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Das Verhältnis der Jugend zur Politik | APuZ 6/1964 | bpb.de

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APuZ 6/1964 Das Verhältnis der Jugend zur Politik Artikel 1

Das Verhältnis der Jugend zur Politik

Walter Jaide

Ich berichte zum Thema auf Grund eigener Untersuchungen, die ich in den Jahren 1958 bis 1962 dank einer Förderung durch das Deutsche Jugendinstitut durchgeführt habe — und zwar:

Habitustypen 1. Engagierte 2. Interessierte 3. Indifferente 4. Skeptische (einschließlich 5. Destruktive: 1 Prozent) Insgesamt................ Männliche Befragte . Weibliche Befragte . Altersgruppen:

16, 6 ............. 14, 7 — 16: 7 — 18; 6 ............ 18: 7 — 20; 6 ............ Schulbildung:

Volks/Berufsschule . Mittel/Berufsfachschule . Ober/Hochschule . . 1. 0/0 12 15 8 8 11 13 7 14 23 2. % 34 46 38 36 29 60 39 27 42 27 45 43 3. 0/0 47 52 37 62 36 12 4. 0/0 8 11 3 6 10 8 4

als monographische Untersuchung, d. h.

sehr beunruhigt ziemlich beunruhigt nur etwas beunruhigt gar nicht beunruhigt interessiert mich nicht keine Angaben 11 21 24 21 18 5 100 0/o 0/o

als case-study von insgesamt 660 Jugendlichen mit annähernd repräsentativer Streuung in Nordwestdeutschland und Rheinland-Pfalz, also in zwei stammesmäßig und soziologisch verschiedenartigen Landschaften, als Repräsentativbefragung von 2000 Jugendlichen aus der Bundesrepublik auf Grund einer repräsentativen Auswahl nach dem Quota-Verfahren.

Beide Untersuchungsverfahren haben sich mit denselben Geburtsjahrgängen 1940— 46 befaßt. Das Medium der monographischen Studie war die strukturierte bzw.freie Einzelexploration, die eine mußevolle, wiederholte, dialogische, diskursive Erörterung von Problemen nach einem Explorationsleitfaden möglich machte. Die Expansionsprotokolle wurden abgesichert durch Auskünfte von Gewährspersonen (Eltern, Lehrer, Ausbilder, Jugendführer usf.) und zu biographischen Skizzen erweitert.

Das Medium des zweiten Verfahrens war die formale Befragung mit fixierten Anfrage-texten und entsprechenden Antwortvorgaben, Skalensätzen, Gradierungsaufgaben usf, Ein Beispiel:

Frage: Ubei die Einstellung zur Politik kann man ja heute verschiedener Meinung sein. Was würde hiervon für Sie zutreffen? Antwortvorgaben:

1. Ich kümmere mich darum nicht.

2. Man müßte wohl, aber man kommt nicht dazu.

3 Ich beschäftige mich wohl damit, aber Politik ist leider keine saubere Angelegenheit.

4. Idi beschäftige mich damit, aber man kann ja doch nichts machen. 5. Ich habe Interesse und beschäftige mich damit.

6. Keine Angaben 1), Beide Methoden unterscheiden sich deutlich im Grad und Charakter ihrer Ergiebigkeit und Zuverlässigkeit, lassen sich allerdings auch gut miteinander kombinieren. Vor-und Nachteile beider Methoden, Einfluß von Subjektivität in die Durchführung der Explorationen, in die fortschreitende Klärung und Deutung ihrer Ergebnisse auf der einen, einmalige Antworten und deren Konstatierung und Verrechnung ohne weitere Klärung ihres Aussagegehaltes und -wertes auf der anderen Seite können durch sorgfältige Kombination der Ergebnisse kontrolliert bzw. neutralisiert werden *) 2).

Die Gesamtuntersuchung bezog sich auf die Einstellung der Jugendlichen zur Politik, Religion, Moral, zum Vorbild und anderen zentralen Lebensfragen. Der Bereich der politischen Anteilnahme und Meinungsbildung ist durch die Erörterung folgender Themen angegangen worden:

Bismarck, Hitler und der Nationalsozialismus, die gegenwärtige Staatsform, Regierungsund Parlamentspraxis in der Bundesrepublik, Parteieintritt und Wehrdienst, Beunruhigung durch die allgemeine Weltlage, durch Kriege in der Zukunft, aktuelle politische Fragen: Wiedervereinigung, Berlin, Bindung an den Westen, West-Ost-Spannung, Entwicklungshilfe u. a. m.

Bei der Durchsicht der Ergebnisse fallen zunächst und entscheidend die Verschiedenartigkeit der politischen Anteilnahme und die Mannigfalt der Meinungen auf. Diesem Reichtum an individuellen und typischen Varianten würde man mit einer bloß statistischen Summierung und Quotierung der Stellungnahmen nicht gerecht. Denn dabei würden neben den Mehrheiten die Minderheiten zu wenig zu Worte kommen, neben den allgemeinen Resümees die gruppenspezifischen Unterschiede, neben der quantitativen Verteilung der „Stimmen" die Qualität der Stellungnahmen unberücksichtigt bleiben (es gibt z. B.demokratische, autokratische, nationale Tendenzen unter dieser Jugend von recht verschiedener Eigenart und auf mehrerlei Niveau). Mit der Heraus-stellung bloßer Haupttendenzen, Querschnitte, idealtypischer oder „modaler" Verallgemeinerungen würde man dem vielschichtigen Wesen dieser Generation, wie es sich in den Untersuchungen bekundet, Gewalt antun, und übrigens auch kaum zu erzieherisch und unterrichtlich fruchtbaren Folgerungen gelangen. Man würde diese Generation maskieren — wie oft genug geschehen — und nicht porträtieren. Dem letzteren Anliegen wird man am ehesten gerecht durch die Beachtung von speziellen Typen politischer Einstellung, d. h. typischen, habituellen Unterschieden in der politischen Anteilnahme, die den Jugendlichen eine Zeit-lang während ihrer Entwicklung zueigen sind Die Alternative zwischen Allgemeinbefund oder Typologie läßt sich übrigens auch vom quantitativen Geltungsanspruch jugendpsychologischer Aussagen her entscheiden: Wenn Schelsky einen Idealtypus von modernem Jugendlichen konzipiert, so trifft er damit einen sogenannten reinen Fall, dem sich höchstens 10 Prozent der ganzen Generation zuordnen lassen. Wenn er aus vielen Statistiken eine Art Durchschnittsbefund herauskristallisiert, dann gilt ein solcher etwa für 30— 40 Prozent der ganzen Generation. Wenn man dagegen mehrere Typen konzipiert, so lassen sich unter diese Typen etwa 70— 80 Prozent sämtlicher Jugendlichen subsummieren; etwa 15— 30 Prozent dürften atypisch sein oder im Typus nicht feststellbar bleiben. Je differenzierter also die Aussageinhalte werden, um so genereller ist ihre Aussagegeltung, d. h., eine um so größere Breite der Generation wird damit erfaßt. Obwohl jede Typologie ihre Mängel hat — denn man könnte stets auch andere Typen aufstellen bzw.dem einzelnen mit der Zuordnung zu einem Typus Gewalt antun —, so leistet sie doch zweierlei:

1. in dem Vielerlei der verschiedenen Äußerungen und Verhaltensweisen des einzelnen eine verstehbare Grundeinstellung zum Lebensbereich Politik (z. B. Mißtrauen) erkennbar zu machen, 2. in der Masse der Ja-oder Neinsager bzw.

der Unentschiedenen lebendige Menschengruppen mit ihren qualitativen Unterschieden (z. B.

Mißtrauen, Engagement) sichtbar zu machen und sowohl die Gemeinsamkeit innerhalb einer solchen Gruppe wie auch die Unterschiede und Abstände zwischen den verschiedenen Gruppen herauszuarbeiten.

Mit anderen Worten: Daß ein Jugendlicher „die" Demokratie bejaht oder nicht bejaht und wieviele das tun, ist nur vordergründig von Belang. Dahinter muß ergründet werden, mit welcher Anteilnahme oder Gleichgültigkeit er dieser Meinungstendenz folgt, auf welchen gedanklichen und praktischen Bemühungen sie beruht und wie er sich die Folgerung aus seinem Ja oder Nein konkret vornimmt oder verwirklicht.

Dazu muß man die verschiedenen Äußerungen des einzelnen Jugendlichen zu demselben Fragenkomplex (z. B. Hitler) behutsam kombinieren und diese in Beziehung setzen mit seinen Meinungen zu verwandten Problemen (z. B. Diktatur oder Demokratie), sie einordnen unter entscheidende Leitfragen (z. B. Regierungsform, Menschenrechte) und schließlich alle Aussagen überprüfen an seinem Interesse, Sachwissen und tatsächlichen Verhalten. Eine solche Durchsicht und Deutung der Aussagen führt mehr oder minder zwangsläufig von den Einzelfällen zur Unterscheidung von Typen verschiedenartiger politischer Grundeinstellung. Das gilt vorab für die monographische Untersuchung. Deren Ergebnisse können und müssen allerdings durch die Anworten auf die Repräsentativbefragung kontrolliert bzw. gesichert werden, wenn dabei auch nur eine rahmenhafte Umgrenzung der Typen herauskommt. Ohnehin wollen ja die Einzelergebnisse der Befragung miteinander korreliert und kombiniert werden (z. B. ebenfalls: Meinung zu Hitler mit der Einstellung zur Demokratie, der politischen Anteilnahme, den zeitgeschichtlichen Kenntnissen usf.), so daß sich auch dort Komplexe von Meinungen bzw. Gruppen von Meinungsträgern unterscheiden lassen — wenn auch nota bene nur im Aufmarsch anonymer Prozentwerte und Korrelationskoeffizienten und nicht durch bildhafte, einfühlende Konzeption wie bei der qualitativen monographischen Ermittlung.

Bereits Wenke hat eine Typologie und Rangstufung vorgeschlagen nach Pragmatikern, Primitiven und geistig Aufgeschlossenen. Auf Grund meiner Untersuchung, d. h. sowohl der Monographien wie der Repräsentativerhebung — und in Analogie zu der verdienstvollen Studie von Habermas u. a. — lassen sich fünf Typen politischer Einstellung deutlich voneinander unterscheiden:

Engagierte, Interessierte, Indifferente, Skeptische, Destruktive.

Diese Aufstellung kann man auffassen als eine Attitüden-Skala mit einem Pluspol (Engagierte) und einem Minuspol (Destruktive) und einer Nullinie (Indifferente). Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß ich eine ähnliche Habitustypologie ermittelt habe in bezug auf die religiöse Einstellung, die sittliche Haltung und das Verhältnis zur allgemeinen Moral, die Wahl und Befolgung von Leitbildern usf.

Die Engagierten Die Jugendlichen, die diesem Habitus zuzurechnen sind, zeigen politisches Problembewußtsein mit tiefgehendem Verständnis. Es rührt her aus andauernder Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen politischen Themen von weitem Umkreis: von Hitler zu de Gaulle, von der Nordpolunterquerung bis zum Kongo, von der Oder-Neiße-Linie bis nach Südtirol, von Tibet bis Kuba, von den Wahlmodalitäten bis zur Lohn-Preis-Politik in der Bundesrepublik, von den weltverändernden technischen Erfindungen bis zu den Einzelheiten des Schulwesens und des Jugendschutzgesetzes. In alledem „sammeln" sie nicht nur Informationen, sondern identifizieren sie sich weitgehend mit den und dem Anliegen der Politik. Aus der besorgten Einsicht in die enge Verzahnung öffentlichen und privaten Lebens erwächst ihnen der Sinn für politische Mitverantwortung. „Wenn jeder nur an sein privates Glück denken wollte, gäbe es bald kein privates Glück mehr." (w 20 M)

„ . auf der einen Waagschale liegt die Freiheit, die andere ist die Demokratie. Die Menschen nehmen sich von der Freiheit, ohne rückwirkend wieder der Waage etwas zu geben: die Verantwortung und das Bewußtsein, daß die Freiheit ein Geschenk ist...“ (w 20 O)

Diese Jugendlichen bekunden tiefe Resonanz für Leid und Unrecht in Vergangenheit und Gegenwart (z. B. für die Greuel der NS-Zeit und der Vertreibung bei Kriegsende, die Rassenverfolgungen anderswo, den Hunger auf der Welt). Sie sind beunruhigt über die innere und äußere Gefährdung des Westens durch seine Uneinigkeit, „Ziellosigkeit" und sein Wohlleben. Und sie äußern vielerlei politische und sozialpolitische Beanstandungen an den gegenwärtigen Verhältnissen und auf Anhieb dutzendweise Reformvorschläge (z. B. Kritik am Stil des parlamentarischen Lebens, der Wahlpropaganda, der Regierungspraxis, an den Verteidigungsausgaben, der Wiedervereinigungspolitik, an den Disproportionen der sozialen Verhältnisse, an den Jugend-arbeitsbedingungen u. a. m.).

„Was ich ändern würde? Weitergehende Krankenversicherungen, Altersversorgung, Jugendorganisationen, Verbesserung der allgemeinen Wohnungslage, Preissenkungen und politisch bildende Kurse für Erwachsene und Jugendliche, Demonstrierung der Demokratie." (w 18 M)

Ihre Antriebe sind offenbar nicht politische „Angst" oder ein Hang zur Selbstbehauptung, sondern moralische, rechtliche, politische Maximen: Mitverantwortung an der salus publica, Erhaltung des Friedens, Toleranz für den Gegner, Achtung vor fremden Kulturen, Fürsorge für die Schwächeren, Gewissensgefolgschaft entgegen jeglichem Befehl, Sauberkeit und Anstand in der öffentlichen Verwaltung. 8 „Für Parlamente und Parteien sind Geldausgaben, auch wenn sie in die Millionen gehen, nicht zu schade. Unsere Freiheit ist das wert. Ich wäre persönlich bereit, mich für die Freiheit gegen eine Diktatur einzusetzen. Ich habe mit vielen Kameraden darüber gesprochen, die derselben Meinung sind. Die alte Generation denkt da anders. Die ist gesättigt vom Verdienst und Wohlleben und daher desinteressiert. Die Jugend dagegen ist innerlich bewegter." (m 17 B)

Politische Mitverantwortung wird von diesen Jugendlichen nicht naiv „reklamiert" — sie ahnen vielmehr, wie leicht man an ihr schuldig werden und in Gewissenskonflikt geraten kann, wie es sich zeigt bei der Erörterung der Machtergreifung, des Mitläufertums unter dem NS-Regime, des 20. Juli usf. „Die Männer vom 20. Juli haben große Gewissenskonflikte gehabt. Ein Attentat bedeutet Blutvergießen. Sie hätten lieber ohne Gewalt gehandelt. Sie wußten, daß es ein letzter, verzweifelter Versuch war, die Katastrophe aufzuhalten. Die Männer würden heute jede äußerliche Glorifizierung ablehnen, z. B. Dietrich Bonhoeffer. Ihr Vermächtnis liegt in ihrem Mut zu handeln und in ihrem tiefen Verantwortungsbewußtsein Im Unterricht würde ich die Problematik zeigen, durch Selbstzeugnisse, ein Urteil jedoch werde ich nicht fällen, das muß jeder Mensch für sich entscheiden." (w 22 H) „Manchmal hat man auch Angst, noch etwas dazu zu sagen, weil es pathetisch klingen könnte und weil so vieles totgeredet wird." (m 22 H)

Wie der Tiefgang des Gefühles bei diesen Jugendlichen mit der Temperierung seines Ausdruck verschwistert ist, so die Entschiedenheit des moralischen Urteils mit der Vorsicht vor Schwarz-Weiß-Zeichnung (z. B. im Falle Hitlers), vor Freund-Feind-Ideologie (OstWest-Gegensatz) und vor ingroup-outgroupGegensätzen (Parteizugehörigkeit) mit allem, was daraus an Verketzerung des Gegners bzw. an Fehltoleranz für die eigenen Genossen folgt. Die Frage, ob denn Politik überhaupt mit sittlichen Maßstäben zu messen sei, wird von den Engagierten gar nicht akzeptiert! denn „bei der Politik wird doch immer über Menschenschicksale verfügt". Und sie lassen es sich von keinerlei Besserwisserei oder pragmatischer Versiertheit abkaufen, daß privates wie öffentliches Leben absoluten Forderungen des Gewissens unterstehen soll. „Politik braucht durchaus kein schmutziges Geschäft zu sein, das kommt ganz auf die Menschen an, die die Politik machen, wie deren Charakter ist. Ich halte Politik für notwendig, wenn ich auch heute noch nicht sagen kann, ob ich als Frau Politik machen werde." (w 16 B)

Politische Mittäterschaft wird nicht nur im Sinne staatsbürgerlichen Dienstes (Wählen, Wehrdienst, Entwicklungshilfsdienst u. a.) oder jugendlich gemeinwilliger und vorpolitischer Aktivitäten (Schülermitverwaltung, Jugend-forum, internationale Jugendarbeitslager, Hilfsaktionen usf.) bejaht, sondern im engeren Sinne politischer Einsatzbereitschaft, d. h. durch Eintritt in eine politische Partei. „Ja, ich möchte mal in eine Partei eintreten ... wegen der Einigung Europas, wegen der Menschenrechte, damit sie überall eingeführt werden." (m 22 B)

In der Repräsentativerhebung sind es insgesamt 10 Prozent, die die Frage nach einem möglichen Parteieintritt bejahen. Das ist allerdings eine unwahrscheinlich hohe Zahl. Der Bereitschaft wird nicht in jedem Fall die Tat folgen, was nicht nur an den Jugendlichen liegen dürfte, sondern an der Attraktivität und dem Stil des Parteilebens gerade für junge Menschen. Aus den monographischen Untersuchungen geht hervor, daß wohl nicht alle Bereitwilligen, sondern nur 5— 7 Prozent (von der Gesamtheit) an diesem Vorsatz festhalten werden. Diese Annahme findet eine Bestätigung dadurch, daß allerhöchstens 5 Prozent der Jugendlichen in Westdeutschland bereits Mitglieder von politischen bzw. im weitesten Sinne politisch orientierten Jugendorganisationen sind. (Es ist nicht uninteressant, diese Prozentzahlen nach den Geschlechtern zu trennen und den Wert für die männlichen Jugendlichen [14 Prozent] zu vergleichen mit den Prozentzahlen, die für die positive Bereitschaft zum Wehrdienst [30 Prozent] und zum Entwicklungshilfeeinsatz [35 Prozent] gelten.)

Selbst der Wehrdienst wird von den Engagierten nicht nur als staatsbürgerliche Pflicht (s. o.), sondern vielfach als politische Aufgabe bejaht („Man kann dem Kommunismus nicht nur mit dem Rosenkranz entgegentreten." m 16 0).

Auch die Bereitschaft zum persönlichen Einsatz in den Entwicklungsländern, die diese Jugendlichen impulsiv bekennen („Entwicklungshilfekorps im Kongo? Sofort!" „Entwicklungshilfe an Ort und Stelle wie Albert Schweitzer!") — sicher durchsetzt von moderner Fernesehnsucht, Abenteuerlust und Ausflucht aus dem „alten Europa" — trägt deutlich bezeugte politisch-moralische Motive in sich: Hilfe für die Hilfsbedürftigen, Anerkennung ihrer Gleichberechtigung, Abbau rassischer Vorurteile durch persönliches Dabeisein und Bejahung ihrer politischen Emanzipation. Freilich, von den 17 Prozent, die „bestimmt", und den 12 Prozent, die „wahrscheinlich" zu einem Entwicklungshilfeeinsatz bereit sind, — wieviele werden davon tatsächlich einmal am Kongo arbeiten können?.

Der Anteil der Engagierten an der gegenwärtigen Jugendgeneration läßt sich auf Grund der Monographien sowie durch Kombination und Korrelation der einschlägigen Befragungsergebnisse auf ca. 10 Prozent schätzen. Sie sind wesentlich stärker vertreten unter den männlichen, den höher gebildeten, den älteren und den großstädtischen Jugendlichen — reziprok zu den Indifferenten. Dabei sei nicht außer acht gelassen, daß sich Art und Einheitlichkeit der Zusammensetzung solcher sozialen Gruppen wie Dorfjugend, Gymnasiasten usw. gewandelt haben.

Bei Habermas finden sich Engagierte unter demselben Namen zu Prozent. Sie erinnern an Riesmans innengelenkte Moralisten 9).

Wichtiger als ihre Anzahl ist das Vorhandensein einer solchen Elite, die in sich geschlossene Struktur ihrer Mentalität und ihre Ausstrahlung auf die übrigen; mit der letzteren Frage geht man allerdings von der qualitativen und quantitativen Darstellung der Typen über zur Erörterung ihrer Dynamik — eine wissenschaftlich sehr schwierig zu leistende und einstweilen noch nicht geleistete Aufgabe.

Die guten Worte, die neuerdings wieder hier und dort der Jugend gewidmet werden, gelten zum Teil nur für diesen Habitus.

Die Aufgabe der politischen Bildung an den Engagierten lautet: sie einerseits zu bewahren vor zu früher Festlegung, vor dem Hochmut gegenüber den Nicht-Engagierten und den Unorganisierten, vor dem Anheimfallen an das „image", das die Unorganisierten sich von ihnen machen („zwar engagiert, aber nicht mehr ganz ehrlich und aufgeschlossen bzw nicht mehr immun gegen Ideologien") — und vor überhöhten Ansprüchen an die Politik.

Andererseits sollte ihnen geholfen werden, aus dem vorpolitischen Raum in den eigentlieh politischen hinüberzufinden, ohne daß sie ihre Unbedingtheit und Einsatzwilligkeit preisgeben, sondern indem sie diese — u. a. durch Einsicht in die politischen und sozialen Strukturverhältnisse — ausmünzen bzw. umformen in geistige Unabhängigkeit und fruchtbaren Reformwillen.

Die Interessierten Die Interessierten unterscheiden sich von den Engagierten weniger in der gedanklichen Anteilnahme als in der Bereitschaft zur politischen Aktivität: Nur die Engagierten erfassen demokratisches Leben dynamisch und intentional als einen evolutionären Prozeß, in dem die Freiheit auf ihren verschiedenen Ebenen erst noch bzw immer wieder aufs neue errungen, erhalten, reformiert werden will; Demokratie soll gelebt und „demonstriert", nicht bloß abgewickelt werden. Sie ist den Engagierten Lebensstil und -inhalt, nicht nur Geschäftsordnung.

Die Interessierten dagegen begreifen zwar das Funktionieren einer modernen Demokratie wie der deutschen und erkennen auch die ihnen zukommende Aufgabe des Wählers, und zwar eines verantwortungsbewußten, „gelernten Wählers" an. Aber sie fassen sie als Staats-bürgerpflicht in einem stationären System auf, das sie für mehr oder minder in Ordnung halten. Die beiden Lebensrollen, Privatmann und Staatsbürger, werden von ihnen optimistisch in einem gängigen Miteinander begriffen. Daher werden Staatsbürgerpflichten (Wählen, Wehrdienst usf.) und auch gemeinwillige, vor-politische Einsätze (Grenzland-, Berlinfahrten, Paketaktionen usf.) bejaht und ernstgenommen, jedoch werden eigentlich politische Tätigkeiten (Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Partei) vorerst abgewiesen, und zwar unter vielerlei Vorbehalten:

Jugendliches Zögern vor vorzeitiger Festlegung und Bindung, lebhafte moralische und politische Kritik an den Parteien (Professionalisierung und Bürokratisierung der Politik, Parteitaktik in Nicht-achtung des Parteiprogramms, Routine statt Verantwortung, Einfluß von Interessengruppen, fragwürdige Wahlpropaganda und die Nichteinhaltung von Wahlversprechen, Fraktionszwang, Ämterpatronage, Gesangbuchproporz, Vorherrschaft der „Alten" usf.),

Scheu vor der Undurchsichtigkeit und den Riesendimensionen des modernen politischen Le-B bens, in denen der einzelne auch als Parteimitglied zur Ohnmacht verdammt sei, Unwissen über die Funktionsweisen moderner Parteiapparate und über die Chancen und Aufgaben des „einzelnen" in ihnen.

Natürlich wird von den einzelnen Jugendlichen jeweils nur das eine oder andere Gegenargument vorgebracht. Das Fazit zieht einer dieser Jugendlichen für die meisten in folgender Weise:

„Ich werde überlegt wählen, aber sonst nur ein pflichtbewußter Bürger sein, der orientiert ist und nichts unbesehen glaubt."

(m 22 O)

Diese Interessierten sind „aufgeklärte Untertanen" oder — wie Habermas sie nennt — „reflektierte Staatsbürger". Man kann sich vortrefflich mit ihnen unterhalten. „Mit der Politik soll sich jeder beschäftigen, sonst kommt es wie bei Hitler zu einem Joch. Zumindest soll jeder die Ansicht jeder Partei kennen. Man muß die politische Seite lesen, um orientiert zu sein " (m 20 B)

Ihre versierte Beschlagenheit zeugt von bereitwilliger und ausgiebiger Beschäftigung mit der Zeitgeschichte. Sie erinnern an Riesmans „Informationssammler", wenn man sie auch nicht in ein solches historisch-soziologisches Klischee pressen sollte Sie sind keine bloßen „Meinungskonsumenten", sondern junge Menschen, die sich durch eigene kritische Bemühungen eine Meinung bilden und die verschiedenen Beeinflussungen durch Öffentlichkeit, Schule und Familie verständig gegeneinander abwägen. Dabei halten sie eine erstaunliche Balance zwischen den Meinungsextremen auch in längeren Gesprächen durch — keineswegs relativistisch, vielwisserisch. unverbindlich, sondern tolerant, fair, einsichtig und anteilnehmend. Sie bilden sich ihre Meinung über politische Geschehnisse nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und der historischen Berechtigung sowie auf Grund gemäßigtei moralischer und rechtlicher Ansprüche Dabei haben sie meht bürgerliche als politische Ziele im Auge: Ordnung, Wohlstand, Frieden und Schutz vor Schund und Schmutz. Und sie postulieren mehr bürgerliche als politische Tugenden: Toleranz, Fairneß, Wahrhaftigkeit, Anstand. Sachverstand. Ehrenhaftigkeit, Disziplin Schutzmaximen sind ihnen unmittelbarer gegenwärtig als Pflichtmaximen. Unter den ersteren erwähnen sie die legale Unantastbarkeit des Individuums gemäß seinen Grund-und Menschenrechten, rechtsstaatliche Bürgerfreiheiten, Kontrolle der Macht, Schutz vor Machtmißbrauch, Pressefreiheit usf. Dabei wissen sie nicht nur eindeutig zu verurteilen, was nicht sein darf, sie bekunden auch ein feines Mitempfinden für Leid, Unrecht, Greuel auf dem theatrum mundi und finden herzliche Töne der Anerkennung und Anteilnahme für die Verfolgten und Entrechteten. Bei der Frage nach politischen Zielen, für die sie sich „opfern", nach Lebensinhalten, die ihnen „alles" bedeuten, würden diese Jugendlichen zunächst achselzuckend die Antwort verpassen. Denn sie marschieren nicht hinter vorweisbaren Fahnen und Parolen, sie „bekennen" nicht hohe Prinzipien. Dabei denken sie gewiß nicht bloß an das „gute Leben", sondern durchaus an ein Leben als guten Staatsbürger — aber als „Stille im Lande". Sie sind keineswegs „verfremdet", aufgewühlt, problem-schwanger angesichts von Substanzverlust, Wertverschleiß, Bindungslosigkeit und Hypermobilität, wie sie gern „unserer Zeit“ zugeschrieben werden. Sie nehmen das, was damit gemeint sein kann, nicht historisch, sondern zeitlos. Eh und je besteht Spannung zwischen Vorsatz und Wirklichkeit, und die Guten sind stets seltener als die Schwachen oder Bösen.

Darauf reagieren diese Jugendlichen weder resigniert noch skeptisch, noch aktiv oder laut, sie bleiben herb und vernünftig. Für sie gilt Hölderlins Wort: Tatenarm — gedankenvoll. Sie verharren einstweilen in einem Vorfeld jugendlichen Reifens unter einer tiefgehenden Scheidung zwischen gedanklichem Interesse einerseits und praktischer Inaktivität andererseits Manche von ihnen wirken noch schülerhaft, manche subaltern; viele zeigen sich modern ernüchtert vor dem schwer durchschaubaren Triebwerk komplizierter Riesenapparaturen mit ihren unübersehbaren Wechselwirkungen, in welchen sie — zum Teil schlüssig, überzeugt — dem aufgeklärten Staatsbürgerverstand von heutenicht viel mehr an Mitwissen und Mitwirken zutrauen als dem beschränkten Untertanenverstand von ehedem Manche akzeptieren das in einer modernen Tendenz zur gelenkten Demokratie, zur „Managerdemokratie" Fast alle haben Scheu vor der Macht, vor der Handhabung der Macht und dem Zutritt zu ihren Schaltstellen.

„Ich habe Interesse an Politik, betätige mich aber nicht darin, weil mir die Verantwortung zu groß wäre. Ich wüßte nicht, was richtig ist " (w 22 F)

Der Anteil der Interessierten dürfte 30 bis 35 Prozent betragen, wobei die gruppenspe8 zifischen Unterschiede nicht sehr groß sind. Immerhin sind weibliche Jugendliche, die unteren Bildungsstufen und die geringeren Siedlungsgrößen schwächer unter ihnen vertreten:

Diese Ergebnisse der Monographien lassen sich sichern durch entsprechende Detailergebnisse der Repräsentativerhebung sowie durch vergleichbare Befunde

Wahrscheinlich wird es auf die politischen Institutionen und Organisationen ankommen, auf ihre Struktur und ihren Stil, ob diese gutwilligen, aufgeschlossen Jugendlichen zu ihnen finden werden oder nicht. Sie könnten sich zurückziehen auf bloßes Zuschauerinteresse im Stile von Riesmans „modern-styleindifferent" — oder sie können sich erwärmen für tätige Mitarbeit in Politik und Gesellschaft. Ob sie mehr dem einen oder anderen zuneigen werden, dürfte weniger ein über sie verhängtes Fatum entscheiden als die Kraft und Glaubwürdigkeit und Reformbereitschaft der Bildungsmächte wie der praktizierten Politik selber. Diese Kraft bekundet sich weniger im Aufwand als im richtigen Zungenschlag Die interessierten Jugendlichen möchten Partner sein, nicht Nachwuchs oder Mitglied. Sie erwarten Distanz, innere Freiheit, Spielraum und Frist zur eigenen Entwicklung und persönlichen Wandlung, sie gehen ein und warten auf vorurteilsfreie, gültige Orientierung im weitesten Sinne, die weder verharmlost noch übertreibt, die auf neuestem Stand und um0fassend sein und für verschiedene Ausdeutungen Raum bieten sollte. Und sie sind bereit zu einsetzbarer, praktikabler Mitarbeit. Sie lehnen dagegen voreilige, einseitige, radikale Beurteilungen oder gar pathetische Beschwörungen ab. Kurzum: Sie erwarten weniger 0/0 „Appell" als Information und Anleitung in 0/0 bezug auf die gegenwärtigen Mitwirkungsmöglichkeiten 0 des „einzelnen" in unserer Demokratie.

Die Indifferenten Der Habitus der Indifferenten umfaßt Ahnungslose, Unbekümmerte und Desinteressierte; sie alle leben an öffentlichen Aufgaben und Anliegen vorbei.

Von den Ahnungslosen erhält man nur sehr inhaltsarme Auskünfte. In der Repräsentativ-erhebung erscheinen sie bei sehr vielen Einzelfragen in den Spalten: keine Angaben, ohne Meinung, weiß ich nicht.

In den Explorationen lassen sie sich folgendermaßen aus:

„Politik, o Schande, Blamage, da weiß ich nichts." (w 22 B)

„Darüber, daß ich mal wählen muß, habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Ich fiage Jürgen, was ich wählen soll, und tue das. Idi wähle nur, weil ich muß. Was der Bundestag macht, das haben wir alles mal in der Schule gehabt, das weiß ich heute nicht mehr. Hitler war sicher schlecht, aber ich weiß kaum was davon." (w 20 B)

Neben diesen Unbedarften steht eine etwa gleich starke Gruppe von optimistisch Sorglosen und anderweitig Absorbierten, die — in bezug auf die erwähnten politischen Fragen — „alles in Ordnung" finden, „zufrieden", „gar nicht beunruhigt" zu sein angeben, keinen Krieg befürchten usf. Eine solche jugendlich arglose, vornehmlich weibliche Unbekümmertheit sollte man nicht mit Aburteilungen wie „privatistisch" oder „konformistisch" bedenken — wie es Schelsky und andere getan haben. Daß junge Menschen optimistischer in die Zukunft sehen und sich stärker dem häuslichen, schulischen, beruflichen Leben widmen, das ja doch nur zum Teil als privat anzusprechen ist, muß man — für einen Teil vorerst — als ganz natürlich unterstellen und anerkennen. Auf die Frage „Beunruhigt sie die allgemeine Weltlage?" haben in meiner Repräsentativer-hebung geantwortet:

insgesamt Hierbei haben also 44 Prozent der Jugendlichen unbetroffene Antworten abgegeben, wobei sie sich aufgliedern in Sorglose, Desinteressierte und Ahnungslose. Bezeichnenderweise ergibt sich eine deutlich positive Korrelation zwischen größerer Unruhe angesichts der Weltlage und höherem Interesse an Politik. Mit höherer Schulbildung nimmt die Beunruhigung zu. Eine vergleichbare Auswahl Erwachsener hat — EMNID-Untersuchung zufolge — pessimistischer geurteilt, was allerdings je nach der momentanen Konstellation starken Schwankungen unterworfen ist. Der an sich erfreulich größere Optimismus unter den Jugendlichen spiegelt sich ferner in ihrer Stellungnahme zur Kriegsgefahr, wobei 56 Prozent der Befragten einen Krieg für unwahrscheinlich halten. Auch auf diese Fragen antworten Erwachsene vergleichsweise pessimistischer.

Für die ausdrücklich Desinteressierten kann die folgende Aussage als typisch angeführt werden:

„Solange es nicht unerträglich ist, lasse ich lieber andere Politik machen. Politisch werde ich mich nie betätigen, ich lege keinen Wert darauf. Das sollen andere für mich machen.

Ich weiß, daß mein Standpunkt falsch ist, aber Politik spielt für mich keine Rolle.“

(m 21 B)

Sie äußern sich unzuständig, schwankend oder auch völlig ratlos.

„Kongo und Kuba, das höre ich mir an, das ist so spannend, ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen. Ich setze mich nicht damit auseinander, das ist ja nicht meine Sache." (w 22 F)

„Schließlich wird es auch nicht anders, wenn man das Zeug jeden Tag im Radio hört.“

(w 22 B)

Die politische Vorstellungswelt dieser Jugendlichen besteht nun keineswegs aus einem Vakuum, wie man meinen möchte, sondern aus einer merkwürdigen Rumpelkammer voller abgestandener Klischees politischer, historischer, bürgerlicher Vorstellungen: z. B.dem Klischee vom „kleinen Mann“, der nichts machen könne, weil ja „die da oben", insbesondere „die großen Männer“ Geschichte machen, wozu allein der Erfolg sie legitimiere.

„Der einzelne kann nichts machen, die hohen Herren machen ja doch, was sie wollen, und wir müssen für die da oben alles tun."

(w 15 V)

„Wiedervereinigung? Mag ja einer kommen, der das schafft." (m 22 B)

Und wenn die großen Männer Fehler machen, dann müsse es halt der kleine Mann ausbaden. Dem steht zur Seite das Klischee vom „kleinen Deutschen", der immer nur seine Pflicht getan und nichts gewußt habe, der Befehle ausführen und mit den Wölfen heulen mußte und den man endlich in Ruhe lassen solle.

Schließlich begegnet man dem Klischee vom Mitläufer, der völlig ohnmächtig sei, weil es ja doch immer so komme, wie es halt kommen muß oder kommen mußte.

„Weltlage? Da kann man ja doch nichts dran ändern " (m 18 F)

„Man macht halt mit wie alle. Als einzelner kann man nichts machen." (m 22 B)

Und weitere Klischees: Politik verdirbt den Charakter — Frauen haben in der Politik nichts zu suchen — jedes Volk gehört in seinen Raum, und Fiemde haben darin keinen Platz. Soll man in diesen Indifferenten mit ihren antiquierten Meinungsschablonen die repräsentative, progressive Phanlax der modernen Jugend sehen? Sie selber kommen sich keineswegs so vor und sind von sich wenig überzeugt.

„Von Politik weiß ich nicht viel. Ganz auf dem Mond lebe ich zwar nicht. Aber halb-10 wegs. Ach, ich habe keine Ahnung. Wenn das mein Vati wüßte, daß ich so unbewandert bin. Er legt doch so großen Wert darauf ..." (w 18 O)

Wenn man die Indifferenten aufschlüsselt nach Lebensalter, Geschlecht, Schulbildung und Siedlungsgröße, so rekrutieren sie sich auffällig stärker aus den Jüngeren, den Mädchen, der „dörflichen“ Jugend und den Volks-und Berufsschülern. Das spricht dafür, daß Indifferenz verursacht wird U. a. durch einen „cultural lag", einen Rückstand in der zivilisatorischen Entwicklung, der den Mädchen, der Dorfjugend, den bildungsmäßig unterprivilegierten Volks-und Berufsschülern eine politische Anteilnahme noch erschwert. Sie ist nicht einfach der fortschreitenden Industrialisierung anzulasten, die angeblich zum Desinteresse abdrängt. Die Großstadtjugend macht in ihrer politischen Anteilnahme und Meinungsbildung eine relativ gute Figur.

Die Charakterisierung des dritten Habitus erinnert am ehesten an Schelskys Universal-charakteristik der Jugend zwischen 1945 und 1955 Sie zeigt allerdings, wie selbst innerhalb dieses einen Typus, der weniger gestalthafte Prägnanz und Spannung aufweist als die übrigen, verschiedene Merkmalsverbindungen vorkommen. Er stellt keineswegs ein schlüssiges Konzentrat sämtlicher von Schelsky erwähnten Einstellungskomponenten dar (Verfremdung, Schaltungsverständnis, Verbraucher-haltung, Desengagement, indifferenter Konformismus). Möglicherweise haben die unmittelbaren Nachwirkungen der Katastrophe von 1945 jener Generation eine mehr einheitliche Haltungsresultante ausgeprägt. Bei dem heutigen Jugendlichen findet man unter diesem Habitus eine Mehrzahl unterscheidbarer Unter-varianten: Tumbheit — Unbekümmertheit — Desengagement. Auch Riesman teilt seine politisch „Gleichgültigen" in solche alten und neues Stils auf: in traditionsgeleitete Fern-stehende und außengeleitete Desinteressierte. Der Anteil dieses Habitus an der Jugend insgesamt beträgt schätzungsweise 50 Prozent, wobei ihm eine Restgruppe von Anonymen, Zurückhaltenden, Undurchschaubaren zugezählt worden ist, die man stets mit einkalkulieren muß und die praktisch wie Indifferente wirken. Wem dieser Anteil von 50 Prozent bedrückend hoch erscheint, der bedenke, daß er unter Erwachsenen in der Bundesrepublik — EMNID-Befragungen zufolge — noch höher ist, daß die Mitverantwortung jeglichen Staatsbürgers, gar jedes Jugendlichen in Deutschland eine noch sehr junge und wechselvolle Geschichte von einem knappen Jahrhundert hat — für Frauen und Mädchen von einem halben Jahrhundert. Zoon politikon sein zu dürfen ist bis dahin jahrtausendelang weithin das Privileg einer Minderheit gewesen. Angesichts dieser Vergangenheit und trotz der Bedrohung durch die totalitären Systeme des Ostens darf man von jungen Menschen zwischen 15 und 22 Jahren nicht generell politisches Interesse erwarten. Und er bedenke, daß zwischen Jugend und Politik eine natürliche Distanz und Spannung besteht. Jung sein und politisch leben sind zwei recht unterschiedliche oder gegensätzliche Lebensformen. Pragmatik der Macht sowie öffentliche Ordnung und Wohlfahrt liegen vielen Jugendlichen zunächst einmal fern.

Dem obigen Befunde nach scheint die Politisierung der Indifferenten in erster Linie ein Bildungs-und Erziehungsproblem zu sein: Anhebung der Allgemeinbildung auf der Stufe der Volks-und Berufsschulen, Zuschärfung politischer Bildung auch gerade auf die schlichter Veranlagten und auf die Mädchen durch Veranschaulichung, Konkretisierung und Praktizierung. Didaktik und Methodik der politischen Bildung stecken noch in den Anfängen; es wird sehr intensiver pädagogischer Phantasie bedürfen, damit sie nicht verschulmeistert, sondern zur lebendigen Begegnung zwischen Politik und Schüler wird. Sonst könnten die Indifferenten (unter der Jugend) später als Erwachsene zum „floating vote" beitragen, d. h. zu der ausschlaggebenden Mehrheit unentschiedener, unpolitischer Wähler hinzustoßen.

Die Skeptischen Sind die Indifferenten durch Unbetroffenheit gekennzeichnet, so herrscht bei den Skeptischen absichtliche Abwehr und mißmutige Abwendung gegenüber dem politischen Geschehen „da draußen" unter pessimistischem Räsonnement auf dem Nenner: Politik ist sinnlos und schmutzig.

„. . . daß eigentlich mir auch die ganze Geschichte immer wieder gezeigt hat, daß das alles sinnlos war, diese Kriege, sei es bei den Griechen, bei den Römern, das wiederholt sich alles, und die Leute haben wirklich nichts dazu gelernt.

Wenn ein neuer Abschnitt kam, eine neue Gipfelkonferenz, dann habe ich das im Anfang in den Nachrichten gehört ..., dann stand jeden Tag drin: ein konkretes Ergebnis hätte es nicht gegeben. . . Ich brauche mehr so Tatsachen und eine positive Entwicklung und wirklich mal was Neues." (w 22 H)

Diese Jugendlichen leben und argumentieren in einem einerseits-andererseits. Einerseits sind sie wach und betreffbar — andererseits abwehrend und abgewandt, einerseits oppositionell — andererseits verdrossen. Damit geben sie sich die Attitüde eines „modernen"

Pessimismus, was wohl zu einer Fehlglorifizierung dieses Habitus als tonangebenden geführt hat. Auch die Skepsis gegenüber Sinnhaftigkeit und Wertbezogenheit politischen Handelns steht in einem typisch jugendlichen Widerspruch: einerseits stellen sie recht hohe Ansprüche an Moral, Rationalität, Effektivität politischen Handelns — andererseits sehen sie sich in allen Ansprüchen zutiefst enttäuscht und desillusioniert. Sie akzeptieren keine teilweise Erfüllung, keine Zwischenphase, keinen Kompromiß, sondern übertreiben ins Negative und werden deshalb wertskeptisch, relativistisch, zynisch, weil es eben auf dieser Welt nicht nach Idealen, sondern „ganz anders" zugehe. „Ideale hat ja doch keiner, am wenigsten in der Politik." (m 18 O)

„Ideale bringen nur Unruhe in die Welt. Sie sind mit so viel Schmutz behaftet." (m 17 M)

„Unsere Politiker haben nur eine Maxime, keine Stimmen zu verlieren. Davor haben sie Angst." (m 17 O)

Bei manchen herrscht die Kammerdienerperspektive vor:

„Politik ist Mist. Die Reisen der Minister haben doch keinen Wert. Sie diskutieren.

Anschließend gehen sie Essen, und dabei sind sie sich einig! Im Fernsehen wird dann groß Tamtam gemacht." (m 20 B) Andere gefallen sich im Abscheu vor der Masse:

„Mit der Masse Mensch kann man so ziemlich alles machen, wenn man ihre Instinkte anspricht. Das war mein Eindruck vom Film . Mein Kampf Ich war nicht schockiert, nur depremiert. Immer wieder regiert die Masse.

Das kam mir auch gar nicht so neuartig vor.

Die Masse ist immer aggressiv und sadistisch gewesen und wird es bleiben." (m 18 0) Das alles macht diese Jugendlichen einerseits immun gegen Ideologien, gegen die Verabsolutierung und Dämonisierung des offentlichen Lebens durch ideologische „Politik" Sie lassen sich nichts vormachen und üben eine der Jugend zustehende auflockernde, in vielen Belangen wache und mitunter kluge Kritik, die nicht demoralisiert, sondern das Augenmerk auf eine reelle Entsprechung von Vorsatz und Bewährung lenkt und das Zwielicht pseudoidealistischen Getues aufhellt. So graben sie der Übertreibung und Heuchelei, der Intoleranz und Prinzipienreiterei das Wasser ab. Andererseits bewahrt diese Kritik manche jedoch nicht vor der Anbetung des bloßen Erfolges bzw. einem pragmatischen Alles-Entschuldigen und einer „vorurteilsfreien" Bereitschaft zu Experimenten und Utopien. (Elitebildung, Weltstaat, Geburtenkontrolle). Von diesen Jugendlichen wird dann merkwürdigerweise Bismarck verehrt, das Weimarer „Gewurschtel“ verächtlich gemacht, Antisemitismus als verständlich hingestellt; Hitler werden nur Dummheit und Fehler, aber keine Vergehen und Verbrechen angelastet.

Die Skepsis gilt nicht nur den Motiven der politischen Akteure, sondern auch jeglicher Information. Man fürchtet ringsum „Manipulation“. Die objektive Wahrheit lasse sich ohnehin nicht finden. Trotzdem ist man sehr wißbegierig und relativ gut informiert. Dabei werden allerdings negative Tatsachen wesentlich deutlicher und unkritischer ins Bild gerückt als positive.

Selbstverständlich liegt den meisten Skeptischen politische Aktivität völlig fern. Mißtrauisch sind sie auf eine möglichst erschütterungsfreie Salvierung vor dem öffentlichen Leben bedacht.

„Ich würde nie aktiv werden, nicht in einer Partei, man ist so selbständiger . . . Fürs Vaterland? . . . Och, warum? Die sich beteiligen, sehen selbst nicht die Folgen . . . Wenn es Krieg gibt, Angst habe ich eigentlich nicht, man nimmt's, wie s kommt. . . und wenn dann alles aus wäre, . . . tja, das macht mir nichts . .., ich werde mich rechtzeitig um eine Altersversorgung bemühen." (m 16 0)

Neben solchen philiströsen und snobistischen Skeptikern überwiegen die tiefer Beunruhigten, die begreiflicherweise sehr viel auszusetzen haben und bald einen neuen Krieg mit allen Konsequenzen befürchten. Sie leben in einer radikal humanen Reserve gegen eine sinn-und zwecklose Beunruhigung des Lebens durch eine Regiererei, die aus Machtkämpfen resultiert und Machtkämpfe austrägt. Sie stimmen — außerhalb des Politischen — rührend gläubige Klänge an:

„Man soll die Menschen bessern, vergeistigen und friedlicher machen." (m 16 O) Der Anteil der Skeptischen an der Jugend insgesamt ist nicht groß. Er dürfte nach Maßgabe der Monographien etwa 8— 9 Prozent betragen. Das läßt sich stützen durch den Wert von 7 Prozent für die „Distanzierten" unter meinen jüngeren Monographiepartnern sowie durch den Wert von 11 Prozent „Rational Distanzierten" unter Habermas’ Studenten In der Repräsentativerhebung haben auf die Leitfrage nach der politischen Anteilnahme für die Antwortvorgabe „Ich beschäftige mich mit Politik, aber Politik ist leider keine saubere Angelegenheit" 6 Prozent gestimmt. Kurz: mit 6— 10 Prozent dürfte der Anteil der Skeptischen richtig geschätzt sein. Sie rekrutieren sich auffällig stark aus männlichen Ober-und Hochschülern der Mittelstädte. Eine ganze Generation weiterhin zu etikettieren nach einem solchen Habitus von höchstens 10 Prozent aus eng umschriebener Herkunft ohne rechte Ausstrahlung — denn die meisten Skeptischen sind Eigenbrötler und Privatiers —, das erscheint mir außerordentlich fragwürdig und bedenklich.

Die Destruktiven Die Destruktiven bilden den Gegenpol zu den Engagierten. Sie engagieren sich aggressiv gegen Mitmensch, Gesellschaft und Staat. Sie verlästern und verneinen sie zumindest in ihrer gegenwärtigen Gestalt und verbohren sich in Utopien von fragwürdiger Hyper-oder Antimoral von faschistischer Prägung; keiner der mir bekannt gewordenen Destruktiven gab sich kommunistisch.

„Der Mäßige soll in mäßiger Position bleiben, es dürfen nicht Hochwertige neben Idioten stehen, wie in unserer Demokratie. Sie ist überhaupt fehlerhaft und schwach und vegetiert nur in friedlichen Verhältnissen, die sie nicht selber geschaffen hat.

Demokratie ist gegen die Natur. Die Verbesserung des Menschen ist nur skrupellos zu erreichen. Man muß die Untauglichen unschädlich machen. Ein Führer muß brutal sein, auch das ist eine Qualifikation. Daß sie in die falsche Richtung geht, wäre eben das Risiko." (m 16 O)

Des Gesetz der Rasse ist stärker als jedes andere Gesetz. Ein Volk, das nicht stark genug ist, sich durchzusetzen, muß untergehen. Das deutsche Volk hat das Ziel Hitlers nicht verstanden, es war zu stark vorbelastet. Das Judenproblem ist zu spät gelöst worden.

Im Zuge des Krieges, als die Endlösung auf-15) trat, gab es nur noch die Möglichkeit der allgemeinen Vernichtung.

Wir baruchen eine Diktatur in einem rassisch einheitlichen Staat. Frauen dürften nur wählen, wenn sie eine Prüfung abgelegt haben.

Ich werde mich der Partei anschließen.“

(m 17 B)

In diesen Jugendlichen schlägt die vielberufene Skepsis um in rabiate Handgreiflichkeit im Banne einer oppositionellen Ideologie. Für diese würden sie sich zur Verfügung stellen.

Ihr Anteil ist sehr gering: 1— 3 Prozent, wenn sie auch nicht leicht zu erfassen sind.

Zur Bildungsaufgabe an den beiden letzten Habitustypen muß bemerkt werden, daß fast jeder Jugendliche, der ihnen zuzurechnen ist — nach Maßgabe der Monographien —, unter persönlichen Belastungen und Beeinträchtigungen leidet:

Unruhe oder kleinbürgerliche Enge daheim, ein deklassierter, ein vorzeitig pensionierter, ein unzufriedener nörgelnder, ein völlig desinteressierter oder resignierter Vater bzw. Stiefvater, eine nervöse, eine kränkliche, eine tyrannische Mutter oder Stiefmutter, eigene körperliche Handicaps (Leiden, Kurzsichtigkeit, Überlänge, Kleinwuchs, schwer zu bändigende Vitalität) und vor allem aus Begabungs-oder Milieugründen unerfüllbare Berufswünsche. Diese beiden Typen umfassen relativ viele Einzelkinder sowie Vater-bzw. Mutterwaisen und Kinder aus geschiedenen Ehen. Von diesen Jugendlichen werden offenbar individuelle Lebensmängel auf die Ebene des Weltanschaulichen und Politischen hinauftransponiert. Deshalb wird der Erzieher sich zuerst jener Belastungen annehmen, sie durch ein Vertrauensverhältnis auflockern müssen, bevor er die politisch-weltanschaulichen Positionen dieser Jugendlichen angeht. Er muß den Jugendlichen zunächst persönlich zu helfen versuchen, um ihre Gedanken durch eine primär sachliche Auseinandersetzung nicht zu zementieren. Er sollte diese ernst nehmen, ohne sich von ihnen imponieren oder erschüttern zu lassen: Skepsis ist nichts Neues, Negatives überbelichten längst nicht mehr originell, manche verlästerten Kompromisse sind große produktive Leistungen usf. usf. Der Erzieher wird in den Skeptischen und Destruktiven lebhafte Gesprächspartner finden, „Hechte im Karpfenteich" einer trägen Schulklasse. Es stecken Kräfte in diesen Jugendlichen, die bedenklich fehl gehen und in der Gesellschaft Rache für individuelle Benachteiligungen üben — oder aber auch in positives Engagement einmünden könnten. Die Charakterisierung der politischen Habitustypen läßt sich abrunden an Hand zweier Probleme der politischen Einstellung: der soge-nannten autoritären, besser autokratischen Tendenz — und dem Nationalgefühl.

Eine autokratische Tendenz (zur gelenkten Demokratie, Präsidialdemokratie, Managerdemokratie) ist bei etwa 10— 20 Prozent der Jugendlichen festzustellen; allerdings birgt sie recht verschiedene Komponenten von unterschiedlichem Niveau in sich:

Es gibt einen reaktionären, kleinbürgerlichen Autokratismus, der rundweg „denen da oben", den großen Männern, die Sorge für Ruhe und Ordnung, für eine stationäre Belance in Politik und Gesellschaft, für Wohlstand und Frieden zuweist — und zwar unter den Indifferenten (sofern sie sich zu solchen Tendenzen bekennen). Und es gibt eine mehr intellektuelle Reserve gegenüber dem Postulat des Mitwissens und Mitwirkens aller: Im undurchsichtigen Netzwerk komplizierter Interdependenzen ruft man nach den professionellen Managern, die allein noch das politische Getriebe durchschauen und lenken könnten — besonders in Atomkriegsgefahr. Dieser modernen Spielform von Autorität begegnet man unter den Interessierten (soweit sie einer solchen Tendenz zuneigen).

Und es gibt einen zeitlosen Autoritarismus bei manchen Engagierten, etwa unter dem Motto: Person contra Betrieb. Diese Jugendlichen wünschen sich gerade in Anbetracht des vielmaschigen, grenzenlosen Geflechtes politischer Handlungen eine durchsichtige, personalisierte Verantwortung in der Hand weniger bekannter Persönlichkeiten, die eine große politische Konzeption mit einem würdigen politischen Stil zu verbinden und durchzusetzen wissen. Sie nehmen Zuflucht vor der anonymen Unfaßbarkeit politischen Schicksals nicht zum Helden, wohl aber zur charismatischen Persönlichkeit.

über die Existenz eines Nationalgefühls unter dieser Jugend gibt die Repräsentativerhebung Aufschluß. Den zweitausend Befragten sind drei Sätze zu gestufter Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt worden. Sie lauten:

Achte jedermanns Vaterland, aber das deinige liebel Sicherheit und Frieden findet der einzelne nur in einer größeren Gemeinschaft der Völker. Privates Glück ist wichtiger als weitgesteckte Ziele.

Dabei hat der erste Satz weitaus die stärkste Zustimmung gefunden. Was sich darin äußert, läßt sich durch die monographische Untersuchung aufgliedern in drei qualitativ unterschiedliche Rangstufen:

1. Man begegnet einem schlichten, restaurativen Prestige-, Macht-, Erfolgsnationalismus — unter den Indifferenten (sofern sie dergleichen äußern).

2. Man trifft auf ein zeitloses Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen Volk als Kultur-und Geschichtsgemeinschaft, aus der man sich nicht lösen kann und will — bei vielen Interessierten.

„Ich bin froh, daß ich deutsch bin. Ich fühle mich hier ganz wohl und würde mein Vaterland jederzeit verteidigen. Generationenlang waren wir Deutsche. Da gehört man dazu." (w 20 F)

Man spricht nicht von Ehre, Treue, Opfer — aber man meint verläßlich Solidarität. Das ist keineswegs Nationalismus, etwa gar ein chauvinistischer oder hegemonialer oder militaristischer Nationalismus, sondern vielmehr ein selbstverständliches, wohltemperiertes, selbst-kritisches Beharren auf einem Lebensfundament und Lebenswert, den man nicht preisgeben möchte. Am Ende einer längeren Abhandlung über die Berechtigung oder Antiquiertheit von Nationalgefühl schreibt ein Interessierter typisch für seinen Habitus:

...... so gehe ich halb schüchtern, halb trotzig durch Deutschland und seufze: wir Deutschen! ” (m 19 M)

3. Und man spürt — überraschend und unerwartet — ein neuartiges Nationalgefühl bei vielen Engagierten, das aus der Frage nach der Kollektivschuld, nach einer kollektiven Mitverantwortung auch der jungen Generation für die Greuel der NS-Zeit erwächst.

„Selbstverständlich tragen wir als junge Generation mit an der Verantwortung auch für Gewesenes. Wir stehen mit im geschichtlichen Zusammenhang. ” (w 19 O)

„Die junge Generation hat auch Verantwortung tür das, was geschehen ist, weil eben die Grausamkeiten von Deutschen begangen wurden Ich fühle eine große Scham wegen dieser Dinge." (m 18 M)

Diese Jugendlichen haben ein waches Empfinden dafür, daß sie unwiderruflich und unauswechselbar teilhaben an der Geschichte ihres Volkes. „Unser Volk hat sich schuldig gemacht. Aber es ist unser Volk." Merkwürdig häufig gebrauchen sie dabei den Ausdruck „wir" und nicht „unsere Eltern", „die Erwachsenen", „die Politiker", „die Nazis" — nein, sie sagen „wir", „wir als Deutsche". Dabei wird von manchen eine bestechende Doppelrecbnung aufgemacht:

„Wir sind stolz auf die großen Taten unseres Volkes, mit denen wir persönlich nichts zu tun hatten. So müssen wir auch für die Schande einstehen.“ (m 16 B)

Solche Stimmen klingen ganz und gar nicht nach selbstgefälligem Festhalten an einem „Volkscharakter", sie beziehen sich gerade auf Gesinnungswandel und Wiedergutmachung und begreifen Volk als Träger des noch nicht Gewesenen. Sie hoffen — völlig unideologisch —, „wir Deutschen" könnten geläutert und entsühnt und im Verein mit anderen Völkern zum Mitträger neuer politischer Konzeptionen werden.

Aus der vorgelegten Typologie politischer Anteilnahme und Meinungsbildung erhält man m. E. ein reich gegliedertes, detailliertes und für Bildungsbemühungen brauchbares Bild der heutigen Jugend in Westdeutschland und kann daraus zudem einige allgemeine Einsichten gewinnen: 1. Die obligate Schlußfrage, was man denn von dieser Generation erwarten darf, ob man optimistisch oder pessimistisch sein soll, ob man sie politisch positiv oder negativ einschätzen muß, — läßt sich nur polytypologisch beantworten, indem man den oben erwähnten proportionalen Anteil der politischen Habitus-typen (12 0/o Engagierte — 34 0/o Interessierte — 46 °/o Indifferente — 8 0/o Skeptische und Destruktive) im Auge behält, diese (oder eine ähnliche) Typologie qualitativ und quantitativ noch gründlicher absichert und seine weitere Aufmerksamkeit der Typendynamik, d. h.der Ausstrahlung und Auswirkung der verschiede-den Typen untereinander und auf die ganze Generation widmet.

2. Die Frage, was nun neu und einzigartig gerade an dieser Jugendgeneration sei, läßt sich nicht durch die Gegenüberstellung von universellen Kennzeichen (lebendig — schweigsam — skeptisch — fügsam usf. usf.) beantworten. Wohl aber kann man — für die Zukunft — gleichsam längsgestreifte Vergleiche vorbereiten, das heißt z. B. die Engagierten von heute mit den Engagierten von übermorgen vergleichen, die Indifferenten von heute mit den Indifferenten des nächsten Jahrzehnts usw. in ihrer vermutlich veränderlichen Proportion und Nuancierung. Wenn man Anteil, Zusammensetzung, Gedankengut, Aktivität und Ausstrahlung solcher Habitustypen über eine längere Zeit verfolgen könnte, ließen sich sinnvolle Feststellungen über den Wandel der Generationen versuchen.

3. Die typisierbare Mannigfalt der Einstellungen innerhalb ein-und derselben Generation lehrt sicherlich: Eine Generation ist keineswegs eine Herde mit einem Trend, sondern viel eher eine complexio oppositorum mit recht unterschiedlichen und gegensätzlichen Einstellungen. Die Mentalität von Menschen gleichen Jahrganges auf einen Nenner bringen, aus einer Wurzel herleiten, unter ein allgemein gültiges Gesetz stellen, und in ein voraus determiniertes und uniformiertes Fatum hineinschicken zu wollen, das gehört wohl zu den nicht mehr gültigen wissenschaftlichen Manieren des 19. Jahrhunderts. Davon abgesehen: gerade für diese Generation scheint es typisch zu sein, daß sie ihre Generationsrolle transzendiert, daß sie ein historisch umgrenztes „Generationschicksal" gar nicht erlebt und nicht leben will. Sie geriert sich nicht in historischer Kostümierung, lebt nicht in chronologischer Positur als die Generation von 1960, sondern sie lebt viel schlichter und unmittelbarer präsentisch aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein — nicht in „ihre" Zukunft; das wäre ihr zu provinziell und historistisch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik, Neuwied 1963, S. 153.

  2. W. Jaide, Eine neue Generation?, München 1961.

  3. Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik, S. 63— 81

  4. Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957.

  5. Die Jugend und die Welt, in STUDIUM GENE-RALE, IV, 1951, 10.

  6. Student und Politik, Neuwied 1961.

  7. Vgl Jaide, Aus empirischen Untersuchungen über Vorbilder heutiger Jugendlicher, in: Festschrift für Charlotte Bühler, Gegenwartsprobleme der Entwicklungspsychologie, Göttingen 1963.

  8. Wenn hier Aussagen von Jugendlichen zitiert werden, so können sie natürlich nichts beweisen, sondern nur illustrieren. Als Selbstzeugnisse der Jugendlichen sollen sie deren-Sadie authentisch vertreten und Mißverständnissen vorbeugen. Sie sind nicht danach ausgewählt, wie „schön" druckreif sie klingen, sondern wieweit sie glaubwürdig und wesentlich sind für den betreffenden Jugendlichen sowie kennzeichnend für seinen Typus. Die beigefügten Signaturen bedeuten:

  9. Siehe D Riesman, R. Denney, N. Glazer, Die einsame Masse, Hamburg 1958.

  10. Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik, S 153 u 55— 62.

  11. Vgl Habermas a a O.; Infratest, Jugend und Politik. Bd. 1 u II. München 1962; Berliner Jugend, Institut für angewandte Sozialwissenscbaften, Bad Godesberg 1962

  12. Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957.

  13. A. a. O.

  14. A. a. O.

  15. Jaide, Eine neue Generation?, München 1961.

  16. A. a. O.

  17. Für die offen gebliebenen Fragen sei verwiesen auf: W. Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik, Neuwied 1963, 174 S.

Weitere Inhalte

Walter Jaide, Dr. phil., Professor für Psychologie, Rektor der Pädagogischen Hochschule Hannover, geb. 10. Mai 1911 in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Berufswahl, München 1961; Eine neue Generation?, München 1961; Das Verhältnis der Jugend zur Politik, Neuwied 1963; viele Aufsätze zur Kinder-und Jugendpsychologie in Zeitschriften.