitgliedern der KPD wurden vier in Moskau liquidiert (Hermann Remmele, Heinz Neumann, Fritz Schulte, Hermann Schubert). In Hitlerdeutschland fanden drei Politbüromitglieder den Tod (Thälmann, John Schehr und Ernst Schneller). Außerdem kamen in Moskau viele andere prominente Kommunisten um, z. B. Hugo Eberlein, Mitgründer der Komintern, Max Hölz, einst der „Held“ kommunistischer Kämpfe im sächsischen Vogtland, und Leo Flieg, der jahrelang Sekretär der KPD gewesen war und das Vertrauen derKominternführung besessen hatte. Hans Kippenberger, Leiter des AM-Apparates der KPD, und sein Vertreter Victor Aron sind gleichfalls Opfer der Säuberungen geworden. Auch vor den Spitzen der KPD, die im Amte blieben, machten die Verdächtigungen nicht halt. So wurden deutsche Kommunisten in der NKWD-Haft befragt, wie es zu erklären sei, daß Wilhelm Pieck nicht wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 von der „Soldateska" ermordet worden sei, obwohl er mit ihnen verhaftet worden war. Stalins Häscher scheinen diese Frage nicht gelöst zu haben. Vielleicht wurde ihnen auch bekannt, daß Pieck seine durch Preisgabe von Freiheit Waffenlagern der KPD und Verstecken ihrer Funktionäre erkauft hatte. Da Stalin die letzte Entscheidung hatte, ist Pieck möglicherweise verschont geblieben, weil der Diktator ein gefügiges Werkzeug, wie Wilhelm Pieck es war, an der Spitze der KPD sehen wollte.

Die Säuberungen erfaßten auch das hauptamtliche Kominternpersonal: Bela Kün, der „Held 1 der Ungarischen Räte-Republik von 1919, leitete, als er festgenommen wurde, das Balkan-sekretariat des EKKI. Er starb im NKWD-Gefängnis. Mehrere Funktionäre der Kaderabtei36 lung, die Russen Alichanow und Tschernomordik, die Deutschen „Schorsch“ Müller und Grete Wilde verschwanden. Aus dem mitteleuropäischen Sekretariat traf das gleiche Los den Leiter, Knorin, und seinen Vertreter Smolianski. Ebenso wurden der Leiter des Org-Büros, der einst so mächtige Ossip Piatnitzki, und der Leiter der OMS, Jakob Mirow-Abramow, verhaftet. Noch viele andere Funktionäre, die einst im Ausland für die Komintern tätig gewesen waren, verschwanden: der Ungar Josef Pogany, die Russen Michael Borodin und Petrowsky, der Litauer August Guralski. Ganze Abteilungen der EKKI schrumpften auf wenige Mitarbeiter zusammen.

In einem Fall ist der Terror der Säuberungen über die Grenzen der Sowjetunion hinausgetragen worden: nach Spanien. Je mehr die Volksfrontregierungen unter kommunistischen Einfluß gerieten, desto mehr Macht rissen die in Spanien tätigen Agenten des NKWD an sich. Das NKWD hatte Alexander Orlow, einen seiner Funktionäre, mit dem Auftrag nach Spanien gesandt, dort eine Abteilung des sowjetischen Geheimdienstes einzurichten. Mit ihm arbeitete eng ein italienischer Kommunist, Carlos Contreras, zusammen. Beide sind für den Massenterror verantwortlich, der im Volksfront-Spanien gegen alle ausgeübt wurde, die sich der völligen Herrschaft der Kommunisten entgegenstellten. Der Terror wurde unter dem Vorwand betrieben, die Republik sei von Trotzkisten, Anarchisten und Franco-Spionen bedroht. Franco-Spion zu sein, wurde auch dem POUM-Führer Andres Nin vorgeworfen, dem Freunde Lenins, Trotzkis, Sinowjews und Kamenews, wie Jesus Hernandez, einst kommunistischer Minister in der Volksfrontregierung Negrins, in seinem Buche „La Grande Trahison" berichtet Wie Hernandez weiß, hat Orlow versucht, einen Haftbefehl gegen Nin zu erlangen. Das mißlang. Dennoch hat Contreras sich des unglücklichen Nin bemächtigt, ihn foltern lassen und ihn, als er kein Geständnis ablegte, ermordet. Ein anderer NKWD-Mitarbeiter, Georg Mink, überwachte amerikanische Freiwillige, die in der Brigade Lincoln kämpften. Nach der Aussage eines ehe-Mink veranlaßt, daß einige Angehörige der maligen Kommunisten, Maurice L. Malkin, hat Brigade Lincoln hinterrücks erschossen wurden. Der Terror des NKWD in Spanien richtete sich nicht nur gegen Spanier oder „Ausländer“. Auch Russen, die für die rotspanische Sache gearbeitet hatten, wurden Opfer der Säuberungen. Dieses Schicksal traf Marcel Rosen-berg, den ersten Botschafter der Sowjetunion bei der Republikanischen Regierung, Antonow-Owsejenko, der 1917 den Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg geleitet hatte und sowjetischer Vertreter in Katalonien war, und General Gorew, der die Verteidigung von Madrid leitete.

Die Säuberungen und die Kominternarbeit im Westen Man sollte meinen, den Behauptungen der Ankläger und den Geständnissen der Angeklagten in den großen Moskauer Prozessen, die von westlichen Journalisten und Juristen besucht werden konnten, wäre im Westen einhellig mit Skepsis begegnet worden. Glaubte jemand — Kommunist oder Liberaler — wirklich, Lenins alte Mitkämpfer, die Revolutionäre der ersten Stunde, hätten den Mord Kirows organisiert, die Sowjetunion an die Imperialisten verraten, geplant, Stalin und Woroschilow zu ermorden und den Kapitalismus wiederherstellen zu wollen? Wer hielt ihre Geständnisse für wahr? Wer zweifelte nicht, wenn er ihr Lob für die Politik Stalins vernahm, die sie in den zehn vorhergehenden Jahren scharf abgelehnt hatten?

Die Antikominternmächte Deutschland, Japan und Italien stellten in ihrer Propaganda die Geständnisse als Fabrikationen desNKWD und die Schauprozesse als Machenschaften Stalins hin. Aber in den Demokratien des Westens beurteilte man die Moskauer Ereignisse nicht einheitlich *.

Der Moskauer Korrespondent des Londoner „Observer“ schrieb am 23. August 1936:

„Es ist zwecklos anzunehmen, daß derProzeß inszeniert und die Beschuldigungen erschwindelt waren.“ Im Vorwort eines Berichts über den zweiten Prozeß, der von W. P. und Zelda K. Coates, zeitgenössischen englischen Historikern, zusammengestellt war, hieß es:

„Praktisch jeder Ausländskorrespondent, der dem Prozeß beigewohnt hat — mit Ausnahme natürlich der Japaner und der Deutschen —, zeigte sich von dem Gewicht der Beweise sehr beeindruckt, die von der Anklagebehörde vorgelegt wurden, und von der Aufrichtigkeit der Geständnisse der Angeklagten.“ Ein englischer Anwalt, Dudley Collard, schrieb, die Angeklagten hätten gestanden, weil die Beweise des Staates sie dazu gezwungen hätten. „Keine andere Erklärung entspricht den Tatsachen.“

Noch einflußreicher als Verfechter der Sache Stalins war eine andere Zierde der britischen Jurisprudenz, Kronanwalt Dennis N. Pritt. Er ließ im „News Chronicle“ (am 27. August 1936) einen Artikel erscheinen, den er überschrieb: »The Moscow Trial is fair." Darin erklärte er:

„Man sollte sich natürlich von Anfang an darüber klar sein, daß die Kritiker, die sich weigern zu glauben, Sinowjew und Kamenjew könnten sich möglicherweise verschworen haben, Kirow, Stalin und Woroschilow zu ermorden, obwohl diese das zugegeben haben, in große logische Schwierigkeiten geraten. Denn wenn sie auf diese Weise den ganzen Fall der Anklage als „fabriziert" ablehnen, so folgt unausweichlich, daß Stalin und eine beträchtliche Zahl anderer hoher Beamter, einschließlich vermutlich der Richter und des Staatsanwalts, selbst einer üblen Verschwörung schuldig wären, um den Justizmord von Sinowjew, Kamenjew und anderen zu erreichen.“

Wo die große logische Schwierigkeit lag, erklärte Pritt nicht. Er wollte nur nicht glauben, daß Stalin »und seine Helfer derartige Verbrechen begingen. Pritt ist heute noch für den kommunistischen Weltfriedensrat tätig. Zu Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Verbrechen hat er sich nicht geäußert. Trotzki verbrauchte im Exil seine Kraft, um nachzuweisen, daß er in keiner Verbindung mit den Angeklagten gestanden, keine Abkommen mit Hitler und dem Kaiser von Japan geschlossen, nicht auf die militärische Niederlage und die Zerstückelung der Sowjetunion hin-gearbeitet hatte, wie der zynische Moskauer Ankläger Wyschinski behauptete und wie die Angeklagten „gestanden" hatten. Ein Gegenprozeß wurde in Mexiko organisiert, in dem gewichtige Behauptungen Wyschinskis widerlegt und das Gebäude der Anklage ins Wanken gebracht wurden. Ein Beispiel: Pjatakow hatte gestanden, er sei im Dezember 1935 von Berlin nach Oslo geflogen und habe dort mit Trotzki konferiert. Das norwegische Außenministerium erklärte dazu, weder im Dezember noch in den Monaten vorher oder nachher war ein Flugzeug aus Berlin in Oslo gelandet. Oder-Wyschinski behauptete, im November 1932 habe Trotzki von seinem Hauptquartier aus, dem Hotel Bristol in Kopenhagen, seine Anhänger beauftragt, Stalin, Woroschilow und andere Politbüromitglieder zu ermorden. Die Geständnisse einiger Angeklagter bestätigten das. Trotzki wies nach, daß das Hotel Bristol schon viele Jahre vorher abgerissen worden war. Der Gegenprozeß endete mit einem vernichtenden Urteil über die Moskauer Prozesse, aber es gelang nicht, seinem Urteil weltweite Resonanz zu verschaffen. Die Zweite Internationale und die Gewerkschaftsinternationale hatten z. B. abgelehnt, sich an dem Prozeß zu beteiligen. Auch die Intelligenz außerhalb Englands zeigte kaum Neigung, gegen die Säuberungen zu protestieren. Literaten wie Theodore Dreiser, Lion Feuchtwanger, Henri Barbusse, Louis Aragon und Romain Rolland traten für Stalin ein.

Schon in den dreißiger Jahren war aber der Blick eines Teils der westlichen Presse nicht getrübt. Der „Manchester Guardian" gab nicht nur Trotzkis Telegrammen Raum, in denen die „Beweise“ verworfen und Stalins Politik angegriffen wurde, sondern erklärte (28. August 1936):

„Stalin umgibt sich mit Männern seiner Wahl und setzt die gesamte Staatsmacht ein, um jene zu beseitigen, die, wenn auch nur entternt, einst Rivalen werden könnten.“ Zu den Männern der Wahl Stalins gehörte auch N S. Chruschtschow, der nach dem Prozeß von 1937 auf dem Roten Platz einem Zug von 200 000 Arbeitern zurief:

„Indem sie ihre Hand gegen den Genossen Stalin erhoben, kämpften sie gegen die höchste Humanität, denn Stalin ist die Hoffnung, Stalin ist die Erwartung, Stalin ist der Leuchtturm jeder fortschrittlichen Humanität. Stalin unser Banner! Stalin unser Wille!

Stalin unser Sieg!".

Im gleichen Sinne versuchten damals (1936) die westeuropäischen kommunistischen Parteien, ihren Anhängern und der Öffentlichkeit die Schauprozesse plausibel zu machen. Ihren Anhängern gegenüber hatten sie im allgemeinen Erfolg Auch die Zeitumstände wirkten zugunsten Stalins. Die emotionale Woge des Antifaschismus, aufgepeitscht durch die Greuel in den deutschen Konzentrationslagern, verleitete politisch Interessierte nur zu leicht, das Beste von der sowjetischen Regierung zu glauben. Daher wurde vielfach die Wahrheit über die Moskauer Schauprozesse als Nazipropaganda abgetan.

Selbst ein „Wissender" wie Louis Fisher, der jahrelang als Korrespondent westlicher Zeitungen in Moskau gelebt hatte, schreibt über seine damalige Lage *: „Doch auf Reisen, die ich 1937 und 1938 unternahm, um meine Frau und meine zwei Söhne in Moskau zu besuchen, stellte ich fest, daß die düstere Begräbnisstimmung noch schwärzer als zuvor geworden war. Stalin und sein neuer GPU-Chef Jeschow führten ein Massenmorden in den Reihen der oberen Führer, der unteren Kommunisten, Staatsbeamten, Ingenieure, Militärs, Künstler, Intellektuellen, ausländischen Kommunisten, Gewerkschaftler und Funktionäre in den Kollektivbetrieben durch. Das bolschewistische Regime war im Begriff, seine geistigen Führer zu begraben. Die Bevölkerung sprach im Flüsterton, kein einziger fühlte sich sicher vor gehässigen Denunziationen, die im Gefängnis oder auf noch üblere Art endeten, -ein jeder verdächtigte einen jeden, ein Spion zu sein. Sogar kriecherische Lakaientypen waren nicht sicher.

Hätte ich jedoch mein . Kronstadt’ verkündet, so würde ich meine Beziehungen zu den wunderbaren Russen in Spanien und damit auch meine Möglichkeit verloren haben, mit den Führern der Regierungspartei für ihre Sache zu arbeiten. Um diese Zeit hatten die spanischen Kommunisten großen Einfluß im republikanischen Lager gewonnen, und eine Kritik an Sowjetrußland wäre dort nicht gut ausgenommen worden."

Weil Wissende schwiegen, Zweifelnde ihre Bedenken unterdrückten, Leichtgläubige sich täuschen ließen und andere die Wahrheit nicht hören wollten, wirkten sich die Säuberungen keineswegs vernichtend auf die Arbeit der Komintern im Westen aus.

Schwerwiegende Folgen sollte ein Ereignis haben, das nicht als Nazipropaganda abgetan werden konnte: der Stalin-Hitler-Pakt.

VIII. Stalin-Hitler-Pakt und Auflösung der Komintern

Der Stalin-Hitler-Pakt und seine Folgen Beide Diktatoren schienen mit ihrer bisherigen Politik zu brechen, als sie den Pakt vom 23. August 1939 abschlossen. Hitler hatte nicht nur 1925 in „Mein Kampf" dem „jüdischen Bolschewismus" ewige Feindschaft geschworen und diesen Schwur Jahr um Jahr wiederholt, sondern er war auch 1936 mit Japan den Antikominternpakt eingegangen, dem Italien ein Jahr später beitrat. Stalin hat sich von der kommunistischen Agitationsmaschinerie jahrelang als Schlüsselfigur des Antifaschismus feiern lassen. Aber schloß er 1939 seinen ersten Pakt mit einem Nationalisten ab? Bereits 1923 bis 1927 war er für das Bündnis der Komintern mit der chinesischen Kuomintang eingetreten, das mit einer Katastrophe für die chinesischen Kommunisten geendet hatte. 1933 hatte er die Rote Armee ihre geheime Zusammenarbeit mit der Reichswehr fortsetzen lassen, die erst 1934 auf Hitlers Befehl abgebrochen wurde.

Was bewog ihn 1939, den für die Sowjetunion und die Komintern so schwerwiegenden Schritt zu tun und mit den verhaßten Faschisten zu paktieren? über ein Jahrzehnt war Stalin von der Sorge vor einem Angriff der kapitalistischen Mächte auf die Sowjetunion beherrscht gewesen. Seit 1934 (Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund) hatte er dieser Gefahr durch Teilnahme an der Politik der kollektiven Sicherheit zu begegnen gesucht. Nach dem Münchener Abkommen von 1938 sah er sich von einem Einverständnis Deutschlands, Italiens, Englands und Frankreichs bedroht. Deshalb erklärte er im März 1939 auf dem XVIII Parteitag der KPdSU, die Sowjetunion werde sich nicht „in Konflikte durch Kriegsprovokateure hineinziehen lassen, die gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen". Die „anderen" waren die Deutschen, die, wie Stalin glaubte, von den Engländern ermutigt worden waren, einen Krieg gegen Rußland vom Zaune zu brechen. Um den Deutschen die Ernstlichkeit seiner Absichten zu zeigen, ersetzte er Litwinow, den Vorkämpfer der kollektiven Sicherheit, durch Molotow als Außenminister (Mai 1939). Um die Deutschen in einen Konflikt mit dem Westen zu verwickeln, schloß Stalin schließlich den Nichtangriffspakt mit Hitler ab. Stalin wußte genau: Hitler würde Polen angreifen, und — anders als Hitler — rechnete Stalin auch richtig, England werde seine Garantie-erklärung für Polen honorieren. Das waren Stalins Motive. Sie lagen vorwiegend im Bereich nationaler sowjetischer Interessen. Die kommunistische Ideologie spielte als Triebfeder des sowjetischen Handelns, wie Stalins Unterhändler ihren deutschen Partnern wiederholt versicherten, keine Rolle. Diese Erklärungen brauchten nicht völlig, aufrichtig zu sein. Ein Faktor in den Berechnungen Stalins kann auch die kommunistische Lehre gewesen sein, daß auf Kriege unter den kapitalistischen Staaten der Sieg des Kommunismus folgen werde.

Hitler war noch weniger von ideologischen Prinzipien geleitet. Er wolle das polnische Problem „lösen", koste es, was es wolle. Dieses Nahziel erreichte er für einige Jahre. Durch den Vertrag mit Stalin brachte er Polen in eine hoffnungslose Lage. Für Deutschland war dagegen durch die freundlichen Beziehungen zur Sowjetunion die Möglichkeit gegeben, russische Rohstoffe zu kaufen und damit die Blokkade unwirksam zu machen, die in der britischen Presse als Mittel der Kriegführung angedroht wurde. Hitler erwartete ferner, England werde, da seine Blockade durch den Vertrag vom 23. August zum Scheitern verurteilt worden war, Polen nicht helfen. An dieser Ansicht hielt er allen Warnungen zum Trotz fest. Sie sollte sich als falsch erweisen. Falsch war auch ein anderer Gedanke, der Hitler vor und nach dem Vertragsabschluß von seinen Mitarbeitern, insbesondere von Ribbentrop, wiederholt vorgetragen wurde. Rußland wandle sich, die Juden seien durch die Säuberungen aus der sowjetischen Führung entfernt, Stalin beginne, national zu denken, die Weltrevolution stehe nicht mehr auf der Tagesordnung. Einzelne Tatsachen trafen freilich zu: Stalin hatte schon 1936 dem amerikanischen Journalisten Roy Howard erklärt, er habe keine weltrevolutionären Absichten. Richtig wurde auch beobachtet, daß der einstige kommunistische Internationalismus von einem sowjetischen Nationalismus verdrängt worden und viele jüdische Kommunisten in den Säuberungen umgekommen waren. Verfehlt war es aber, aus diesen Tatsachen zu schließen, Stalin habe auf die kommunistische Expansion verzichtet. Expansive Tendenzen bestanden fort. Aber nicht die Komintern war ihr Träger und die höchste Kommandostelle, sondern Stalins Sekretariat im ZK der KPdSU. Die kommunistischen Parteien, noch in der Komintern vereint, waren zum Instrument der sowjetischen Außenpolitik geworden. Stalin ließ sie weder befragen noch informieren, bevor er seinen Entschluß faßte, den Pakt mit Hitler abzuschließen. Castro Delgado z. B., damals Vertreter der KP Spaniens bei der Komintern, erhielt, wie alle anderen Kominternfunktionäre, vom Vertragsabschluß durch Lektüre der „Prawda" Kenntnis.

Man hat den Stalin-Hitler-Pakt den Grabstein der Komintern genannt. Mit Recht, denn die Auflösung der Internationale warf schon ihre Schatten voraus. Tito berichtet, im Hauptquartier der Komintern habe im Herbst 1939 ein Chaos geherrscht. Niemand habe gewußt, was zu tun war. Die Ratlosigkeit in der Zentrale war erklärlich. Bereits im Herbst 1939 wurde erwogen, wie Dimitroff seinem Besucher Djilas berichtet hat, die Komintern aufzulösen. Stalin sah davon nur ab, um nicht den Anschein zu erwecken, er stehe unter deutschem Druck. Durch den Vertragsschluß gerieten auch die kommunistischen Parteien Europas in große Schwierigkeiten. Zwar blieben ihre Funktionäre, die durch das Fegefeuer der Säuberungen gegangen waren, im allgemeinen treu. Aber sie büßten viel Ansehen ein, das sie in der Volksfrontzeit als Vorkämpfer des Antifaschismus erworben hatten. Starre Treue zur sowjetischen Linie zeichnete diese Funktionäre aus, nicht politische Beweglichkeit. Die KP Großbritanniens hatte nach dem Münchener Abkommen Chamberlain beschuldigt, Hitlers Angriffslust gegen Rußland zu lenken. Stalin habe, behaupteten die britischen Kommunisten, durch den Pakt vom 23. August diesen Versuch zunichte gemacht. Der Pakt sei kein Verrat an den Interessen Polens. Diese Prognose wurde jedoch schon nach wenigen Tagen durch Hitlers Überfall auf Polen des-40 avouiert. Weisungen aus Moskau trafen nicht ein. Deshalb erklärte die KP nach dem Kriegsausbruch zwischen Großbritannien und Deutschland, der Faschismus müsse im Kampf vernichtet werden. Man solle eine neue Regierung bilden, um wirksamer zu kämpfen. Diese kämpferische Pose mußte erneut, und zwar schon am 17. September, aufgegeben werden, als auch die sowjetischen Truppen in Polen einrückten. Nun wurde die neue Linie durch eine Komintern-Weisung gegeben, mit der David Springhall, damals Vertreter der britischen Partei in Moskau, in London eintraf: Der Krieg Großbritanniens gegen Deutschland war ein imperialistischer Krieg, ein ungerechter Krieg. Die britische Arbeiterschaft hatte ihn „auf marxistische Weise", d. h. durch Streiks und Revolution, zu beenden. William Gallacher, damals kommunistischer Abgeordneter im Unterhaus, forderte am 3. Oktober, sofort Friedensverhandlungen mit Deutschland aufzunehmen.

Auch die Linie der KP Frankreichs schwankte. Sie hatte die Münchener Politik Daladiers verurteilt. Dabei blieb sie, als der Stalin-Hitler-Pakt abgeschlossen wurde. Nach Kriegsausbruch schwenkten die französischen Kommunisten um und stimmten am 2. September für die Kriegskredite. Nachdem aber die Rote Armee die östlichen Gebiete Polens besetzt hatte, propagierte die KP Frankreichs eine defaitistische Haltung. Die französische Regierung löste sie am 26. September auf, die „Humanite" wurde verboten. Maurice Thorez, der Generalsekretär, desertierte im Oktober 1939 nach Moskau. In einem Interview, das er dem verbotenen Parteiblatt gab, erklärte er, die französischen Kommunisten kämpften gegen den Krieg „unter den Soldaten der Armee, unter den Arbeitern der Fabriken, unter den Bauern in den Dörfern, unter den Flüchtlingen und unter den Frauen der Eingezogenen". Dieser Appell an breite Schichten entsprach der Resonanz, die der französischen Partei in der Volksfrontzeit zuteil geworden war. Jetzt, im Kriege, zersetzte die defaitistische Propaganda der Kommunisten den Kampfwillen der französischen Truppen und trug zur Niederlage vom Sommer 1940 bei. Die Besatzungsmacht zeigte gegenüber den französischen Kommunisten eine gewisse Neutralität und erwies damit den Verbündeten eine Reverenz. Leo Trotzkis Werke wurden auf eine Liste verbotener Bücher gesetzt, aber nicht die Stalins. Die Niederlage und die Besetzung Frankreichs änderten die Haltung der KP nicht im mindesten. Sie war gegenüber Deutschland wohlwollend neutral.

Ihren Patriotismus entdeckten die französischen Kommunisten erst, als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion angriff.

Auch die Kommunistische Partei Deutschlands wurde durch die sowjetische Politik grausam desavouiert. In einemAufruf, der am 25. August 1939 erschien, forderte sie die deutschen Arbeiter auf, „sich an die Seite aller von den Nazis unterdrückten und bedrohten Völker zu stellen, ... dafür zu kämpfen, daß im Geiste des von der Sowjetregierung abgeschlossenen Nichtangriffspaktes sofort ebensolche Pakte mit Polen, Rumänien ... geschlossen werden". Die naiven Formulierungen des Aufrufs zeigen: Die Führer der KPD hatten nicht nur keine Ahnung vom Inhalt des Zusatzprotokolls, das über die baltischen Staaten und Polen entschied, sondern sie verstanden auch den Nichtangriffsvertrag nicht, der nur den Sinn haben konnte, Hitler freie Hand gegen Polen zu lassen. Deutschen Kommunisten hätte es schwerfallen sollen, den Kampf gegen Hitler einzustellen, da der Terror unvermindert anhielt, der in Konzentrationslagern und auf Hinrichtungsstätten geübt wurde. Aber nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Polen schrieb Walter Ulbricht am 9. Februar 1940 in der „Welt", Stockholm, nicht nur die Kommunisten, sondern auch viele sozialdemokratische und nationalsozialistische Arbeiter betrachteten es als ihre Aufgabe, unter keinen Umständen einen Bruch des Stalin-Hitler-Paktes zuzulassen. Durch diesen Ruf zur Vertragstreue verdeckte Ulbricht seine eigentliche Aufgabe, für die Interessen der Sowjetunion einzutreten.

Die Lage der europäischen Kommunisten gestaltete sich, wie wir gesehen haben, durch den Pakt schwierig, weil die verhaßten Faschisten Verbündete der geliebten Sowjetunion wurden. Die Kommunistischen Parteien Asiens konnten sich der neuen Linie leichter anpassen. Deutschland war in Asien nie als Kolonialmacht verhaßt gewesen. Man akzeptierte es ohne weiteres als Verbündeten der Sowjetunion. Zwar wurden, z. B. von der KP Indiens, die ersten Berichte vom russischen Einmarsch in Polen nicht geglaubt, aber bald feierten die indischen Kommunisten Stalins Vordringen in Polen als einen Beweis seiner glänzenden revolutionären Strategie. England und Frankreich, die Kolonialmächte, als imperialistische Kriegshetzer anzusehen, kostete einen Inder keinerlei Überwindung. Die Kommunisten teilten diese Meinung mit den anderen indischen Parteien. Sie alle boykottierten die britischen Kriegsmaßnahmen. Viele indische Nationali-B sten, Sozialisten und Kommunisten wurden deshalb in den ersten Kriegsjahren durch die britische Verwaltung in Konzentrationslager gebracht. Die Eintracht der Häftlinge wurde erst gestört, nachdem Hitler die Sowjetunion überfallen hatte. Den Führern der indischen Kommunisten ging ein Brief Harry Pollitts, des Generalsekretärs der KP Großbritanniens, zu. Er enthielt die Anweisung, den Kampf gegen Deutschland nunmehr als „Volkskrieg" zu behandeln. Indiens Kommunisten, an die Führung der britischen KP gewöhnt, gehorchten. Sie wurden aus dem Lager entlassen, das Verbot ihrer Partei aufgehoben. Sie gerieten in die Rolle des Verbündeten der britischen Imperialisten und damit in Gegensatz zur öffentlichen Meinung.

Anders wirkte Hitlers Überfall vom Juni 1941 auf die kommunistischen Parteien Westeuropas. Auch sie mußten ihre Linie ändern und die alte Einheitsfrontpolitik wiederbeleben. Die KP Großbritanniens führte nun in Demonstrationszügen Stalins und Churchills Bilder mit. Und so merkwürdig das heute scheint: Ein Abglanz der sowjetischen Kriegsanstrengungen fiel auch auf die Kommunisten im Westen. Sie gewannen Achtung und Ansehen weiter Kreise. Die KP Frankreichs nahm an der Widerstandsbewegung teil. Sie erhielt auch eine Vertretung im Londoner Comite de la Franke libre. Eine Grundlage für die Beteiligung der Kommunisten an den europäischen Nachkriegskabinetten war geschaffen.

Weniger ermutigend war die Lage der Kominternfunktionäre in Moskau. Am Radioapparat in Manuilskis Datscha versammelten sich Togliatti, Pieck, Gottwald und Marty, um zu hören, was Churchill, dem sie als Erzfeind der Sowjetunion mißtrauten, zu Hitlers Überfall sagen werde. Erleichtert vernahmen sie, daß Großbritannien versprach, Rußland zu helfen. Ehe aber die westliche Hilfe wirksam wurde, erlitt die überraschte Sowjetunion Rückschlag auf Rückschlag.

überrascht wurde die Sowjetunion, obwohl Stalin wiederholt vor einem deutschen Angriff gewarnt worden war. Churchill hatte ihm schon im April 1941 mitteilen lassen, deutsche Truppen marschierten an der sowjetischen Grenze auf. Diese Nachricht war durch einen der besten Spione bestätigt worden, der je für den sowjetischen Nachrichtendienst gearbeitet hat, Richard Sorge. Er hatte seine Information aus der deutschen Botschaft in Tokio. Auch die Berichte des sowjetischen Militärattaches in

Berlin stimmten damit überein. Aber Stalin beachtete diese Warnungen nicht, die sogar den Angriffstermin enthielten. Er befahl, keine militärischen Gegenmaßnahmen zu treffen, damit keine Feindseligkeiten provoziert würden. Die Sowjetunion erfüllte ihre Verpflichtungen aus dem Vertrage peinlich. Sie lieferte bis zum Tage des deutschen Einmarsches Rohstoffe und Lebensmittel. Schwer waren die Rückschläge, die das Land in den ersten Monaten des Krieges trafen.

Sie waren auch im Komintern-Hauptquartier zu spüren. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden im Exekutivkomitee (EKKI) und im Hotel Lux, wo die Spitzenfunktionäre wohnten, verschärft. Das EKKI wurde in „Wissenschaftliches Institut 301“ umbenannt; die Wachen wurden verstärkt, ausländischen Besuchern gelang es kaum, in die Büros eingelassen zu werden. In der Stadt, vor den Lebensmittelgeschäften, bildeten sich Schlangen. Gerüchte flogen auch im „Lux" von Mund zu Mund, je mehr die Deutschen vorrückten. Im EKKI arbeitete nur noch die Informationsabteilung in gewohnter Weise. Sie gab täglich ein Kommunique heraus. Es beruhte auf Material, das durch Abhören ausländischer Sender gewonnen worden war. Die anderen Abteilungen lagen brach, da zu den nationalen Parteien, den Sektionen der Komintern, kaum noch Verbindung bestand. Nur wenige kommunistische Parteien konnten ihre Berichte durch Funk übermitteln.

Im Oktober hatten sich Hitlers Armeen Moskau genähert. Die Evakuierungen begannen. Zuerst war die Reihe an den deutschen „Genossen“. Wilhelm Pieck eilte in Panik mit dem Ruf „Die Deutschen kommen“ durch die Gänge des Lux-Hotels. Dimitroff und ein kleiner Stab des EKKI wurden nach Kuibyschew verlegt, wo auch das Diplomatische Korps untergebracht war. Der größte Teil des Kominternpersonals, dem Ufa als Aufenthaltsort zugewiesen worden war, gelangte nach einer turbulenten Flucht dorthin.

Manuilski und Togliatti leiteten den Stab, der stark verkleinert unter dem Namen „Wissenschaftliches Institut 205" arbeitete. Nur Radio-propaganda konnte getrieben werden. Die Italiener sprachen über den „Mailänder Freiheitssender“, Anna Pauker wandte sich über „Radio Freies Rumänien“ an ihre Landsleute. Die Texte des Senders „Radio Unabhängiges Spanien", der seinen Standort nach Angaben seiner Sprecher in den Pyrenäen hatte, wurden in Ufa entworfen. Für Deutschland und Österreich gab es die Sender „Freies Österreich'und «Deutscher Volkssender". Audi finnische, französische, jugoslawische und polnische Kominternfunktionäre verfaßten für ihre Landsleute Sendungen, die ausgestrahlt wurden, nachdem sie die sowjetische Zensur passiert hatten. Diese Sendungen waren das Wesentliche der Kominterntätigkeit jener Kriegsjahre. Entscheidende Beschlüsse hatten die Körperschaften der Internationale schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gefaßt. Seit Mitte der zwanziger Jahre hatten sie Beschlüsse des Politbüros der KPdSU wiederholt oder ausgeführt. Seit Stalin seine Partei beherrschte und durch seine Günstlinge Manuilski und Dimitroff die Schlüsselpositionen des EKKI besetzt hielt, war er auch der Diktator der Komintern. Er hatte die politische Linie der Kommunistischen Internationale bestimmt und auch über Einzelfragen ihrer Tätigkeit entschieden. In den Kriegsjahren aber gab es solche Tätigkeit kaum noch. Die Komintern lag in Agonie, bevor sie aufgelöst wurde.

Die Auflösung Im Frühjahr 1943 hatte sich die Lage an der deutsch-russischen Front gefestigt. Der Stab des EKKI konnte nach Moskau zurückkehren. Erneut bevölkerten die ausländischen Kommunisten das Hotel Lux und arbeiteten im Kominterngebäude. Noch am 1. Mai veröffentlichte die Internationale den üblichen Aufruf. Nichts außergewöhnliches schien sich anzukündigen. Selbst ein hoher Funktionär wie Jesus Hernandez, der die spanische Partei im EKKI vertrat, wußte nur, daß im engsten Kreis, d. h. zwischen Dimitroff, Manuilski und Togliatti, beraten wurde. Das Ergebnis entnahmen die Kominternfunktionäre ebenso aus der „Prawda“ wie ihre kapitalistischen Gegner: Die Komintern war aufgelöst. In dem Auflösungsbeschluß vom 15. Mai 1943, der am 22. Mai veröffentlicht wurde, hieß es: «Der gesamte Verlauf der Ereignisse im letzten Vierteljahrhundert und die gesammelten Erfahrungen der Kommunistischen Internationale haben überzeugend bewiesen, daß die Organisationsform für den Zusammenschluß der Arbeiter, wie sie vom I. Kongreß der Kommunistischen Internationale gewählt wurde und den Bedürfnissen der Anfangsperiode der Wiedergeburt der Arbeiterklasse entsprach, sich mehr und mehr im Verhältnis zum Anwachsen dieser Bewegung und zu der wachsenden Kompliziertheit der Probleme in jedem Land überlebte. Diese Form wurde sogar ein Hindernis für die weitere Stärkung der nationalen Arbeiterparteien.

Der von den Nazis entfesselte Weltkrieg verschärfte die Unterschiede in den Verhältnissen der verschiedenen Länder noch weiter, indem er eine tiefe Trennungslinie zwischen den Ländern, die Träger der Nazi-tyrannei wurden, und den freiheitliebenden Völkern aufzeigte, die in der starken Anti-Hitler-Koalition zusammengefaßt sind.

Ausgehend von den oben angeführten Betrachtungen und unter Berücksichtigung des Wachstums und der politischen Reife der Kommunistischen Parteien und ihrer führenden Kader in den einzelnen Ländern und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß während des augenblicklichen Krieges eine Anzahl von Sektionen die Frage der Auflösung der Kommunistischen Internationale als führendes Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung gestellt haben, gestattet sich das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, da es infolge der Bedingungen des Weltkrieges nicht in der Lage ist, für die Billigung durch die Sektionen der Kommunistischen Internationale einen Kongreß der Kommunistischen Internationale einzuberufen, folgenden Vorschlag einzureichen:

Die Kommunistische Internationale wird als führendes Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung aufgelöst, die Sektionen der Kommunistischen Internationale werden von den Verpflichtungen befreit, die sich aus dem Statut und den Beschlüssen der Kongresse der Kommunistischen Internationale ergeben'. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale ruft alle Anhänger der Kommunistischen Internationale auf, ihre Kräfte auf eine allseitige Unterstützung und aktive Mitwirkung im Befreiungskrieg der Völker und Staaten der Anti-Hitler-Koalition zu konzentrieren, um die Zerstörung des Todfeindes des werktätigen Volkes, des deutschen Faschismus und seiner Verbündeten und Vasallen, zu beschleunigen.“

Dieser Beschluß war von dem Tschechen Gott-wald, den Bulgaren Dimitroff und Kolaroff, den Deutschen Pieck und Florin, den Franzosen Thorez und Marty, dem Finnen Kuusinen, dem Italiener Ercoli (= Togliatti) sowie den Russen Shdanow und Manuilski unterzeichnet. Er wurde als «Vorschlag" des Präsidiums an die Sektionen der Komintern ausgegeben. In Wahrheit war dem Beschluß eine Entscheidung Stalins vorausgegangen.

Am 8. Juni fand die letzte Präsidiumssitzung statt, auf der bekanntgegeben wurde, 30 nationale kommunistische Parteien hätten dem Vorschlag zugestimmt. Keine Sektion habe widersprochen. Deshalb gelte die Komintern mit Wirkung vom 10. Juni als aufgelöst. Eine Kommission, bestehend aus Dimitroff als Vorsitzendem, Manuilski, Pieck und Ercoli, habe die Komintern zu liquidieren. Die letzte Nummer der Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale" erschien am 5. Juli.

Diese Publikationen enthielten Wahrheiten und Lügen. Sie riefen in der ganzen Welt lebhafte Diskussionen hervor, die ebenso unterschiedlich waren.

Es war unrichtig, den Beschluß als „Vorschlag" des Präsidiums an die Sektionen hinzustellen und damit den Anschein zu erwecken, als sei der Weltkongreß, der für den Auflösungsbeschluß zuständig war, durch eine Befragung der Kommunistischen Parteien ersetzt worden. In Wahrheit hatte Stalin sich mit wenigen Vertrauten beraten und allein entschieden. Mit entwaffnender Deutlichkeit erklärte Dimitroff dem schon genannten Hernandez, es sei zweckmäßig, das Notwendige zuerst zu tun und danach zu diskutieren. Man habe damit einen Überraschungseffekt erzielen und gewisse Besorgnisse der Alliierten zerstreuen wollen. Wenn man die Form hätte wahren wollen, dann wäre zwar ein Weltkongreß erforderlich gewesen, um die Internationale aufzulösen. Das sei aber in der Kriegszeit unmöglich gewesen. Dimitroff erklärt also die „Diskussion", den „Vorschlag" des Präsidiums, als Beiwerk. Das in Stalins Augen Notwendige, die Auflösung, war schon vorher unwiderruflich festgelegt. In dem „Vorschlag" ist angedeutet, die Komintern habe in der Vergangenheit die nationalen kommunistischen Parteien kontrolliert, sie sei aber der Konsolidierung dieser Parteien hinderlich geworden. Damit sollte verschleiert werden, daß trotz Auflösung der Komintern Stalin durch das Zentralkomitee der KPdSU den Weltkommunismus zu leiten gedachte, wie er ihn schon vorher geleitet hatte. Dimitroffs Worten ist aber noch ein Korn Wahrheit zu entnehmen. Durch die Auflösung habe man einen Überraschungseffekt erzielen und gewisse Besorgnisse der Alliierten zerstreuen wollen. Im offiziellen Vorschlag ist von den Auflösungsgründen, die sich aus der internationalen Lage ergaben, keine Rede. Die „Besorgnisse" der Alliierten dürften in Roosevelts Wunsch bestanden haben, den er gegenüber Stalin geäußert hatte, die kommunistische Propaganda in Amerika möge aufhören. Diese Besorgnisse wurden durch die „Auflösung" in der Tat zerstreut. In weiten Kreisen des Westens wurde geglaubt, Stalin habe keine weltrevolutionären Absichten mehr und werde aufhören, die nationalen kommunistischen Parteien zu kontrollieren. Der diplomatische Korrespondent der Agentur Reuter lieferte ein Beispiel dafür, wie im Westen Stalins Manöver ausgenommen wurde. Er schrieb am 22. Mai 1943:

„Die von den Chefs der Kommunistischen Internationale gemachten Empfehlungen auf Liquidierung des Moskauer Zentralsitzes aller nationalen kommunistischen Parteien bedeutet, daß der Kommunismus künftighin national und einheimisches Produkt eines jeden Landes sein wird. Der Kommunismus wird aufhören, eine internationale Organisation zu sein. In jedem Lande wird die kommunistische Partei eine Landespartei werden. In den alliierten Ländern wird diese nationale kommunistische Partei sich der Aufgabe widmen, die Kriegsanstrengungen nach Möglichkeit zu fördern. Diese Initiative dürfte eine besonders gute Wirkung auf die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion haben.

In Großbritannien wird sie ein neues Element in die Auseinandersetzung zwischen der Labour Party und der englischen kommunistischen Partei bringen. Diese Auseinandersetzung war dadurch entstanden, daß die kommunistische Partei die Forderung stellte, sich der Labour Party anschließen zu können."

Dieser äußersten Leichtgläubigkeit wurde im damaligen Deutschland ein anderes Extrem entgegengestellt: Die Auflösung der Komintern sei die größte Propagandaaktion, die Stalin bisher gestartet habe. Diese Auffassung war falsch, soweit sie die Auflösung nur als Propagandaaktion ansah. In diesen Fehler sind nach 1945 noch einige westliche Schriftsteller (z. B. Franz Borkenau) verfallen. Borkenau schrieb 1952, die Komintern existiere noch. Es wäre daher nützlich, das Wort wieder zu gebrauchen. Borkenau und andere stützten sich auf die Meinungen einiger Exkommunisten, die zwar richtig beobachtet, aus ihren Beobachtungen aber falsche Schlüsse gezogen hatten. Castro Delgado, der spanische Kommunist, berichtet, in den Moskauer Komintern-büros sei nach der Auflösung noch gearbeitet worden. Das war richtig. Aber, um eine riesige Organisation mit weltweiten Verbindungen — wie die Komintern — aufzulösen, brauchte man Monate, wenn nicht Jahre. Ein anderer Exkommunist, Igor Gusenko, las Anfang 1945 in der sowjetischen Botschaft in Kanada auf einer Karteikarte über den Kanadier Sam Carr den Vermerk: „Detailliertes Material über seine Biographie ist im Zentrum der Komintern verfügbar". Daraus schloß Gusenko, die Komintern habe weitergearbeitet. Dieser Schluß ging zu weit. Der Hinweis auf die biographischen Einzelheiten beim Zentrum der Komintern erlaubt nur zu schließen, daß die Kader-unterlagen der Internationale noch benutzt wurden.

In einem Punkt haben aber Borkenau, Castro Delgado und Gusenko recht. Auflösung der Komintern bedeutete nicht Aufhören der Arbeit des Weltkommunismus. Nur die Organisationsform Komintern ist aufgelöst worden. Stalin gab die expansive Tendenz des Weltkommunismus nicht auf, wie nach 1945 in Osteuropa bewiesen wurde. Aber das Verbindungsglied Komintern, durch das Stalin seine Befehle an die nationalen kommunistischen Parteien geleitet hatte, wurde ausgeschaltet. Nach der Auflösung der Internationale erhielten die Führer der kommunistischen Parteien ihre Befehle von Stalin oder vom Zentralkomitee der KPdSU unmittelbar. Der Liquidationskommission, bestehend aus Dimitroff, Manuilski und Togliatti (ob Pieck an ihren Arbeiten je teilgenommen hat, steht nicht fest), wurde — welch ein Omen — als Sitz die Ausländsabteilung des ZK der KPdSU zugewiesen. Diese Auflösungskommission erteilte, was geheimgehalten wurde, den Leitern der kommunistischen Parteien Richtlinien. Länger als bis 1945 hat diese Kommission nicht gearbeitet. Togliatti nahm 1944 in Italien, Dimitroff in Bulgarien seine Arbeit auf, Manuilski wurde „Außenminister" der Ukraine. Auch die anderen Präsidiumsmitglieder, die den „Auflösungsvorschlag" unterzeichnet hatten, gingen als Führer der Kommunistischen Parteien in ihre Heimatstaaten: Gottwald in die Tschechoslowakei, Kolaroff nach Bulgarien, Thorez und Marty nach Frankreich, Pieck nach Deutschland. Nur Shdanow und Kuusinen blieben in Moskau. Sie leiteten die Auslandsarbeit des ZK der KPdSU — unter Stalin. Uber Stalins spätere Rolle erklärte Gomulka 1956:

„Im Block der sozialistischen Staaten war es Stalin, der an der Spitze dieser hierarchischen Leiter von Verehrung stand. Vor ihm beugten alle diejenigen ihr Haupt, die unter ihm waren. Es beugten sich nicht nur die anderen Führer der KPdSU und die Führer des sowjetischen Staates, sondern auch die Führer der kommunistischen und Arbeiterparteien der Länder des sozialistischen Lagers .. . Der Träger dieses Kults war allwissend, wußte, wie er alles anzufassen hatte, löste jede Frage, leitete und entschied alles, was im Bereich seiner Aktionen *lag.

Schluß Die Komintern hat von der Gründung bis zur Auflösung die verschiedensten Stadien durchlaufen. Sie wurde als Organisation gleichberechtigter Parteien gegründet und nannte sich eine Weltpartei. In der Gründungsphase dominierte der Internationalismus. Schon 1920 begann der Einfluß der russischen Partei im EKKI stärker zu werden als die Stellung, die ihr nach den Statuten zukam. Sie war die einzige Partei, die einen revolutionären Sieg errungen hatte und in einem Staat regierte. Auf dem Boden dieses Staates fanden die Weltkongresse statt und hatte die Internationale ihren Sitz. Eine große Anzahl der Kominternfunktionäre waren Russen. Die russische Partei gab auch den überwiegenden Teil der Mittel für die Kominternarbeit. Die Macht des Faktischen bewirkte schließlich, daß die Politik der Komintern vom Politbüro der russischen Partei entschieden wurde, bevor die Organe der Internationale beschließen konnten. Deutlich, aber nicht erstmalig, trat dies im Herbst 1923 hervor. Am 11. September beschloß das Politbüro der KPdSU, in Deutschland einen Aufstand vorzubereiten. Das Exekutivkomitee der Komintern, das nach den Statuten in den Pausen zwischen den Weltkongressen über wichtige taktische Fragen zu beraten hatte, beriet nur noch, wie dieser russische Entschluß in die Tat umzusetzen sei.

Neben dieser Entwicklung verlief eine andere: Der Weltkongreß wurde aus der Stellung als höchstes Organ der Weltpartei — wie es schien — durch das EKKI verdrängt. Der V. Weltkongreß fand 1924 statt, der VI. 1928, der VII. und letzte 1935. Regierte das EKKI in den Intervallen zwischen den Kongressen wirklich die Weltpartei? Scheinbar war es so. Nach den häufigen Sitzungen des EKKI wurden die Kominternresolutionen ver öffentlicht. Aber hinter dieser offenen Entwicklung verliefen zwei Prozesse. Einen haben wir schon erwähnt. Der Einfluß der sowjetischen Partei wurde in der Internationale vorherrschend. Deswegen mußten sich die Machtkämpfe, die nach Lenins Tod in der KPdSU ausgefochten wurden, auf die Komintern auswirken. Noch war sie eine Machtposition. Nach den Statuten war sie die Weltpartei, und die KPdSU gehörte ihr an als eine der Sektionen Deswegen wurden z. B. die Anhänger Trotzkis und Sinowjews aus der Komintern entfernt, nachdem Stalin diese seine Opponenten in der sowjetischen Partei entmachtet hatte. Der zweite Prozeß war folgender: Nicht die Vorherrschaft der KPdSU in der Komintern dauerte an, sondern sie wurde durch die Herrschaft einer Einzelperson, Stalins, abgelöst, sobald er Diktator in der Sowjetunion geworden war. Seinen äußeren Abschluß fand dieser Prozeß auf dem VII. Weltkongreß (1935), der eine Begrüßungsadresse an „den Genossen Stalin, den Führer, Lehrer und Freund des Proletariats und der Unterdrückten der ganzen Welt“ richtete.

Dieses Endstadium der Befehlsverhältnisse in der Komintern hat der Spanier Castro Delgado, der lange Jahre im Kominternhauptquartier gearbeitet hat, wie folgt beschrieben:

„Ganz oben ist Stalin, der allen befiehlt.

Diejenigen, die sich in der Mitte (der Stufenleiter) befinden, gehorchen denen, die über ihnen sind, und befehlen den Unteren. Und der Untere gehorcht immer."

Wurde die Komintern in dieser Weise nach und nach von sowjetischen Machtträgern organisatorisch beherrscht, so mußte sie mehr und mehr zu einem Instrument der sowjetischen Politik werden. 1920 hatte Lenin erklärt:

„Der proletarische Internationalismus fordert: erstens, daß die Interessen des einen Landes den Interessen des internationalen proletarischen Kampfes untergeordnet werden."

Noch zu Lebzeiten Lenins forderte aber Bucharin auf dem IV. Weltkongreß (1922), der sowjetische Staat müsse vom Proletariat der anderen Länder verteidigt werden. Diese Forderung verschärfend, erklärte Stalin (1925), die Arbeiterklasse Europas habe die moralische Verantwortung, „unseren Staat gegen den Kapitalismus, unsere Interessen gegen den Imperialismus" zu verteidigen. Der VII. Weltkongreß (1935) sprach offen aus, die internationale Arbeiterschaft habe keine höhere Pflicht, als mit allen Kräften die Sowjetunion zu fördern und ihre Feinde zu bekämpfen. De facto mußten die kommunistischen Arbeiter aller Länder nicht nur das nationale Interesse der Sowjetunion fördern, wie sich 1939 nach Kriegsausbruch zeigte, sondern von ihnen wurde verlangt, für die Herrschaftsgelüste Stalins einzutreten und die grausamen Morde zu verteidigen, die er in den großen Säuberungen an Arbeitern aller Länder hatte begehen lassen.

Am Ende dieser Entwicklung wurde der Fortbestand der Internationale selbst fraglich, als er mit dem nationalen Interesse der Sowjetunion kollidierte. Um die Besorgnisse seines Verbündeten Roosevelt über die kommunistische Propaganda zu beschwichtigen, ließ Stalin die Komintern 1943 auflösen. Das brachte ihm im Westen Vertrauen ein, wo nur wenige sahen, daß Stalin mit der Auflösung nur eine leere Geste gemacht hatte. Leer war die Geste, weil die Leitung des Weltkommunismus schon längst nicht mehr bei der Komintern lag, sondern im Zentralkomitee der KPdSU, wo sie blieb. Durch dieses Zentralkomitee ließ Stalin nach dem Verschwinden der Komintern den Weltkommunismus leiten. Es gab keine Internationale mehr. Es gab nur ein sowjetisches nationales Interesse, dem die Proletarier aller Länder zu dienen hatten. In den letzten Kriegsjahren wurde aber, was Stalin nicht gesehen hat, der Keim gelegt für das spätere Zerbrechen der sowjetischen Alleinherrschaft im Weltkommunismus. Nationale kommunistische Bewegungen kündigten sich in Jugoslawien und China an, aus denen nach 1945 kommunistische Nationalstaaten hervorgingen. Der Nationalismus wurde von den Schöpfern des proletarischen Internationalismus unterschätzt. Sie meinten, nationale Rivalitäten seien zwischen kommunistischen Staaten unmöglich. Das wurde noch zu Stalins Lebzeiten durch den Konflikt mit Jugoslawien widerlegt, der keinerlei ideologische Ursachen hatte. Und zehn Jahre nach Stalins Tod sollte der chinesische Nationalismus dazu beitragen, die Einheit des Weltkommunismus zu zerstören.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der Bundesrepublik unter dem Titel „Tagebuch der Hölle“ (Köln 1957) erschienen.

  2. OMS ist die Abkürzung der russischen Worte otdjel meshdunarodnoi swjasi = Abteilung für internationale Verbindungen.

  3. Orlow lebt jetzt, obwohl seine Rolle in Spanien bekannt ist, unbehelligt in den USA. „Carlos Contreras“ ist identisch mit Vittorio Vidali, der zur Zeit die italienische KP in Triest leitet. B 2-3

  4. Die folgenden Nachweise verdanke ich einem Artikel „The Moscow Trials" von Hugo Dewar in der Londoner Zeitschrift „Survey“ Nr. 41/1962, S. 86 ff.

  5. Vgl. Louis Fishers Beitrag in „Der Gott, der keiner war", München 1962, S. 221.

Weitere Inhalte

Günther Nollau, Dr. jur., geb. 4. Juni 1911 in Leipzig, studierte an den Universitäten Innsbruck, Wien, München und Leipzig Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Von 1942 bis 1952 war er Rechtsanwalt in Kraukau und Dresden. Unter anderem veröffentlichte er: „Die Internationale — Wesen und Erscheinungsformen des proletarischen Internationalismus", Köln 1959; „Rote Spuren im O* rient (zus. mit H. J. Wiehe), Köln 1963; „Zerfall des Weltkommunismus", Köln 1963.