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Die politische Gegenwart Afrikas. Der Nationalstaat in Afrika | APuZ 5/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1964 Die politische Gegenwart Afrikas. Der Nationalstaat in Afrika Staat und Gesellschaft im neuen Afrika. Krasse Gegensätze Zur kommunistischen Afrikapolitik

Die politische Gegenwart Afrikas. Der Nationalstaat in Afrika

Oskar Splett

In der hier folgenden Abhandlung soll ein Überblick gegeben werden, welche Staatenbildungen inzwischen in die Oberfläche dieses Kontinentes eingetragen worden sind, wie sich der politische Wille kristallisiert und welche Außenpolitik über die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten und des Kontinentes hinaus-dringt.

Franz Ansprenger Staat und Gesellschaft im neuen Afrika....................................... S. 18 Fritz Schatten Zur kommunistischen Afrikapolitik................................................. S. 26

Herkunft Die staatlichen Gebilde entstammen bisher den Händen der kolonialen Schutzherren: Aus deren Verträgen mit Stammeshäuptern und deren gegenseitigen Auseinandersetzungen ist der Umriß der heutigen Nationalstaaten hervorgegangen. Lediglich die Herauslösung der ehemaligen britischen Southern Cameroons aus dem nigerianischen Bundesstaat und die Angliederung an Kamerun, die Eingliederung Eritreas in das Kaiserreich Äthiopien und Spanisch-Marokkos sowie Tangers in das Königreich Marokko, der Zusammenschluß von Italienisch-und Britisch-Somaliland haben den Umriß von Staaten postkolonial verändert. Die Sorge, das souveräne Schicksal überhaupt zu verlieren, ist so stark, daß mit aller rhetorischen und tatkräftigen Polemik für deren Erhaltung in Ghana, Togo, und Kenia gestritten wurde. Auch die Vereinten Nationen haben im Treuhandausschuß oder in der Vollversammlung keine darüber hinaus-führende Weisheit bewiesen, sondern haben stets für die Erhaltung der kolonialen Abgrenzung gewirkt und so eine Mehrzahl auf die Dauer nicht lebensfähiger souveräner Klein-staaten, oft sogar kleiner Binnenstaaten, oder unorganische Großstaaten entstehen lassen. Ohne hartgemünzte und andauernde Entwicklungshilfen oder spätere Souveränitätsverzichte zugunsten organischer Großstaaten werden Staatskonkurse in verschiedenen Gebilden nicht zu vermeiden sein.

Nation An dieser Stelle ist es notwendig, das Wort Nation aus der afrikanischen Wirklichkeit heraus zu definieren. Sehr im Unterschied zur europäischen Neuzeit mit ihrer Entwicklung auf Nationalstaaten hin beruhen die afrikanischen Nachfahren weder auf einer Siedlungsgemeinschaft, noch auf einer Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft oder einem gemeinsamen Volkstum. Nahezu in jedem afrikanischen Nationalstaat leben Nomaden und Seßhafte, teils in gegeneinander abgegrenzten Räumen, teils schon in gegenseitiger Durchdringung, zusammen. In jedem Staat, sogar in jeder Hauptstadt werden eine Vielzahl verschiedener Sprachen gesprochen, so daß nur die Verwendung der europäischen Fremdsprachen eine gegenseitige Verständigung ermöglicht. In einem Gottesdienst in Accra muß jeder Satz des Predigers aus Ga in Twi, aus einer einheimischen Sprache in eine andere übersetzt werden. Als sich afrikanische Studenten aus Sierra Leone und Nigeria auf einem Empfang in Bonn Sekou Toure vorstellen lassen wollten, bedurften sie des deutschen Dolmetschers. In jedem Staat leben Mohammedaner, Christen und sogenannte Animisten nebeneinander. Nur die Islamische Republik Mauretanien, die Republik Algerien, das Königreich Marokko, das Königreich Libyen, Ägypten, das Kaiserreich Äthiopien und Somalia haben verfassungsmäßig eine Welt-religion als staatlich legitimierte Grundlage. Im Sudan sind Tendenzen auf eine völlige Islamierung spürbar. Ein gemeinsames Schicksal hat nur in der Kolonialzeit dem Scheine nach bestanden, ist aber von den Bevölkerungen niemals als solches empfunden worden.

Die Nation in Afrika gewinnt allein aus dem politischen Willen einzelner oder bestimmter Führungsgruppen Gestalt. Sie wird von oben nach unten dem zufällig in koloniale Grenzen eingeschlossenen Staatsvolk ausgeprägt und wächst nicht nach europäischem Vorbild von unten nach oben. Sie hat mehr Gewaltsames als Organisches an sich. Jedoch hat sie noch keine eindeutige Definition gefunden: Es wird mit derselben Geläufigkeit der von nigeria-nischen Nation und von der afrikanischen Nation gesprochen, je nachdem dem Staatsgedanken oder dem menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühl im kontinentalen Rahmen größeres Gewicht beigemessen wird. In den Köpfen herrscht keine Klarheit, und es gibt schon gar keine den eigenartigen afrikanischen Verhältnissen entsprechende Benennung. Die Verquickung der staatlichen und kontinentalen Horizonte wurde von Sekou Toure dadurch daß er jedem gebürtigen Afrikaner versucht, die Erwerbung der guineanischen Staatsangehörigkeit ermöglichte, und von Senghor ein Kompromiß in der Weise vorgeschlagen, daß Afrika den Umriß der Nation gebe, der jeweilige Staat jedoch das Vaterland darstellen würde. Zu derselben Zeit bleibt aber für die Mehrheit der Afrikaner im Gefühl das Dorf, der Stamm, die Religion die Abgrenzung der Gemeinschaft, während das Nationalbewußtsein in den Großstädten und an den Hochschulen wächst.

Die Nationalbewegungen Den äußeren Anstoß für das aktive Handeln der Nationalbewegungen bot die Landung amerikanischer Truppen in Nordafrika, weil von ihnen die Verwirklichung der Atlantik-Charta erwartet wurde. Die am 14. August 1941 von Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill verkündeten Grundsätze lauteten nämlich: „Beide Staaten achten die Rechte aller Völker, jene Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen, und sie wünschen die Souveränität und die Selbstregierung überall wiederhergestellt zu sehen, wo sie zwangsweise aufgehoben wurden."

Unter dem Schutz der Nordamerikaner ist Habib Bourguiba, der heutige Staatspräsident, 1943 nach Tunesien zurückgekehrt. Ein Jahr später werden die Union Democratique du Manifeste Algerien und die Marokkanische Unabhängigkeitspartei Istiqlal, dann 1946 von dei Elfenbeinküste ausgehend die Rassemblement Democratique Africain für alle französischen Gebiete im schwarzen Afrika und die Mouvement Democratique de Renovation Malgache auf Madagaskar gegründet. Die Teilnahme der kommunistischen Partei Frankreichs an der ersten Nachkriegsregierung beschleunigte die Organisierung der Nationalisten. Eine entsprechende Entwicklung setzte etwas später in den britischen Kolonien ein. 1944 wird Dr. Azikiwe, der Präsident des nigeria-nischen Generalsekretär des National Council of Nigeria and the Cameroons, 1946 kehren Yomo Kenyatta, der spätere Leiter der Kenya African Union und heutige Regierungschef Kenias, und ein Jahr später Khame Nkrumah, der heute Staatspräsident Ghanas, in ihre Heimat zurück. Sie alle können damit rechnen, daß die Nachkriegsregierung der Labour-Party den Aufbau der Nationalbewegungen dulden, wenn nicht überhaupt, ebenso wie Gründung der Gewerkschaften, fördern wird.

In den Köpfen der Nationalisten quirlten Gefühle und Gedanken, staatspolitische Ideen sehr verschiedener Herkunft und magische Weltvorstellungen, abendländische Theorien und praktische afrikanische Lebenserfahrungen durcheinander. Außerdem gingen in einer Person sehr oft maßloses Rassenbewußtsein, ungestillter persönlicher Ehrgeiz und innerer Aufstand, sowohl gegen die einheimischen traditionellen Verhältnisse als auch gegen die koloniale Abhängigkeit, eine Verbindung ein. Jede Gelegenheit, das persönliche Kraft-und Freiheitsgefühl zu dokumentieren, wurde wahrgenommen. Es fiel ihnen deshalb schwer, ein klares Programm zu formulieren. Für die meisten von ihnen traf eine Darstellung der Jugendideologien analog zu, wie sie von dem deutschen Pädagogen Eduard Spranger (Kultur-fragen der Gegenwart, 1953) gegeben wurde. „Fürjugendideologien sind die weite Streuung der Ideale, ebenso der Radikalismus und der Fanatismus Charakteristisch." Eine solche Bewegung hatte nach seiner Meinung kein Programm. „Entsprechend äußert sie sich auch mehr im Schwung der Gefühle und in umrißlosen Gesichten." Darin könnte „eine Kraft enthalten sein, vorausgesetzt allerdings, daß sie sich mit dem Willen zum Wachstum und zur Tat verbindet". Gerade dieses war aber bei den arabischen und den schwarzen Nationalisten der Fall.

Die Staatsgründung Nadi den Regeln des Völkerrechts sind in Schwarz-Afrika, mit Ghana beginnend, von 1957 bis Anfang 1964 29, in Nordafrika seit der nationalen Emanzipation Ägyptens unter König Faruk von 1922 bis zur Gegenwart sechs souveräne Nationalstaaten gebildet worden, die der rechtlichen Form nach vollkommen unabhängig sind. In wirtschaftlicher Beziehung entbehren jedoch diese ehemaligen Filialen außerafrikanischer Mutterländer, deren Einzelteile nur durch eine zahlenmäßig schwache Kolonialverwaltung miteinander verklammert wurden, der tatsächlichen Souveränität. Die Gründe liegen darin, daß die Produktion der Ernährung, Kleidung und Behausung des Staatsvolkes mit der Bevölkerungsvermehrung und den ansteigenden Ansprüchen nicht Schritt halten und die Kapitalüberschüsse, die für Erziehung, soziale und wirtschaftliche Veränderungen erforderlich sind, im eigenen Lande nicht aufgebracht und wegen der meist vorherrschenden Monokulturen auch nicht durch Exporte gewonnen werden können. Außerdem beginnt dieses Ringen um die wirtschaftliche Selbständigkeit in einem historischen Augenblick, in dem die nationale Autarkie im allgemeinen der Vergangenheit angehört und als volkswirtschaftliche Konzeption zugunsten der weltumspannenden wirtschaftlichen Verflechtung aufgegeben wurde. Erschwerend treten hinzu der Nachholbedarf, der sich in den Projekten der Entwicklungspläne darstellt, das Absinken der Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Rohprodukte, die Übersättigung des Weltmarktes mit strategischen Rohstoffen und der Mangel an verarbeitenden Industrien im Nationalstaat selber. Die Präsidenten der Regierungen der afrikanischen Nationalstaaten empfinden die praktisch eingeschränkte Selbständigkeit als einen belastenden Mangel. Deshalb werden die in den Regierungen zusammengefaßten Energien auch in erster Linie für die Schließung dieser Lücke und erst in zweiter Linie für die allgemeine Entwicklung der Bevölkerung eingesetzt. Umwandlung der passiven in aktive Handelsbilanzen mit dem Ziel der Devisengewinne für Investitionskäufe, Vorbereitung der wirtschaftlichen Souveränität, notfalls Autarkie durch Ausbau des binnenländi-

schen Verkehrsnetzes, der Überseehäfen, durch Aufbau landwirtschaftlicher Sekundär-industrien (Seifen-, Zucker-, Saft-, Fisch-, Schuh-, Zementfabriken, Kakaoverarbeitung, Holzverarbeitungen), durch Prospektion und Ausbeutung der Bodenschätze, durch Aus-fischen der Binnengewässer und des ozeanischen Schleppnetzbereiches, sind die vorgezogenen Maßnahmen. Da die Gründung eines Nationalstaates in voller Unabhängigkeit das Kampfziel der Nationalbewegungen gewesen ist, erklärt bereits die bei der Gründung gegebene und durch die Entwicklungspläne verstärkte Situation den Primat der Politik, der die afrikanische Gegenwart charakterisiert.

Alle jungen Nationalstaaten wurden nach dem Bilde der parlamentarischen Demokratie oder konstitutionellen Monarchie gegründet. Ihre Unterschiede liegen nur in der Anwendung des allgemeinen, für beide Geschlechter gleichen oder des den Männern vorbehaltenen Wahlrechtes. Der in britischen Gebieten vorliegende Entwurf eines vom Bildungs-oder Vermögens-stand ausgehenden qualifizierten Wahlrechtes mußte vollkommen dem Naturrecht der politischen Mitbestimmung weichen. Bemerkenswert ist, daß die Staatsangehörigkeit, von der die Wahlberechtigung abhängt, stillschweigend immer von der afrikanischen rassischen Abstammung und nicht vom Geburtsort abgeleitet wurde, also sogar weiße in Afrika geborene Staatsbürger ausschloß. Diese Vorgänge geben auch einen Hinweis, wie eine Änderung der politischen Verhältnisse in der südafrikanischen Republik von afrikanischer Seite gestaltet würde.

Außerdem trat in den Gründerjahren jene andere Verschiedenheit hervor zwischen föderalistisch gegliederten Bundesstaaten und von vornherein straff zusammengefaßten Einheitsstaaten, zwischen solchen, die von vornherein nur eine aus allgemeiner Wahl hervorgegangene parlamentarische Kammer, nämlich die Nationalversammlung, und anderen, die mit Rücksicht auf die traditionellen Führungskräfte ein Zweikammer-System vorsahen. In vielen Staaten ist der erste Zwiespalt zwischen dem Wortlaut der Konstitution und der Verfassungswirklichkeit dadurch aufgebrochen, daß eine immer klarere Durchformung zum Einheitsstaat mit einer einzigen parlamentarischen Kammer, in der schließlich nur noch eine einzige Partei auftritt, durchgesetzt wurde. Solche Ansätze konnten etwa in Ghana ohne zu große Hemmungen verwirklicht, mußten aber zum Beispiel im Kongo (Leopoldville) mit Rücksicht auf die zentrifugalen Kräfte der Stämme und Provinzherren wieder zurückgenommen werden. Doch haben sich gerade auch alle Parteien Katangas zu einer Organisation zusammengeschlossen. Während es sich in Schwarz-Afrika — mit Ausnahme der Königreiche Ruanda und Burundi — um eine Auseinandersetzung zwischen republikanischen Staatsgedanken und dem Stammesgefühl handelte, hat im Königreich Marokko die Auseinandersetzung zwischen gleichartigen Gewalten, vor allem zwischen dem Pascha von Marrakesch und dem Sultan, zu einer Überlegenheit der Zentral-gewalt geführt. Diese muß allerdings nun noch den Kampf mit den republikanischen Kräften der Gewerkschaften und einzelner Parteien bestehen. Im gegenwärtigen Augenblick können nur noch Nigeria, mit Vorbehalt Kamerun, Kongo (Leopoldville) und Libyen als Bundesstaaten bezeichnet werden, die sich durch das Wirken regionaler Landesregierungen und Landtage kennzeichnen lassen. Inzwischen haben in vielen Ländern Verfassungsrevisionen stattgefunden, die in erster Linie die Stellung des Staatspräsidenten gegenüber dem Parlament eindrucksvoll verstärken und damit der Exekutive vor der Legislative als Kristallisationskern der politischen Gestaltung den Vorzug geben. Selbstverständlich gibt es in jeder historisch-politischen Entwicklung das Bild bestimmende Dominanten neben rezessiven Strömungen. Es scheint jedoch, daß eine Verfassungsentwicklung von der parlamentarischen Demokratie der Gründungsakte über ein durch Revisionen hergestelltes Präsidialsystem zu der Parteidiktatur führen kann, in der das Politbüro sowohl der Exekutive als auch der Legislative übergeordnet ist. Das Resümee der bisherigen Entwicklung ist in der algerischen Verfassung gezogen worden. Auf jeden Fall können wir schon heute, wenn wir europäische Begriffe zu Hilfe nehmen und zusammenflicken wollen, von einer „gelenkten" Demokratie als der den Tatsachen in Afrika gemäßen Verfassungswirklichkeit sprechen. Jedoch wird niemand heute entscheiden wollen, ob damit eine endgültige oder nur den Tagesnotwendigkeiten angepaßte vorübergehende Form gefunden wurde. Auf jeden Fall bleibt die Frage noch offen, ob von afrikanischer Seite eigene Formen für die staatsrechtliche Struktur gefunden werden, die als Neubildung neben den bereits in der Antike ausgeklügelten Mustern angesehen werden könnten. Zumindest ist in der Zeitgeschichte diese Entwicklung der Gestaltung des staatlichen Skeletts ein Ausdruck der Niederlage der traditionellen Eliten im Wettbewerb um die Regierungsgewalt mit den intellektuellen oder den aus Armee und Gewerkschaften hervorgehenden militanten Führungsgruppen.

Führungskräfte Schon in einem raschen Überblick über das politische Geschehen innerhalb der afrikanischen Länder heben sich drei verschiedene Elitegruppen voneinander ab: Neben der traditionellen Oberschicht erscheinen die Intellektuellen und die revolutionären Führer. In Afrika beruhte bis zum Eindringen der Kolonialmächte jede Autorität auf der Zugehörigkeit zu einem Herrscherhaus oder zu einer der führenden Familien. Diese Vorrang-stellung war meist in harten blutigen Kämpfen errungen worden. Nur einzelne besaßen noch als Zauberer, Medizinmänner oder als heilige Männer einen hervorragenden Einfluß. Irdische Überlegenheit oder die Vertrautheit mit überirdischen Mächten waren also die beiden Quellen der Macht.

In den Gründungsjahren der Nationalstaaten waren Ober-und Unterhäuptlinge und Vorsteher (headmen) nicht nur nach Wirkungsbereich und Machtfülle, sondern auch nach ihrer Legitimation zu unterscheiden. Ihre Stellung beruhte teils auf der Erbfolge, teils auf der Wahl des Stammes, teils auf der Ernennung durch die europäischen Verwaltungen. Ihr Machtbereich entsprach entweder den Wohngebieten von Klans, Stämmen und Stammesgruppen oder Landschaften und Verwaltungsräumen, die rücksichtslos eingeteilt worden waren Die Ausübung des Steuerrechts oder der Gerichtsbarkeit wurde ihnen von den Schutzmächten oder den souveränen Regierungen zugebilligt. Die ganze Vielfalt der Formen, die etwa das europäische Grafenamt im Laufe der Jahrhunderte durchwandert hat, war bis vor kurzem im afrikanischen Häuptlingstum anzutreffen.

Die Bezeichnung „intellektuelle Elite" ist ein zu Hilfe gerufener Sammelbegriff im Unterschied zu den revolutionären oder traditionellen Führungskräften. Die Angehörigen dieser Gruppe haben am meisten zur Auflösung der Stämme beigetragen. Haben sie einmal ihre Heimat verlassen, so kehren sie kaum noch zurück. Sie sammeln sich genau so wie das Proletariat in den großen Städten. Ihre Entwurzelung beginnt schon im Zusammenleben mit anderen Afrikanern: 1954 sind am ost-afrikanischen Universitätscollege Makarere 449 Studenten aus achtzig verschiedenen Stämmen zwischen Äthiopien und Nordrhodesien zusammengekommen. Der entscheidende Schritt zur Lösung aus der überlieferten Umwelt erfolgt mit der Aneignung außerafrikanischer Bildungsgüter, die sich nur über das logische Denken ur ’ eine abendländische Sprache erschließen. Am Ende steht die Formulierung eines politischen Programmes, das das Weiterleben der Stammesgemeinschaften überhaupt verneint. Zu der intellektuellen Elite gehören als zweite Gruppe diejenigen, die zwar auch durch die Missionsschulen gegangen sind, jedoch ohne akademische Grade zu politischer Führung gelangten und einen besonders engen dauernden Kontakt mit den Missionskirchen halten. Der dritte Zweig dieser Eliteschicht stammt aus dem Wirtschaftsleben. Im Bundeskabinett von Nigeria sind die Großkaufleute, Kakaofarmer und Manager überseeischer Firmen ebenso vertreten, wie die Geschäftsleute im Gesetzgebenden Rat von Uganda ein Drittel der gewählten Abgeordneten stellten. Der ermorderte Staatspräsi6 dent von Togo, Sylvanus Olympio, ist als Mitarbeiter von UNILEVER zur politischen Persönlichkeit geworden. Diese Gruppe, deren Mitglieder oft keine gehobene Schulbildung besitzen, darf nicht unterschätzt werden. Für unsere von außen herantretende Erkenntnis ist hier festzuhalten, daß Worte wie Analphabet oder Intellektueller nicht zu sehr mit den extremen Vorstellungen unserer durch die allgemeine Schulpflicht charakterisierten Schrift-kultur verbunden werden dürfen. Es gibt führende Menschen in Afrika, zumindest in deren Wirtschaft, die vielleicht nicht schreiben, aber ausgezeichnet rechnen können. Rückblicke auf die karolingische Zeit des Abendlandes können uns das Verständnis der. afrikanischen Gegenwart in dieser Beziehung vielleicht erleichtern.

Neben den traditionellen und intellektuellen Führungsgruppen gewannen die aus militanten Verbänden hervortretenden revolutionären Eliten schon vor der Gründung der unabhängigen Staaten ein eigenes Profil. Bereits 1954 hatten sich die Offiziere der ägyptischen Revolution und die selbst-ernannten Feldmarschälle und Generale des aus Angehörigen der Kikuyu-, Embu-und Merustämme gebildeten Mau-Mau-Bundes hervorgetan. Diese hatten nur selten höhere Schulen besucht, vielmehr waren sie in der Praxis sozialer und innenpolitischer Auseinandersetzungen geschult worden. Neben die Herkunft aus Armeen und Untergrundbewegungen trat schließlich jene aus den Gewerkschaften. Der heutige Staatspräsident von Guinea, Sekou Tou, der jetzige Ministerpräsident des Kongo (Leopoldville), Cyrille Adoula, stammen ebenso aus diesen Organisationen wie der Keniaministerfür Justiz und Verfassungsangelegenheiten, Tom M'boya. Die verhältnismäßig geringe Zahl von Gewerkschaftlern in den führenden politischen Positionen der Nationalstaaten erklärt sich — wie wir noch sehen werden — daraus, daß in dem Wettbewerb von Partei und Gewerkschaft als vorherrschende politische Kraft im Staate überall die Parteien die Oberhand gewannen. Sekou Tour und Tom M’boya haben deshalb rechtzeitig neben den gewerkschaftlichen auch parteipolitische Funktionen übernommen.

Auf einer in diesen Jahren stattfindenden innerafrikanischen Konferenz finden wir infolge der innerstaatlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre und des differierenden Weges zur Unabhängigkeit nebeneinander die Könige oder Kronprinzen von Libyen, Marokko oder Burundi, die in der Schule der Missionen ausgewachsenen Präsidenten von Tanganjika oder Kongo (Brazzaville), die in der französischen Nationalversammlung als Politiker geschulten Präsidenten der westafrikanischen Nachfolgestaaten der französischen Herrschaft, den an außerafrikanischen Hochschulen zum Politiker gewordenen Präsidenten von Ghana neben dem aus einer traditionellen Herrscherfamilie stammenden Ministerpräsidenten der nigerianischen Nordregion und schließlich die Generale Abbud (Sudan) und Nasser.

Das Erstaunen, zumindest die Befriedigung außerhalb Afrikas, daß die zur Macht gelangten afrikanischen Politiker die mechanisch-wirtschaftlich -bürokratischen Anforderungen ihres Regierungsalltags bewältigen, hat bisher eingehendere Fragen nach dem Wachstum ihrer Person und ihrem geistigen Horizont hintangehalten. Langjährige Abordnung in das Parlament des kolonialen Mutterlandes, Besuch von Missionsschulen, Herkunft aus einer der traditionellen Oberschicht angehörenden Familie erscheinen als schnelle und ausreichende Erklärung für Tatkraft, Umsicht, Macht-willen und Organisationsgabe. Hinzu kommt, daß die bei der Beurteilung unwillkürlich als Vergleich herangezogenen leitenden Männer der Welt-und Großmächte auch dem Typ des Techno-oder Bürokraten näherstehen als dem der geistig aufgeschlossenen selbständigen Persönlichkeit. Und doch ließe sich gerade an diesen afrikanischen Führern, die mehr Bewußtsein und vor allem auch mehr Selbstbewußtsein als die Mehrzahl der Angehörigen desselben Staates haben, am ehesten messen, ob das Christentum in Schwarz-Afrika wirklich bis in unbewußte Schichten eingedrungen oder nur in ein abendländisches Kostüm eingenäht ist, ob die Art des Politisierens vom Islam oder von altafrikanischer Mentalität geprägt wird, ob in diesen Personen künstlerische oder intellektuelle und politische Begabung in einem anderen Verhältnis als im heutigen Abendland stehen und welche Aussagen aus Herkunft, Physiognomie, Erziehung, spontaner Ausdrucksbewegung und Erlebnissen abzuleiten sind. Auch hier werden Unterschiede zwischen Afrikanern und Europäern sichtbar, da bei diesen der Unterschied von Stadt-und Landgeborenen bereits entscheidender ist als die landsmannschaftliche Herkunft.

Seng hör hat einmal gesagt, Birago Diop, der Erzähler und Botschafter seines Landes, sei wie die meisten führenden Männer an der Grenze von zwei Stämmen geboren. Ähnliche Grenzsituationen sind allein schon aus der deutschen Geistesgeschichte gut bekannt: die Geburtsorte der meisten deutschen Philosophen liegen nahe der deutsch-slawischen Grenze. Der Wogenprall hat auch in der Geschichte der Kunstwerke oft einen Höhepunkt hervorgerufen. Aber sind afrikanische und europäische Grenzsituationen identisch? Gibt Senghor durch den Hinweis auf die Herkunft vielleicht eine zu einseitige Erklärung, die durch das Erlebnis der Grenzsituation zwischen Altafrika und europäischer Zivilisation, zwischen einer bildhaften und einer mit Begriffen gegliederten geistigen Welt, zwischen assoziativem und logischem Denken viel zutreffender zu deuten wäre? Es bedarf eines sehr eingehenden Studiums des heutigen afrikanischen Menschen — keineswegs nur der Fragmente, die uns die Ethnologen einerseits, die Soziologen andererseits und schließlich die Geographen in einer teilweisen Zusammenziehung von Einzelheiten als Geographie des Menschen anbieten —, ehe ein Erfahrungsschatz vorliegt, der Erkenntnis gleichsam „auf Anhieb" ermoglichen wird.

Es mag auch erwähnt werden, daß ein — nach mitteleuropäischen Erfahrungen — mit allen Merkmalen der Kühnheit ausgestattetes nordafrikanisches Gesicht eher einem Odysseus als einem Siegfried angehört oder daß es sehr schwer für Europäer sein dürfte, aus Ben Bellas oder Cyrille Adoulas Gesicht deren Charaktere zu enthüllen. Warum können wir in einem afrikanischen Gesicht so schwer lesen? Man kann sagen, daß Tom M'boya ein Afrikaner mit außergewöhnlich schmalen Lippen ist, aber dürfen aus einer solchen Beobachtung ähnliche Behauptungen abgeleitet werden, wie diese heute in Europa zutreffend wären? .

Wenn wir von traditionellen, militanten und intellektuellen Eliten gesprochen haben, so ergeben sich diese Gruppierungen aus der notwendigen Zusammenfassung der Erscheinungen, aber wohl auch aus der Neigung in der europäischen Gegenwart, eher den anonymen Strömungen als den Einzelgestalten, mehr dem Typ als dem Individuum nachzuspüren. Ununterbrochen probieren wir auch schon bei der Beobachtung dem Leben eines anderen Kontinentes unsere Formen (Eliten, Persönlichkeit, Führungskraft, Diktator, Politiker) an. in der Hoffnung, eine von diesen werde passen und uns Einsichten gewähren. Läßt sich aber die „Persönlichkeit" von abendländischen Wurzeln trennen und auf Ben Barka, Ben Bella, Habib Bourguiba, Abdel Nasser, General Abbud anwenden und damit in den Islam übertragen? Markante Gesichtszüge, rücksichtslose militante oder verschlagene Energie, außenpolitisches Händlertum, Redegabe genügen wohl nicht, um die abendländische Form zu erfüllen. Auch der Versuch, etwa Kwame Nkrumah mit Hilfe europäische. Tiefenpsychologie zu analysieren, trifft nicht, weil in die afrikanischen Tiefen einfach abendländische Urbilder versenkt werden, anstelle auf die afrikanischen Erwartungen einzugehen, die sich auf einen Heilspender richten. Ein Kaleidoskop afrikanischer Staatspräsidenten zeigt auf den ersten Blick die Schwierigkeit der Einordnungen: Mauretaniens Präsident Moktar-Ould-Daddah, der im Zelt die Staats-gäste empfängt zu einem mit den Händen unmittelbar bewältigten Ehrenmahl, das Nomadentum im Blut — Kwame Nkrumah in chinesischer Politruk-Kleidung auf den beschützenden Stab gestützt und als Heiland des Landes geachtet und infolge der Attentate offenbar von einem wie immer gearteten Schock betroffen, nur dem Augenblick und dann wieder der kontinentalen Zukunft gleichermaßen hingegeben — Joseph Kasavubu, den vielleicht ein chinesischer Ahne in Passivität verharren läßt, neben Cyrille Adoula, der die Finessen des militanten Gewerkschaftlers anzuwenden weiß. Da steht der sprühende Obote (Uganda) neben dem verbissenen mit den Augen luchsartig flackernden Tom M'boya aus Kenia, Senghor, Professor, Dichter mit einer milden und einer harten Hand begabt, neben Kaiser Haile Selassie oder dem rustikalen Mba von Gabun. Eine Sonderstellung nehmen einige Führer französisch geprägter Länder durch die Heirat mit Französinnen — Senghor, Bourgiba, Ould Daddah sind hier zu nennen — ein. Wer will den Einfluß dieser Frauen und der aus europäisch-afrikanischer, aus christlich-mohammedanischer Mischehe hervorgegangenen Kinder beurteilen?

Für die Zeitgeschichte ist die Beantwortung der Frage wichtig, welches Maß an politischer Tat-und Gestaltungskraft die Politiker Afrikas erkennen lassen Wir übersehen zunächst nicht, das einigen wie Julius Nyerere mit geprüften Argumenten nachgesagt wird, sie seien zu groß für den Staat ihrer Zuständigkeit und daß andere, wie Kwame Nkrumah oder vielleicht auch Ben Bella, sicher aber Abdel Nasser, das Maß ihrer Fähigkeit weit überschätzen, wenn sie das gesamte Schwarz-Afrika oder den Maghreb odei den Mittleren Osten unter sich zusammenfassen wollen. Die Auflösung der Föderation von Rhodesien und Nyassaland, die Unruhe im Kongo, die Rivalität von Ruanda und Burundi, von Togo und Dahome deuten immerhin an, daß im allgemeinen der von der Bevölkerungszahl her definierte Kleinstaat von drei bis zehn Millionen Einwohnern der heutigen Tatkraft afrikanischer Politiker oder Politbüros entspricht. Alle größeren Einheiten werden einstweilen von Außenkräften organisiert und etwa im Kongo von UN-Truppen verklammert. Dort wird trotz der verwaltungsmäßigen Zerteilung Katangas und der von sieben außerafrikanischen Staaten betriebenen Aufrüstung der Mobutu-Armee erst nach dem völligen Abzug der UN-Kontingente Klarheit zu gewinnen sein. Der Mammut-Staat Kongo ist m. E. in seiner Existenz nicht gesichert. So bewundernswert die Gründer der afrikanischen Nationalstaaten in ihren Leistungen sind, so begrenzt scheint doch ihr Format zu sein. Vor einigen von ihnen liegen Aufgaben, die weit über jene der europäischen Reichs-gründer hinausgehen, da sie gleichzeitig Völker und Landschaften zu nationalen Lebensräumen zusammenschmieden, Wildnisse in Kulturlandschaften verwandeln, großflächig wuchernde Erosionen bannen, Millionen von Menschen bilden und die staatliche Existenz inmitten von weltumspannenden Veränderungen behaupten und im Rahmen der Vereinten Nationen zur Geltung bringen sollen. Mit dem Glanz des Staatengründers versehen wichen diesen meist jugendlichen Persönlichkeiten manche Gegenkräfte aus, die sich inzwischen von den ersten Überraschungen erholen oder in das sichere Versteck des Unbewußten ausweichen. In kaum einem Lande, in dem keine legitime Erbfolge besteht, sind gleichartige Nachfolger zu erkennen, so daß vom Format der Politiker und vom Format der Aufgaben her auf eine Gruppennachfolge durch das politische Büro einer Partei oder in anderer Weise geschlossen werden kann. Nur so werden Rückschläge — wie sie etwa für die Zentralafrikanische Republik durch den Flugzeugabsturz Bogandas und für Nyassaland durch den Autounfall Chisizas eingetreten sind — aufgefangen werden können.

Die Instrumente der Politik Auch die Mittel der Innenpolitik sind Nachahmungen außerafrikanischer politischer Organisationen. In der Gründerzeit standen in manchen Ländern Gewerkschaften, Genossenschaften und Parteien als gleichwertige Organisationen der sozialen Gruppen zur Verfügung Die Entwicklung hat die politischen Parteien eindeutig als Willensadern der Regierung in den Vordergrund gerückt. Lediglich in den acht folgenden Staaten existieren noch mehrere Parteien nebeneinander: Burundi, Kongo (Leopoldville), Marokko, Nigeria, Ruanda, Sansibar, Sierra Leone, Uganda. Gerade noch besteht das Mehrparteiensystem in Kamerun, Kenia und Madagaskar. Das Argument der Afrikaner ist, daß sich ihre Staaten zur Zeit keine Zersplitterung der noch ungenügenden, für eine moderne Entwicklung einsetzbaren Kräfte leisten könnten und daß außerdem das aus den Abgeordneten einer Partei gebildete

Parlament den Gewohnheiten der uralten afrikanischen Demokratie am nächsten käme. Es sei immer Brauch gewesen, über die entstehenden Fragen so lange miteinander zu sprechen, bis alle einer Entscheidung zuzustimmen vermochten. Dieses sei besonders bei der Absetzung eines Häuptlings in Erscheinung getreten. Die Gewerkschaften werden in einigen Ländern geduldet, in anderen etwa in der Art der Arbeitsfront von der Regierung als ein nachgeordnetes Organ geleitet, wobei deren Entmachtung etwa in Ghana oder auch in Tanganjika gesetzlich festgelegt ist. Die Bedeutung und Wirkung der Genossenschaften ist von hier aus noch nicht übersehbar und bedarf erst der genauen Feststellung und Analyse.

Die Regierungen setzen daneben die Mittel des Staatssicherheitsdienstes und der Polizei ein. Die Streitkräfte dienten in ihren ersten Anfängen ohne Zweifel ausschließlich der Repräsentation. In einigen Ländern wurde dann mit dem Gedanken an Aggressionen oder an panafrikanische militärische Aktionen gespielt. Heute bilden die Streitkräfte im allgemeinen die Reservemacht der jeweils herrschenden Gruppen für die Bewältigung innerpolitischer Schwierigkeiten, wobei nachbarliche Waffenhilfe nicht ausgeschlossen ist.

Die Regierungen, die im übrigen die bürokratische Organisation der Kolonialschutzmächte für ihren Staatsbereich mit geringen Änderungen in den Zentralbehörden übernommen und nur personell afrikanisiert oder arabisiert haben, wollen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Tätigkeit gegen traditionelle oder revolutionäre Gegenkräfte absichern, außerdem alle einem Fortschritt aufgeschlossenen Kräfte an sich binden und für die Entwicklung des Landes planmäßig einsetzen und schließlich die Gesamtheit der Bevölkerung in eine der Neuzeit angepaßte Faon bringen. Diesem Zweck dienen ebenso die Verbote der Vorführung amerikanischer Filme (Mali) als auch die gesetzliche Verpflichtung zur Arbeit oder die Einführung eines Arbeitsdienstes. Mit Zwang und Vorbild wird dieses Ziel zu erreichen gesucht. Deshalb ist die Einrichtung von Staatsfarmen, von Musterdörfern, von Bildungslagern verständlich.

Soziale Wandlungen Die Konstruktion des Nationalstaates wird unter Anspannung des geduldigen oder revolutionären Willens der Führungsschichten, gehemmt durch deren Rivalitäten und persönliche Interessen, beschleunigt durch die Sehnsucht nach geschichtlicher Wirkung und Absicherung der einmal errungenen Macht, in den Mutter-boden des Volkes hineingetrieben. Die Bevölkerung, die sich in ihrer Gesamtheit noch keineswegs als Angehörige einer Nation, etwa als Kongolesen, Tanganjikaner, Nigerianer empfindet, sondern eher als Massai, Bahutu, Yoruba oder Fulani, wird in den bisherigen Lebensordnungen, Vorstellungen und Empfindungen trotzdem immer mehr durch das Gestänge des neuen Staates aufgestört und verletzt. Von oben geplante und in der Selbstbehauptung der Großfamilien, Klans und Stämme erfolgende soziale Wandlungen geschehen gleichzeitig mit unwillkürlichen Veränderungen, die oft genug über die staatspolitischen Absichten hinausgehen. Manchmal scheint der Zerfall schneller als der Aufbau zu sein, so daß das Zukunftsbild eines Nationalstaates mit gestraffter Oberschicht, die sich Macht, Reichtum, Bildung und Repräsentation aneignet, und einer nicht mehr von Sitten, sondern nur von den Befehlen des Gesetz-gebers und des Polizeikommissars in Ordnung gehaltene Masse der Einwohner als Fata Morgana aufsteigt. Wie wäre sonst der in der Zeit der staatlichen Unabhängigkeit anschwellende Umfang der Kanisterstädte bei gleichzeitiger prachtvoller Haus-und Hofhaltung der politischen Führer zu verstehen? Im jetzigen Augenblick werden die jungen Staaten in ihrem Bestand durch die Ruhe der Bevölkerung in der Bewahrung traditioneller Lebensordnungen, von der Sitte der Bekleidung oder Halb-bekleidung über die Sitten der Viehhaltung und des Ackerbaues, der Familiengründung und der Mahlzeiten gewahrt. Es ist nicht nur die revolutionäre Tat der bis in das letzte Dorf vordringenden Politisierung durch die Einheitspartei des Staates, sondern auch die Revolution der Ansprüche, etwa das Aufgeben der lebenslang und alltäglich eintönigen Mahlzeiten, die Forderung nach voller Bekleidung für alle oder nach Verbeamtung und Besoldung der Dorfältesten, die junge Staaten aus den Grundfesten heraus erschüttern könnte. So aber ergibt sich das Paradoxon, daß die Grundfesten des Staates in Afrika heute noch durch die traditionellen Lebensverhältnisse gebildet werden.

Das Momentane der uns überall in Afrika entgegentretenden Mentalität, die noch unzureichende Übung im Ausdenken und Festhalten der Zusammenhänge führen zu dem Eindruck, daß die sozialen Wandlungen auf ein ungewisses Ziel hin geschehen, das der Formulierung entbehrt und nur an außerafrikanische Muster anklingt, oft mehr unwillkürlich, von Gerüchten und mündlichen Erzählungen auf den Märkten und von Fleimkehrern angeregt als verordnet. Wir sehen eine verwirrende Fülle von Veränderungen, auf deren Gesamtheit das Stichwort Modernisierung zuzutreffen scheint; aber der Vermutung nach wird Modernisierung auf die Dauer in Afrika nicht Europäisierung werden, wenn sich auch sowohl politische Führungsschichten als auch außer-afrikanische Gruppen dieser Hoffnung hingeben. Die einen glauben den Vorsprung der Entwicklung, den die Bevölkerung von Sowjetrußland über Europa bis Nordamerika dank abendländischer Ideen, Erfindungen und Methoden erzielt haben, nur so aufholen zu können, daß sie der alten Spur folgen — die anderen, die jetzt Afrika Entwicklungshilfen leisten wollen, versuchen ihre eigenen gut bewährten Lebensformen noch einmal in dem frisch gekneteten Teig der afrikanischen Menschheit auszustechen, mag es sich um die Verwandlung der Stämme und Großfamilien in die politischen Organisationen der Parteien, der Genossenschaften, der Jugendbewegungen handeln, mögen die Verstädterung durch Stadtplanungen nach außerafrikanischen Modellen bewältigt, die zusammenhanglose Menschenmasse aber durch Gerwerkschaftsorganisationen in Form gebracht werden oder die Missionen als Nationalkirchen in eine neue Lebens-stufe eintreten. Nun muß aber gesagt werden, daß der soziale Wandel zwischen den beiden Polen der traditionellen Sozialordnungen und den noch nicht endgültig bestimmten Sozial-strukturen der Zukunft in jedem Stamm, in jedem jungen Nationalstaat, in jeder Region sich sehr verschiedenartig vollzieht. Es ist ein Unterschied, ob Nomaden oder Seßhafte, ob große oder kleine Stämme, ob Yorubas aus Westafrika oder Bules aus Ostafrika, ob Sudan-oder Bantu oder Berbervölker, ob Gruppen mit britisch-oder französisch-kolonialer Prägung, ob Wüsten-oder Urwald-stämme in den Umschwung eintreten. Menschengruppen, die an eine Häuptlingsherrschäft gewohnt sind, bringen andere Voraussetzungen mit als Afrikaner, die aus einer matriarchalischen Ordnung stammen. Der soziale Wandel in Afrika schillert in allen nur denkbaren Möglichkeiten, und niemand wird die Voraussage wagen, ob sich wenige strenge Formen über die bisher wuchernde Vielfalt legen und welche Formen sich endgültig durchsetzen könnten. Das wird erst am Ende dieses Jahrhunderts zu übersehen sein.

Die Hauptzüge der Veränderungen lassen sich dagegen aus der Menge der Einzelvorkommnisse ablesen. Es sind die Zwischenformen der Entwicklung, die ohne Schwierigkeit nachgezeichnet werden können. Klan, Großfamilie oder Stamm gelten weithin als überholte Gemeinschaften, die von selbst zerbröckeln oder durch den Eingriff junger politischer Kräfte zerbrochen werden sollen. Dies geschieht einerseits durch die zunehmende Anziehungskraft des städtischen Lebens oder durch die jahrelange oder saisongebundene Abwesenheit der Wanderarbeiter, die große Wegspuren vor allem durch den schwären Teil des Kontinents, zwischen der Sahara und dem Kap ziehen. Neuerdings haben Flüchtlingsbewegungen ähnliche Folgen. Diese gleichsam organische Zersetzung oder Auflösung der Stämme wird durch das international eingebürgerte Schlagwort „detribilisation" umrissen.

In gleicher Weise wirkt der gewaltsame Eingriff in das Stammesleben durch die machtpolitisch überlegenen Führer der National-bewegungen in der Auseinandersetzung zwischen Stammesgefühl und neu gefundenem Staatsgedanken, durch die Absetzung der Häuptlinge und Könige, die der politischen Macht enteignet und in der Gerichtsbarkeit eingeschränkt werden, die Herabsetzung der Medizinmänner, die Erteilung des Wahlrechtes an Männer und Frauen, durch das Vordringen der Einehe.

Wenn wir von Veränderungen sprechen, genügt es aber wohl kaum, die Verluste an traditionellen Formen zu beschreiben. Es gilt die neu auftauchenden Tatsachen zu charakterisieren. Als solche erscheinen oft die Umwandlung des Stammes in eine geschlossene Produktionsgemeinschaft. Das weltbekannte Musterbeispiel bieten die Wachagga, die auf den Abhängen des Kilimandscharo ihre Pflanzungen haben, ausgezeichnete Schulen und Einrichtungen zur Berufsfortbildung schufen und schließlich auch im Rahmen ihres Stammes von der legitimen Erbfolge der Prinzen zur Präsidialverfassung übergingen.

Ein anderer Weg wird durch das Umgießen einer Stammesgemeinschaft in die politische Organisation einer Partei beschritten. Von anderen Umständen abgesehen, wird dadurch zugleich die Existenz der einmal gegründeten Partei unauslöschlich. Die Führer und leitenden Funktionäre kommen dann jedoch nur selten aus den regierenden Häuptlingsfamilien. Im übrigen müssen wir uns vor der Verallgemeinerung hüten, daß politische Parteien immer in diesem Zusammenhang gegründet werden. Sehr oft sollen sie die entgegengesetzte Aufgabe haben. Die Partei kann also eine Organisation sein, die für oder gegen das Staatsbewußtsein wirkt.

Oft entsprechen sie sogar einem modernen Kostüm über einem durchaus traditionsgebundenen Körper. Diese traditionellen Ordnungen erhalten sich einstweilen vor allem in Regionen, die vom Islam geprägt wurden. Dort geschieht die Anpassung an die neuartigen Verhältnisse der Gegenwart nur leise und allmählich und nur soweit sich dies als eine unvermeidliche Notwendigkeit ergibt.

Die Stadt, sogar die Großstadt bildet für Afrika keine Neuigkeit, wohl aber jene lawinenartig anschwellenden Städte, in die Angehörige vieler Stämme, oft abgesprengt von ihren Familien, wie in einen Schmelztiegel einströmen. Niemand kann heute sagen, ob die in allen Ländern Afrikas zu beobachtende Verstädterung neue Menschengruppen bilden oder nur Menschenmassen häufen wird. Auch in Europa hat die Verstädterung sehr verschiedene Schicksale hervorgerufen. In Berlin sind die Menschen gleichsam zu einem neuen Volksstamm zusammengewachsen, so daß von den Berlinern genau so wie von Mecklenburgern oder Hessen gesprochen wird. Andernorts leben nur einheitlich verwaltete Menschen unverbindlich nebeneinander.

Eine besondere Farbe kommt in das Bild der sozialen Wandlungen durch das Aufsteigen oder wenigstens durch die Emanzipation ehemaliger Sklavenstämme. Die Kämpfe zwischen Bahutus und Tussis in den Staaten Ruanda und Burundi haben auf solche Vorgänge ein grelles Streiflicht geworfen.

Es entspricht afrikanischen Verhältnissen, wenn im Nachzeichnen sozialer Veränderungen — im Unterschied zu Europa — gar nicht von der gewandelten Stellung des einzelnen in Familie, Stamm oder Staat gesprochen wird. In Afrika ist die Menschengruppe die kleinste Lebenseinheit, nicht die Persönlichkeit, wie in der Neuzeit des Abendlandes.

Deshalb wird sich außerafrikanische Entwicklungshilfe als Sozialhilfe auch weniger der Ausbildung des einzelnen als der Bildung der Gruppen zuwenden. Dabei müssen dann Afrikaner und Fremde erst gemeinsam und mühsam herausfinden, welche Menschengruppen den Anstrengungen der Anpassung an neuartige Umstände des Lebens gewachsen sind und welche — wie es oft im Ablauf der mitleidlosen Geschichte geschah — diesen Vorgang in Afrika nicht überleben werden. Eben darüber, etwa über das Schicksal der Nomaden oder der Pygmäen, wird jeder Kundige heute noch eine Voraussage scheuen. Auf den sozialen Wandel in Afrika wirken vielfältige Vorbilder, Programme und Eindrücke: von der Milchpulverkonserve bis zum Fernsehen, von der liberalen bis zur „gelenkten" Demokratie, von der europäischen Universität bis zur Gewerkschaftsschule, von der asiatischen Gelassenheit bis zum fanatischen Arbeitseifer, von der Großfamilie bis zur Einehe. Aus bewußten Anstrengungen und aus unbewußten Regungen, aus den Traditionen von mindestens drei Erdteilen, die nach Afrika hinüber-strahlen, dort reflektieren oder Irrlichtern, aus der Lebenskette mehrerer Generationen wird eine soziale Ordnung hervorgehen, die weder wir noch die heutigen Politiker in Afrika klar voraussehen.

Die soziale Planung der Politiker benutzt als Hilfsmittel die außerhalb Afrikas erprobten Gesellschaftmodelle, in den zuletzt unabhängig gewordenen Staaten bereits die afrikanisch abgewandelten Muster, Deshalb haben sich die entscheidenden Männer in Tanganjika sehr um die Übernahme von ghanaischen Erfahrungen bemüht und vielleicht die Afrika-reisen Ben Bellas auch die Formulierung der algerischen Verfassung beeinflußt. Osteuropäisdie und asiatische Vorbilder gewinnen zunächst deshalb eine stärkere pragmatische Wirkung als westeuropäische, weil sie von Grund auf kollektiver Art sind. Der Individualismus, die Freiheit von sozialem Zwang zugunsten eines eigennützigen Spielraumes kennzeichnen eine nach Tradition und heutiger Lebensnotwendigkeit fremde Welt für den Afrikaner. Das Wort „Mittelstand" wird deshalb in einem europäisch-afrikanischen Gespräch sehr verschiedenartig verstanden und akzentuiert werden: in Afrika als kollektiv betonte Gruppierung mit politischer Bedeutung, die ein Netz unter der Oberschicht bildet und strenge Ordnungen einhält.

Legenden In dem Ringen um die Behauptung als souveräne Nationalstaaten, in der Begründung von innerafrikanischen Wirtschaftsunionen, in dem Bemühen um ein den gesamten Kontinent erfassendes afrikanisches Gemeinsamkeitsgefühl rufen die afrikanischen Politiker und Dichter zwei Geister zu Hilfe: den Geist der eigenen historischen Vergangenheit und den Geist der Kolonialzeit. Die Schwarz-Afrikaner gebrauchen also zwei historische Stützen, von denen sie die eine, die eigene vorkoloniale Vergangenheit der Reichs-und Staatsgründungen, ins Licht rücken, die andere, ihre koloniale Epoche, als Schatten brandmarken. Das geschichtliche Geschehen wird ihnen zur hellen oder dunklen Legende.

Sekou Toure, Kwame Nkrumah oder Modibo Keita, die Staatspräsidenten von Guinea, Ghana und Mali, haben wiederholt auf die eindrucksvollen Staatenbildungen und Reichsgründungen hingewiesen, an die Namen wie Ghana und Mali erinnern. Auch Fürsprecher außerhalb Afrikas bevorzugen diese Hinweise, denen sie dann noch die Kunstwerke westatrikanischer Kulturen als Beispiele anfügen.

Hier erinnern wir uns vergleichend an die . Forschungen von Josef Strzygowski über die altgermanische Kunst oder die historischen Erinnerungen der deutschen Nationalbewegung.

In Wirklichkeit stützen diese Rückblicke nur das Selbstvertrauen. Zugleich ist aus der historischen Besinnung, aus dem Pragmatischen ins Geistige hinüberwechselnd, die „Negritude", die das in der Gegenwart lebendige besondere afrikanische Kulturbewußtsein bezeichnet, hervorgegangen.

Sogar die Aufeinanderfolge der Legenden, die den historischen Verlauf andeuten und die Gegenwart begründen sollen, ähnelt kriegerischen Zügen und Gegenzügen auf dem Schlachtfeld der Geschichte. Die Völkerkunde hat die hamitische Theorie geschaffen. Demgemäß sollten alle bedeutsamen politischen Gestaltungen Schwarz-Afrikas durch die Einwanderung und Blutbeimischung hamitischer Stämme hervorgerufen worden sein, die aus dem Nordosten kamen und sich wie die Tussi zur Oberschicht aufwarfen. Kaum wird ganz genau aufzuklären sein, wie stark die damals im Vordergrund stehende und für die Erklärung der abendländischen Geschichte herangezogene indogermanische Theorie auch die ähnlich klingende hamitische Legende angeregt hat. Bis zur Soziologie unserer Tage oder Heisenbergs Formel wiederholen sich nämlich im Abendland die Versuche, das Weltgeschehen auf den gemeinsamen Nenner einer alle Erscheinungen entschlüsselnden Theorie zusammenzuziehen.

Die heute noch leidenschaftlich vorgetragene „Negritude", deren bekanntester Vorsprecher Leopold Senghor ist, bedeutet einen Gegenzug, der besonders durch die extremen Äußerungen als Re-Aktion charakterisiert ist. Von Vertretern der „Negritude" wurde etwa behauptet, die altägyptische Kultur sei von schwarzen Afrikanern hervorgebracht worden. Inzwischen ist die Definition auf eine geistig-seelische Haltung, ein Weltbewußtsein magischer Art, eingeschränkt worden. Uns bleibt aus unserer Geschichtserfahrung heraus zu fragen, ob die Weltanschauungen und Bewußtseinsstufen immer von Menschengruppen übereinstimmender körperlicher Erscheinung und dann auch jeweils von deren Gesamtheit vorgetragen werden.

Dies wäre eine Analogie zum vergangenen germanischen Mythos und ein Widerspruch zu den Erkenntnissen aller Weltreligionen.

Ein Widerspruch wird heute bereits von schwarz-afrikanischen Schriftstellern erhoben, wenn festgestellt wird, daß die Vertreter der „Negritude" fast ausschließlich auf den Antillen und in den französisch geprägten Gebieten Afrikas geboren und in der Pariser «Presence Africaine» zusammengeschlossen sind. Ost-und Südafrikaner fühlen sich nicht zugehörig. Es gelang nur teilweise, die Brücke in die Neue Welt der Afrikaner, nämlich bis in die Vereinigten Staaten zu schlagen. Die engeren Beziehungen zwischen Südamerika und den afrikanischen Geburtsländern knüpfen sich wiederum vor allem zwischen Brasilien und Nigeria DieHoffnung, daß die „Negritude" zur geistigen Grundlage der politischen Einheit Afrikas, also zur panafrikanischen Kultur, erweitert würde, konnte schon nicht wegen der verschiedenen historisch-politischen Bewegungsrichtungen der vier Kontinente Afrika, Europa, Nord-und Südamerika und nicht zuletzt wegen der Ausschließung Arabisch-Afrikas gelingen. Die Konferenz von Addis Abeba — und vielleicht auch die Durchsetzung der vollen Bürgerrechte für die aus Afrika stammenden Nordamerikaner — hat diese Hoffnung endgültig ausgelöscht. Trotzdem kann die „Negritude" als ein besonders das Selbstbewußtsein der Schwarz-Afrikaner steigerndes Element der afrikanischen Kultur gelten.

Wir sind geneigt, solchen Berufungen auf die Geschichte nur geringe Wirkung beizumessen und entsprechende Äußerungen als eingeflochtene schönklingende Passagen offizieller Reden abzutun. Das Wesentliche suchen die meisten Nicht-Afrikaner heute von vornherein in anderen Äußerungen — etwa zum Ost-Westkonflikt. Jedoch wußten Europäer, die klüger waren und sind als die „Realpolitiker", schon immer von der Wirksamkeit solcher Beschwörungen, wenn sie von den Geistern sprachen, die den Rufenden nicht mehr loslassen. Wenn wir dann noch die Ganzheit im Leben, die sich in Schwarz-Afrika erhalten hat, berücksichtigen, so wird es uns nicht verwundern, wie sehr die afrikanischen Politiker an die Kolonialepoche gebunden sind. Keine außenpolitische Rede, keine panafrikanische Konferenz, die den Geist dieser Zeit von der dunklen Seite her nicht beschwören würde. Andererseits wird auch bei jeder Staatsgründung — von Ghana über den Kongo zu Kenia— die Bewahrung der kolonialen Grenzen gegen Selbstbestimmungsrecht, ethnische Ordnung oder Staatsvorteil als unabdingbar gefordert. Was im Kongo einen materiellen Nutzen versprach, da Katanga die Schatzkammer dieses Raumes ist, das scheint in Kenia ein materieller Nachteil zu sein, wenn die Somali an der Nordgrenze an diesen Staat gebunden bleiben. Wie sehr sich die Schwarz-Afrikaner der Wirkung des ganzen Geistes der Kolonialzeit ausliefern, zeigen uns übrigens Kleidersitten, Straßenbilder, Lebensmittel aller Art, Staatsverfassungen, Organisationsformen, dichterische Rhythmen — und auch Lebensgefühle, Denksätze, Repräsentationen. Hier werden aber geistige, vorwiegend unwillkürliche Wirkungen heraufbeschworen und durchaus keine realpolitischen Einflußnahmen erlaubt. Das äußere Bild sollte uns in Europa über die Art unserer Bedeutung in Afrika nicht täuschen.

Ansätze afrikanischer Großraumbildungen Das Jahr 1960 ist als Afrika-Jahr bezeichnet worden. Es gibt für einen chronologischen Einschnitt zu diesem Zeitpunkt einige Gründe. Der afrikanische Nationalstaat ist in seinem Bestand soweit abgesichert, die Kräfte sind soweit mobilisiert, die Verfeindungen aus früherer Zeit soweit abgeklungen, daß an eine nationale Außenpolitik gedacht werden kann, die nicht nur der Selbstbefriedigung des Prestigebedürfnisses oder der Bestätigung der Existenz durch dritte Mächte, sondern der Entwicklung Afrikas dienen kann. Mitte Dezember (15. — 19. Dezember) 1960 tritt die nach dem Ort des Zusammentreffens benannte Brazzaville-Gruppe der französischen Nachfolgestaaten zum ersten Male zusammen. Im Gegenzug findet sich schlagartig quer über Kultur-und Sprach-grenzen, über verschiedenartige Staatsverfassungen und koloniale Traditionen die revolutionäre Casablancagruppe zusammen (3. Januar 1961), die Ghana, Guinea, Mali, Marokko, Libyen und Ägypten bilden. Vom 9. bis 12. Mai 1961 tagt dann zum ersten Male die Monroviagruppe unter dem Vorsitz des konservativ gestimmten Präsidenten Liberias, der ältesten heute bestehenden afrikanischen Republik. Die zwanzig Mitglieder kommen aus den Staaten der Brazzaville-Gruppe und den bisher ungebundenen Staaten Sudan, Äthiopien, Liberia, Nigeria, Sierra Leone. Im Grunde geht es damals — ein Jahr nach dem Eintreffen der ersten UN-Truppen im Kongoraum, fünfzehn Monate nach der ersten Atomexplosion in der Sahara — um die Alternative zwischen dem revolutionären, eindeutig sozialistischen Weg zur afrikanisch-kontinentalen Einheit und der langwierigen Entwicklung, auch um eine Entscheidung über das afrikanische Verhältnis zu den anderen Kontinenten — eine Frage, die vom Algerienkrieg und von der vorläufig noch gegebenen Abhängigkeit Ost-und Zentralafrikas überschattet wird. Da der Kongo seine Energien im Innern verbraucht, besteht die Möglichkeit, daß die jungen Staaten beiderseits der Sahara allein das Los über die Zukunft des Kontinentes werfen. Und doch wurden diese Entwürfe der internationalen Koalitionen innerhalb Afrikas wohl von keiner Gruppe als endgültige Lösung, von einigen sogar als Auffangstellung für die Nachzügler in der Unabhängigkeit aufgefaßt. Diese zwischenstaatlichen Bünde waren oft unklar, von plötzlichen Eingebungen und auftauchenden Möglichkeiten bestimmt, oft von nationalen Vormachtbestrebungen beflügelt oder vom Versuch, die eigene Schwäche durch Koalitionen zu bannen. Die national-wirtschaftlichen Probleme hatten zu der Erkenntnis geführt, daß nur internationale oder übernationale Zusammenschlüsse, auf jeden Fall die Einordnung in eine übergeordnete Wirtschaftseinheit in Form der Zollunion oder des gemeinsamen Marktes die vorhandenen Probleme bewältigen lasse. Versuche dieser Art bilden der Conseil de l’Entente, dem die Staaten Elfenbeinküste, Obervolta, 'Niger und Dahome angehören, die Zollunion der Staaten des französisch geprägten Äquatorialafrikas, zu der Gabun, die Zentralafrikanische Republik, Kongo (Brazzaville) und Tschad zusammengeschlossen sind, die OAMCE (Organisation Africaine et Malgache de Cooperation Fconomique), aller Staaten französischer Zunge oder zwischen Dahome und Togo bestehende Zolleinheit. Der Drang, die außerafrikanischen Entwicklungen einzuholen, die in COMECON oder EWG, in dem unverbindlichen Zusammenschluß der Arabischen Liga, im Europarat oder der damaligen OEEC zutage traten, und der Wunsch, nicht zu lange auf der nationalstaatlichen Stufe zu verweilen, die Erkenntnis, daß nur eine Zusammenfassung der politischen Energien eine weltpolitische Wirkung neben den Weltmächten, aber auch neben Rotchina und Indien, versprach und das gegenseitige Mißtrauen innerhalb Afrikas, in dem die Zentralen der Untergrundbewegungen in anderen Staaten legitimiert wurden, haben zu immer neuen Experimenten und einem hastigen Durchproben der Möglichkeiten Anlaß gegeben. Staatspräsident Nasser war noch zu Zeiten Genera] Nagibs bemüht, den Raum des Niltales als politische Einheit zusammenzufassen, dann schlug er eine Brücke nach Ghana und half die Casablancagruppe zusammenzufügen. Als dieser Zusammenschluß wenig zu Kräften kam und das Ziel einer ägyptischen Vormacht in Afrika nicht zu verwirklichen war, begannen die Verschmelzungsversuche zum arabischen Großstaat Ägypten—Syrien, schließlich noch Jemen—Irak, die Versuche, Brückenpfeiler zwischen Europa, Afrika und Asien zu werden, mit Nehru und Tito einer der großen Neutralisten zu werden. Die Vormacht in einem anscheinend nur von geringen Gegenkräften erfüllten Großraum zu werden und den Glanz des Vorkampfes gegen Israel zu tragen, schien lohnender als das geduldige Ringen um einen naturgegebenen und alle Kräfte einigenden Zusammenschluß. Die Ungeduld der vorstaatlichen Nationalbewegungen ist verständlich — die Unbeständigkeit der Staatspräsidenten ist ein Nachweis mangelnder politischer Reife, Energie und Welterfahrung.

Ein anderes Beispiel gibt die Politik Modibo Keitas, der zuerst über die Föderation Mali, den Zusammenschluß der Nationalstaaten Senegal und Mali, eine für größere Wirkungen geeignete Ausgangsstellung in der Angel zwischen Weiß-(Arabisch-) Afrika und SchwarzAfrika zu gewinnen suchte. Als dann die feine Witterung Senghors die geplante Überrumpelung verhinderte, zählte Keita zu den Mit-gründern der Casablanca-Gruppe; später versuchte er Annäherungen an Obervolta. Ähnliche Versuche mit wechselnden Kristallisationszentren und dem Ziel der Großraumbildung und Großmachtstellung innerhalb Afrikas werden wahrscheinlich in den britisch geprägten ost-und zentralafrikanischen Regionen beginnen. Das Experiment hat bereits einerseits mit der Fortsetzung der kolonialen East-African High Commission in den East African Common Services begonnen, die Uganda, Kenia, Tanganjika und Sansibar auf Sachgebieten des Hafenbetriebes, des Nachrichtenwesens oder des Hochschulwesens zusammenwirken lassen (Gründung der Universität von Ostafrika Juni 1963). Einen Rückschlag brachte die Zerstörung der Föderation von Rhodesien und Njassaland (formelle Auflösung 31. Dezember 1963), die immerhin ein Musterbeispiel des Zusammenschlusses von sich gegenseitig in der wirtschaftlichen Produktion ergänzenden Ländern gewesen ist. Nach dieser Spaltung werden die freigewordenen Teile nach anderen, neuen Verbindungen suchen. Das gilt sowohl für Südrhodesien in Richtung Südafrika als auch für Njassaland in Richtung Tanganjika. Eine nordrhodesische Möglichkeit ist seit der Enthauptung und Teilung Katangas nicht mehr aktuell.

In den bisher in Erscheinung getretenen Zusammenschlüssen oder Ansätzen zu wirksamen Koalitionen sind zwei verschiedene Vorstellungen der Großraumbildung versteckt, die wir in freilich unzulässiger Übertragung abendländischer Begriffe als Reichs-und Staatsprinzip unterscheiden könnten. In der Brazzavilleund Casablanca-Gruppe ist das übereinstimmende Interesse, im ersten Beispiel auch noch die übereinstimmende Prägung in der kolonialen Vergangenheit, die von den Gesetz-14 auch über die von Europa her überkommene Aufsplitterung der Konfessionen hinweg bewahren wollen. Dies ist vor dem Weltkirchenrat und auf der panafrikanischen Kirchenkonterenz dieses Jahres in Kampala ausgesprochen worden.

Die Einheit von Addis Abeba liegt einer fruchtbaren Regen versprechenden Wolkendecke ähnlich über Nord-und Zentralafrika, denn in den Boden dieses Raumes ist die Einheit noch nicht eingetragen, obwohl die geographische Karte der Teilnehmerstaaten solches vortäuscht. Bis ist Verkehrsnetz heute das national auf die Überseehäfen der Länder und nicht nach dem Plan einer innerafrikanischen Infrastruktur ausgerichtet. Es gibt noch keine zwischenstaatlichen Märkte in Afrika. Die Schwerpunkte oder Kristallisationszentren sind auf keinem Lebensgebiet gefunden oder gar geschaffen. Sprachen, Religionen, außer-afrikanische Assoziationen, Staatssysteme, Kulturformen, außenpolitische Entscheidungen, geographische Nachbarschaften und vor allem Bestrebungen und Visionen der Zukunft stellen jedes Mitglied der afrikanischen Einheit in wechselnde Zusammenhänge, die sich einstweilen nicht decken lassen. Vom Dokument zum wirklichen Zusammenwachsen der afrikanischen Einheit ist deshalb ein langwieriger Weg zurückzulegen, über dessen Zeitlänge Vorhersagen nicht zulässig erscheinen. Es gibt Beobachter, die schon für den Großraum des Kongo dreißigjährige Wirren vorhersagen, andere wiederum, die die Rückschläge der Vereinigung für den Zeitpunkt erwarten, an dem weiße Regierungen vollständig von der Oberfläche dieses Kontinents gewichen sind, so daß das einigende Gegenbild fehlt. Die in Addis Abeba erwartete Einheit Afrikas setzt zumindest die Ablösung der weißen Herrschaft in der Republik Südafrika und in Südrhodesien, wahrscheinlich die Ausschaltung der arabischen Oberschicht auf Sansibar, die mit dem Putsch des 12. Januar 1964 eingeleitet worden zu sein scheint, die Beseitigung der Königsherrschaften in Burundi und Buganda, auch die außen-politische Einigung auf eine Gegnerschaft zu Israel voraus. büchern bis zu der Speisenfolge der Festessen, von den familiären Verbindungen zwischen Weißen und Schwarzen bis zu literarischen Formen reicht, im zweiten Beispiel dagegen auch die übereinstimmende Ansicht über die Zukunft maßgebend gewesen. Beide Gruppierungen betrachten jedoch die Bildung eines territorial zusammenhängenden Bundesgebietes keineswegs als sehr wichtig, obwohl sie in den Organisationsplänen bis zur Bildung eines internationalen Oberkommandos gehen. Im Kongo und in Ostafrika bahnen sich dagegenGrtißraumbildungen auf derGrundlage Staatsgebietes oftmals aneinanderliegenden bei konkurrierenden oder auseinanderlaufenden Interessen, wenn auch übereinstimmender Vorprägung in der kolonialen Zeit, an. „Reichsund Staatsprinzip" können in einer Abwandlung von Senghors Definition der Nation in einem vereinigten und in Großräume gegliederten Kontinent ihren gegenseitigen Ausgleich finden.

Am 26. Mai 1963 ist die „Charta der afrikanischen Einheit" in Addis Abeba von 30 Staaten unterzeichnet worden. Zwei andere Länder haben ihre Unterschrift in Aussicht gestellt oder die Zulassung erbeten. Neben dem Verzicht der Republik Madagaskar auf ihr bisher stets betontes Sonderdasein ist die Überrundung Südasiens durch das Zusammenfinden der bis zum harten Gegensatz voneinander geschiedenen politischen Führer Afrikas bemerkenswert, die sogar das Verhältnis zu Israel nicht auseinandersprengen konnte. Es handelt sich um eine im Laufe einer Konferenz entstandene Einheit, die den Primat der Politik nach zwei Richtungen hervorkehrt: Jenseits der außenpolitischen Aktionsgemeinschäft bildet sich noch keine geistig-kulturelle Einheit und auf der anderen Seite bleibt die wirtschaftliche und soziale Koordination und Integration der Staaten zweitrangig. Dieser Primat der Politik durchdringt im übrigen ebenso die wissenschaftliche Organisation der „Kommission für Technische Zusammenarbeit“ und die von den Missionen emanzipierten nicht-katholischen christlichen Kirchen Afrikas, die die Einheit des Kontinents Der afrikanische Kontinent hat in den historisch-politischen Auseinandersetzungen der abendländischen Neuzeit und in der asiatischen Geschichte bis zur Gründung souveräner Nationalstaaten keine entscheidende oder Entscheidungen mitbestimmende Rolle gespielt, wenn wir von Napoleons Hitlers Afrika und die Welt und der Alliierten nordafrikanischen Feldzügen absehen. Auf der die Emanzipation der südlichen Erdkugel aus der Verbindung mit europäischen Imperien einleitenden Bandung-Konferenz asiatischer und afrikanischer Nationalbewegungen und Staatsregierungen traten Afrikaner als Vertreter völkerrechtlich anerB kannter Gemeinschaften kaum in Erscheinung.

Dieses Zurückbleiben hinter der Entwicklung Südasiens begründete auch die Wahl des Konferenzortes. Als die selbständigen Kontakte begannen, wurden diese zunächst von der Überlegung bestimmt, ob nicht Staats-und Sozialordnungen asiatischer Länder als Modell für den eigenen Aufbau dienen könnten. Die beginnende Innenpolitik bestimmt also die Auswahl der außenpolitischen Kontakte. Die engen afrikanisch-indischen Beziehungen in den ersten Gründerjähren erklären sich daraus.

Für die Jahre nach 1959 etwa müssen wir zwischen dem Hereinziehen Afrikas in die Welt durch außerafrikanische Mächte und zwischen dem selbständigen Eintreten afrikanischer Staaten in die Welt unterscheiden. Das Hereinziehen in die Weltauseinandersetzungen geschah und geschieht teilweise noch im Rahmen der Spannung der beiden Weltmächte und im Zusammenhang mit den Problemen der Verteidigung Europas. Es handelt sich um das unblutige Ringen um die Südflanke des eüropäischen Kontinents und den Wettkampf um strategische Rohstoffe. Afrika hat in dem vergangenen Jahrzehnt in dem Spiel, einen dritten Weltkrieg vor Beginn der Kampfhandlung zu gewinnen, eine wichtige Rolle gespielt, wobei der Besitzt von Rohstoffen, die Einrichtung oder Beseitigung von militärischen Stützpunkten und der propagandistische Wettkampf eine gleichwertige Bedeutung gewannen. Es war eine Reaktion und nicht so sehr eine eigenständige Ideologie, daß afrikanische Staaten den Neutralismus im Hinblick auf den Streit der Weltmächte proklamierten. Nebenbei zeigten sie sich nur als die gelehrigen Schüler der Kolonialepoche, in der den vorher in blutigen Auseinandersetzungen zerstrittenen Stämmen die Pax Britannica und die Friedensordnung der Franzosen, Deutschen, Belgier und Portugiesen gelehrt wurde. Sie nahmen dieses Friedensprinzip nunmehr in ihre selbständige Außenpolitik auf und verweigerten eine Parteinahme in den außerafrikanischen Konflikten.

Der erste selbständige Schritt in die außer-afrikanische Welt führte die afrikanischen Staaten jeweils in die Vereinten Nationen. Die Aufnahme als Mitglieder dieser Welt-organisation bedeutet für sie gleichsam die säkulare Taufe nach der Staatsgeburt. Der Eintritt gibt ihnen die oft zur Selbstsicherheit notwendige Bestätigung, daß sie gleichberechtigte Partner sind. Vor der Konferenz von Addis Abeba wurde außerdem New York zu dem die verschiedenen staatspolitischen Tendenzen in Afrika vereinigenden Treff-und Brennpunkt. Es ist eine historische Erfahrung, daß oftmals außerhalb der betroffenen Räume liegende Brennpunkte stärker wirken, weil sich die Kräfte im Raume selbst zu stark stoßen. Die Vereinten Nationen ermöglichten schließlich den afrikanischen Kleinstaaten, die das gleiche Stimmrecht wie die Welt-und Großmächte ausüben dürfen, das wirksame Eingreifen in das Geschehen der Weltpolitik.

Nicht zuletzt ergab sich im Rahmen der Vereinten Nationen aber auch die Möglichkeit, die neutralistische Außenpolitik mit dem Bedarf an Entwicklungshilfe in einen ungebrochenen Einklang zu bringen.

Die zweiten selbständigen Schritte in die außerafrikanische Welt folgten ausgetretenen Spuren, nämlich in Richtung auf die Haupt-städte der ehemaligen Schutzmächte. Das materielle Interesse half psychologische Hemmungen überwinden, und nur dort, wo die Partner mit Bedingungen und Vorkehrungen antworteten, die das empfindliche nationale Prestige verletzen und die innerstaatliche Behauptung der oft noch unsicheren Führungsgruppen gefährden mußte, folgte der unmittelbare Schritt in Richtung auf Moskau und Peking oder die mittelbaren Verbindungen mit dem Osten über Kairo, Prag, Budapest, Djakarta. Viele Europäer sehen in einem solchen außenpolitischen Verhalten einen Widerspruch zu einer wirklichen neutralistischen Außenpolitik der afrikanischen Staaten, weil durch Ausspielen der einen gegen die andere Seite diese die Ost-West-Spannung zu ihren Gunsten ausnutzten. Manche meinen sogar, daß orientalisches Händlertum dabei eine besonders schwarz-afrikanische Ausprägung gefunden habe. So zutreffend diese Beurteilung für einzelne Vorgänge sein mag, so werden doch zwei Gesichtspunkte oft zu wenig berücksichtigt: zuerst die existenziellen Schwierigkeiten dieser nationalen Kleinstaaten, die einfach aus verschiedenen Gründen von der Zufuhr von Lebensmitteln, von der Mitarbeit außerafrikanischer Sachverständiger, von der Gewährung von Überbrückungskrediten abhängig sind. Sodann wird das Europabild der Afrikaner nicht zur Kenntnis genommen. Nur wer einmal lange Zeit in anderen Erdteilen, die nicht dem Abendland zugerechnet werden können, gelebt und die Vorwerke und Grenzlinien dieser historisch-politischen und kulturellen Einheit von außen, umgeben von fremden Kulturen, Landschaften und Menschen, gesehen hat, kann sich in die afrikanischen Perspektiven gut hineinversetzen. Die Afrikaner sprechen von dem Europäer und rechnen dieser Erscheinung Griechen und Norweger, Franzosen und Polen gleichermaßen zu. Letzten Endes ist für sie, übrigens in Übereinstimmung mit den historischen Tatsachen, Moskau eine europäische Hauptstadt, genauso wie London oder Athen. Die regionalen Büros der Betreuungsorganisationen ihrer im Ausland lernenden Studenten sind deshalb oft von Edinburgh bis Prag und Warschau ohne Rücksicht auf den Eisernen Vorhang zuständig. Eine Staatsreise nach Warschau oder Wien, nach Stockholm oder Bonn bedeutet nicht viel mehr als der Besuch im Kaiserreich Äthiopien oder in der einer Volks-demokratie sich manchmal nähernden Republik Mali, in der ganz eng an das frühere Mutterland gebundenen Republik Madagaskar oder im oft außenpolitisch radikal gestimmten Ghana. Dieses unzerstückelte Europabild läßt Hemmungen nicht aufkommen, wo sie von der osteuropäischen oder westeuropäischen Seite aus erwünscht wären. Im übrigen ist diese Betrachtung Europas von Afrika aus sozusagen eingeboren, denn sie erfaßt auch die dort draußen ohne unmittelbare amtliche Aufträge

In dem Büchlein „Afrika und die Welt" habe ich vor neun Jahren geschrieben: „Das voraussichtlich dauernde Ergebnis des ersten Abschnittes der afrikanischen Neuzeit ist die Entwicklung eines afrikanischen Kontinentalbewußtseins.“ Die Ausfertigung der „Charta der afrikanischen Einheit" wird von Afrikanern als Beginn der Zukunft begrüßt, doch enthält auch diese mehr Reinigungen von der Vergangenheit als Grundlegungen für die Zukunft. Es bleibt also immer noch die Frage, welche Zukunft eigentlich begonnen hat. Wir können annehmen, daß in nicht ferner Zukunft die Auseinandersetzungen um den staatsrechtlichen Status der portugiesischen Provinzen in Afrika verstärkt werden. Auf die Aktionen der Untergrundbewegungen hat das Mutterland mit Gegenschlägen und vor kurzem mit der Verkündung eines gemeinsamen Marktes aller portugiesischen Gebiete geantwortet. Mit dem bevorstehenden Schiedsspruch des Haager Gerichtshofes wird auch das Problem Südwest-afrika erneut hervortreten, denn angesichts vielfältiger geheimer Machenschaften sind nicht einmal blutige Auseinandersetzungen in diesem Territorium unmöglich, und schließlich steht die vielleicht viel Tragik enthaltende Frage nach der Zukunft der Republik Südafrika und Südrhodesiens vor aller Augen. Für die Zukunft kann angenommen werden, daß Afrika seine kontinentale Einheit verwirklicht, weil es sich in diesem Bestreben im Einklang mit einet die ganze Erde erfassenden Umwandlung befindet. Der Einteilung des Zeitalters des tätigenund j ahrelang lebenden Europäer, so daß ein ungezwungener Verkehr zwischen Menschen Ost-und Westeuropas entsteht. Einzelne Staaten ordnen diese Tatsache sogar in ihre außenpolitischen Absichten ein, wenn zum Beispiel Polen nur Nicht-Parteimitglieder als Entwicklungshelfer aussendet.

In einer Zusammenfassung der von den afrikanischen jungen Nationalstaaten angeknüpften Weltbeziehungen darf noch gesagt werden, daß die Beziehungen mit den auf der nördlichen Halbkugel liegenden hochentwickelten Staaten die an sich möglichen Querverbindungen zu anderen Entwicklungsländern bei weitem übertreffen. Es gibt fast keine afrikanisch-australischen oder afrikanisch-südamerikanischen Beziehungen. Die Bedeutung der afrikanisch-südasiatischen Kontakte klingt immer mehr ab. Geographisch gesehen haben die afrikanischen Beziehungen zur außerafrikanischen Welt eher eine Süd-Nord-Richtung als eine Quer-Richtung nach Osten oder Westen.

Die Zukunft Afrikas?

Imperialismus in maritime Weltzonen, Indischer Ozean, Mittelraum, pazifischer Raum, folgt die kontinentale Gliederung der Erdoberfläche, die z. B. manchmal die Verbindung zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten als enger erscheinen läßt als jene zu Großbritannien und die fast überall zu kontinentalen zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen geführt hat. Aus diesem Gesamtumriß wird sich eine Gliederung Afrikas in wirtschaftlich begründete Großräume ergeben, die im übrigen oftmals ebenso künstlich oder sogar gewaltsam geschaffen wurden, wie sich die Nationalstaaten ohne Rücksicht auf die Existenz der Stämme bildeten. Niemand kann jedoch vorhersagen, ob Afrika einen selbständigen Beitrag zur Welt-kultur leisten wird, oder ob es geistig in zwei Teile geschieden bleibt. In dieser Hinsicht muß die Beantwortung der in der Überschrift gestellten Frage aufgeschoben werden, weil wir in Ansatz, Methode und Stärke der Erkundungen und Forschungen zu wenig fortgeschritten sind, um zuverlässige Aussagen wagen zu dürfen. Uns wird dabei besonders interessieren, wo die Afrikaner ihr Maß, das heißt die Grenze ihrer Möglichkeiten finden werden. Ihre unwillkürliche Abwehr gegen das Atomzeitalter, das sich keineswegs nur in Bomben, sondern ebenso in der Raumfahrt äußert, läßt einige Vermutungen zu. Da wir jedoch noch gar keinen Überblick über die schöpferischen Möglichkeiten der Afrikaner haben, ist eine Vorhersage für das Wirken der Nachfolger der Staatengründer unmöglich

Fussnoten

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Oskar Splett, Dr. phil., Generalsekretär der Deutschen Afrika-Gesellschaft, geb. 22. September 1911 in Jüterbog. Veröffentlichung u. a.: Afrika und die Welt, Bern/München 1955.