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Entwicklungsländer in der Entscheidung 2. Teil | APuZ 14/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1964 Entwicklungsländer in der Entscheidung 2. Teil

Entwicklungsländer in der Entscheidung 2. Teil

Hermann M. Görgen

IV. Das Hungerproblem

I. II. III. IV. V. INHALT Was ist ein Entwicklungsland? Die drei . Blöcke" Die Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsländern Das Hungerproblem Das Ringen um Leitbilder 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. 5. 1. 2. 3. l. 2. 3. 4. 5. 6. der letzten Ausgabe Sind die Bandungstaaten eine Einheit? Ist der Osten eine Einheit?

Ist der Westen eine Einheit? Westliche Außenpolitik Östliche Außenpolitik „Koexistenz" und Entwicklungsländer Die drei Formen der Bündnispolitik Außenhandelspolitik Inhalt dieser Ausgabe Bevölkerungsexᅩछꊐށ?

Die Entwicklungsländer wissen aus Erfahrung, daß die von Roosevelt am 6. Januar 1941 verkündeten »Vier atlantischen Freiheiten" nur als Ganzes verwirklicht werden können. Die vierte — die Freiheit von Not — ermöglicht erst die Freiheit der Rede, der Religion und die Freiheit von Furcht. Die Partner und Träger des West-Ost-Konflikts sind jedoch in den Augen der Entwicklungsländer reiche Länder, und zwar auf beiden Seiten. Der wahre Konflikt der Weltpolitik der Gegenwart erscheint den Entwicklungsländern weit einleuchtender in der Formel: Nord-Süd-Konflikt, „hie reiche— hie arme Länder". „Kapitalismus" und „Kommunismus" werden von ihnen unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob sie, wie sie und in welcher Zeit sie das Hungerproblem zu lösen vermögen. Westliche und östliche Ideologien haben die meisten Entwicklungsländer nicht durchdringen und überzeugen können. Sie erscheinen auf dem Hintergrund des Hungerproblems als lebens-und wesensfremd. Selbst wenn die westlichen Ideale den Entwicklungsländern einleuchten und sie im kommunistischen Totalitarismus keine Rezepte für ihre Probleme, keine Hoffnung für ihre Zukunft finden sollten, bleibt das spanische Sprichwort gültig: „Hambre e frio entregan al hombre a su enemigo", das heißt „Hunger und Kälte liefsrn den Menschen seinem eigenen Feinde aus".

Welt Afrika Asien Australien und Ozeanien Europa und Sowjetunion Mittel-und Südamerika Nordamerika 1 550 120 857 423 6 63 81 ’/o 100 7, 7 55, 3 0, 4 27, 3 4, 1 5, 2 1 907 147 1 020 10 505 99 126 100 7, 7 53, 5 0, 5 26, 5 5, 2 6, 6 3 171 272 1 790 16 661 223 209 100 8, 5 56, 3 0, 6 20, 9 7, 1 6, 7 3 828 303 2 210 21 751 303 240 100 7, 9 57, 8 0, 5 19, 7 7, 8 6, 3 6 267 517 3 870 29 947 592 312 100 8, 2 61, 8 0, 5 15, 1 9, 4 5, 0 o/o 1900 Absolute Zahlen 1925 Absolute Zahlen (i n 1963 Absolute ’/o Zahlen Mi￉웨छꊐށ?

Die Entwicklungsländer stehen in der Entscheidung gegen Hunger, Krankheit und Elend. Den West-Ost-Konflikt nutzen und verstehen sie, soweit er in dieser Entscheidung Vorteile bringt. In einer allerdings simplifizierenden und daher übertreibenden, aber doch sehr eindrucksvollen Kritik an der deutschen Entwicklungspolitik hat der ehemalige indische Botschafter in Bonn, Badr-ud-Din Tyabji, anläßlich seines Abschieds die Deutschen vor einem egozentrischen Denken gewarnt. Während sie für Berlin Hilfe erbäten, würden die Probleme Kalkuttas kaum einen Widerhall finden. „Man bedenke dabei, daß in Kalkutta während des letzten Krieges zwei Millionen Menschen ver-hungert sind, daß es dort ein Flüchtlingsproblem gibt, neben dem das in Berlin, für Inder wenigstens, gering erscheint." 1. die Bevölkerungsexplosion Wie ist das Hungerproblem entstanden? Hat es schon immer hungernde Entwicklungsländer gegeben? Hat der West-Ost-Konflikt die Probleme der Entwicklungsländer erst bloßgeleqt? Warum greift das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Entwicklung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gerade heute so stark in die weltpolitische Argumentation ein?

Steinkohle (Mio. Tonnen) 29, 1 429, 0 fast 15 mal mehr Naphtha (Mio. Tonnen) 9, 1 83, 5 über 9 mal mehr Roheisen (Mio. Tonnen) 4, 2 35, 8 fast 9 mal mehr Stahl (Mio. Tonnen) 4, 2 48, 6 fast 12 mal mehr Walzeisen (Mio. Tonnen) 3, 537, 8 über 10 mal mehr Zement (Mio. Tonnen) 1, 722, 5 über 13 mal mehr Elektr. Energie (Kilowattstd.) 2, 0 192, 0 über 96 mal mehr Glovinskyj stellt diesen Zahlen die Verbraucbsgüterproduktion gegenüber, die folgendes Bild ergibt 187): Baumwollgewebe (Mio. Meter) Wollgewebe (Mio. M￟닰छꊐށ?

Die moderne Problematik der Entwicklungshilfe ist vor allem durch die demographische Explosion entstanden, die nach dem spanischen Sozialforscher Brugarola „das revolutionärste Ereignis der ganzen Menschheitsgeschichte" genannt werden muß.

Wir arbeiten mit Schätzungen, die nur als annähernde Werte gelten können. Dies bezieht sich sowohl auf Schätzungen der Vergangenheit, da es noch keine Volkszählungen im modernen Sinne gab, als auch für Zukunftsprojektionen, weil die Statistiken zahlreicher Länder den Anforderungen nicht entsprechen. Gewiß ist sich „der größte Teil der Bevölkerungswissenschaftler der Welt* heute darin einig, daß es eine Gesetzmäßigkeit der Bevölkerungsentwicklung gibt und somit das Anwachsen der Bevölkerung „mit großer Sicherheit" vorausgesagt werden kann 9. Indes steht und fällt die Berechnung mit der Zuverlässigkeit der Statistiken über Geburten-und Sterberaten.

Anderseits sind die Statistiker der UN bisher nur insofern korrigiert worden, als sie eine zu geringe Bevölkerungszunahme angenommen hatten. So hatte die 1961 abgeschlossene Welt-volkszählung der Vereinten Nationen für Asien rund 100 Millionen Menschen mehr ergeben, als in den vorausgegangenen Schätzungen errechnet worden waren, d. h., man hatte sich um eine Bevölkerungszahl, die der Deutschlands und Frankreichs zusammen entsprach, „geirrt*.

Im gleichen Jahr 1958, in dem Fritz Baades schon zitierte wertvolle und anerkannte Studie über die Weltenergiewirtschaft erschien, in der der Verfasser „mit großer Sicherheit“ die Bevölkerungszahl der Welt für das Jahr 2000 auf 5 Milliarden Menschen voraussagte, errechneten die UN-Experten für das gleiche Jahr 6, 267 Milliarden, immerhin ein Unterschied von 1, 267 Milliarden, der mehr als das Doppelte der Einwohnerzahl Europas (einschließlich der UdSSR) im Jahre 1950 (574 Millionen) ausmacht.

Selbstverständlich hat Baade „richtig" gerechnet, zitiert und sich auf solide Unterlagen gestützt. Man darf annehmen, daß diese aus den Anfängen der fünfziger Jahre stammten. Selbst dann ist der Unterschied so groß, daß sich Mißtrauen gegenüber den Statistiken bilden muß. Der erste indische Fünfjahresplan sah vor und erzielte eine Steigerung des Volkseinkommens um absolut 10°/0. Jedoch wuchs im gleichen Zeitraum die Bevölkerung um 10 °/o, so daß die volkswirtschaftlich als gut zu bezeichnende Wachstumsrate keine Besserung des Lebensstandards erreichte. Durch Maßnahmen der Entwicklungspolitik wurden von 1952 bis 1962 6, 5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 80 Millionen Menschen zu-nahm

Um zu begreifen, mit welchen Tatsachen Entscheidungen auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik in den Entwicklungsländern zu rechnen haben, veröffentlichen wir nachstehend die Berechnung der UN-Statistiker über die Entwicklung der Weltbevölkerung Die Zahlen für 1963 stammen von K. Witthauer, In der nachstehenden Tabelle werden die auf Grund der gleichen Studien der Vereinten Nationen errechneten Bevölkerungsprozentanteile der Erdteile für die Jahre 1900, 1925, 1950, 1975 und 2000 wiedergegeben, wobei für die Projektion 1975— 2000 Durchschnittssätze angenommen wurden:

Eine Analyse dieser Statistik ergibt u. a. folgendes:

Von 1900 bis 2000 wird sich die Weltbevölkerung rund vervierfachen.

Im gleichen Zeitraum nimmt die Bevölkerung Afrikas um rund das Viereinhalbfache zu, Nordamerikas um das Vierfache, Lateinamerikas um das Neuneinhalbfache, Asiens um rund das Viereinhalbfache, Europas einschließlich der Sowjetunion um das 2, 2fache und Ozeanien um rund das Fünfache.

Jährlich vermehrt sich die Weltbevölkerung derzeit um 55 bis 60 Millionen Einwohner, von denen etwa 16 Millionen Chinesen sind (zum Vergleich: Belgien zählte 1961 9 203 000, Portugal 9 250 000 Einwohner). Die jährliche Bevölkerungszunahme aufgeteilt nach Welt und Kontinenten bzw. Einzelstaaten zeigt 1963 folgendes Bild ,

Welt: 2 % Europa (ohne Sowjetunion) 0, 8 °/o Sowjetunion 1, 7 °/o USA 1, 8 •/• Asien 2, 2 0/0 Australien u. Ozeanien 2, 2 ’/o Afrika 2, 3 °/o Kanada 2, 6 °/o Lateinamerika 2, 7 ’/o Wir führen einige Vergleiche an, die die Statistik in biologische Relationen zwischen Europa und den übrigen Erdteilen übersetzen: Im Jahre 1900 war das Verhältnis der europäischen zur Weltbevölkerung etwa 1 : 4.

Im Jahre 1963 nur mehr etwa 1 : 4, 8. Im Jahre 2000 wird es etwa 1 : 6, 5 sein.

Im Jahre 1900 kamen auf 1 Europäer etwa 2 Asiaten.

Im Jahre 1963 waren es schon fast 3.

Im Jahre 2000 werden es 4, 5 Asiaten sein.

Im Jahre 1900 kam auf etwa 3, 5 Europäer 1 Afrikaner.

Im Jahre 1963 auf etwa 2, 8 Europäer 1 Afrikaner. Im Jahre 2000 wird auf etwa 1, 8 Europäer 1 Afrikaner kommen.

Im Jahre 1900 kam auf rund 6, 5 Europäer 1 Südamerikaner. * Im Jahre 1963 auf 3 Europäer 1 Südamerikaner.

Im Jahre 2000 wird das Verhältnis umschlagen und es wird auf 1, 6 Südamerikaner 1 Europäer kommen.

Im Jahre 1900 kamen 4 Europäer auf 1 Nord-amerikaner.

Im Jahre 1963 waren es noch rund 3 Europäer auf 1 Nordamerikaner.

Im Jahre 2000 werden 1, 9 Europäer auf 1 Nord-amerikaner kommen.

Während der absolute Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung des Jahres 2000 etwa 5 °/o über dem des Jahres 1900, der Asiens etwa 11 °/o über dem des Jahres 1900 liegen wird, wird der absolute Anteil Lateinamerikas etwa 30 °/o über dem des Jahres 1900 liegen. In der gleichen Zeit sinken die Anteile Nordamerikas sehr wenig und Europas einschließlich der UdSSR sehr stark, um etwa 45 °/o.

Nach — allerdings sehr prekären — Schätzungen der Statistiker hat die Menschheit bis Christi Geburt zweieinhalbtausend Jahre benötigt, um sich zu verdoppeln.

Von 1960 bis 2000 wird sie sich in einem Zeitraum von nur 40 Jahren verdoppeln.

Asien allein wird 1975 fast soviel Bewohner aufweisen, wie die ganze Welt 1950 (2 210 2 497 Mill.).

Heute leben in den Entwicklungsländern etwa 1, 9 Milliarden Menschen, in den übrigen Ländern 1, 1 Milliarden *

Zwei Drittel der Weltbevölkerung verfügen nur über ein Viertel der Nahrungsmittelweltproduktion, über etwa ein Sechstel der Industrieproduktion und über etwa ein Neuntel des vergleichbaren Einkommens der übrigen Länder.

Während im Durchschnitt für die Entwicklungsländer das Pro-Kopf-Einkommen pro Jahr 100 US-Dollar beträgt, verfügen die Einwohner der übrigen Länder pro Kopf pro Jahr über 970 US-Dollar. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Bundesrepublik liegt etwa bei DM 4 500, — pro Jahr, während es in manchen afrikanischen und asiatischen Ländern nur 1/30, nämlich DM 150, — pro Jahr ausmacht

Hinter diesen Zahlen verbergen sich andere, die in direkter Beziehung zur Bevölkerungsentwicklung zu sehen sind: jährlich verhungern etwa 25 bis 40 Millionen Menschen. Die jährlichen Säuglingssterblichkeitsziffern für je 1000 Lebendgeborene betrug für den Durchschnitt 1913— 1955 in Schweden 18, 2 USA 26, 9 Bundesrepublik 43, 5 Argentinien 63, 3 Malaia 82, 0 Chile 119, 0 Auf 740 Einwohner kam in der Bundesrepublik (1950— 1955) ein Arzt.

In Venezuela auf 1 900 Einwohner ein Arzt. In Brasi 0 Auf 740 Einwohner kam in der Bundesrepublik (1950— 1955) ein Arzt.

In Venezuela auf 1 900 Einwohner ein Arzt. In Brasilien auf 3 300 Einwohner ein Arzt. In Algerien auf 5 000 Einwohner ein Arzt. In Indien auf 5 700 Einwohner ein Arzt. In Nigeria auf 57 000 Einwohner ein Arzt. In Liberia auf 90 000 Einwohner ein Arzt. Im gleichen Zeitraum betrug die Lebenserwartung in den asiatischen Ländern Indien, Pakistan, Thailand ca. 35 Jahre Lateinamerika 40— 50 Jahre Bundesrepublik 67 Jahre Schweiz 70 Jahre 117). 6 Die Lebenserwartung von 35 Jahren gab es in Deutschland 1871 — 1880. Heute (1959/60) sind es 66, 6 Jahre bei Männern und 71, 9 Jahre bei Frauen 118).

Nochmals seien auf begründete Zweifel hingewiesen, die an einer fraglosen Beweiskraft der oben genannten Ziffern bestehen. Statistiken und Kriterien über das Hungerproblem bedürfen ständiger sorgfältiger Überprüfungen. Die bekannten, in fast alle Sprachen der Welt übersetzten Forschungen des brasilianischen Soziologen und heutigen brasilianischen Botschafters bei der Abrüstungsdelegation in Genf, Professor Josue de Castro, die immer wieder als Quelle herangezogen werden ’ 119), sind ebenso wie manche Forschungsergebnisse und Statistiken der FAQ nicht unangefochten geblieben. 2. Überbevölkerung und Hunger Fraglos stehen die Probleme der Überbevölkerung und des Hungers zueinander in teilur-sächlicher Beziehung. Man ist geneigt anzunehmen, daß der Hunger dort am größten ist, wo die Bevölkerungszunahme solche Ausmaße erreicht, daß die traditionellen Reserven und Lebensmittelproduktionen nicht mehr ausreichen. Aber die Forschungsergebnisse Josue de Castros über'die Hungergebiete der Welt haben bewiesen, daß Hunger, Krankheit und Elend nicht oder nur bedingt von der Bevölkerungsentwicklung oder den Bevölkerungszahlen abhängen Gewiß ist ein „Gleichgewicht zwischen Volkswirtschaft und Bevölkerungszahl“ erforderlich, das gestört wird, wenn Wirtschaftsräume zu dünn oder zu dicht besiedelt sind. Die Aufgabe lautet daher, die Besiedlung von Räumen nach ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten durchzuführen. Die Ursache der Unterentwicklung ist nicht die Bevölkerungsexplosion, sondern die wirtschaftliche Stagnation Fritz Baade hat nachgewiesen, daß der Nahrungsraum der Erde ausreicht, nur mit den heutigen technischen Kenntnissen „Nahrung, und zwar reichlich Nahrung, für jeden in absehbarer Zeit denkbaren Bevölkerungszuwachs zu schaffen“ Das Problem ist somit räumlich und technisch lösbar. Entwicklungsländer sind dünn und dicht besiedelt. Das Gleichgewicht zwischen der Wirtschaftskraft einer Region und der für ihre Dynamisierung notwendigen Bevölkerungszahl entscheidet über Hunger und Elend in dieser Region. Die demographische Explosion hat Europa gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Ausweitung des Nahrungsraumes und zu technischen Verbesserungen der Nahrungsmittelproduktion veranlaßt. In jenen Räumen der abendländischen Völker, in denen die industrielle Revolution stattfand, hat sich die Bevölkerung in den 150 Jahren nach Malthus verdreifacht, jedoch die allgemeine Güterproduktion verachtfacht und die Nahrungsmittel-produktion vervierfacht 0.

Die Bevölkerungsexplosion war also nicht die Ursache des Hungers und der Unterentwicklung, sondern der Anlaß zur Überwindung des Hungers und zur wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung Europas.

Bei sinkenden Sterberaten sind die hohen Geburtsquoten gleich geblieben. Während — nach Baade — England 180 Jahre benötigte, um die Sterberate von 35 auf 12 je 1000 zurückzuschrauben, ist durch die erfolgreiche Bekämpfung der Malaria die Sterblichkeitsrate in Ceylon von 1945— 1952 von 22 auf 12 je 1000 gesenkt worden. In Japan ging sie infolge der medizinischen Fortschritte und der Sozialhygiene von 25, 4 je 1000 im Jahre 1920 auf 8, 16 je 1000 im Jahre 1954 zurück 124“). Asien und Lateinamerika sind Entwicklungsgebiete. Asien ist überbevölkert, Lateinamerika dünn besiedelt, mit Ausnahme der karibischen Länder, unter denen wiederum Haiti mit fast 4 Millionen Einwohnern auf 27 750 Quadratkilometern beängstigend überbevölkert ist. In beiden Fällen entsteht der Hunger durch die Störung des wirtschaftlich-demographischen Gleichgewichts.

Die Problemkreise, innerhalb deren die Entwicklungsländer zu entscheiden haben und unter denen sie ihre Stellung im West-Ostkonflikt sehen, umfassen alle Gründe, die zu Hunger und Elend geführt haben: sinkende Agrarproduktion, geringes Pro-Kopf-Einkommen, niedriges Lebensniveau, geringe Industrialisierung, unzureichende Verwendung mechanischer Kraft, niedriger Bildungsstand, Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit. Ost und West stehen dem Problem der Bevölkerungsexplosion gleich fassungslos gegenüber. Die Frage der Geburtenregelung wird in Ost und West mit fast gleichen Argumenten und Gegenargumenten erörtert. Das Problem der Überbevölkerung ist von den industrialisierten Ländern selbst verursacht worden. Medikamente, Hygiene, Insektizide und andere zivilisatorische Maßnahmen haben zur Über-bevölkerung geführt.

Die Entwicklungsländer müssen mit dem Problem fertig werden. Zunächst stagniert die Geburtenquote in den Entwicklungsländer oder steigt an, so daß bei zunehmender Bevölkerungszahl die zur Verfügung stehende Nahrung pro Kopf mengen-und qualitätsmäßig abnimmt. Das Problem kann nur durch eine drastische Hebung des Entwicklungsniveaus, eine fortschreitende Industrialisierung auch der landwirtschaftlichen Produktion und die gegenseitige Anpassung von Wirtschaftsraum und Bevölkerungszahl gelöst werden „Industrialisierung und Urbanisierung ist auch ein Mittel, das auf weite Sicht eine Senkung der Geburtenquote auf einen Stand in Aussicht stellt, der der niedrigeren Sterbequote entspricht und dadurch das durch den plötzlichen Einbruch der modernen Hygiene gelöste biologische Gleichgewicht wiederherstellt Als Beispiel sei wieder auf Japan hingewiesen. Während die Zunahme der Bevölkerung im Jahre 1950 noch 17, 4% pro 1000 Einwohner und im Jahre 1955 nur noch 11, 30/0 je 1000 Einwohner betrug, hat man für das Jahr 1960 einen Bevölkerungszuwachs von 0, 3% je 1000 errechnet Natürlich gehören zu diesen Beispielen alle hochindustrialisierten Länder. Japan wird hier erwähnt, weil es das überzeugendste Beispiel der raschen Entwicklung eines farbigen Landes, eines Bandung-Staates auf der Grundlage eines „kapitalistischen" Wirtschaftssystems ist. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hat Japan in modellhafter Weise die wirtschaftlichen und sozialen Fundamente einer modernen Industriegesellschaft gelegt, Sozialreformen durchgeführt und ausländisches Kapital konstruktiv in sein Wirtschaftsleben einbezogen.

Die Probleme der Überbevölkerung und des Hungers zu erkennen und die Entwicklungspolitik als „weltweite Sozialpolitik" zu ihrer Lösung gezielt einzusetzen, ist eine Aufgabe, die der Westen in erster Linie auf Grund seiner christlich-humanistischen Tradition zu lösen haben wird.

Dem dienen entwicklungspolitische Gesamt-planungen, wie sie nur der Westen aufzuweisen hat. Bekämpfung von Übervölkerung und Hunger durch die Beseitigung der Ursachen und nicht der Symptome wird erstrebt

Der Hunger bedeutet eine Herausforderung an das sittliche Verantwortungsbewußtsein aller Kulturvölker. Hier ist die Forderung begründet, daß Rechts-und Liebestradition des Abendlandes ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen mögen. Eine Weltagrarpolitik tut not, deren Ziel darin besteht, eine sinngemäße und gerechte Verteilung der Nahrungsmittel und ihrer Produktionsstätten zu garantieren.

Überbevölkerung und Hunger sind Probleme der ganzen Völkerfamilie. Wissenschaft und Technik versichern, daß sie imstande seien, den Bevölkerungsdruck aufzufangen und die notwendigen Nahrungsmittel beizubringen. Eine globale Verantwortung verpflichtet Ost und West

Obschon auch die europäische und die nordamerikanische Geschichte des 19. und 20.

Jahrhunderts das Problem der plötzlichen Bevölkerungszunahme kennen, gibt es in ihr keine Parallelen zu dem Ausmaß der Bevölkerungsentwicklung von heute in den Entwicklungsländern und zu den besonderen Problemen, die damit gegeben sind. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es 23, 2 Millionen Nordamerikaner, 11 Millionen weniger als Franzosen, deren Bevölkerungszahl 34, 9 Millionen betrug. 1890 hingegen standen 62, 6 Millionen Nordamerikaner gegen 38, 3 Millionen Franzosen, und 1910 kamen die 92 Millionen Nordamerikaner der Bevölkerungszahl Frankreichs und Englands zusammen gleich 5.

Zur gleichen Zeit, da sich in Europa die Proletarier in den Industriezentren zusammenballten, strömten die Amerikaner in die riesigen Räume ihres menschenleeren Kontinents und schufen die Voraussetzungen für Massenproduktion und Massenumsatz in Industrie, Handel und Landwirtschaft.

Auch die europäische Bevölkerung ist von 1800 bis 1910 von 187, 3 Millionen auf 447, 5 Millionen und von 1910 bis 1930 auf rund 490 Millionen angestiegen. Unter schweren sozialen Erschütterungen hat die industrielle Revolution seit dem 18. Jahrhundert Umwälzungen im Wirtschaftsleben hervorgerufen, die schließlich zur industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, das heißt vom Agrar-zum Industriestaat, geführt haben. Auch hier hat der Bevölkerungsdruck zunächst Ausbeutung, Elend, Hunger, soziale Mißstände zur Folge gehabt. Aber durch die Industrie wurden neue Existenzmöglichkeiten geschaffen und durch Wissenschaft und Technik eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion ermöglicht. Wenn auch in den Entwicklungsländern von heute weit ungünstigere Voraussetzungen für die Bewältigung des Bevölkerungsdruckes bestehen als im europäischen Industriezeitalter, so sind die großen Ziele des zu beschreitenden Weges doch durch das europäische Vorbild aufgezeigt worden: Industrialisierung und Erhöhung der Agrarproduktion. Durch die Bevölkerungsexplosion sind die Sozialordnungen der Entwicklungsländer gesprengt worden. Die wirtschaftlichen Produktionsmethoden der Vergangenheit erlaubten keine angemessene Zunahme und die soziale Ordnung keine gerechte Verteilung des Sozialprodukts. Die überschaubaren Gebilde der Kolonialzeiten platzten nun aus allen Nähten.

Während sich die Bevölkerung der ganzen Welt von 1850 bis 1950 mehr als verdoppelte, hat sich in der gleichen Zeit die Bevölkerung Lateinamerikas verfünffacht Jahrhundertelang haben die von Sp niern und Portugiesen errichteten Gesellschaftsstrukturen mehr oder weniger gut funktioniert. Von der Familie bis zum Staat handelte es sich um kontrollierbare, berechenbare und statische Einheiten.

Die afrikanischen Kolonialverträge wurden mit Königen, Stammesfürsten und Häuptlingen abgeschlossen, deren Untertanen geschlossene Sozialgruppen darstellten. Die dringendsten Lebensnotwendigkeiten dieser Völker konnten in einer auf Eigenkonsum aufgebauten Wirtschaft unter bescheidenen Voraussetzungen befriedigt werden, zumal die Bedürfnisse der Menschen moderner Industriegesellschaften ihnen femgehalten wurden. Berechenbarkeit und Überschaubarkeit waren die Voraussetzungen des Funktionierens der Sozial-und Wirtschaftsstrukturen der Kolonialzeit.

Dies alles ist durch die Bevölkerungsexplosion illusorisch geworden. Sie hat nicht nur die Lebensmittelreserven und den Wohnraum, die Anbaufläche und die Arbeitsplätze beschränkt, sondern auch die erzieherischen, bildungsmäßigen und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die betroffenen Staaten als solche auf ein Mindestmaß zurückgeführt. Wenn auch die geistigen und soziologischen Befunde, auf die die Bevölkerungsexplosion traf, jeweils andere und voneinander grundlegend verschieden waren, so gelten ihre immanenten Gesetzmäßigkeiten für Lateinamerika, Afrika und Asien. Damit sind gemeinsame Forderungen und Entscheidungen für die Entwicklungsländer der drei Kontinente möglich geworden. 3. DIE BIOLOGISCHE RESERVE Die Einteilung der Weltbewohner nach den drei Gruppen Ost, West, Entwicklungsländer würde heute nach üblichen Schätzungen etwa je eine Milliarde Menschen für den Osten und die Entwicklungsländer und etwa 800 Millionen für den Westen erbringen. Auch diese Schätzungen sind mit jener Reserve zu betrachten, wie sie sich aus den grundsätzlichen Zweifeln über die Existenz eindeutig bestimmbarer Blöcke ergab. Auch hier gibt es große Unterschiede in den Schätzungen. Nimmt man die Gesamtzahl der Weltbewohner heute mit 2, 9 Milliarden an, wird auch folgende Aufteilung vertreten:

2 Milliarden = 69 °/o der Weltbevölkerung entfallen auf Entwicklungsländer, einschließlich der des Ostblocks, während 900 Millionen = 31 °/o (einschließlich Sowjetunion und europäische Satelliten) der Weltbevölkerung den Industrienationen angehören, von denen 21 0/0 = 600 Millionen im freien Westen leben

Welche Aufteilung immer auch vorgenommen werden mag, die schwächere biologische Reserve liegt auf Seiten des Westens und der hochindustrialisierten Länder. Die Entwicklungsvölker werden daher aus biologischen Gründen direkte Objekte der Weltpolitik, wobei sowohl die Nord-Süd-(reich-arm) als auch die politische Aufteilung Ost-West für den freien Westen Nachteile bringt.

Es kann Ost und West, Nord und Süd aus biologischen Gründen nicht gleichgültig sein, wohin die eine oder die zwei Milliarden von Menschen politisch tendieren, die in den Entwicklungsländern leben. Die industrialisierten Länder stehen außerdem vor der Tatsache, daß ihr Anteil an der Bevölkerung bis zum Jahre 2000 wesentlich zurückgehen wird. Von 27, 3 % Anteil der Weltbevölkerung im Jahre 1900 wird Europa, einschließlich Sowjetunion, auf 15, 1 0/0 Anteil im Jahre 2000 sinken. Diese biologischen Relationen veranlassen Hans Fleig zu der Auffassung, es bilde sich hier eine Interessenangleichung zwischen der Sowjetunion und dem freien Westen heraus, die „gemeinsamen Anliegen aller hochindustrialisierten Staaten, ob sie nun unter diesem oder jenem Gesellschaftssystem leben" Sowjetrussen und westliche Völker, „die weiße Rasse insgesamt", befänden sich im gleichen Boot. De Gaulle habe dieses in seiner Pressekonferenz vom 10. November 1959 „zum ersten Mal" gesagt. Die Bevölkerungsexplosion werde Gefahren mit sich bringen, „die sowohl uns wie die Sowjetrussen in den Abgrund reißen könnten". Beispiel sei China. Fleig folgert daraus, jede Antipolitik europäischer oder sowjetischer Provenienz sei bereits am Ende angelangt. Gemeinsame Aufgaben gemeinsam zu bewältigen werde eine „Lebensnotwendigkeit für alle weißen Völker" in der Welt von morgen sein

Das Problem der biologischen Reserven ist für das überleben der westlichen Lebensformen äußerst wichtig. Daher die Bedeutung, die Lateinamerika in einer westlichen Weltkonzeption zufällt. Die über 600 Millionen Latein-amerikaner im Jahre 2000 können ein kontinentales Gegengewicht auch im biologischen Bereich zu Rotchina schaffen, wenn es dem Westen gelingt, Lateinamerika in seinem Denk-und Wirkbereich zu erhalten. Zusammen mit Lateinamerika (9, 4 %) würde Europa einschließlich der Sowjetunion (15, 1 %) im Jahre 2000 noch mit 24, 5 % an der Weltbevölkerung partizipieren, nur mit 3 °/o weniger als im Jahre 1900 allein (27, 3 °/o). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Sowjetunion augenblicklich eine Jahreszunahme ihrer Bevölkerung von 1, 7 °/#verzeichnet, während das übrige Europa nur um 0, 8 % zunimmt.

Es kämpfen Ost und West um die politische Zukunftsentscheidung von Milliarden Menschen. Unberechenbar und unabsehbar wären die möglichen Folgen einheitlicher politischer Entscheidung einer einheitlichen, den hochindustrialisierten Ländern oder dem freien Westen feindlich gesinnten dritten Kraft. Die Veränderung des Kräfteverhältnisses im Menschenpotential kann für den Ausgang der heutigen weltpolitischen Auseinandersetzungen wesentliche Bedeutung haben.

Mao Tse-tung 1962: „Mag der kommende nukleare Krieg die chinesische Nation um 200 oder 300 Millionen an Zahl geringer machen. Weitere hundert Millionen Chinesen werden den dritten Weltkrieg überleben und das kommunistische Tatung (immerwährender Friede auf Erden) erreichen." Mao Tse-tung 1963: „Wir sind in der Überzahl, sie in der Minderzahl.“

Die bevölkerungspolitische Explosion bringt auch Gefahren für die Sowjetunion als Führungsmacht des Ostens, die sich gegen den chinesischen Druck verteidigen muß. Er macht sich nicht nur auf der ideologischen Ebene bemerkbar, sondern — wenn auch weniger offen zugegeben — auf machtpolitischem Gebiet. Die bevölkerungspolitische Problematik, die allen Entwicklungsländern eigen ist, verlagert sich vor allem durch den chinesischen Flankendruck auf die Sowjetunion in den Ostblock. Sibirien ist „mit seinen 12 Millionen Quadratkilometern und seiner geringen Bevölkerungsdichte bei nur 20 Millionen Einwohnern zum hauptsächlichsten Reibungspunkt der chinesisch-sowjetischen Beziehungen geworden" Schon sprechen die Chinesen von den „imperialistischen Raubverträgen', auf Grund deren sie 1858 und 1860 das Amur-und das Ussurigebiet an Rußland verloren haben. Zwar bringt die Industrialisierung Westsibiriens die Integration Ostsibiriens mit sich. Im sowjetischen Fernen Osten hingegen erheben die Chinesen Ansprüche territorialer Art. Die Meldungen über Grenzzwischenfälle häufen sich. Die Sowjetunion erhebt Anklage gegen Rotchina wegen Grenzverletzungen. In einer umfangreichen Untersuchung über die „wirtschaftliche Struktur der asiatischen Grenzgebiete der Sowjetunion" kommt die Neue Zürcher Zeitung zu der Schlußfolgerung: wenn es auch wenig wahrscheinlich sei, daß in absehbarer Zeit an der sowjetisch-chinesischen Grenze ein größerer bewaffneter Konflikt ausbrechen werde, so stehe es doch außer Zweifel, „daß der kalte Krieg dort bereits in vollem Gange ist. Er ist in diesem Raum vor allem ein Wirtschaftskrieg, bei dem die größeren Vorteile auf Seiten der Chinesen sind, die sich hier — anders als in Zentralasien — in einer von ihnen dicht besiedelten Grenzprovinz und nicht fern von ihren politischen und wirtschaftlichen Kraftzentren befinden. Sowjetfernost dagegen ist eine weit vorgeschobene, vorläufig noch schwach ausgebaute Stellung mit einer einzigen, mehrere tausend Kilometer langen Nachschublinie, nämlich der Transsibirischen Bahn".

Der sowjetische Ferne Osten, auf den die Chinesen Forderungen erheben, ist nach diesen Angaben 75 mal so groß wie die Schweiz, aber nur von 4, 9 Millionen Menschen bewohnt. Die riesigen Entfernungen und die klimatisch ungünstigen Bedingungen, die zu dauernden Überschwemmungen führten, verhindern eine intensive Erschließung. Nur wenn China sich an den Erschließungsplänen beteiligte, wäre ihre Verwirklichung möglich. Da Amur und Ussuri Grenzflüsse sind und der Nebenfluß Sungari auf chinesischem Gebiet liegt, können sowjetische Kolonisations-und Erschließungspläne, die den Bau von Stauseen und Wasserkraftwerken vorsahen, nicht durchgeführt werden. Was Chruschtschow schon 1955 in einer Ansprache an Jungkomsomolzen über den Fernen Osten nur andeutungsweise aus-sprach, hat heute in Machtpositionen und politisch-strategischen Plänen beiderseits der chinesisch-sowjetischen Grenze seinen Ausdruck gefunden: „Genossen, ich war kürzlich im Fernen Osten. Es ist ein überaus reiches Land, doch gibt es in ihm noch zu wenig Menschen; man muß es erschließen und zu festem Besitz machen. Wir müssen im Osten die menschenleeren Räume schneller in Besitz nehmen und uns auf die Dauer in ihnen niederlassen. Man muß dort Menschen fest verankern, das ist die Hauptsachei“ I

So erscheint der sowjetisch-chinesische Konflikt nicht mehr allein als ideologische Auseinandersetzung. Edward Crankshaw sieht in ihm vielmehr einen klassischen Machtkampf zwischen zwei großen Nationen, die, durch schwierige zwischenstaatliche Streitfragen veranlaßt, auch die Frage der Führung des internationalen Kommunismus in den Dienst machtpolitischer Aspirationen zu stellen sich gezwungen sehen

Die Sowjets bemühen sich, die Bildung eines asiatischen Bündnisses mit einem gewaltigen Menschenreservoir unter Führung Rotchinas zu verhindern Es würde die russische Konsolidierung in Asien gefährden und eine Expansion unmöglich machen.

So stellt sich das Problem der voraussichtlichen biologischen Reserven bis zum Jahre 2000 unter mehreren Gesichtspunkten dar, die es der simplifizierenden West-Ost-Konstellation entziehen.

Würden der Ostblock und die Entwicklungsländer eine geschlossene Aktionseinheit darstellen, so wäre der Westen biologisch hoffnungslos unterlegen. Dieser Berufung auf die biologischen Reserven hat Lenin 1923 mit prophetischen Worten Ausdruck gegeben: „Der Ausgang des Kampfes hängt in letzter Instanz davon ab, daß Rußland, Indien, China usw. die gigantische Mehrheit der Bevölkerung der Erde stellen. Gerade diese Mehrheit der Bevölkerung wird denn auch in den letzten Jahren mit ungewöhnlicher Schnelligkeit in den Kampf um ihre Befreiung hineingerissen, so daß es in diesem Sinne nicht die Spur eines Zweifels darüber geben kann, wie die endgültige Entscheidung des Weltkampfes ausfallen wird. In diesem Sinne ist der endgültige Sieg des Sozialismus vollständig und unbedingt gesichert."

Aber auch die biologischen Reserven Sowjetrußlands allein nehmen um das Doppelte im Vergleich zu den Reserven Westeuropas zu.

Anderseits können sich die industrialisierten Mächte ausschließlich der Sowjetunion gegenüber den Entwicklungsländern mit geringen biologischen Einbußen behaupten, falls Lateinamerika sich so rasch entwickelt, daß es in den Kreis der industrialisierten Länder im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte eintritt. Käme es in den Entwicklungsländern bis zum Jahre 2000 ohne eine Verbesserung der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse zu der vorausberechneten Bevölkerungsvermehrung, so würde das Jahr 2000 etwa 5 Milliarden Menschen im Elend gegenüber einer Milliarde Menschen im Wohlstand zu verzeichnen haben — eine bevölkerungspolitische Relation, die die gesamte Weltpolitik verändern müßte.

V. Das Ringen um Leitbilder

Welt Afrika Nord-

amerika Latein-

amerika Ozeanien Asien Europa 1900 100 7, 7 5, 2 4, 1 55, 3 27, 3 0, 4 1925 100 7, 7 6, 6 5, 2 53, 5 26, 5 0, 5 1950 100 8, 0 6, 7 6, 5 55, 2 23, 0 0, 5 1975 100 7, 9 6, 3 7, 9 57, 7 19, 6 0, 5 2000 100 8, 2 5, 0 9, 4 61, 8 15, 1 0, 5 Jahr u. UdSSR

1. DER „DEMONSTRATIONSEFFEKT"

Die beiden Weltkriege, die modernen Kommunikationsmittel und die Verkehrstechnik haben eine Annäherung nicht nur der führenden Schichten, sondern auch der Völker zueinander mit sich gebracht; sie ermöglichen den breiten Massen, die verschiedenen Lebensweisen kennenzulernen und Vergleiche anzustellen. Dadurch sind die Entwicklungsländer sich ihres Elends erst bewußt geworden. Es entwickelte sich ein neuartiges Interkommunikationssystem von Ideen, eine interkontinentale geistige Befruchtung, traditionellen die die Leitbilder des staatlichen und persönlichen Lebens erschütterte. Zugleich wurden Hoffnungen und Sehnsüchte geweckt, revolutionäre Forderungen motiviert, Ressentiments gegen einheimische und ausländische „Ausbeuter" erzeugt und der Fatalismus der gegebenen Ordnungen durchbrochen.

„Das Wichtigste ist, daß früher der indische oder chinesische Bauer oder Arbeiter nur den Lebensstandard seines Nachbarn kannte. Er wußte nicht, daß es möglich war, so zu leben wie die amerikanischen oder deutschen Bauern oder Arbeiter. Aber als er das erfahren hat, hat er sich die Frage gestellt: Warum können wir nicht auch leben wie die anderen? ”

Die Idee des „Fortschritts" als solchen haben die Entwicklungsländer erst durch das westliche Vorbild kennengelernt. West und Ost haben im Wettlauf um die bestmögliche Form des Fortschritts soziale und wirtschaftliche Ziele und Möglichkeiten aufgezeigt. „Wir haben sie damit gelehrt, daß materielles Elend nicht eine vom Schicksal auferlegte, nicht abwendbare Notwendigkeit ist, sondern etwas, das durch menschliches Handeln korrigiert werden kann."

Die Vergleichsmöglichkeiten stehen als mächtigster psychologisch-politischer Antrieb am Anfang der politischen Entscheidungen in den Entwicklungsländern.

Der Gouverneur der israelischen Notenbank, David Horowitz, weist — gestützt auf die reichen Erfahrungen seines Landes in der Entwicklungspolitik — auf die intensiven Vergleichsmöglichkeiten, d. h.den „Demonstrationseffekt“ und seinen Einfluß in den Entwicklungsländern hin Israel hat seit 1959 beachtliche Erfolge in allen Kontinenten auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik erzielt, weil es in 116 Ausbildungskursen (bis 1963) für über 3 800 Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika „positive Demonstrationseffekte" erzielen konnte. Etwa 1000 Fachleute aus den Gebieten der Medizin, Landwirtschaft, Erziehung, des Ingenieurwesens, der Wirtschaft und Verwaltung haben „positive Demonstrationseffekte“ in verschiedenen Ländern zu verzeichnen, in denen sie typisch israelische Erfahrungen, vor allem im Genossenschaftswesen, bei der Anlage von Zitrusplantagen und der Lösung von Bewässerungsproblemen übertrugen

Auch innerhalb des kommunistischen Lagers ist die Stellungnahme zur Frage der biologischen Reserven wesentlichen Schwankungen unterworfen. Nach Marx war Übervölkerung durch die Kapitalordnung verschuldet. Da es in einer sozialistischen Ordnung nur die „gerechte Verteilung" gebe, könne sie die Schwierigkeiten der Übervölkerung überwinden. Marx sah die Frage nicht unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten. In seiner Polemik gegen Ricardos Lohnlehre heißt es: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel zu ihrer eigenen relativen überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Bevölkerungsgesetz, wie in der Tat jede besondere historische Produktionsweise ihre besonderen historisch gültigen Bevölkerungsgesetze hat. Ein abstraktes Bevölkerungsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift."

An drei Tatbeständen hat die kommunistische Welt die Widersprüchlichkeit ihrer Doktrin oder zumindest ihres Verhaltens in dieser Frage bewiesen:

1. Ein explosives Bevölkerungswachstum mußte für die Jahrespläne gefährlich werden. So rückte man in der Praxis von Marx antimalthusianischen Lehren ab.

2. Die biologische Reserve wurde in ihrer Bedeutung für „den Endsieg der sozialistischen Gesellschaft" gesehen, was zur Bejahung und Förderung antimalthusianischer Maßnahmen in den Entwicklungsländern führte, die man politisch zu gewinnen hofft.

3. Der innere Gegensatz im kommunistischen Lager — Moskau-Peking — verwandelt auch das Problem derbiologischen Reserve, das nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der West-Ost-oder Nord-Süd-Konfrontation, sondern nunmehr auch der innerkommunistischen Spannungsfelder gesehen werden mußte. Bewußt wird die zahlenmäßige Überlegenheit Rotchinas ausgespielt.

Die Entwicklungsländer der freien Welt haben auf Grund täglicher Informationen, die auch den Analphabeten über die Massenmedien zukommen, die Möglichkeit, Konsumsteigerung und Besserung des Lebensstandards der höher entwickelten Völker zur Kenntnis zu nehmen. Demonstrierter Reichtum und Überfluß an Annehmlichkeiten des Lebens wecken nicht nur den Wunsch nach Besitz im jeweils traditionellen Sinn, nach Geld und Gold, Boden-besitz, Viehherden, landwirtschaftlichen Primärprodukten, sondern nach den durch Technik und Industrie geschaffenen Formen des Besitzes und Genusses im modernen volkswirtschaftlichen Sinne. „Das Sowjet-Vorbild heißt Amerika", stellt Erik von Kühnelt-Leddihn nach einer Beobachtungsspanne von 33 Jahren anläßlich einer Rußlandreise 1963 fest. Es sei zwar ein falsches Bild, nämlich das eines seelenlosen, pragmatischen, unsentimentalen, materialistischen, geschichts-und traditionslosen Amerika, das mit dem Nimbus des Sachlichen und Praktischen umgeben sei. „In Diskussionen werden von den Russen die Vereinigten Staaten immer wieder als Vergleichsbasis herangezogen. Auch in den Wirtschaftsstatistiken — sei es in Nachschlagewerken, in Diagrammen auf Ausstellungen oder mitten in einem friedlichen . Volkspark'auf Plakaten — fehlt der Vergleich mit den Produktionszahlen der Vereinigten Staaten nie. Manchmal sieht man einen plakatierten Uncle Sam, der sich ob der sowjetischen Fortschritte verzweifelt die Haare ausreißt oder die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Dieser gleichzeitige Anti-und Pro-Amerikanismus treibt die eigenartigsten Blüten, denn neben den Haßtiraden auf das amerikanische . Monopolkapital'werden amerikanische Ideen, Formen und Traditionen ständig nachgeahmt. Die Idee, einen Proletkult, eine . proletarische Kultur'zu schaffen, ist längst aufgegeben worden, und wenn man heute in ein Restaurant mit Musikkapelle geht, erlebt man eine Projektion Amerikas: eine Jazzband, amerikanische Tänze, amerikanische Weisen, ein ameri-kanischen Vorbildern nachgeahmter Kühlschrank gewonnen ist, „so haben wir damit nur (womöglich neben der Musikkapelle), die erste Etappe des kommunistischen Aufbaues Moden. Man sieht zum Fenster vollendet" 152). Die „Thesen zum Referat hinaus und sieht amerikanische Wolkenkratzer Genossen Chruschtschow auf dem (wenn auch mit Türmchen, die dem Kreml XXL Parteikongreß der KPdSU" sind ganz auf abgelauscht sind), man bemerkt Autos im amerikanischen Konkurrenzkampf mit der kapitalistischen Stil (manche davon Die „Thesen zum Referat hinaus und sieht amerikanische Wolkenkratzer Genossen Chruschtschow auf dem (wenn auch mit Türmchen, die dem Kreml XXL Parteikongreß der KPdSU" sind ganz auf abgelauscht sind), man bemerkt Autos im amerikanischen Konkurrenzkampf mit der kapitalistischen Stil (manche davon haargenau kopiert), ausgerichtet 153). Die „entscheidende man hört selbst amerikanische Laute, Etappe des Wettbewerbs mit der kapitalistischen der amerikanische Tourist führt zahlenmäßig Welt" steht bevor. Die „historische Aufgabe" unter den Ausländern. Und der Traum der kommunistischen Länder besteht der jungen Burschen ist ein amerikanischer darin, „die entwickeltsten kapitalistischen Länder oder ein amerikanischer Kugelschreiber." in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung 148) einzuholen und zu überholen" „In Aus den Reden der Sowjetführer spricht das den nächsten sieben Jahren“ (1959 bis 1965) ständige Bemühen, die USA im Wettbewerb soll das Entwicklungstempo der kapitalistischen einzuholen. Stalin stellte die These Länder um ein Mehrfaches übertroffen auf, daß sich die Sowjetunion auf die Dauer werden

nur behaupten könne, wenn sie die USA in Viel stärker lastet das Gefühl der Zweitrangigkeit Produktion überhole. Chruschtschow sieht auf Ländern, denen durch den „Demonstrationseffekt" die Möglichkeit, die Überlegenheit des der Abstand zu den hochindustrialisierten über das kapitalistische System Ländern in West und Ost zu beweisen 149). Die Sowjetunion will das Gefühl der Entlassung aus dem kolonialen Status der Zweitrangigkeit verlieren. Daher das in die Freiheit besonders stark zum Bewußtsein Bemühen, durch Konzentration der kommt. Die Revolution der unbefriedigten und industriellen Kraft auf einzelne Aspirationen nährt und erklärt den Aufstand Schwerpunkte, wie zum Beispiel die und die Anarchie in manchen Entwicklungsländern. die USA sofort zu überflügeln, wenn Erst jetzt erfahren viele von schon auf der breiten Front des wirtschaftlichen in vollem Umfang, was die Kolonien Gesamtwachstums das Ziel selbst nach für die Kolonialherren bedeutet haben. So sowjetischen Schätzungen erst in langen Fristen und vertieft der „Demonstrationseffekt' erreicht werden kann. Der „friedliche nicht selten den spontanen Haß gegen den Wettbewerb" soll nach Chruschtschows Meinung der aus der Kolonialgeschichte überkommen zeigen, „welches System lebensfähiger war. Die Unterentwicklung wird zur ist, welches System den Erwartungen der Völker der Weißen.

mehr entspricht und sowohl die materiellen den kommunistisch beherrschten Ländern als auch die geistigen Bedürfnisse der Völker das gesamte Informationswesen totalitär ausgiebiger befriedigen kann" 150). Immer gelenkt. Dies ermöglicht, für den Westen „negative erscheint dabei der Entwicklungsstand Demonstrationseffekte" durch gefälschte der westlichen Industrienationen als erstrebenswertes und verschleierte Statistiken zu erzeugen. Ziel, als Maßstab der Anstrengungen Die Drosselung des Konsums, das des „sozialistischen Lagers". Nach Chruschtschow die Senkung des Lebensstandards zugunsten wird die Sowjetunion die USA sowohl der Investitionen war im Ostblock einschließlich im absoluten Umfang der Produktion als der Sowjetunion und Chinas nur auch in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung möglich, weil der totalitäre Staat Publizistik bis etwa 1970 übertreffen 151). Aber selbst und Massenmedien völlig beherrschte wenn der wirtschaftliche Wettbewerb mit den 148und Vergleiche, die „Demonstrationseffekte'

-------------• hätten auslösen können, den Ostblockvölkern vorenthielt. Nicht einmal Reisen sowjetischer Bürger ins Ausland konnten den „Demonstrationseffekt“ erzielen. Joseph Novak hat dies in seinen Gesprächen mit russischen Menschen in erschütternder Weise erlebt Das Reiseprogramm einer sowjetischen Reisegesellschaft war nach der Schwarz-Weiß-Methode vororganisiert; alle „Elemente der objektiven Realität“ waren vorgeplant, auch jener Besuch in einem Pariser Nachtklub, an dessen Türe die sowjetischen Reisenden zurückgewiesen wurden, weil sie keinen Abendanzug trugen. Das war eingeplant. Es sollte der „negative Demonstrationseffekt" erzielt werden: Arbeiter werden in den kapitalistischen Ländern diskriminiert und zu den Vergnügungsstätten der Bourgeoisie nicht zugelassen. Der Bericht Novaks schließt mit dem Urteil eines polnischen Journalisten, der mit einer aus den USA zurückgekehrten sowjetischen Reisegesellschaft gesprochen hatte. „Diese Menschen waren ehrlich überzeugt, daß in den USA Armut und Ausbeutung herrschen, daß sich das Land mit Riesenschritten einer tödlichen Krise nähert und daß eine sich rasch ausbreitende faschistische Bewegung allen demokratischen Freiheiten ein Ende zu machen droht“.

Kühnelt-Leddihn hat 1963 erlebt, daß die Intouristbeamtin den Besuch der Redaktion einer Zeitschrift verwehren wollte, da dies nur nach offizieller Vorbereitung möglich sei. Auch ein Sowjetbürger könne nicht einfach eine Schriftleitung besuchen

Die Politiker der Entwicklungsländer begegnen dem „Demonstrationseffekt" täglich in ihren eigenen Ländern und sind ihm selbst täglich auf internationaler Ebene ausgesetzt. R. F. Behrendt hat darauf hingewiesen, daß die Forderung nach Entwicklung „nicht von dem objektiven oder von uns so empfundenen Grad des Elends" abhängt, sondern von der Nähe westlicher Vorbilder und Vergleichsmöglichkeiten Die Freiheit des Informationswesens — der Informationsträger und Informationsmittel —, die Freizügigkeit des Reisever-kehrs, Rede-und Meinungsfreiheit erlauben den Entwicklungsvölkern, die Vorzüge der Konsumsteigerung und des höheren Lebensstandards — bei anderen Völkern — mitzuerleben. Unter „Freiheit des Informationswesens“ wird nicht immer die Pressefreiheit im westlichen demokratischen Sinne verstanden. Der Sprung zur freiheitlichen Demokratie ist den Entwicklungsländern, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht gelungen. Indes liegt es im Interesse der neuen Eliten, auch wenn sie diktatorisch regieren, den Unterschied von arm und reich auf internationaler und nationaler Ebene nachdrücklich zu demonstrieren. Die „Freiheit des Vergleichs", die der eigenen Publizistik zugestanden wird, führt zu zwei Folgerungen: a) der allgemeinen Forderung nach Besserung des Lebensstandards, b) der konkreten Verdichtung solcher Forderungen zu Entwicklungsplänen, die in multi-und bilateralen Verhandlungen nunmehr als objektive Voraussetzungen für eine Entwicklungspolitik des betreffenden Landes erscheinen.

Die auf solchen Notwendigkeiten aufgebauten Forderungen der Politiker der Entwicklungsländer führen sodann zu Entwicklungshilfe durch Geberländer: eine bislang statische Wirtschaft soll dynamisiert werden. Mit ausländischen Investitionen werden Produktionszentren landwirtschaftlicher und industrieller Art, die als Modellfall gedacht sind, gegründet. Dabei werden häufig die modernsten Produktionsmethoden von den Geberländern angeboten und aufgebaut. Die Folge ist, daß der „Demonstrationseffekt“ nunmehr innerhalb der Entwicklungsländer wirkt. Der Gegensatz von arm und reich innerhalb der sich industrialisierenden Gesellschaft wird jedermann sichtbar. Der „Demonstrationseffekt" führt zur Radikalisierung der Innenpolitik und über sie wiederum zur Radikalisierung der Außenpolitik. Die soziale Unruhe orientiert sich nach Vor-und Leitbildern, die aus dem Uberfluß der Geberländer in das Elend der Entwicklungsvölker hineinprojiziert werden. Da es unmöglich ist, die Forderungen der Masse schnell und im gewünschten Umfang zu erfüllen, entscheiden sich ihre Führer oft zur Flucht in die Außenpolitik.

Der . Demonstrationseffekt" hatte vor allem zur Folge, daß sich die Maßstäbe für den Be-griff der Entwicklung in den Entwicklungsländern selbst verändert haben. Der westliche Entwicklungsbegriff wurde zum Maß aller Dinge. Die Beherrschung und Enträtselung der Natur durch die Technik, der rasche Aufbau einer Industriegesellschaft erschien als Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung. Industrialisierung wurde mit Entwicklung absolut gleichgesetzt. Die westlichen Maßstäbe von Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen, Lebensniveau und Arbeitsschutz, Verhältnis von Agrarwirtschaft und Industriewirtschaft wurden als Kriterien der „Entwicklung“ propagiert und von den Weltmächten und den internationalen Organisationen zu Programmen, Plänen und Motiven verdichtet. Die Entwicklungsländer selber wurden kaum darüber befragt, was denn in ihren Augen „Entwicklung" des eigenen Landes bedeute. Wer sich Entwicklungsrezepten der industrialisierten Länder verschloß, galt — manchmal in West und Ost — als „Reaktionär", auch wenn er mit dem Ziel der Umwandlung stagnierter Volkswirtschaften in dynamische durchaus einverstanden war.

Obschon sich die Prophezeiungen Karl Marx'nicht erfüllt und die hochindustrialisierten Länder den Kommunismus nicht angenommen oder sich ihm auch nur genähert haben, gelang es dem Marxismus-Leninismus, in die Entwicklungsländer einzudringen und bestehende gesellschaftliche Ordnungen zu erschüttern. Die meisten Entwicklungsländer haben die Voraussetzungen und Vorteile einer freien Marktwirtschaft nie bewußt erlebt und erfahren. Daher fehlt den zur Unabhängigkeit gelangten Ländern jene Führungsschicht, die den komplizierten Mechanismus einer freien Industriegesellschaft und ihrer marktwirtschaftlichen Spielregeln und Möglichkeiten beherrschte. Im Gegenteil, für sie war die „Marktwirtschaft“ das Instrument der kolonialen Unterdrücker, so wie der Frühkapitalismus auch für die einheimischen Arbeitskräfte das Werkzeug der Ausbeutung gewesen ist. Indien ist sogar durch den Wirtschaftskapitalismus des 19. Jahrhunderts erst ein unterentwickeltes Land geworden, nachdem es bis Anfang des 18. Jahrhunderts zu den höchstentwickelten gewerblichen Produktionsländern gehört hatte 3.

Unterentwickeltes Land bedeutet Kolonialland. „Ein Kolonialland ist ein Land mit möglichst vielen billigen Arbeitskräften, mit deren Hilfe möglichst viele billige Rohstoffe angebaut werden, die dann möglichst billig einem Industrieland zugeführt werden, ein Land, das sich im übrigen sorgfältig jeder eigenen Industrie enthält, damit es als Absatzgebiet für das betreffende oder die betreffenden Industrieländer gelten kann." Diese Definition ist überspitzt, sie vereinfacht und zeigt nur die halbe Wahrheit. Sie übersieht, daß die Kolonialmächte neben der Passivseite auch Aktivseiten ihres Wirkens aufzeigen können Trotzdem ist es erstaunlich und ein Zeichen bemerkenswerter volkswirtschaftlicher Reife im modernen Sinn, daß Indien angesichts mancher seiner Kolonialerfahrungen noch nicht in den kommunistischen Sog geraten ist. 2. die Faszination des Kommunismus Der Ostblock übt auf die meisten Entwicklungsländer, selbst im christlich geprägten Lateinamerika, eine faszinierende Wirkung aus. Alfons Dalma wehrt sich allerdings gegen die angebliche Faszination des Kommunismus

Die Sowjetmacht und der Einfluß ihrer Ideologie seien vorhanden. Aber der Kommunismus habe seine „frühere Aura wissenschaftlicher Erkenntnisse verloren; auch von der An-ziehungskraft der Utopie ist wenig geblieben“. Es existiere zuviel kommunistische Wirklichkeit, die nicht in Übereinstimmung mit der marxistischen Theorie stehe. Man solle daher mit dem „üblichen Gerede" aufhören, „welche geistigen Kräfte wir gegen den Kommunismus mobilisieren könnten“. Wir sollten vielmehr die machtpolitischen Ursachen seines Einflusses erforschen

Die Erforschung der kommunistischen Macht-politik führt indes geradewegs zur Faszination als Waste im politischen Krieg, den der Kommunismus gegen die westliche Welt vor allem in den Entwicklungsländern führt. Suzanne Labin ist ebenfalls der Meinung, man tue dem Kommunismus zuviel Ehre an, wenn man ihn heute noch als „Ideologie" ernst nähme. Kommunismus heute sei die totalitäre Weltmacht Sowjetunion, der die kommunistische Doktrin lediglich als Fassade diene, als Instrument der Mystifikation

Die Faszination, ausgeübt durch den Weltkommunismus auf Herzen und Geister der Menschen in Entwicklungsländern, ist eine Realität. Die Frage lautet nicht, ob sie in sich berechtigt, geistig und emotionell begründet ist. Die Frage lautet, ob sie als solche ausstrahlt, wirkt. Sie muß mit ja beantwortet werden. Die intellektuelle Einschüchterung, die dialektische Wendigkeit der Argumentation, die pseudoreligiöse Begeisterung sind die Waffen der kommunistischen Faszination. Sie wirkt in den Entwicklungsländern deshalb stärker, weil die Entlarvung der kommunistischen Ideologie hier schwieriger ist als in den wirtschaftlich und geistig hochentwickelten Zentren der westlichen Welt. In ihr ist die Faszination des Kommunismus als einerpolitischen Philosophie erloschen.

Woher kommt die Wirkung des Kommunismus auf die Entwicklungsländer? Die Sowjetunion, China und die Ostblockstaaten behaupten, der Kommunismus könne in kurzer Zeit die Entwicklungsländer auf eine hohe Stufe der industriellen Entwicklung bringen. Während der Kapitalismus in Agonie seine letzten Schlachten führe, beweise der „stürmische Fortschritt des sozialistischen Lagers“ die theoretische Richtigkeit und praktische Anwendbarkeit des Marxismus-Leninismus. Die Sowjetunion sei in 40 Jahren zur zweitgrößten Industriemacht der Welt aufgestiegen.

Was geflissentlich übersehen wird und leider den Entwicklungsvölkern vom Westen zu wenig gesagt und bewiesen wird, sind vier Tatsachen:

1. Als die Kommunisten die Macht in Rußland übernahmen, fanden sie im europäischen Teil des Landes beachtlich entwickelte Industrien vor. Gewiß hat sich die Sowjetunion im Vergleich zu 1913 vom agrarindustriellen in ein industrie-agrarisches Land verwandelt. Die wirtschaftlichen Erfolge der Sowjetwirtschaft sind unbestreitbar. Vor allem der Ausbau der Schwerindustrie wird den Entwicklungsländern als leuchtendes Vorbild hingestellt. Folgende statistische Angaben zeigen die Produktionsentwicklung Die Analyse dieser Statistik beweist, „daß das Ansteigen der Waren des Volksbedarfs während des sozialistischen Systems völlig unbedeutend, ja sogar gleich Null gewesen ist". Denn in den Zahlen von 1955 ist das Wachstum der Bevölkerung nicht berücksichtigt, so wie in den Zahlen von 1913 die Eigenproduktion von Leinen-und Wollgeweben, Schuhen und anderen Produkten, die in einer agrarindustriellen Wirtschaft in Hausproduktion erzeugt werden, nicht enthalten ist. Wenn man also schon das Rußland von 1913 als rückständig und unterentwickelt bezeichnet, ist der Zahlenspiegel 40 Jahre später, was die Konsumgüter betrifft, keineswegs ein Beweis für den Fortschritt.

Bedeutende Volkswirtschaftler meinen, Ruß-land hätte auch ohne den Bolschewismus die heutige Entwicklungsstufe erreicht. Die natürlichen Reichtümer des Landes begünstigten in hohem Maße den Aufbau einer Industriegesellschaft mit autarken Möglichkeiten. Die Sowjetunion besitzt große Reserven an Eisenerz, Kohle, Erdöl, Bauxit, Magnesium, Uran, Gold, Kupfer, Blei und Zink. Kohle, Wasser, Erdöl und Gas liefern gewaltige Energiequellen. Eine intelligente, energische, pflichtbewußte und fleißige Bevölkerung konnte aus diesen Schätzen blühende Industrien schaffen. Zu welchen Leistungen auch das vorbolschewistische Ruß-land auf diesem Gebiete fähig war, zeigt die Tatsache, daß während der 40 Jahre 1873 bis 1913 die Roheisenproduktion von 23, 2 Millionen Pud auf 283 Millionen Pud { 1 Pud = 16, 381 kg), also 12, 5 mal vermehrt wurde, während sie in den 40 Jahren der bolschewistischen Herrschaft (bis 1957) von 4, 2 Millionen auf 38 Millionen Tonnen, das heißt um das Neunfache, zugenommen hat 168). In 40 Jahren hat die Sowjetunion zwar die Industrialisierung des Landes durchgesetzt, den Preis hat die Bevölkerung durch Drosselung des Konsums bezahlen müssen, jene „Arbeiter und Bauern“, denen das sozialistische Paradies versprochen worden war.

Nur wenige der Entwicklungslände In 40 Jahren hat die Sowjetunion zwar die Industrialisierung des Landes durchgesetzt, den Preis hat die Bevölkerung durch Drosselung des Konsums bezahlen müssen, jene „Arbeiter und Bauern“, denen das sozialistische Paradies versprochen worden war.

Nur wenige der Entwicklungsländer befinden sich heute auf der agrar-industriellen Entwicklungsstufe Rußlands im Jahre 1913, als Sozial-reformen und ausländische Investitionen schon eine beachtliche Infrastruktur geschaffen hatten, die eine stetige Zuwachsrate des Brutto-

Sozialprodukts ermöglicht hätte. Es bestehen kaum historische oder aktuelle Ähnlichkeiten zwischen den Wirtschaftsstrukturen der meisten Entwicklungsländer und der Sowjetunion. „Die Sowjetunion kann mit gewisser Berechtigung als das entwickeltste der unterentwickelten Länder angesehen werden." 169)

Jedoch ist ihre Entwicklung keineswegs als Modell für die Planungen der meisten Entwicklungsländer geeignet.

2. Nicht nur die Ausgangsposition der Sowjetunion war verschieden von der der meisten Entwicklungsländer, auch die Industrialisierung als solche konnte rascher vor sich gehen, weil die Sowjetunion ohne Kosten und Wartezeiten die gesamten Industrieerfahrungen der kapitalistischen Welt nutzen konnte. England, Deutschland, Japan und die USA haben die schwierigen Phasen vom Früh-zum Hoch-kapitalismus durchlaufen müssen. Die Industrialisierung Englands dauerte über 100 Jahre, die Japans nur etwa 50 Jahre. Die Nachfahren konnten jeweils über die modernsten Erkenntnisse und Einrichtungen verfügen und die neuesten Produktionsmethoden benutzen. Kennet Boulding nennt dies den „nachgeahmten wirtschaftlichen Fortschritt" 170).

Fritz W. Meyer nennt die Berufung auf die Erfolge der Planwirtschaft, die angeblich in wenigen Jahrzehnten zum Erfolge führe, einen „Trugschluß ersten Ranges in jeder Hinsicht" 171). „Die heute wirtschaftlich hochentwickelten Länder der westlichen Welt haben bei ihrem Aufbau mit ungeheurem Aufwand den technischen Fortschritt entwickelt, den sich dann die Sowjetunion mühe-und kostenlos aneignen konnte, ebenso wie jedes jüngere Entwicklungsland in der Gegenwart."

172)

3. Die Industrialisierung wurde mit großen Opfern an Menschenleben, Kulturwerten und gesellschaftlichen Werten erkauft, ohne daß bis heute das Hauptziel einer jeden Volks-wirtschaft, die Hebung des Realeinkommens und das steigende Angebot von Konsumgütern, in der Sowjetunion auch nur annähernd erreicht worden wäre. Gewiß soll der Siebenjahresplan 1959— 1965 dem Ziel dienen, die „materiell-technische Basis des Kommunismus“ zu schaffen, „die entwickelten kapitalistischen Länder in der Produktion der gesellschaftlichen Arbeit, in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung zu übertreffen und den höchsten Lebensstandard der Welt zu sichern"

Es darf bezweifelt werden, ob der Sowjetführung bis 1965 gelingt, was ihr bisher nicht gelungen ist, den Lebensstandard der Bevölkerung tatsächlich im geplanten Ausmaß zu steigern. Dies würde bedeuten, daß die Sowjetunion erreichen müßte, die Produktion von Produktionsmitteln mit der von Konsumgütern zu harmonisieren. Die Faszination, die der Kommunismus auf die Entwicklungsländer ausübt, kann mit dem Hinweis auf die schweren Opfer, die das kommunistische System an Leben und Werten gefordert hat, gemildert werden.

Millionen von Menschenleben sind den kommunistischen Experimenten zum Opfer gefallen. Die Hungersnöte von 1921/22 und 1933/34 haben den Tod durch Hunger und Gewalt in der Sowjetunion heimisch werden lassen. Allein in der durch die Zwangskollektivierung 1933/34 heraufbeschworenen Hungerkatastrophe sind etwa 7, 2 Millionen Tote verzeichnet worden. Wenn man zu dem niedrigen Lebensstandard noch den Terror und die Konzentrationslager sowie die politische und geistige Unfreiheit zählt, wird auch den Entwicklungsländern die Fragwürdigkeit eines „Entwicklungsmodells“ klar werden, das Freiheit und Wohlstand für die eigene Bevölkerung in nunmehr 45 Jahren noch nicht zu schaffen vermocht hat.

4. Eine gewisse Faszination übt das kommunistische System auf Entwicklungsländer aus, weil es den politischen Befehl zur Quelle wirtschaftlicher Aktivität werden läßt. Es scheint ihnen, daß das Übergewicht der Politik über die Wirtschaft unkomplizierte und rasch funktionierende Wirtschaftsorganisationen zu schaffen imstande sei. Während es verhältnismäßig einfach ist, rein politische Probleme auch durch revolutionäre politische Entschlüsse rasch zu lösen, gibt es keine „Revolution der Wirtschaft" Die Wirtschaft hängt von den Menschen und materiellen Grundlagen ab. Der Wert der Produktion wird durch die Produktivität bestimmt. Die Erziehung zum Wirtschaftsmenschen einer Industriegesellschaft und die Organisation der für eine Volkswirtschaft notwendigen materiellen Voraussetzungen erfordern Zeit und Einsicht in die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge.

Umgekehrt verleiht die Autorität der wirtschaftlichen Planung den Trägern der öffentlichen Gewalt die umfassendste politische Macht über das Volk. Diese „einzigartige Machtfülle", die die Wirtschaftsplanung den Regierenden in die Hand gibt, erklärt — nach Fritz W. Meyer — „die Vorliebe der meisten Entwicklungsländer für die umfassende Wirtschaftsplanung" Innenpolitischer Widerstand wird erschwert, da es keine außerhalb der Planung liegende wirtschaftliche Macht-konzentration gibt. Die traditionelle Wirtschaft und Wirtschaftshierarchie indes sind zerstört, die soziale Autorität — häufig auch die religiöse, die die soziale begründete — wirkt nicht mehr oder nicht mehr nachhaltig.

So ist der Klassenkampf vom Beispiel und der Politik der hochindustrialisierten Länder der beiden Blöcke — aus jeweils anderen Gründen — in die Entwicklungsländer übertragen worden. Auf internationaler Ebene und innerhalb der nationalen Grenzen sehen diese sich mit dem West-Ost-Konflikt konfrontiert. Der Klassenkampf der Nationen und der Klassenkampf im Innern der Entwicklungsländer stehen in enger Beziehung zueinander. Die Proletarier, an die sich Karl Marx wandte, existieren im Westen nicht mehr oder nur in relativ geringer Zahl, in den Entwicklungsländern noch nicht oder in nur geringem Umfang. Sie sind durch die Landarbeitermassen der Entwicklungsländer ersetzt. Die Länder, an die Karl Marx dachte, sind der angeblichen Zwangsläufigkeit ihrer Entwicklung zum Kommunismus entron-nen. An ihre Stelle sind die Entwicklungsländer getreten, in denen die Verelendung einen Grad erreicht hat, der dem Kommunismus Einflußmöglichkeiten eröffnet Unter der Wucht des „Demonstrationseffektes" erscheinen die — in sich allerdings sehr stark differenzierten — Sozial-und Wirtschaftsordnungen der Entwicklungsländer als unzureichend und verantwortlich für Hunger, Not und Krankheit. Das erwachende politische Bewußtsein der Entwicklungsländer bildet die Ein-bruchstelle für den Kommunismus in allen Schattierungen. Damit schließt sich der Kreis: die Probleme der Innenpolitik reflektieren auf die weltpolitische Ebene. Globale Außenpolitik wird zur globalen Innenpolitik. 3. WER SCHAFFT DIE BESSERE WELT?

Der „Demonstrationseffekt" stellt die anhaltende Wechselwirkung zwischen dem Klassenkampf der Nationen und dem Klassenkampf im Innern, zwischen Ost und West, Nord und Süd her. Die Konfrontierung der Entwicklungsländer mit dem Ost-West-Konflikt erfolgt in allen Bereichen des sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens. Die Frage: wer schafft die bessere Welt? erfordert von den Entwicklungsländern umfassende Entscheidungen. Sie kann nicht vereinfachend in die Frage umgemünzt werden: wer garantiert das höhere Volkseinkommen? Die „bessere Welt", obwohl in sich ein unklares, je nach Kontinent, kultureller Entwicklungsstufe, klimatischen Umständen und wirtschaftlichen Voraussetzungen verschiedenartiges Ziel, erscheint in vielerlei Forderungen und Formulierungen, deren soziale und wirtschaftliche Tragweite oft nicht erkannt wird. Die „bessere Welt" ist in jedem Fall die Welt der anderen, der Russen, der Amerikaner und der Europäer oder manchmal auch der unmittelbaren Nachbarn. Die „bessere Welt" ist ein irrationales Ziel, aus irrationalem Aufbegehren entstanden und von sehr konkret rationalen Begründungen und Vorschlägen begleitet. Ordnungspolitische Vorstellungen für den gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens sind den meisten Entwicklungsländern zum ersten Mal zur Entscheidung vorgelegt. Ihre eigenen Wirtschatts-und Sozialordnungen sind durch Unausgeglichenheit, mangelnde Stabilität und „Ungerechtigkeit" im modernen sozial-politischen Sinn gekennzeichnet. Die Frage nach der „besseren Welt" gewinnt an Intensität, weil der Demonstrationseffekt den Entwicklungsvölkern nicht nur den jeweiligen Entwicklungsstand der Industrievölker, sondern auch ihren absoluten Entwicklungsfortschritt nahegebracht hat. Damit erscheint ihre eigene innere Entwicklung als relative Größe. Der Vergleich mit der Entwicklung der Industrievölker wird für die Entwicklungsvölker ständig ungünstiger, das Bild der „besseren Welt" indes ständig konturenreicher. Je rascher die wirtschaftliche Entwicklung der Industrievölker im Verhältnis zu der der Entwicklungsvölker vor sich geht, um so schärfer wird die Frage nach den Verfahrensweisen und Produktionsmethoden jener Länder erhoben, die ihre gesellschaftlichen Leitbilder in jeweils verschiedenartigen Fassungen als Lösungsmöglichkeiten anbieten.

Es erstreckt sich schließlich die Wirkung des Demonstrationseffektes auf die Leitbilder selbst. Nicht nur was ist, sondern was sein soll, nicht nur das bestehende Lebensniveau, sondern auch die zu erstrebenden Lebensnormen geraten in die Vergleichssphäre. Die „bessere Welt", über die die Entwicklungsländer eine Wahlentscheidung treffen wollen, soll Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, kulturelle Eigenprägung, politische Stabilität und Ausgeglichenheit beinhalten. Die Leitbilder der weltpolitischen Wirtschaftssysteme sollen den Beweis für die Qualität ihrer Gesellschaftsordnung und vor allem für ihre Anwendungsmöglichkeiten auf den jeweiligen Einzelfall eines Entwicklungslandes liefern.

Dabei erweist sich, daß auch Wohlstand und Gerechtigkeit in dieser Welt unteilbar geworden sind. Es gibt in Wirklichkeit keine unabhängige Außenpolitik, Sozialpolitik, Verteidigungspolitik und Wirtschaftspolitik mehr. Der Spielraum der Entscheidungsfreiheit ist wegen ihrer selbstzerstörerischen Folgen vor allem für die Führungsmächte außerordentlich eingeengt. Die politischen Entscheidungen lassen nur die Wahl zwischen verschiedenartigen Abhängigkeiten, für Große und Kleine. Da der Gebrauch der Macht nur noch innerhalb jener Grenzen möglich ist, die das militärische Gleichgewicht gezogen hat, sind die Entwicklungsländer trotz ihrer militärischen Schwäche in der Lage, machtpolitische Veränderungen innerhalb der Blöcke und zwischen ihnen zu beeinflussen. Dies geschieht vor allem durch Entscheidungen auf dem Gebiet der Sozial-und Wirtschaftspolitik, die imstande sind, außenpolitische Positionen zu unterlaufen. Die Entwicklungsländer wollen aus den Erfahrungen der Vorbilder Rückschlüsse für ihre eigenen ordnungspolitischen Vorstellungen und Maßnahmen ziehen. Die Aufgabe lautet: die psychologische Aufbruchsstimmung der Entwicklungsvölker, die durch die Entkolonialisierung und die politische Freiheit erzeugt wurde, in eine rational wirkende politische Kraft zu verwandeln.

Ratio und Industrialisierung Sämtliche Leitbilder, die den Entwicklungsländern angeboten werden, sind logische Folgerungen der von der Ratio geprägten europäischen Geistesgeschichte. Die Ratio ist der bedeutendste europäische Exportartikel aller Zeiten. Die politischen Blöcke leben und handeln mit den Mitteln der Vernunft, aus der Kraft der Logik und der systematischen Erkenntnisse der Mathematik und Naturwissenschaften. In den Leitbildern, die die Blöcke anbieten, werden Technik und Industrie, rationelle Organisation und Verwaltung, Produktivität, Berechenbarkeit und Vorausschaubarkeit als Voraussetzung, Weg und Ziel zum Fortschritt angesehen.

West und Ost leben aus der Ratio. Mathematiker, Chemiker, Physiker und Biologen sind — bei aller Differenziertheit ihrer philosophischen und politischen Überzeugungen — überall die gleichen, die in gleichen Kategorien denken und die gleichen wissenschaftlichen Methoden anwenden. Die Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen sind in West und Ost die gleichen. West und Ost sind die Erben der seit der Renaissance auf-brechenden Naturwissenschaften. Sie führten zur Technik, die die industrielle Revolution ermöglicht hat. Die Technik hat dem Beherrschungswillen Europas, dem europazentrischen Weltbild Motiv, Grundlage und Werkzeug geliefert. Das Erlebnis der Technik hat das Grundverhältnis des einzelnen und der Nationen zur Welt neugestaltet und die Entwicklungsleitbilder gleichgeschaltet. Sie gab dem Westen und über ihn dem Osten (als politischen Blöcken) die Macht, Natur und Welt umzugestalten und die Menschen zu beherrschen. Die Technik hat den Produktivitätsgrad der Wirtschaft vervielfacht und damit die Voraussetzung für den stetigen Zuwachs des Wohlstandes geschaffen. West und Ost wetteifern in der Technik und erstreben das Maximum an technischem Fortschritt, das zugleich auch das Optimum an wirtschaftlichem Fortschritt garantiert.

Die westliche Ratio ist die Grundlage aller jener Denksysteme, die am Anfang eines jeden Entwicklungsprozesses in den Entwicklungsländern stehen. Kapitalismus, Sozialismus, Marxismus-Leninismus leben mit den Gesetzen und aus den ordnungspolitischen Vorstellungen der westlichen Ratio. Ohne sie wären auch die kommunistischen Bewegungen in den Entwicklungsländern nicht entstanden. In seinem „Interview mit der farbigen Welt" hat Douglas Hyde, der zwanzig Jahre lang führender kommunistischer Parteifunktionär war, unter, dem Titel „Wem werden sie glauben?" die Lösung der Entwicklungsvölker aus ihren alten Bindungen untersucht und ist zu dem Schluß gekommen, daß der West-Ost-Konflikt ein „Kampf der Glaubensüberzeugungen" sei Industrialisierung bedeute, ob uns das gefällt oder nicht, eine Art von Verwestlichung. Die seelischen Folgen der Industrialisierung lägen in dem wuchernden Materialismus, der die Voraussetzungen für den Erfolg des Kommunismus darstelle. Heute führe der „Aufbau eines modernen Sozial-gefüges fast zwangsläufig zur Schaffung von Millionen glaubensloser Menschen" Wenn dieser Vorgang nicht abgestellt würde, gäbe es keine Hoffnung auf sie in dieser „Schlacht um Herzen und Köpfe der Menschen". Hier wird ein neuer Dualismus sichtbar, der West-Ost-und Nord-Süd-Konfrontation in Frage stellt. Die Anklage richtet sich gegen die Folgen der Industrialisierung, unabhängig von den jeweiligen Trägern und ideologischen Exegesen.

Die Entwicklungsländer sehen sich somit auch vor die Entscheidung gestellt, ob sie eine philosophisch-religiöse Begründung des West-Ost-Konflikts anerkennen oder ob sie nicht vielmehr nur das Instrumentarium der Ratio vom Westen übernehmen wollen, um mit seiner Hilfe innerhalb der eigenen ordnungspolitischen Vorstellungen und außerhalb des West-Ost-Konfliktes eigenständige Geistes-strukturen und staats-und wirtschaftspolitische Gebilde aufzubauen. Es geht also nicht um eine rein wirtschaftspolitische Frage, sondern um die Änderungen der Gesamtstruktur, der Denkmethoden und der Mentalität. Es geht um die Verwandlung der geistig-psychologischen Gegebenheiten und ihrer Angleichung an die Erfordernisse der westlichen Ratio. Die Ungleichheiten im Lebensniveau, Armut und Elend werden nicht mehr als natürlich und „gottgegeben" hingenommen, sondern auf unzureichende Wirtschaftsstrukturen, primitive Technik, geringe Kapitalkraft, mangelnde Bildung und Hygiene und sonstige andere zahlreiche Gründe im jeweiligen Einzelfall zurückgeführt. Sie sind überwindbar.

Die Entwicklungsländer suchen der Identifizierung von Westen = abendländisch-christliche Welt und Osten = Kommunismus zu entgehen. Beide, auch der atheistische Kommunismus, sind Produkte des Westens. Auf Hegel folgte Marx, auf Marx Lenin, auf Lenin die modernen Vertreter des Marxismus-Leninismus in allen Schattierungen.

Während das kommunistische Lager trotz seiner polyzentrischen Verästelung ständig an Zahl und Macht zuzunehmen scheint, geht der geistige Einfluß der westlichen Welt zurück. Soweit man Christentum statistisch erfassen kann, nahm es vor etwa 50 Jahren noch mit 34 °/o an der Weltbevölkerung Anteil. Heute sind noch etwa 20 °/o der Weltbevölkerung Christen, d. h. vier Fünftel der Menschheit kennen den christlichen Glauben nicht und messen ihm keinerlei Bedeutung bei. Vier Fünftel der Menschheit stehen aber damit der führenden Triebkraft der abendländisch-christlichen Geschichte fremd gegenüber, während sie die technisch-naturwissenschaftlichen Methoden dieser gleichen Welt zu übernehmen gezwungen sind.

So wie in Europa die Industrialisierung zunächst die Auflösung der Sozialstruktur, den Klassenkampf und die wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit mit sich gebracht hat, so scheint auch den Entwicklungsländern dieser Auflösungsprozeß nicht erspart zu bleiben. Industrialisierung bedeutet neue Ordnung. Sie zwingt, die alten Ordnungen aufzulösen. Die neue Ordnung kann mit den Ordnungsbegriffen, der Mentalität und den Erkenntnissen der traditionellen Lebensweise nicht aufgebaut werden. Industrialisierung bedeutet Entmythologisierung der Welt, wissenschaftliche Erkenntnis, Präzision, Verantwortung und Einordnung in einen kollektiven Produktionsprozeß.

Die Welt der meisten Entwicklungsländer jedoch ist eine mythische Welt, in deren Mittelpunkt der Mensdr in ständiger Verbindung zur Vorwelt und Nachwelt, zu Göttern und Dämonen, zu undefinierbaren Kräften gesehen wird, die sein Dasein, sein Sosein und seine Zukunft bestimmen. Das Leben wird von diesen Entwicklungsvölkern in laufend und intensiv wirkenden religiösen Bezogenheiten gesehen. Es ist „das Mystische" schlechthin, das auszuschöpfen nur durch die Hingabe an die Kräfte eben dieses Mystischen möglich wird.

Die Änderung der Mentalität, die von den Entwicklungsvölkern gefordert wird, bedeutet daher eine völlige Wandlung ihres Welt-und Lebensbildes. Ein neues Tatsachenbewußtsein läßt sie die Welt anders sehen. Die bisherigen Institutionen verlieren — zunächst stufenweise — die Kraft der Geborgenheit und die autoritative Lebensbedeutung, die bislang von ihnen ausgegangen war. Anstelle der mythologischen Durchdringung setzt das neue Tatsachenbewußtsein die logische Erklärung. Die Institutionen, innerhalb derer sich bisher das Leben — einschließlich der Erwerbstätigkeit — abspielte, werden durch die Industrialisierung gewaltsam zerschlagen. Die neuen Instistutionen sind nur dann wirkungsvoll, wenn die primitive vorindustrielle Gesellschaft überwunden und das Bewußtsein von den inneren Gesetzen der Industriegesellschaft so stark geworden ist, daß eine freiwillige, erkennende und sinngebende Einordnung des einzelnen möglich wird. Die Entscheidungen der Politiker in den Entwicklungsländern sind deshalb tragisch schwierig, weil die Notwen-digkeit einer raschen Industrialisierung ebenso zwingend die totale Auflösung jeder traditionellen Ordnung mit sich bringt. Selbst die Technik verstärkt das mythologische Denken mancher Entwicklungsvölker, ja, sie sehen in ihr die Bestätigung der mythischen Bezogenheiten ihres Lebens. Sie nehmen sie als Ganzheitsäußerung und -Wirkung undefinierbarer Kräfte. Der Explosionsmotor und die Elektrizität bleiben ein Geheimnis, das nur der „weiße Medizinmann“ zu entschleiern vermag. Die Technik wird zwar angeeignet und genutzt, aber sie gewinnt ihren Platz innerhalb eines mythischen Weltbildes.

Es fehlt die Erkenntnis der mathematischen und naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, die das technische Produkt entstehen lassen. Sie wissen nicht, wie es hergestellt wird, welche Arbeitsgänge zu seiner Vollendung führen. Dies ist für die Menschen der vorindustriellen Kultur um so schwieriger, als sie selten in ihrer eigenen Umgebung Gelegenheit haben, einen solchen Arbeitsgang zu erleben. Lebret spricht vom „Drama der traditionellen Volkswirtschaften, die ohne wirkliche Gegenleistung einfach zerbrochen wurden“

Für die Politiker der Entwicklungsländer entsteht durchaus die zwingende Aufgabe, ihre Völker durch Erziehung und Bildung mit den moralischen und geistigen Gesetzen der industrialisierten Welt vertraut zu machen. Das Hauptziel einer sinnvollen Entwicklungspolitik muß der psychische Strukturwandel der in vorindustriellen Gesellschaften lebenden Menschen sein. Die unvermeidbare Auflösung des traditionellen Denkens und Er-lebens muß ohne heftige Gleichgewichtsstörungen in das neue Denken und Erleben des industriellen und technischen Zeitalters überführt werden. Die soziologisch konstruktiven Kräfte der Tradition, die Familie, Sippe und Stamm zusammenhielten, in denen sich gut funktionierende Systeme der Sozialethik offenbarten, müssen nunmehr in die industrialisierte Gesellschaft hinübergerettet werden, die den Menschen aus diesen Bindungen herausreißt, ihn vereinzelt und die Maschine „bedienen" läßt.

Die Tragik des Entwicklungsvorganges besteht darin, daß europazentrisches Denken und die Denkmethoden der technischen Welt in europafeindliche Völker und in die Köpfe technikfremder Menschen eingeführt werden müssen. Ohne die Befolgung und Nutzung der von Europa entdeckten naturwissenschaftlichen und technischen Gesetzmäßigkeiten, ohne Industrialisierung und Rationalisierung sind die Existenzprobleme der Entwicklungsvölker nicht zu lösen. Zwischen der Gefahr und der Notwendigkeit des europazentrischen Weltbildes bewegen sich Leitbilder der Blöcke und Entscheidungen der Entwicklungsländer. Die Nord-Süd-Konfrontation erfordert europa-zentrische Lösungen, die von beiden Blöcken angeboten werden. Jenseits der Ideologien ist die Technik als systematische Methode zur Beherrschung der Natur der gemeinsame Nenner aller Leitbilder und aller Antworten auf die Frage geworden: „Wer schafft die bessere Welt?“

Mit Recht wies der Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchivs, Kapferer, darauf hin, daß „unsere“ Kenntnisse von den Entwicklungsländern „völlig unzureichend'seien. Unser europazentrisches Weltbild lasse kein Verständnis für die fremde Welt der Entwicklungsländer aufkommen. Dazu käme ein gefährlicher Mangel an gesicherten Unterlagen

Andererseits müssen gewisse Grundwerte der westlichen Kultur übernommen werden, wenn Industriegesellschaften aufgebaut werden sollen. Als Douglas Hyde Ceylon besuchte und dort vor Arbeitern, Studenten und ceylonesischen Ordensleuten sprach, ergaben sich Auseinandersetzungen mit Problemen, „die typisch für jedwede industrielle Gesellschaft sind“. Gewiß seien sie durch die besonderen ceylonesischen Verhältnisse gefärbt gewesen. Aber grundsätzlich habe es sich um Fragen gehandelt, die ebensogut von Arbeitern in Frankreich und Belgien, von Studenten der Londoner Hochschule für Wirtschaftswissenschaften oder von Religiösen in New York hätten gestellt werden können Die Existenzprobleme der meisten Entwicklungsvölker können aber auch nicht gelöst werden, wenn die Zerstörung der traditionellen Ordnungen zugleich die Vernichtung aller sozial-ethischen Werte mit sich bringt, auf denen sie aufgebaut waren. Gemeinschaftsbewußtsein und konkrete Verantwortung für die „Gruppe“, Unterordnung und Sinn für gesellschaftliche Hierarchie, Bindung an gewisse Grundbegriffe der Sozialethik sollten erhalten bleiben. „Modernisierung besagt nicht radikale Zerstörung der bestehenden Strukturen, sondern Assimilierung der wissenschaftlichen und technischen Seite der industriellen Zivilisation. Die Modernisierung schließt nicht das Aufgeben der bis dahin gültigen Werte ein, besonders, wenn sie gemeinschaftlichen Geist und gemeinschaftliche Traditionen bergen.“ (L. Lehret) Es geht darum, die proletarische Zwischenstufe von der vorindustrialisierten zur hochindustrialisierten Gesellschaft abzukürzen oder gar zu vermeiden. Die Aufgabe lautet, den Menschen in eine neue Gesellschaft zu überführen, ohne ihn moralisch aus der alten völlig zu lösen. Die soziologische Voraussetzung der europäischen Industrialisierung, die Verproletarisierung der Massen, soll verhindert werden. Dies ist eine der größten Aufgaben, die den verantwortlichen Weltpolitikern und den Staatsmännern der Entwicklungsländer gestellt ist.

Zu den Entscheidungen der Entwicklungsländer gehört, die wirtschaftlichen Folgen der politischen und sozialen Entscheidungen richtig einzuschätzen. Dies bezieht sich insbesondere auf den Zusammenhang zwischen Konsumverzicht und Kapitalbildung. In allen Wirtschaftsordnungen kann Kapital nur durch Konsumverzicht, d. h. durch Sparen, gebildet werden.

Für ihre wirtschaftlichen Entscheidungen müssen die Politiker der Entwicklungsländer wissen, daß die kommunistische Planwirtschaft mehr Konsumverzicht erfordert und eine verhältnismäßig geringere Kapitalinvestitionsquote als die Marktwirtschaft erzeugt.

Die Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge gehört zu den Grundvoraussetzungen aufbauender Entwicklungspolitik. Nicht nur müssen die führenden Politiker der Entwick-

lungsvölker selber von diesen Einsichten durchdrungen sein, sondern ihre bildungspolitischen Entscheidungen müssen diese Einsichten in erster Linie fördern. Nicht der Kapitalismus und der Kommunismus oder ein anderer „Ismus" als solche produzieren Kapital.

In beiden Systemen sind Kapital und Fortschritt, Industrialisierung und Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse von Menschen nach allgemeingültigen wirtschaftlichen Gesetzen geschaffen worden. Der Ruf nach ausländischem Kapital erscheint als allzu einfache Methode, den Wertzuwachs der Produktion zu garantieren. Die Türkei und Japan sind typische Beispiele für Länder, die ihre wirtschaftliche Entwicklung auf Grund eigener innerer Kapitalbildung durchgeführt haben. 4. Marktwirtschaft oder Planwirtschaft?

Es gibt zahlreiche Formen der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft. Sie stammen aus dem Zusammentreffen ganz bestimmter historischer Strömungen und soziologischer Entwicklungen und können daher nur bedingt als theoretisch allgemein gültige Rezepte anerkannt werden. Weder die freie Marktwirtschaft noch die kommunistische Planwirtschaft können daher den Entwicklungsländern einfach aufgestülpt werden.

Es handelt sich in beiden Fällen überhaupt nicht um reine Wirtschaftssysteme. Sie bedeu-ten gesellschaftspolitische Ordnungsbilder, die sich an philosophischen Aussagen über den Menschen orientieren. Es geht bei dieser angeblich rein wirtschaftlichen Fragestellung um das Problem der Freiheit und die abendländische Auffassung von der Persönlichkeit. Wenn Freiheit ein „bürgerliches Vorurteil’ ist, wie Lenin sagte, ist die kommunistische Planwirtschaft allerdings schon vom philosophischen Ansatz her gefordert.

Wenn aber Freiheit der Selbstverwirklichung der menschlichen Persönlichkeit zu dienen hat, gewinnt sie Dimensionen, die mit den engen Zielen der Produktivitätsverbesserung in einer Volkswirtschaft nicht ausgeschöpft werden können. Weder der reine Kapitalismus der Frühzeit noch der Kommunismus haben die „Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit" in ihr Programm einbezogen. Die soziale Marktwirtschaft sieht das Problem und bemüht sich um eine Lösung durch die „Demokratisierung der Produktionsmittel", die den wirtschaftlichen Freiheitsraum des einzelnen erweitern und damit die existentielle Freiheit der Persönlichkeit gegen die Bedrohung durch Staat, Gesellschaft und Monopole sichern will. Daher lassen sich Politik und Wirtschaft nicht trennen. Die Entscheidungen der Entwicklungsländer müssen von der Erfahrungstat-sache ausgehen, daß man wirtschaftliche Probleme ohne die politischen nicht lösen kann. Die Lösung der politischen Probleme ihrerseits beinhaltet auch wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Entscheidungen. Hier sind der an sich mit Recht geforderten „Entpolitisierung der Entwicklungspolitik" Grenzen gesetzt. Die industrialisierte Wirtschaft ist ein überaus kompliziertes Gebilde funktionaler Beziehungen. Planwirtschaft und Marktwirtschaft sind nur Rezepte, deren Leitbilder die Wirtschafts-und Sozialpolitik der Entwicklungsländer anregen oder bestimmen können. Dabei ist Planwirtschaft nicht -aus schließlich gleich Kommunismus und Marktwirtschaft nicht ausschließlich gleich Kapitalismus. Es wird überhaupt keine einfache Übernahme westlicher Wirtschaftsformen durch die Entwicklungsländer geben. In den Ländern aber, in denen die „Marktwirtschaft" heimisch ist, vor allem in Lateinamerika, werden regional verschiedenartige Sonderformen sich entwickeln, die Planungsbedürfnisse berücksichtigen. Es gibt wohl kaum ein Land, dessen Regierung nicht „plante". Die Frage Marktwirtschaft oder Planwirtschaft stellt in den meisten Fällen sich überhaupt nicht, da es weder freie Unternehmer noch einen bürgerlichen Mittelstand noch die strukturellen Voraussetzungen noch Kaufkraft für die Errichtung von marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen gibt. Die Debatte um die Marktwirtschaft erscheint manchen Ländern unverständlich, da sie weder einen „Markt“ noch eine »Volkswirtschaft“

im modernen Sinne aufweisen können. Fritz W. Meyer, der eine marktwirtschaftliche Entwicklungspolitik vertritt, leugnet nicht, daß es Entwicklungsländer gebe, „in denen — abgesehen von einer hauchdünnen, im Ausland ausgebildeten Führungsschicht — das allgemeine Bildungsniveau so bescheiden ist, daß man tatsächlich für den Betrieb von Unternehmungen, bei denen die Anforderungen an den Unternehmer über die von Handwerk und kleinem Einzelhandel hinausgehen, keine fähigen und bereiten Persönlichkeiten im Inland finden kann" In einem solchen Falle könne jedoch auch eine halbwegs funktionierende Planwirtschaft mit landeseigenem Personal nicht durchgeführt werden. Ausländische Planer aber seien mit Sicherheit teurer als ausländische Unternehmerleistungen, da die Planer unkontrollierbar seien und keine Risiken trügen. Der Zweifel, ob Länder, die in solchen Verhältnissen leben, überhaupt reif seien für die Selbständigkeit oder ob die Unabhängigkeitspolitik nicht das Verlangen einer machthungrigen Führungsschicht sei, zeigt die Ohnmacht dieser volkswirtschaftlich richtigen Überlegungen an.

Die Beurteilung der Frage Marktwirtschaft oder Planwirtschaft in den Entwicklungsländern findet auch in der freien Welt keine einheitliche Beantwortung. Als äußerster Gegenpol gegen Fritz W. Meyer sei auf G. Myrdal verwiesen, nach dem die Vorstellung, es könnten die Entwicklungsländer einen Umwandlungsprozeß, der dem der entwickelten Länder in etwa parallel verlaufe, durchmachen, als oberflächlich und radikal falsch erklärt wird 184).

Diese gegensätzlichen Auffassungen sind nur zum Teil aus der politisch-philosophischen Ausgangsposition ihrer Vertreter zu erklären.

Zum größeren Teil handelt es sich um die Beurteilung politischer Tatbestände, deren Verallgemeinerung die jeweils konkrete Situation nicht trifft. Mit Sicherheit kann indes gesagt werden, daß die historischen Vorbilder der westlichen Industriestaaten und der östlichen Planwirtschaften nicht ohne streng individuelle Anpassung verwendet werden können.

Beide Systeme sind ja in sich schon so differenziert, daß man von eindeutig umrissenen wirtschaftspolitischen Rezepten kaum spre-dien kann. Hier setzt allerdings der politische Wille der beiden Blöcke an.

Es handelt sich in der Entwicklungspolitik um politische Entscheidungen. Auch die Neigung zu planwirtschaftlichen Experimenten der Entwicklungsländer muß dabei in Kauf genommen werden, wenn der Unabhängigkeit und Selbständigkeit zugestimmt worden ist. Allerdings sollten alle Mittel von den westlichen Ländern dafür eingesetzt werden, daß die Politiker der Entwicklungsländer hinreichend Einsicht in die ökonomischen Zusammenhänge und genügend objektive Unterlagen für sachgerechte Entscheidungen erhalten.

Eine freie Marktwirtschaft erfordert Menschen, die in wirtschaftlichen Zusammenhängen einer Industriegesellschaft zu denken und nach optimal wirtschaftlichen Forderungen zu handeln vermögen, deren Arbeitsethos in der Beherrschung von Natur und Welt ein positives Ziel erblickt und die in Markt, Preis, Produktion und im persönlichen wirtschaftlichen Fortschritt ganz individuell zugeschnittene Tatbestände zu erfassen und aus ihnen folgende Lebensnormen zu formulieren vermögen. Die freie Marktwirtschaft erfordert nicht die Übernahme unserer wirtschaftlichen Denkweise. Sie kann und muß sich auch in neuartigen oder gewandelten Umständen bewähren. Die harmonische Verbindung von technisch-geistiger Hilfe mit Kapitalhilfe wird das Ziel westlicher Entwicklungspolitik sein müssen. Es genügt nicht die Ausbildung von Technikern und Managern, wenn ihre Verwendung im Heimatland nicht gesichert erscheint. Es genügt keine Kapitalhilfe, wenn Technik und Management zur Durchführung der geplanten Maßnahmen nicht gesichert sind, neben anderen Voraussetzungen auf dem Gebiet der Währungs-und Steuerpolitik.

Schließlich ist das Ziel der Entwicklungspolitik nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern die Begründung und Festigung einer Gesellschaftsordnung, in der das Verhältnis von Freiheit und Verpflichtung, Individuum und Kollektivität, im Sinne der vier atlantischen Freiheiten hergestellt wird. Daher ist mit Recht die Forderung und Feststellung aufgestellt worden, daß eine „völlig indifferente Entwicklungspolitik" weder möglich noch wünschenwert sei 5. DEMOKRATIE Die westliche Entwicklungspolitik empfiehlt den Entwicklungsländern die demokratische Regierungsform. Dabei ist an die angelsächsische Form der Demokratie gedacht. Die Vereinigten Staaten erheben diese Forderung zum Beispiel in Lateinamerika in ultimativer Form, indem sie Ländern, in denen demokratische Regierungsformen durch autoritäre oder diktatorische Regime abgelöst werden, Entwicklungshilfe verweigern wollen. Die „Demokratie" wird zu einem Wertmesser der politischen Entscheidurgsreife und des Entwicklungswillens der Entwicklungsvölker. Im konkreten Fall allerdings wird dann das demokratische Regime so weit gefaßt, daß auch Scheindemokratien im westlichen Sinne oder Diktatur-und Militärregime als kleinere Übel anerkannt werden. Die Entscheidung der Entwicklungsländer für die Demokratie hat oft nur theorethischen Charakter. Die demokratische Staatsform setzt bestimmte geistige, wirtschaftliche und soziologische Tatsachen und Denk-weisen voraus. Die meisten Entwicklungsländer waren überfordert, als man von ihnen die politische Willensbildung in der chemisch reinen Form der Demokratie verlangte. Die Funktion der Mehrheit, der größeren Zahl, ist für traditionsgebundene, gesellschaftlich in hierarchischen Sozialkategorien denkende Völker nicht einleuchtend. Die Eigenverantwortlichkeit der politisch-wirtschaftlich denkenden und handelnden Persönlichkeit ist sowohl Voraussetzung als auch Ziel der demokratischen Staatsform. Sie ist aber in vielen Entwicklungsländern weder als Voraussetzung gegeben noch auch als Ziel erkannt oder gar anerkannt.

Auf diesem Gebiet gibt es einen legitimen West-Ost-Gegensatz. Der Osten kennt die Schwächen der Formaldemokratie und nutzt sie rücksichtslos aus. Die demokratischen Spielregeln erlauben ihm, die parlamentarischen Einrichtungen zu demoralisieren und zu kor rumpieren. Außerdem ebnen sie den Weg zur Infiltration des Staatsapparates, in dessen führende Positionen kommunistische oder kommunistenfreundliche Funktionäre einrükken. Die Parlamente werden in kommunistische Propagandazentren verwandelt, die als Alternative die kommunistische Staatsform — je nach den Gegebenheiten in graduell sehr unterschiedlicher Weise — anpreisen.

Der Westen muß sich darüber im klaren sein, daß die Demokratie in den meisten Entwicklungsländern das Ergebnis eines langjährigen Prozesses sein wird, an dessen Ende die politische und wirtschaftliche Ordnung durch ein ausgebautes System von sozialer Kontrolle und Mitverantwortung abgesichert sein muß. Dies erfordert eine Begünstigung aller Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption und der Cliqueninteressen, zur organischen Entwicklung der Agrarstrukturen, zur Straffung der Steuergesetzgebung und zur Anerkennung demokratischer Verfahrensweisen und der legitimen politischen Macht in Entwicklungsländern. Nicht nur die Entwicklungsländer müssen die Geduld für die Langfristigkeit ihrer Pläne aufbringen, sondern auch der Westen muß Geduld für die Entwicklung der demokratischen Lebensweise, die die Voraussetzung demokratischer Regierungsformen ist, aufbringen. Es wird neue Formen der „Demokratie“ geben und geben müssen. Die Palette der westlichen Demokratiemodelle ist so bunt, daß auch einige Farbzusätze ihren Charakter nicht verändern können. 6. in der Entscheidung Walt W. Rostow hat eine Entwicklungstheorie dargelegt, die vier Stadien des wirtschaftlichen Wachstums definiert Danach sind zu unterscheiden:

1. die traditionelle Agrarwirtschaft, die weder die Dynamik der Entwicklung kennt noch die technischen Mittel des Fortschritts besitzt; 2. die Übergangsgesellschaft, die durch den Akt der Erkenntnis der technisch-wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zur Beherrschung der Natur gesetzt wird;

3. die Startgesellschaft, in der durch Strukturreformen, die Kapitalbildung, öffentliche und private Initiative, das Banksystem, die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung entfacht wird;

4. die Industriegesellschaft, in der die Produktivität einen hohen Stand erreicht hat.

Sie kann sowohl für den Massenkonsum als auch für eine imperialistische Außenpolitik verwendet werden.

Die Entwicklungsländer gehören in die drei ersten Stufen. Die objektiven Tatbestände auf jeder Stufe sind verschieden. Selbst innerhalb einer Stufe können sie größere Unterschieds-gradebewirken, als sie innerhalb oder zwischen den Ländern des westlichen oder des östlichen Lagers bestehen.

Für jede dieser Stufen muß die Antwort anders lauten. Das aber bedeutet, daß das Besondere, Einmalige des Entwicklungsstandes eines jeden Landes sorgfältig erforscht und zur Grundlage der Entwicklungspolitik gemacht wird. Der Umfang der zu treffenden Entscheidungen kann aus den zahlreichen Fragenkatalogen entnommen werden, die für jedes Land, jedes Projekt, jede Art und jedes Ziel der Entwicklungspolitik bestehen. Dies führt uns zurück zur Problemstellung, von der wir ausgingen: Was ist ein Entwicklungsland? Die Schwierigkeiten der Definition ergaben sich aus der Tatsache, daß die empirischen Unterlagen dem Umfang und der Qualität nach sowie unter den Gesichtspunkten einer theoretischen Systematik ungenügend und zum Teil anzweifelbar sind. Einen Katalog von Entwicklungszielen hat die Charta von Punta del Este 1961 aufgestellt, die die Grundlage der nationalen und interamerikanischen Entwicklungspolitik bilden soll. Der Katalog zeigt Umfang und Problematik der Entscheidungen, die in Lateinamerika notwendig geworden sind. Er beweist die Größe der intellektuellen und organisatorischen Aufgaben, die den Politikern der Entwicklungsländer gestellt sind: 1. Steigerung der Produktivität um mindestens 2, 5 Prozent des Sozialprodukts pro Kopf und Jahr, 2. Maßnahmen gegen die Kindersterblichkeit,

3. Beseitigung des Analphabetentums, 4. Verbesserung der Ernährung der Bevölkerung,

5. Verbesserung des Lebensniveaus der breiten Massen durch eine gleichmäßige Verteilung des Einkommens der Bevölkerung, 6. Differenzierung der Güterproduktion, um von den Bedingungen auf den internationalen Rohstoffmärkten unabhängig zu werden, 7. Beschleunigung der Industrialisierung unter rationeller Ausnutzung der einheimischen Naturprodukte; Gründung von Industrien durch die Herstellung von Investitionsgütern,

8. Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion, des Transports, der Verteilung und Lagerung landwirtschaftlicher Güter, 9. Agrarreform, die das Latifundienwesen beseitigt und das Land denen zum Besitz gibt, die es bearbeiten, 10. Trinkwasserversorgung und Abwässerbeseitigung,

11. Vermehrung der ärztlichen Betreuung, 12. Bau von billigen Eigenheimen für die Familien der ärmeren Volksschichten, 13. Kampf gegen Inflation und Deflation mit dem Ziel stabiler Preise, 14. engere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ländern, vor allem durch Zusammenschließen in gemeinsamen Märkten, 15. kooperative Organisation zwischen. einzelnen Ländern zur Erhöhung der Ausfuhr,

16. gerechter Lohn für alle Lohnempfänger, 17. Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung,

18. Reform aller Steuersysteme mit dem Ziel gerechter Lastenaufteilung, 19. Erziehung zum Sparen und Gründung von Kreditorganisationen, die zu geringen Zinssätzen die Produktion finanzieren, 20. Schaffung von Voraussetzungen für ausländische Kapitalinvestitionen, deren Doppelbesteuerung vermieden werden muß. Die Entwicklungsländer stehen in rascher Folge vor Entscheidungen, die aus sozialethischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen die Existenz der gesamten westlichen Welt betreffen.

Der indische Botschafter Tyabji zitiert Harold MacMillan: „Die große Frage, die uns die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt, ist, ob die freien Völker Asiens und Afrikas zum Osten oder zum Westen überschwenken werden." Tyabji fragt: „Nun, warum glaubt Mr. MacMillan, daß dies eine Frage sei, die Zweifel offen läßt? Gewiß, sollte er ganz sicher sein, daß die freien Völker Asiens und Afrikas sich dem Westen zuwenden werden, wenn, wie ich glaube, er selbst ebenfalls davon überzeugt ist, daß ihnen der Westen eine weitaus bessere Lebensweise anzubieten hat als der Osten. Warum spukt dann in den Köpfen westlicher Staatsmänner der nagende Gedanke, daß die freien Völker zum Osten überschwenken könnten?"

Aus Bewunderung und Ablehnung, Skepsis und Bejahung ist die Haltung der meisten Entwicklungsländer Europa gegenüber zusammengesetzt. Marxismus und Kapitalismus, Kommunismus und Kolonialismus, Marktwirtschaft und Planwirtschaft sind im Grunde „zwei Versionen Europas in Konkurrenz um die Umformung der ganzen Menschheit". Im geistig-kulturellen Spannungsfeld spielt sich der Kampf zwischen Ost und West und zwischen Entwicklungsländern und Europa ab. Es geht um die Seele der Völker, ihre Denkmethoden, ihre Willensmotivationen, ihre Lebensphilosophien, ihre Stellung zur Ratio als der eigentlichen europäischen Geschichtsmacht, es geht um die Erziehung des ganzen Menschen.

So lehnen die meisten Entwicklungsländer das europazentrische Weltbild ab und strömen nach Europa, um sich die Einzelheiten dieses Weltbildes anzueignen.

Sie lehnen die europäische Kultur ab und bewundern Europa und wollen es ihm gleich tun. Sie reden vom Untergang und der geistigen Hoffnungslosigkeit, die über der rational-rechnerischen Geisteshaltung Europas laste, und imitieren und übernehmen europäisches Bildungswesen, europäische Wissenschaften, europäischen Rationalismus und europäische Dynamik.

Sie kritisieren — mit Recht — Europas Abfall von seinen eigenen Idealen und folgen den schlechtesten Beispielen aus der europäischen Geschichte der Gewalt, der Usurpation und der nationalen Gesetzlosigkeit.

Sie denunzieren die europäischen Nationalismen und machen aus ihrem eigenen Nationalismus ein Glaubensbekenntnis.

In diesem Kreuz und Quer der Antagonismen ist es Aufgabe des Westens darzutun, daß trotz aller — oder gerade wegen — der qualvollen Epochen europäischer Geschichte Freiheit und Würde der Person bei aller Sozialbezogenheit als Primärwert in der Hierarchie der existentiellen und moralischen Ordnungen zu gelten haben. Nur die in Freiheit der Gemeinschaft zugeordnete schöpferische Persönlichkeit vermag dauerhafte Gesellschaftsordnungen zu errichten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe hierzu: Deutsch-Brasilianische Nachrichten (DBN) II, Nr. 10, Oktober 1963, S. 2, wo der brasilianische Finanzminister Prof. Carvalho Pinto erklärt, die größte Sorge, der sich die armen Länder gegenübersähen, sei nicht die Aussicht auf einen neuen Weltkrieg noch die Notwendigkeit, ihre nationale Sicherheit zu garantieren. Ihre wirtschaftlich-soziale Struktur sei vielmehr in Gefahr.

  2. Die Welt, 11. 1. 1961, „Hier könnt Ihr Deutschen helfen*.

  3. Siehe Fritz Baade, Weltenergiewirtschaft, Hamburg 1958, S. 15.

  4. Hans-Joachim Winkler, a. a. O., S. 23.

  5. Naciones Unidas, Aumento de la poblaciön mundial em el provenir. Estudios demogräficos, No 28, 1958 (Fischer-Weltalmanach 1964, Frankfurt 1963, S. 176).

  6. A. a O. Ergänzt für 1963 durch Berechnungen nach K. Witthauer.

  7. Laut New York Times, 12. Mai 1962, zitiert in Fischer-Weltalmanadi 1964, S. 176.

  8. Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung (Sonderausgabe), April 1963, Nr. 70, S 618. Siehe auch „Die biologische Reserve", S. 8. f. dieser Ausgabe.

  9. Prof Dr Karl Vialon, a a O.. S 15

  10. Josue de Castro, Weltgeißel Hunger, Göttingen 1959.

  11. Josue de Castro, a. a. O.

  12. Werner Pank, Der Hunger in der Welt, Freiburg 1959, S. 44.

  13. Siehe hierzu: Ives Lacoste, Os paises subdesenvolvidos, Säo Paulo 1961, S. 30— 50.

  14. Fritz Baade, a a. O„ S. 23.

  15. Siehe Wilfried Schreiber, Bevölkerungspolitik, Staatslexikon, Bd. 1, 1957, Spalte 1231.

  16. Wissenschaftliche Beiträge zur Außen-und Entwicklungspolitik, Bonn 1963, S. 54.

  17. Otto Schiller, Ernährungs-und Überbevölkerungsprobleme der asiatischen Entwicklungsländer, in: Indo-Asia, Heft 4, Oktober 1960, S. 309 f.

  18. Fritz Baade, a. a. O., S. 16.

  19. Vergleiche hierzu: Werner Schöllgen, Konkrete Ethik, Düsseldorf 1961 Darin: Probleme der Bevölkerungspolitik, moraltheologisch gesehen. Korreferat zu einem Rundfunkvortrag von Arnold Toynbee, S. 204— 210

  20. Vergleiche hierzu: Günther Wollny, Die Zukunft ist anders. Boppard 1962, S. 264.

  21. Fritz Sternberg, a. a. O., S. 12 ff.

  22. Siehe Werner Pank, a. . a. O., S. 167.

  23. Bei H. J. Winkler, a. a. O., S. 5.

  24. Hans Fleig, &. a. O., S. 88.

  25. Hans Fleig, ebenda.

  26. Der klare Blick, IV, Nr. 41, S. 6, Bern, 16. Oktober 1963.

  27. Die Zeit, 3. Januar 1964, S 22.

  28. Alexander Metaxas, Peking gegen Moskau, München 1959, S. 14/15.

  29. Neue Zürcher Zeitung, 29. Februar 1964.

  30. Ebenda.

  31. Edward Crankshaw, Moskau-Peking oder der neue kalte Krieg, Reinbek 1963.

  32. Siehe Studien zur Aktivität des Ostblocks in den Entwicklungsländern (Schriftenreihe der Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung. A. Sozialwissenschaftliche Studien, Hannover 1963). Darin besonders: Anderson Shih, Die Asienpolitik des kommunistischen China, S. 85 ff., und Robert J. Alexander, Die Kommunisten in Lateinamerika, S. 107 ff. Außerdem in Gerhard Fritz, Entwicklungspolitik als Aufgabe, Bonn 1962’, III Kapitel: „Westliche und östliche Entwicklungshilfe", S. 33 bis 46.

  33. W 1 Lenin, Lieber weniger, aber besser. In: Ausgewählte Werke, Bd II, Berlin 1961, S. 1040.

  34. Pietro Quaroni, a. a. O., S. 55.

  35. R F Behrendt, a. a. O., S. 19.

  36. Neue Zürcher Zeitung, Das Dilemma der Entwicklungshilfe, 22. Juni 1963.

  37. Europäische Wirtschaft — Entwicklungsländer, VI, 6, 15 Juni 1963, S. 318

  38. Staatslexikon, Bd, 1, 1957, Spalte 1226.

  39. Chruschtschow, zitiert in „Der klare Blick", IV, Nr. 41, Bern, 16. Oktober 1963 153) Siehe Boris Meissner, Rußland unter Chruschtschow. München 1960, S. 472 ff.

  40. A. a. O., S. 472.

  41. A. a. O., S. 474.

  42. Joseph Novak, Uns gehört die Zukunft, Genossen. Bern 1961, S. 179.

  43. A. a. O., S. 189.

  44. Kühnelt-Leddihn, a a O.

  45. R F. Behrendt, a. a O., S. 31.

  46. Sie hierzu: Wilhelm von Pochhammer, Indien als Modellfall für die Industrialisierung, in: Europa und die Entwicklungsländer, Stuttgart 1961, S. 102— 123.

  47. A. a. O., S. 102/103.

  48. Werner Kägi in: Europa und der Kolonialismus, Zürich 1962, darin: Die rechtliche Entwicklung vom Kolonialreich zur nationalen Unabhängigkeit S. 156 ff.

  49. Alfons Dalma in: Mythos t d Utopia, Arbeitskreis für Ostfragen, Heft 10, München 1962, S. 53.

  50. Ebenda.

  51. A. a. O., S. 43/44.

  52. In Sowjetstudien, München 1959, Nr. 7 E. Glovinskyj, Das sowjetische Wirtschaftssystem S. 40.

  53. Bei Glovinskyj, a a O., S. 43/44.

  54. In: Die Sowjetunion als Entwicklungsland. Hsg Studiengesellschaft für wirtschaftliche Entwicklung, Franksurt/M. 1959, S. 11.

  55. Vgl. zu diesen und den folgenden Ausführungen CIAS, Publicaciön mensual, 12 Jahrgang, Nr 126, August 1963, Alberto Ezequiel Volpi, Introducciön al problema del desarrollo, S. 3.

  56. Fritz W. Meyer, a. a. O„ S. 15.

  57. Douglas Hyde, Wem werden sie glauben?. Freiburg 1960.

  58. A a. O., S. 13.

  59. A. a. O., S. 12.

  60. L. Lebret, Welt im Umbruch, Olten 1961, S. 64.

  61. C. Kapferer in: Lateinamerika, Bericht über die 1. wissenschaftliche Regionaltagung der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer, Berlin 1962 S. 2.

  62. Douglas Hyde, a. a. O., S. 187/188.

  63. L. Lehret, a. a. O., S. 56.

  64. Fritz W. Meyer, a. a. O., S. 11. 184) Bei Yves Lacoste, a. a. O., S. 111.

  65. G. Fritz, a. a. O„ S. 72.

  66. Walt W Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie. Göttingen 1960, 213 S.

  67. R. F Behrendt, a. a. O., S. 56/57

  68. R. F. Behrendt, a. a. O., S. 37

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Hermann M. Görgen, Dr. phil., Prof., geb. 23 Dezember 1908 in Wallerfangen/Saar, war lange Lehrstuhlinhaber an einer brasilianischen Universität und als Bundestagsabgeordneter Lateinamerika-Referent der CDU/CSU u. stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises für Entwicklungshilfe der Bundestagsfraktion dieser Partei. Er ist Präsident des Latein-Amerika-Zentrums e. V., Bonn, sowie der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e. V., Bonn, und mit Öffentlichkeitsarbeiten und Projektbearbeitung in Lateinamerika betraut.