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Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag — Ein Vergleich | APuZ 43/1965 | bpb.de

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APuZ 43/1965 Artikel 1 Notstand -Grenze des Rechtsstaates? Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag — Ein Vergleich

Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag — Ein Vergleich

Winfried Steffani

Kein anderes Staatsorgan steht so sehr im Zentrum des politischen Gestaltungsprozesses eines demokratischen Regierungssystems wie das Parlament. Ein volles Verständnis seiner Rolle im Regierungssystem, seiner Organisation, Befugnisse, Zusammensetzung, Arbeitsweisen und politischen Machtstellung kann nur gewonnen werden, wenn es aus dem Gesamtzusammenhang des bestehenden Herrschaftssystems her analysiert wird. Ein derartiges System ist stets ein äußerst komplexes, kompliziertes und dynamisches Phänomen. Die Analyse eines Parlaments erfordert daher eine umfassende und eingehende Untersuchung. Das Problem wächst, wenn die Parlamente zweier verschiedener Systeme miteinander verglichen werden sollen.

Das vorliegende Thema ist anspruchsvoll. Ich habe mich hier jedoch mit dem Verweis auf einige grundlegende Probleme und Sachzusammenhänge zu begnügen. Die folgenden Erörterungen enthalten: zunächst einige geschichtliche Hinweise, zweitens einen mehr systematisch angelegten Vergleich und drittens einen Verweis auf die Gegenwartsdiskussion zu Stellung und Reformbedürftigkeit von Kongreß und Bundestag.

Ungebrochene Tradition des amerikanischen parlamentarischen Systems

Am 4. Januar 1965 trat in Washington der 89. Kongreß zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Am 19. September 1965 fanden in der Bundesrepublik Deutschland die Wahlen zum 5. Deutschen Bundestag statt. Diese nüchternen Zahlen — 89. Kongreß und 5. Bundestag — verweisen auf bedeutsame geschichtliche Tatsachen und Probleme.

Der Deutsche Bundestag ist heute sechzehn Jahre alt, der amerikanische Kongreß genau einhundertsechzig Jahre älter. Ein Vergleich zwischen Kongreß und Bundestag muß also zunächst von der Tatsache ausgehen, daß sich hier in gewisser Weise ein geschichtlicher „Patriarch" und ein geschichtlicher „Neuling" gegenüberstehen. Daß der „geschichtliche Patriarch" ausgerechnet in den USA und der „Neuling" im Zentrum Europas zu finden ist, mag vor allem jene Europäer erstaunen und verwundern, die von der alten Schablone nicht lassen können, daß im Gegensatz zu Europa in Amerika alles ziemlich jung, geschichtsarm und traditionsmager sei.

Zu denjenigen, die es besser wissen, gehören jedenfalls nicht zuletzt die neugewählten Abgeordneten des Kongresses und des Bundestages, sobald sie ihre ersten Erfahrungen in ihren Parlamenten zu sammeln beginnen. Es fängt schon mit rein äußerlichen Eindrücken an. Welcher Kongreßmann ist nicht, wenn er den Kapitolshügel bestiegen hat und das Kongreßgebäude in seiner vollen Pracht vor sich liegen sieht, vom Anblick geschichtsträchtiger Majestät tief beeindruckt? Die würdevolle Architektur symbolisiert für ihn reife Tradition. Auch die Innengestaltung weist darauf hin, daß man dem Stil der Väter hohen Respekt zollt. Und sollte der neugewählte Abgeordnete gar als Senator in den Kongreß einziehen, so wird er im Plenum seines Hauses für sich ein Pult vorfinden, das getreulich einem Modell aus dem Jahre 1819 nachgebildet wurde. Das Pult ist noch heute mit Tintenfaß und Federhalter sowie einem Schüttelglas voller Streusand ausgerüstet. Und falls es den jungen Herrn Senator nach einer Prise gelüsten sollte, so braucht er nur auf einen der zwei stets mit frischem Schnupftabak gefüllten Behälter zuzusteuern, die rechts und links am Podium des Vizepräsidenten angebracht sind.

Geschichte und ungebrochene Tradition beherrschen aber nicht nur die Architektur. Gleiches gilt für die meisten der geschriebenen und ungeschriebenen Geschäftsordnungs-Regeln. Neben den geschriebenen Regeln und deren zahlreichen Auslegungen — diese Regeln und Auslegungs-Entscheidungen durch den „Speaker" des Hauses umfassen heute allein im Repräsentantenhaus mehr als 11 000 Einzelbestimmungen, eine beträchtliche Anzahl gibt es auch im Senat — muß sich der Neuankömmling zugleich ungeschriebenen Verhaltensregeln einstigen, die in beiden Häusern des Kongresses zum eisernen Bestandteil der tatsächlichen Spielregeln gehören. Zu diesen ungeschriebenen Regeln zählt im Kongreß z. B. die höchst bedeutungsvolle „Senio-rity Rule", weit weniger jedoch die Partei-disziplin, die demgegenüber im Deutschen Bundestag eine beherrschende Rolle spielt. Es gibt kaum einen Abgeordneten, der es ungestraft wagen könnte, diese Spielregeln auch nur teilweise zu mißachten.

Viele der geltenden Geschäftsordnungsregeln und Verfahrensweisen sind sehr alt. Die Geschäftsordnung des Senats ist beispielsweise seit Januar 1884 keiner umfassenderen Revision mehr unterzogen worden. Mehrere Kongreßmänner — im Senat angeführt von den Senatoren Clark (Demokrat) und Case (Republikaner) und im Repräsentantenhaus vor allem die „Democratic Study Group" — machen öffentlich keinen Hehl daraus, daß sie einige dieser Regeln für völlig überholt und äußerst reformbedürftig halten. Reformversuche scheitern jedoch in der Regel am Widerstand einflußreicher „alter Herren". Der Senior Senator von New York, der Republikaner Jacob Javits, ein recht reformfreudiger Mann, empfahl einmal, im Senat ein paar Kalender aufzustellen, damit einige seiner sehr ehrenwerten Herren Kollegen davon Kenntnis nehmen könnten, daß sie tatsächlich im 20. Jahrhundert lebten.

Der neugewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat da recht andere Erlebnisse. Die Stadt Bonn, in der vor 1949 noch niemals ein überregionales deutsches Parlament getagt hatte, wurde zur Heimstatt des westdeutschen Parlaments. Hier ist der Bundestag in neuzeitlich konstruierten Gebäuden untergebracht, die keinerlei Anspruch auf architektonische Aussagekraft beanspruchen. Der neue Abgeordnete vermag bald zu spüren: Bonn ist lediglich ein Übergangsquartier, es ist nur im geteilten Deutschland der Sitz des Deutschen Parlaments.

Auch innerhalb des Bundestagsgebäudes gibt sich alles recht modern. Die letzte General-revision der Geschäftsordnung stammt aus dem Jahre 1951. Mit den geschriebenen und ungeschriebenen Spielregeln wird weiterhin experimentiert. Man gibt sich prinzipiell zukunftsoffen, greift Anregungen zu Verfahrens-verbesserungen in der Regel bereitwillig auf und zeigt sich grundsätzlich reformfreudig — und gelegentlich wird sogar etwas reformiert.

Wechselvolle deutsche Parlamentsgeschichte

Es wäre nun aber gewiß ein Irrtum anzunehmen, Organisation und Arbeitsweisen des Kongresses seien lediglich an bewährten und nicht änderbaren Verhaltensmustern orientiert. Daß auch im Kongreß viel von Reform geredet wird und einiges tatsächlich reformiert wird — wir werden darauf noch zurückkommen —, ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist allerdings, daß eine jahrhundertelange, ungebrochene Kongreßtradition es jedem Reformer im amerikanischen Parlament bitter schwer macht.

Andererseits ist der Bundestag zwar relativ jung und reformfreudig, aber auch er ist bekanntlich nicht ohne Vorfahren. Die deutsche Parlamentsgeschichte ist keineswegs auf den Bundestag beschränkt. Einige deutsche Einzel-1) staaten können auf eine recht lebendige Parlamentsgeschichte verweisen, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Zu ihnen gehören Württemberg und Bayern.

Das erste gesamtdeutsche Parlament — und dank der Einbeziehung Österreichs zugleich das erste und letzte wirklich gesamtdeutsche Parlament — trat im Jahre 1848 in Frankfurt am Main zusammen, gewählt auf Grund eines Reichswahlgesetzes, das die Prinzipien der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl respektierte. Es konnte sich nur kurze Zeit seiner Existenz erfreuen. Nach einem Jahr wurde dem Parlament, das eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet hatte, das Lebenslicht wieder ausgeblasen. 1867 erlebte das deutsche Parlament in gewandelter Form, und zunächst bis 1871 auf die Partner des Norddeutschen Bundes beschränkt, seine Neu-geburt. Auch die Abgeordneten dieses Reichs-B tages — wie das in Berlin tagende Parlament seitdem bis 1945 hieß — wurden ebenso wie die des Frankfurter Parlaments von 1848 in Einmannwahlkreisen nach den Prinzipien allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer Wahl gewählt.

Wir nannten den Kongreß im Vergleich zum Bundestag einen „geschichtlichen Patriarchen". Stellen wir jedoch die „Reichstagsgeschichte", ohne die der Bundestag schlechterdings nicht zu verstehen ist, mit in Rechnung, so geht es nicht mehr an, das deutsche Bundesparlament als einen „Neuling" abzutun. Hundert Jahre Parlamentsgeschichte haben ihre Spuren hinterlassen und dürfen nicht unterschätzt werden. Aber selbst wenn nun der Altersunterschied zwischen Kongreß und deutschem Parlament nicht mehr gar so gewaltig erscheint, so bleibt doch für beide in geschichtlicher Perspektive ein Unterschied. wesentlicher Wenn sich ein amerikanischer Kongreßmann unserer Tage über die fundamentalen Kompetenzen und die Organisation seines Parlaments informieren will, dann wird er wie seine Vorgänger im Jahre 1915 oder 1840 oder 1791 stets zunächst nach ein und derselben Verfassung greifen, der Bundesverfassung aus dem Jahre 1787 bzw. 1791. Von den wenigen späteren Ergänzungsartikeln, die den Kongreß betreffen, mag in diesem Zusammenhang abgesehen werden. Sicherlich, kein Kongreß gleicht dem anderen. Jeder Kongreß bleibt, wie David Truman sagt, „ein wohlvertrauter Fremder", denn er ist stets beides zugleich, „alt und immer neu” „Immer neu", weil jeder Kongreß in einer anderen historischen Situation operieren muß, sich mit anderen und neuen Problemen konfrontiert findet, weil seine Mitgliederzusammensetzung ständig wechselt, eine Generation die andere ablöst, weil jede Generation vorgegebene, gleich-bleibende Normen, selbst wenn sie verfassungsrechtlich nur wenig geändert werden, neu oder anders interpretiert, neue Akzente setzt. Dennoch ist jeder Kongreß zugleich „alt"; eben weil der verfassungsrechtliche Grundrahmen, in den der Kongreß einbezogen ist, seit 1787 trotz aller Änderungen prinzipiell der gleiche geblieben ist.

Genau dieser Tatbestand geschichtlicher Kontinuität gilt nicht fürs deutsche Parlament. Während der amerikanische „Patriarch" in einem Gewände heranwachsen konnte, das in Freiheit geschneidert worden war und — wie die glückliche amerikanische Geschichte bewies — das freie Wachstum seiner Glieder nicht über Gebühr beengte oder gar verhinderte, schien das deutsche Parlament auf einem Prokrustesbett geboren zu sein.

Es würde zu weit führen, hier auf die Parlamentsgeschichte näher einzugehen, obgleich — wie gesagt — Kompetenzen, Struktur und Arbeitsweisen sowohl des Kongresses als auch des Bundestages ohne geschichtliche Rückbesinnung nicht voll zu verstehen sind. Der Hinweis mag genügen, daß bei der deutschen Parlamentsgeschichte seit 1867 vier Perioden zu unterscheiden sind:

1. Von 1867 bis 1918 war das deutsche Parlament in eine Verfassungskonzeption einbezogen, die in gewisser Weise einigen Grund-merkmalen des präsidentiellen Regierungssystems entsprach. Diese Verfassungskonzeption wies aber nur beschränkte demokratische Ansätze auf. Das Wilhelminische Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie. Wohl ging der Reichstag aus demokratischen Wahlen hervor — sie waren zu dieser Zeit formell demokratischer als die fast aller anderen Länder der Welt, auch die der USA, wo es damals z. B. noch kein geheimes Wahlrecht gab. Das Parlament konnte aber den Reichs-kanzler, den Chef der Regierung, weder ein-noch absetzen (soweit ähnelten seine Befugnisse denen des Kongresses), denn der Reichs-kanzler war praktisch nur dem Kaiser (und König von Preußen) verantwortlich, der ihn jederzeit ernennen und entlassen konnte. Darüber hinaus vermochte der Kaiser aber den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Zugleich hatten die Beschlüsse des Reichstages nur dann Rechtsgültigkeit, wenn sie mit den Beschlüssen des „Oberhauses", des nicht-demokratisch bestellten Bundesrates (dessen Vorsitz beim Reichskanzler lag), übereinstimmten. Vergleicht man Kongreß und Reichstag in dieser Periode, so läßt sich vereinfachend sagen: Der Reichstag hatte es im Lande mit einem starken Kaiser und einer einflußreichen Erbaristokratie zu tun; das Land selbst war im engen Europa im Norden und Süden wie Osten und Westen von Nachbarn umgeben, die nicht stets als Freunde angesehen wurden. Der Kongreß hatte es demgegenüber weit besser: Im Lande selbst sah er sich weder mit einem Kaiser noch mit einer Erbaristokratie konfrontiert, und außenpolitisch waren die USA im Norden und Süden von guten Nachbarn und im Osten und Westen von Fischen umgeben. Glückliches AmerikaI 2. Die zweite Periode deutscher Parlaments-geschichte von 1919 bis 1933 ist die Zeit der Weimarer Republik. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das demokratische Wahlrecht — als Verhältniswahlrecht — in Deutschland erstmals voll zur Geltung gebracht. Der Reichstag sowohl wie auch der Reichspräsident und die Parlamente der Einzelstaaten (Länder) waren demokratischen Wahlen unterworfen. Gleichzeitig war das parlamentarische Regierungssystem eingeführt worden, d. h. die Regierung wurde vom Vertrauen des Parlaments abhängig, dessen Mißtrauensvotum zum Sturz der Regierung führte. Ein derartiges System vermag nur zu funktionieren, wenn sich die Regierung auf klare, entscheidungsstarke und -willige Parlamentsmehrheiten stützen kann. Das parlamentarische Regierungssystem, wie es in der Weimarer Verfassung konzipiert worden war, setzte voraus, daß sich Wähler, Parteien, Regierung, Reichspräsident und alle anderen Staatsorgane und gesellschaftlichen Gruppen kompromißbereit und in demokratischer Verantwortung zu steter Kooperation willig zeigten. Das war für die Zeit nach 1918 offensichtlich zu viel verlangt. Das System von Weimar scheiterte endgültig, als Reichs-präsident von Hindenburg den Vorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler — der übrigens nie Mitglied des Reichstages war —, am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Er ernannte Hitler, obgleich dieser kein Hehl daraus machte, daß er die Demokratie zerstören wollte und Hitler im Parlament nur eine Minderheit hinter sich hatte, nämlich 248

Abgeordnete. 336 Abgeordnete, eine große Mehrheit also, standen in Opposition. Hitler löste sofort den Reichstag auf, und bald senkten sich die Schatten der Tyrannei über Deutschland.

3. In der dritten Periode deutscher Parlaments-geschichte, von 1933 bis 1945, erlitt mit dem ganzen Lande auch das deutsche Parlament seine tiefste Erniedrigung. Die in SA-Uniform erscheinenden Abgeordneten erhielten zwar weiterhin Diäten, ihre Arbeit bestand jedoch nur noch darin, hin und wieder einmal einer Rede Hitlers zu lauschen, dann „Hurra" zu brüllen und die Nationalhymnen zu singen. Man nannte den Reichstag jetzt den „teuersten Gesangverein Deutschlands".

4. Als der Parlamentarische Rat 1948/49 in Bonn die neue Verfassung diskutierte, standen die Erfahrungen, die Deutschland mit dem parlamentarischen Regierungssystem Weimarer Fasson gemacht hatte, die Niederlage der Demokratie und die scheinlegale Machtergreifung Hitlers bei den Überlegungen und Entscheidungen als drohende Warnung Pate. Das Ergebnis — auf das auch die Besatzungsmächte mit einigem Erfolg Einfluß zu nehmen versuchten — war das Grundgesetz vom 23. Mai 1949.

Es soll hier nicht das Grundgesetz analysiert werden. Es muß genügen, ein paar wesentliche Verfassungszüge aufzuzeigen, die deutlich machen, inwiefern der heutige Bundestag in ein recht andersgeartetes Herrschaftssystem eingebettet ist als der amerikanische Kongreß der Gegenwart. Dazu ist es allerdings erfor-

derlich, zunächst einige grundlegende Begriffe zu klären.

Zur Typologie von Regierungs-, Verfassungs-und Parlamentssystem

Im folgenden sei zwischen vier Typen institutioneller Zuordnungen und zwei Typen institutioneller Grundorientierung unterschieden. Es sind dies im einzelnen:

1. Parlamentarisches Regierungssystem und präsidentielles Regierungssystem.

2. Einheitsstaat und Bundesstaat.

3. Redeparlament und Arbeitsparlament. Parlamentarisches und präsidentielles Regierungssystem Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen parlamentarischem und präsidentiellem Regierungssystem ist darin zu sehen, daß im parlamentarischen System die Regierung — vor allem der Regierungschef — vom Parlament abberufen werden kann. Das hat zur Folge, daß eine Regierung nur solange im Amt bleiben kann, wie sie von einer parlamentarischen Mehrheit getragen wird. Fehlt ihr die Mehrheit, stürzt die Regierung. Stabilität und Geschlossenheit einer parlamentarischen Mehrheit werden geradezu identisch mit der Stabilität, Handlungsfähigkeit und Krisenfestigkeit der Regierung.

Im präsidentiellen System kann die Regierung vom Parlament nicht abberufen werden. Die Regierung bleibt auch dann im Amt, wenn die parlamentarischen Mehrheiten wechseln oder nicht geschlossen handeln. Die Amtsdauer und Stabilität der Regierung sind nicht abhängig von bzw. identisch mit der Schaffung geschlossen handelnder, stabiler parlamentarischer Mehrheiten. Der Amtserfolg und die Regierungsleistungen sind nur davon abhängig, ob Regierungsvorlagen im Parlament überhaupt Mehrheiten finden.

Einheitsstaat und Bundesstaat Im Einheitsstaat gibt es nur ein zentrales Parlament, das (gleichgültig ob ein-oder zweikammerig strukturiert) über die Fülle aller Gesetzgebungsbefugnisse verfügt. Selbstverwaltungskörperschaften auf regionaler oder kommunaler Ebene sind, aller zugestandenen Autonomien zum Trotz, den Entscheidungen des Parlaments grundsätzlich unterworfen und wirken bei Verfassungsänderungen nicht mit. Im Bundesstaat besteht demgegenüber eine Kompetenzaufgliederung zwischen bundes-und einzelstaatlichen Befugnissen. Die Einzelstaaten verfügen über eigene Kompetenzbereiche und wirken auch ganz oder teilweise bei der Bundesgesetzgebung durch eine zweite Kammer maßgeblich mit. Die Mitwirkung gilt insbesondere für Verfassungsänderungen.

Im Einheitsstaat kann das Parlament aus einer einzigen Kammer bestehen; falls ein Zweikammersystem gegeben ist, wird das Ubergewicht in der Regel eindeutig bei einer Kammer liegen. In einem Bundesstaat hingegen ist das Parlament nur als Zweikammer-Parlament möglich. Entweder haben dabei beide Kammern fast gleiche Machtbefugnisse — das ist im amerikanischen Kongreß der Fall —, oder eine Tendenz zum Einheitsstaat wird deutlich.

Redeparlament und Arbeitsparlament Ein Redeparlament ist ein eminent politisches Parlament. Es erhebt vor allem den Anspruch, das wichtigste Forum der öffentlichen Meinung, die offizielle Bühne aller großen, die Nation bewegenden politischen Diskussionen zu sein. Die Parlamentsrede hat verschiedene grundlegende Funktionen zu erfüllen: Rechtfertigung eigener Entscheidungen, Kritik an der Haltung anderer, öffentlich-wirksame Kontrolle, Information und politische Bildung im weitesten Sinne. Im Parlamentsplenum wird nicht primär diskutiert, um sich gegenseitig zu überzeugen. Derartige „Überzeugungs-

Gespräche" finden auf anderen Ebenen in größeren und kleineren Gruppen sowie in vielerlei Form und Weise statt. Die parlamentarische Plenarrede gilt im wesentlichen Maße der öffentlichen Meinung, der Presse, dem Wähler. Das Redeparlament lebt davon, daß die wichtigsten Redepartner entscheidende politische Macht repräsentieren. Daher steht im Zentrum die Debatte zwischen Premier und Oppositionsführer, zwischen Minister und „Schattenminister". Das Redeparlament hat daher nur dort eine Chance, wo Regierungschef und Oppositionsführer Mitglieder des Parlaments sind oder zumindest in ihm ein Rederecht und eine Auskunftspflicht haben.

Ein Redeparlament wird nur dort seinen Funktionen gerecht, wo Parlamentsreden mit wacher Resonanz in der öffentlichen Meinung rechnen können. Das Zusammenspiel zwischen einer glaubwürdigen, systematischen und überzeugenden Opposition und einer kritischen öffentlichen Meinung wird zum wichtigsten Element wirksamer politischer Kontrolle.

Während im Redeparlament das Plenum eine wesentliche Rolle spielt, verlagern sich im Arbeitsparlament Macht und Arbeit in entscheidender Weise in die Ausschüsse. Nicht der Redner, sondern der kenntnisreiche Detail-experte, unermüdliche Sachbearbeiter wird zur wichtigsten Parlamentsfigur. Der Machteinfluß des einzelnen Abgeordneten hängt jetzt vor allem von seiner Position im parlamentarischen Ausschußsystem ab. Im Arbeitsparlament findet die Regierungskontrolle nicht primär dadurch statt, daß die Regierung und Verwaltung sowie deren politische Apologeten, die Mehrheitsparteien, im Plenum von der Opposition öffentlich zur Rede gestellt und wirksam kritisiert werden. Hier wird das Parlament vielmehr weitgehend zu einer Spezialbürokratie, in der parlamentarische Experten Experten der Exekutive in höchst intensiver Weise um Rede und Auskunft ersuchen und bis zu Detailfragen und bis zu kleinsten Einzelposten hin überprüfen und weitgehend durch Bestimmungen im vorn-hinein festzulegen versuchen.

England: parlamentarisches Regierungssystem, Einheitsstaat, Redeparlament

Diese sechs verschiedenen skizzierten Typen können in der politischen Praxis in sehr verschiedener Kombination, Ausprägung und in mannigfachen Zwischenformen auftreten. Als zwei klassische Beispiele konsequenter, geschichtlich gewachsener Kombinationen, die darauf hinweisen, daß je drei der genannten Typen innerlich zueinander gehören, lassen sich das englische und amerikanische Regierungssystem präsentieren.

In England bilden das parlamentarische Regierungssystem, der Einheitsstaat und das Redeparlament eine geschlossene Einheit. In England gibt es faktisch nur ein Parlament, auf das jedermann seine Blicke richtet, das Unterhaus in London. Die parlamentarische Mehrheit im Unterhaus muß so geartet sein, daß die Regierung handlungsfähig und das System krisenfest bleibt. Daß es zu stabilen Mehrheiten kommt, dafür haben die Parteien zu sorgen. Ohne Parteidisziplin können sie diese zentral wichtige Funktion im parlamentarischen Regierungssystem nicht erfüllen. Ohne Parteidisziplin sind weder stabile Mehrheiten noch eine geschlossene, verantwortliche Opposition möglich. Nur bei einer klaren Gegenüberstellung von Mehrheit und Opposition kann das Redeparlament dem Wähler grundlegende Alternativen und Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen. Ohne Parteidisziplin verliert jede Partei ihr Profil. Parteien, die keine Geschlossenheit zeigen, können vom Wähler schwerlich auf demokratische Weise zur Verantwortung gezogen werden. Sie entziehen sich der Bereitschaft zu kollektiver Verantwortung, zur Verantwortung als Gruppe. Das Funktionieren des englischen Regierungssystems, in dem parlamentarisches System, Einheitsstaat und Rede-parlament eine Einheit bilden, ist, ebenso wie die Arbeitsweisen des Unterhauses, ohne die Phänomene Opposition und Parteidisziplin nicht zu verstehen.

USA: präsidentielles Regierungssystem, Bundesstaat, Arbeitsparlament

In Nordamerika bilden demgegenüber das präsidentielle Regierungssystem, der Bundesstaat und das Arbeitsparlament eine geschlossene Einheit. Opposition, Partei und Partei-disziplin haben in diesem System andere Funktionen als im englischen zu erfüllen. Dieser prinzipielle Unterschied zwischen England und den USA kommt nicht von ungefähr. A. Lawrence Lowell hatte schon 1901 auf folgende Tatsachen hingewiesen Das entwik-kelte englische parlamentarische Regierungssystem ist fast ein halbes Jahrhundert jünger als das präsidentielle der USA. Das parlamentarische System ist im wesentlichen eine Erfindung der englischen Parteien, die die Schöpfer der Grundzüge und Arbeitsprozesse des Systems sind. Sie haben entscheidende Charakterzüge ihrer eigenen Struktur auf den Staat übertragen. Wir können hinzufügen: Das parlamentarische System scheint die einzige Regierungsform zu sein, um Demokratie und Monarchie weitgehend miteinander zu versöhnen. In den USA ist demgegenüber die geschriebene Verfassung älter als die Partei moderneren Typs. Die Mehrheit der Verfassungsväter war ausgesprochen parteifeindlich eingestellt. Die Partei sollte außerhalb der Verfassung bleiben. Man nahm an, das System würde auch ohne Parteien funktionieren, ja es würde ohne deren Einmischung weit besser arbeiten. Das System der Hemmungen und Gegengewichte („checks and balances") der amerikanischen Verfassung ist jedoch ohne die Vermittlung von Parteien zum Stillstand verurteilt. Die Bildung von Parteien erwies sich somit in der Praxis als eine dringende Notwendigkeit, falls ein Minimum an politischer Aktion erreicht werden sollte. So nahm die Geschichte der modernen Parteien unmittelbar nach Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung in der Neuen Welt ihren Ausgangspunkt. Es bildeten sich aber nicht Parteien des englischen Typs, Parteien kollektiver Verantwortlichkeit und kollektiver Operation in Personal-und Sachfragen, sondern Parteien, die zwar in Personalfragen ein hohes Maß an Geschlossenheit entwickelten, sich in Sachfragen aber mit Minimalforderungen zufrieden gaben.

Das wichtigste Merkmal der zwei großen amerikanischen Parteien liegt auch heute noch in der Dezentralisation innerparteilicher Macht. Jede der zwei Mammutparteien findet sich nur gelegentlich auf Bundesebene zu gemeinsamer Aktion zusammen, am deutlichsten sichtbar zur Wahl eines Präsidenten und Vizepräsidenten.

Während in England somit die Parteien die wichtigsten Organisationsweisen des Systems nach ihrem Bilde formten, haben sich die amerikanischen Parteien in ihrer eigenen Struktur den Erfordernissen und Leitbildern der vorgegebenen Verfassung angepaßt. Sie haben das nach Meinung einiger Beobachter so perfekt getan, daß die Parteien heute geradezu als die Garanten eines dezentralisierten Regierungssystems in Amerika angesehen werden

Im Kongreß spiegeln sich die Eigenheiten der amerikanischen Parteien wider. Da der Kongreß als Parlament eines präsidentiellen Systems fungiert, haben in ihm die Parteien folglich nicht die Aufgabe, stabile Mehrheiten zu bilden, um die Regierung im Amte zu halten. Der wichtigste Antrieb zur Parteidisziplin fällt somit fort. Strikte Parteidisziplin wird jedoch praktiziert, wenn die Machtpositionen im Kongreß zu besetzen sind. Bei der Wahl des „Speaker" im Hause ist es beispielsweise Tradition, daß beide Parteien hundertprozentige Parteidisziplin zeigen. Stellen die Demokraten in beiden Häusern die Mehrheit, so ist es selbstverständlich, daß alle entscheidenden parlamentarischen Positionen von Demokraten besetzt werden. Wohl kann ein demokratischer Präsident einen Republikaner in sein Kabinett berufen — das tat z. B. Präsident Kennedy mit Robert S. McNamara als Verteidigungsminister und Douglas Dillon als Finanzminister —, aber einen republikanischen Ausschußvorsitzenden bei demokratischen Majoritäten würde man im Kongreß vergeblich suchen.

Spielt die Partei somit in personalpolitischen Fragen eine ausschlaggebende und bei der Bildung regierungstragender Mehrheiten mangels Notwendigkeit überhaupt keine Rolle, so kommt ihr bei der Entscheidung über Gesetzgebungsund sonstige Sachfragen nur eine untergeordnete Rolle zu. Der Präsident kann sein Programm notfalls auch vermittels ad hoc-Mehrheiten durchsetzen. Erleidet er dabei Niederlagen, führen sie keineswegs zum Regierungssturz. In der Praxis wartet man notfalls auf eine Krise, die dann gegebenenfalls genügend Druck hervorruft, um notwendige Vorlagen im Kongreß durch-zubringen.

Während es in England kein ernsthaftes Problem darstellt, wie die Mehrheit bei Vorlagen der Regierung entscheiden wird, können im Kongreß mitunter selbst die besten „Stimmungs-Kenner" nicht voraussagen, ob eine Regierungsvorlage überhaupt eine Mehrheit finden wird und aus welchen Abgeordneten sie sich letztlich zusammensetzen wird. Dennoch haben eine Fülle neuerer Abstimmungsstudien nachgewiesen, daß die Partei auch in Gesetzgebungsfragen, wie Julius Turner sagt, „enger als irgendein anderer erkennbarer Faktor mit dem Abstimmungsverhalten im Kongreß verbunden bleibt ... Mit anderen Worten: im Kongreß war die Parteidisziplin hinreichend stark genug, um es den Wählern zu ermöglichen, zwischen dem Abstimmungsverhalten der beiden Parteien zu unterscheiden" Als Gründe für dieses überraschende statistische Resultat führt Allen M. Potter u. a. an: „Daß ein moderner Abgeordneter weitgehend zu wählen hat, ob er bei seinen Abstimmungen der Partei oder seinem Gewissen folgen will, ist ein Mythos. Seine Wahlmöglichkeit ist in der Regel darauf beschränkt, ob er seiner Partei oder einer Interessengruppe folgen will. Der britische Abgeordnete stimmt in Übereinstimmung mit seiner Partei ab, der amerikanische Kongreßmann folgt Interessengruppen ... Da jedoch die Mehrheit jeder der drei Hauptgruppen im Kongreß — Republikaner, Süddemokraten und Norddemokraten — gewöhnlich aus Wahldistrikten kommt, die ungefähr gleichgeartet sind, und es daher mit den gleichen Interessengruppen zu tun haben wird, ist bei namentlichen Abstimmungen im Kongreß zumindest ein gemäßigter Parteilichkeits-Charakter bei jeder der drei genannten Hauptgruppen erkennbar." Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Lewis A. Froman, wenn er sagt: „Letzten Endes stammt wohl der wichtigste Druck, der auf Kongreßabgeordnete ausgeübt wird, von den Wahldistrikten ... Jedoch besagen , Wahldistrikt-Einfluß'und . Partei-Einfluß'oftmals genau dasselbe." Freilich, im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere zu Großbritannien, sind in den USA ausgesprochene Partei-abstimmungen, bei denen sich die Parteien als fast perfekt geschlossen abstimmende Einheiten gegenüberstehen, die Ausnahme, nicht die Regel. Bei einem Vergleich mit europäischer Parteidisziplin müssen die Amerikaner sehr schlecht abschneiden. Für amerikanische Verhältnisse jedoch ist die Parteidisziplin — oder besser Parteikohäsion — im Kongreß erstaunlich hoch, denn weder innerhalb noch außerhalb des Kongresses sind die Parteien auf Bundesebene in der Lage oder ernsthaft willens, ihre Mitglieder für gute Leistungen wirksam zu belohnen oder für Partei-vergehen ernsthaft zu bestrafen. (Daß zu Beginn dieses 89. Kongresses den demokratischen Abgeordneten Williams aus Mississippi und Watson aus South Carolina die Seniorität entzogen wurde, da beide öffentlich den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Goldwater unterstützt hatten, ist ein ausgesprochener Seltenheitsfall.) Der Einfluß der Bundesparteien wird innerhalb des Kongresses vor allem durch die Wirksamkeit des Senioritätsprinzips und außerhalb des Kongresses durch die Tatsache beschnitten, daß die Kongreßparteien auf die Nomination und weitgehend auch die Wahl ihrer Mitglieder in der Regel überhaupt keinen Einfluß haben, weder finanziell noch organisatorisch.

Der Parteieinfluß auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten innerhalb des Kongresses ist im Repräsentantenhaus etwas größer als im Senat. Schon die Geschäftsordnung räumt dem einzelnen Senator weit größere Freiheiten ein, als sie dem Hausmitglied zustehen. Schließlich umfaßt der Senat nur 100 Mitglieder, während das Repräsentanten-haus 435 Mitglieder zählt.

Wir sagten, in den USA bilden präsidentielles Regierungssystem, Bundesstaat und Arbeitsparlament eine Einheit, in der die Parteien ganz spezielle, weitgehend systembedingte Funktionen erfüllen, wo Opposition und Mehrheit sich nicht klar als geschlossene Parteien gegenüberstehen und die Parteidisziplin keine ausschlaggebende Rolle spielt.

In England bilden andererseits parlamentarisches Regierungssystem, Einheitsstaat und Redeparlament eine Einheit, in der Opposition und Mehrheit einander klar gegenüberstehen, die Parteien als relativ geschlossene Einheiten auftreten sowie als kollektive Gruppen Verantwortung tragen und die Parteidisziplin eine fundamentale Funktion zu erfüllen hat.

„Mischform" in der Bundesrepublik

Welches Bild bietet nun die Bundesrepublik Deutschland? Die Bundesrepublik repräsentiert im Vergleich zum englischen und amerikanischen Modell eine „Mischform". Sie hat im Gegensatz zu den USA ein parlamentarisches System, und zwar in engster Anlehnung an das englische Modell. Zugleich ist sie aber im Gegensatz zu England eine Bundesrepublik; und der Bundestag ist weder ein Redeparlament des englischen Typs noch ein Arbeitsparlament des amerikanischen Typs. Der Bundestag ist weitgehend beides, oder will es anscheinend sein: sowohl ein Rede-7)

Parlament mit starker Fraktionsdisziplin als auch ein Arbeitsparlament, in dem ein Hauptteil an parlamentarischer Macht und Arbeit in den ständigen Fachausschüssen zu finden ist bzw. geleistet wird. Im Bundestag können demnach der Parteiredner und der Fachexperte gleichermaßen zu den wahren Heroen des parlamentarischen Kampffeldes aufsteigen. Ein paar Daten zum Vergleich: Im englischen Unterhaus, in dem es keine ständigen Fachausschüsse für bestimmte Gesetzesbereiche gibt, können nur zwei Drittel der 620 Abgeordneten im Plenum Platz finden und je etwa dreißig Abgeordnete müssen sich ein „Arbeitszimmer" teilen. Im Deutschen Bundestag gibt es heute 28 ständige Fachausschüsse, die über erhebliche Machtbefugnisse verfügen, alle Abgeordneten haben einen festen Platz im Plenum (wie das im amerikanischen Senat der Fall ist) und etwa zwei Abgeordnete teilen sich einen Arbeitsraum und eine Schreibkraft. Im amerikanischen Kongreß wird die Hauptarbeit in den ständigen Fachausschüssen geleistet, denen im Senat und Repräsentanten-haus eine Macht zusteht, wie sie in keinem anderen Parlament der Welt zu finden ist, und jedes Mitglied des Repräsentantenhauses hat rund fünf und jeder Senator rund acht und mehr Angestellte und Sekretäre. Gleichzeitig stehen jedem Mitglied des Repräsentanten-hauses zumindest zwei offizielle Arbeitsräume, jedem Senator mindestens drei Zimmer zur ausschließlichen Benutzung zur Verfügung, ganz zu schweigen von den großen Mitarbeiterstäben, mit denen jeder Kongreßausschuß und Unterausschuß ausgestattet ist und deren Umfang und Einfluß in keinem europäischen Parlament ein ernsthaftes Gegenstück finden.

Da die Bundesrepublik ein parlamentarisches Regierungssystem aufweist, in dem die Regierung jederzeit dadurch abberufen werden kann, daß ein neuer Kanzler mit absoluter Mehrheit der Abgeordneten gewählt wird, vermag das System nur dann krisenfest zu funktionieren, wenn die Parteien Disziplin üben. Die Parteidisziplin wird im Bundestag fast so streng gehandhabt und eingehalten wie im englischen Unterhaus. Sie hat dafür zu sorgen, daß in den wichtigsten Ausschußposten Abgeordnete sitzen, die zu den Vertrauensmännern der Partei bzw. zu deren Führungsgruppen gehören. Pärteidisziplin wird weder im Bundestag noch im englischen Parlament primär dadurch bewirkt, daß man ungetreue Mitglieder direkt bestraft, sondern indem man sie nicht fördert, sie nicht in erstrebenswerte Machtpositionen hineinwählt und sie damit faktisch indirekt benachteiligt. Die wichtigsten Vorarbeiten und Abstimmungen im parlamentarischen Entscheidungsprozeß finden einmal in den jeweiligen Fraktionssitzungen und denen der Fraktionsausschüsse (Arbeitskreise der Fraktionen) statt, zum anderen in den ständigen Fachausschüssen des Bundestages und deren Unterausschüssen. In den Plenarsitzungen werden die Ergebnisse der Fraktions-und Ausschußsitzungen öffentlich „registriert", in Reden gerechtfertigt oder angegriffen bzw. gegebenenfalls in Einmütigkeit von allen Parteien stillschweigend akzeptiert — was übrigens nicht nur im Kongreß, sondern ebenso im Unterhaus und Bundestag recht oft geschieht.

Da im Bundestag der Kanzler und die Minister nicht nur in den Ausschüssen, sondern auch im Plenum Rede und Antwort stehen müssen, können gelegentlich Debatten, Interpellationsdiskussionen und Fragestunden das weitere Interesse der öffentlichen Meinung in stärkerem Ausmaße gewinnen. Bei der öffentlich-wirksamen Kontrolltätigkeit des Bundestages stehen der Opposition besondere Befugnisse zu. Sie kann notfalls auch als Minderheit vom Bundestag die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses erzwingen — ein verfassungsmäßig garantiertes Minderheitsrecht, über das — im Unterschied zu allen ausländischen Parlamenten — nur die Opposition im Deutschen Bundestag verfügt.

Daß Parteidisziplin in der Regel etwas anderes als blinder Gehorsam gegenüber der Regierung ist, geht bereits aus der Tatsache hervor, daß — wie der sozialdemokratische Politiker Adolf Arndt immer wieder hervorgehoben hat — kaum eine Gesetzesvorlage der Regierung vom Bundestag unverändert angenommen wird. So manche Regierungsvorlage ist darüber hinaus schon in den Bundestagsausschüssen stillschweigend begraben worden. Die Regierung kann nur dann erfolgreich mit ihren Vorlagen sein, wenn sie innerhalb ihrer Parteimehrheit einen breiten Konsensus gefunden hat. Das zu erreichen ist nicht immer ganz einfach. Für diese Schwierigkeit einer Konsensusbildung sind vor allem zwei Tatsachen verantwortlich: 1. Auf die personelle Zusammensetzung der Fraktion im Bundestag hat der Bundesvorstand der Partei nur einen relativ geringen und indirekten Einfluß (hauptsächlich auf finanziellem Gebiet). Hier macht sich die bundesstaatliche Struktur Westdeutschlands bemerkbar. In der diesjährigen Bundestagswahl wurden 248 Abgeordnete des Bundestages in Einmannwahlkreisen gewählt und 248 über Landeslisten, über die Parteikandidaten der Einmannwahlkreise entscheiden letztlich (laut Wahlgesetz vom 7. Mai 1956, § 22) allein die Parteigruppen im Wahlkreis, über die Landeslisten entscheiden letztinstanzlich die Landesparteiorganisationen (§ 28). 2. Ein weiteres kommt hinzu. Die Interessengruppen versuchen im Konkurrenzkampf ihre Interessen auf allen Entscheidungsebenen zur Geltung zu bringen: durch Einflußnahme auf die öffentliche Meinung, andere Interessengruppen, Parteien, einzelne Abgeordnete, Verwaltung und Regierung. Das ist grundsätzlich ihr gutes Recht, von dem sie in den USA ebenso Gebrauch machen wie in Deutschland und England. Während sich die Interessen-gruppen in den USA jedoch weniger auf die Parteien als solche konzentrieren, sondern mehr einzelne Abgeordnete zu bearbeiten suchen, ist diese Methode in Deutschland weit weniger erfolgversprechend, da der einzelne Abgeordnete ja der Parteidisziplin unterworfen ist. Insoweit schützt die Parteidisziplin den einzelnen Abgeordneten vor übergroßem Druck durch Interessengruppen.

Dafür sind die Interessengruppen nun daran interessiert, Vertreter ihrer Organisationen als „Werber" und „Informationsquellen" in die Parteifraktionen selbst hineinzubekommen. Das Ergebnis ist, daß zahlreiche Abgeordnete Vertreter von Interessengruppen sind, die sich zwar letztlich der Parteidisziplin beugen müssen, aber zugleich dafür sorgen können, daß ein innerparteilicher Konsensus auf ihre Kosten zumindest nicht zu überstürzt zustandekommt. Eine Parteiführung, die bei der Bildung eines derartigen Konsensus allzu rücksichtslos verfährt, kann sehr bald mit Widerstand und Krisenerscheinungen in der Partei rechnen bzw. schlimmstenfalls eine Parteizersplitterung oder Parteispaltung und damit gar ihren Sturz heraufbeschwören.

Der Föderalismus wirkt sich auf den Bundestag aber nicht nur über die Parteistruktur aus. Denn neben dem Bundestag steht, in gewissem Sinne als zweite Kammer, der Bundesrat, die Vertretung der Länder. Erst beide zusammen, Bundestag und Bundesrat, bilden das eigentliche Gegenstück zum Kongreß, der ja aus dem Repräsentantenhaus und dem Senat besteht. Der Bundesrat ist aber, obgleich er im deutschen System der Hemmungen und Gegengewichte („checks and balances") eine ziemlich machtvolle Position einnimmt, nicht ganz mit dem Senat zu vergleichen.

Der Bundesrat ist einmal nicht — wie der Senat — in allen Gesetzgebungsbereichen in gleicher Weise beteiligt. In einigen Bereichen kann er nur Einspruch erheben, der vom Bundestag aber überstimmt werden kann; in anderen Fragen jedoch, wie etwa bei Verfassungsänderungen, ist die Rechtsgültigkeit eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung an die Zustimmung des Bundesrates gebunden. Setzt sich der amerikanische Senat aus 100 Senatoren zusammen (je Staat zwei, unabhängig von dessen Größe und Bevölkerungszahl), so besteht der Bundesrat aus Vertretern bzw. Mitgliedern der Landesregierungen, die weisungsgebunden sind und nur je Land geschlossen ihre Stimme abgeben können. Von den 11 Bundesländern haben die größten je fünf Stimmen, die kleinsten, wie Bremen, Hamburg und das Saarland, je drei; Berlin hat vier Stimmen. Insgesamt umfaßt der Bundesrat gegenwärtig 41 Stimmen.

Wechselt eine Landesregierung von einer Partei zur anderen — nach deren Sturz oder nach einer Landtagswahl, die nicht in allen Ländern gleichzeitig stattfinden —, so ändert sich auch die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates.

Eine enge Kontaktmöglichkeit zwischen Bundesrat und Bundestag ist dadurch gegeben, daß die Bundesratsmitglieder im Plenum wie in allen Ausschüssen des Bundestages anwesend sein dürfen und auf Verlangen jederzeit gehört werden müssen. So konnte z. B.der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, der Berliner Regierende Bürgermeister Willy Brandt, der nicht Mitglied des Bundestages war, dort wenigstens zu Worte kommen, wenn auch als Sprecher des Landes Berlin und nicht in seiner Eigenschaft als Oppositionsführer.

Stimmen Bundesrat und Bundestag bei einer Gesetzesvorlage nicht überein, so kann, wie im Kongreß, ein Vermittlungsausschuß angerufen werden. Dieser Ausschuß ist aber im Gegensatz zu seinem amerikanischen Pendant ein ständiger Ausschuß. In ihm sind auch die Bundesratsmitglieder nicht mehr weisungsgebunden (Art. 77, 2 GG). Diese Weisungsfreiheit kann im Konfliktsfalle bedeutsam sein. Denn einmal wird damit der Vermittlungsausschuß von Bundesratsmitgliedern besetzt, die nicht mehr Beauftragte einer Landesregierung sind, sondern Repräsentanten des Bundesorgans „Bundesrat"; zum anderen dient das zur Überwindung der systemimmanenten Spannung zwischen parlamentarischem Regierungssystem und Bundesstaat. Daß parlamentarisches Regierungssystem und Bundesstaat eigentlich nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, kann kaum geleugnet werden. Was nützt einer Regierung mit disziplinierter Mehrheit ihre Macht und Bereitschaft zu ungeschmälerter politischer Verantwortlichkeit, wenn ein unabhängiger Bundesrat in einigen Fragen über ein suspensives, in anderen Bereichen aber sogar über ein absolutes Veto verfügt? Um dem entgegenzuwirken, versuchen Bundespartei und Landesparteier, engsten Kontakt miteinander zu wahren. Die Bundespartei muß daran interessiert sein, falls sie im Bundestag die Mehrheit besitzt, diese auch im Bundesrat zu erreichen bzw. zu erhalten. Deshalb wird sie zugleich dafür sorgen müssen, daß den Bundesratsmitgliedern im Vermittlungsausschuß, die der gleichen Partei angehören, nahegelegt wird, den Gesichtspunkt notwendiger Parteitreue nicht völlig außer acht zu lassen. Daß die einflußreichen Herren des Vermittlungsausschusses (je elf vom Bundestag und elf vom Bundesrat entsandt) allerdings nicht stets diesen Partei-bitten folgen, wird mitunter offen eingestanden und beklagt.

Daß die Bäume einer disziplinierten parlamentarischen Parteimehrheit nicht in den Himmel wachsen, dafür haben vor allem die Wahlen zu sorgen. Alle vier Jahre wird der Bundestag gewählt. Die Wähler und das Wahlsystem haben bisher dafür Sorge getragen und bewirkt, daß nur einmal, im dritten Bundestag von 1957— 1961, eine Partei — die CDU/CSU — die absolute Mehrheit stellte. Daß parlamentarische Majoritäten darüber hinaus ihre Entscheidungen stets in Überein-stimmung mit den Vorschriften der Verfassung ausüben — was vornehmlich für verabschiedete Gesetze gilt —, darüber hat das Bundesverfassungsgericht zu wachen. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Bundesrepublik der Hüter der Verfassung — insofern das Gegenstück zum amerikanischen Supreme Court.

Reformbestrebungen in den USA

Zum Schluß ein kurzes Wort über die Gegenwartsdiskussionen zum Kongreß und Bundestag. Das Institut, das von allen Diskussionspartnern als ausgezeichnet und in keinerlei Hinsicht als reformbedürftig bezeichnet wird, muß noch erfunden werden. So ist auch der Kongreß, trotz aller Bewährung in der Vergangenheit, heute erneut Gegenstand einer hitzig geführten Auseinandersetzung. Auf der einen Seite stehen dabei diejenigen, die, unter Verweis auf sein vortreffliches Funktionieren in vergangenen Jahrzehnten, den Status quo verteidigen. Zu ihnen gehören vor allem jene Kongreßabgeordneten, die dank hoher Seniorität im Kongreß entscheidende Machtpositionen innehaben oder als Minoritäten von gegenwärtigen Gepflogenheiten und Traditionen reichlich profitieren.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die meinen, daß Bewährung in der Vergangenheit keine Garantien für eine Bewährung in der Zukunft biete und daß diese Zukunft mit ihren gewaltigen Forderungen hohe und neue Ansprüche ans Parlament stellen werde. Für sie steht es außer Frage, daß der Kongreß ohne tiefgreifende Reformen und einen Haltungswandel vieler Abgeordneter schwerlich diesen künftigen Aufgaben gerecht werden könne. Zugleich sind sie gar nicht überzeugt davon, daß sich der Kongreß bisher tatsächlich so sehr bewährt habe.

Beide Diskussionsgruppen berufen sich bei ihrem heutigen Disput gern auf die Bekenntnisse eines der größten und erfolgreichsten Kongreßmänner der Gegenwart, der seine Grundüberzeugungen 1958 in dem Artikel „My Political Philosophy" niederlegte

Lyndon B. Johnson schrieb damals — und diese Stelle wird vor allem von den „Status quo-Verfechtern" angeführt:

„In unserem Regierungssystem besteht die wahre Aufgabe des Kongresses darin, 531 Individuen, die 170 Millionen Individuen repräsentieren, zusammenzubringen, damit sie bei ihren Entscheidungen über den Weg, den die Nation einschlagen soll, eine Überein-stimmung erreichen können (achieve a consent) ... Ich glaube nicht, daß wir eine Antwort gefunden haben, bevor wir zu einer die ganze Nation umfassenden Antwort gelangt sind, zu einer Antwort, der alle vernünftigen Menschen zustimmen können. Unsere Arbeit ist nicht getan, bevor wir diese Antwort gefunden haben — selbst wenn uns das Jahre unseres Lebens kosten sollte."

Auf der anderen Seite stehen die ungeduldigen Reformer, die unter dem Eindruck der Tatsache, daß Zeit heute sehr kostbar geworden ist und daß die Tage drängen, mit weit größerer Freude eine andere Passage aus Johnsons Artikel zitieren:

„Eine lebensvolle Regierung darf in keinem Bereich einen Stillstand dulden — weder im außenpolitischen noch im innenpolitischen. Sie muß nach Lösungen im nationalen Interesse suchen: energisch, mutig und vertrauensvoll." Und die Reformer stimmen in diesem Zusammenhang mit Allen M. Potter überein, der 1955 geschrieben hatte:

„Regierung durch Konsensus ist ein Ideal, das in der amerikanischen Verfassungstradition fest verwurzelt ist. Indem es Maßhaltung betont, entspricht es den Bedürfnissen einer Mittelstandsgesellschaft. Es wäre ungerecht, leugnen zu wollen, daß viele Kongreßmänner bemüht sind, diesem Ideal zum Durchbruch zu verhelfen. Aber es wäre ein Fehler, zu übersehen, daß „Konsensus", solange er nicht vom Präsidenten gelenkt wird, in der Praxis lediglich . Herumwursteln'und . Gefälligkeitswirtschaft'(, log-rolling ) bedeutet."

Daß die amerikanischen Präsidenten in den letzten Jahren ihre Führungsaufgaben sträflich vernachlässigt hätten, wird von wenigen Reformern ernsthaft behauptet. Ihrer Meinung nach liegt das wahre Problem vielmehr in der Unfähigkeit des Kongresses bzw.der in ihm vertretenen Parteien, präsidentielle Empfehlungen und Vorschläge verantwortlich aufzugreifen. Die wichtigsten Kampfesdevisen der Reformer fordern daher: „Schaffung eines eindeutigen verantwortlichen Zwei-Parteien-Systems", und: „Etwas mehr Parteidisziplin, bitte"! Lang und umfangreich sind die Listen detaillierter Verbesserungsvorschläge, die allerorts präsentiert werden. Zu den als „dringend" bezeichneten Reformanregungen gehören Vorschläge für ein stärker zentralisiertes Parteiensystem, für eine totale Neuorientierung im entscheidend wichtigen Bereich der Wahldistrikteinteilungen gemäß dem Grundsatz „eine Person, eine Stimme" („one man, one vote") und für eine durchgreifende Reform der Arbeitsweisen und Geschäftsordnungsregeln in beiden Häusern des Kongresses. In den letzten Jahren war die Aufmerksamkeit der Reformer und einer breiteren Öffentlichkeit im wesentlichen auf den insgesamt nicht sehr erfolgreichen Kampf um den machtvollen Geschäftsordnungsausschuß (House Rules Committee) des Repräsentanten-hauses und die „Filibuster" -Frage (Recht der unbegrenzten Rede) im Senat konzentriert.

Alle zwei Jahre, zu Beginn eines neuen Kongresses, ist die große Stunde für die Kongreßreformer gekommen. Dann wird über die Geschäftsordnung beschlossen. Seit dem Reform-gesetz vom Jahre 1946 („Legislative Reorga-

nization Act"), das sich im wesentlichen auf eine Neuordnung des Ausschußsystems be-schränkt hatte, blieb es aber bei minimalen Änderungen. Zwar ist die im Kongreß anfallende Arbeitslast seit dem Zweiten Weltkrieg gewaltig angestiegen, die parlamentarische Maschinerie arbeitet jedoch im Atomzeitalter weiterhin mit konventionellen Methoden. Sie zu modernisieren ist bei dem starken Widerstand einflußreicher innerparlamentarischer Machtgruppen nur mit Hilfe starken öffentlichen Drucks möglich. Ihn für eine derart komplizierte Materie wie die Kongreßreform wirksam zu entfachen, erwies sich bisher als hoffnungslos. So mancher Reformer sieht resignierend äußerst kritische Zeiten voraus. Unter diesem Gesichtswinkel brachte die Eröffnung des 89. Kongresses überraschende Er-folgsnachrichten. Freilich, im Senat führten die Debatten zur Filibuster-Frage (Geschäftsordnungsregel Nr. 22) bisher zu keinem Ergebnis. Aber im Repräsentantenhaus kam es zu ein paar Neuregelungen, die der Mehrheit und ihren Führern künftig eine größere Handlungsfreiheit einräumen werden. Zu ihnen gehören nicht nur die Stärkung der Position des „Speaker" und ein paar wichtige prozedurale Vereinfachungen, wie z. B. bei der Anrufung und Einsetzung eines Vermittlungsausschusses im Konfliktsfalle zwischen Repräsentantenhaus und Senat. Zur bedeutsamsten Geschäftsordnungsreform schrieb die New York Times am 6. Januar 1965 in einem Kommentar:

„Am ersten Sitzungstage der neuen Wahlperiode errang das Repräsentantenhaus einen Sieg zugunsten eines der wichtigsten seiner eigenen Rechte — nämlich des Rechts, abzustimmen. Bisher hatten die Abgeordneten des Repräsentantenhauses nur dann die Möglichkeit, über eine wichtige Gesetzesmaterie abzustimmen, falls der Geschäftsordnungsausschuß (Rules Committee) die Erlaubnis erteilte, daß eine Vorlage im Plenum überhaupt zur Abstimmung gelangen dürfe. Dies Verfahren wurde nun geändert. Sollte der Geschäftsordnungsausschuß künftighin eine Vorlage länger als 21 Tage zurückhalten, so kann das Haus nun mit einfacher Mehrheit beschließen, daß die Vorlage im Plenum zur Abstimmung gebracht wird. Das ist kein unbedeutender Sieg zugunsten demokratischer Verfahrens-prinzipien. Es sollte gleicherweise Präsident Johnson bei der Verabschiedung seines Gesetzgebungsprogramms von Nutzen sein ...

In dieser Hinsicht hat das Repräsentanten-haus zu einem guten Start angesetzt."

Deutscher Bundestag: beispielhafter Mittelweg?

Die Kritik am Deutschen Bundestag kann nicht dieselbe sein. Niemand führt hier Klage darüber, daß die Parteien im Bundestag zu wenig Parteidisziplin zeigten oder die Mehrheit nicht ihren Willen bekomme bzw. durch Geschäftsbestimmungen zu sehr gehemmt werde. Ganz im Gegenteil. Viele Kritiker hätten wenig gegen etwas mehr Unabhängigkeit und sichtbare Initiative des einzelnen Abgeordneten einzuwenden. Die Hauptdiskussionen kreisen vielmehr um die Frage, ob der Bundestag sich mehr am Vorbild eines Arbeitsparlaments, etwa im amerikanischen Sinne, oder am englischen Vorbild eines Redeparlaments orientieren solle. Dem Bundestag wird dabei vor allem vorgeworfen, daß er seiner Funktion, öffentliches Diskussionsforum grundlegender politischer Fragen zu sein, nicht hinreichend gerecht werde. Führende Parlamentarier und Regierungsmitglieder zögen bei bedeutsamen Stellungnahmen öfter als zulässig Presseinterviews, Radioreden und Fernsehauftritte der Parlamentsbühne vor. Das parlamentarische Forum verliere damit an Bedeutung und Ansehen, lautet der Vorwurf. Inwieweit die Einrichtung von Fragestunden und „aktuellen Stunden" Ansätze für Besserungen bieten, bleibt abzuwarten. Gleichzeitig wird kritisch vermerkt, im Bundestag werde nicht mehr hart genug debattiert. Im Hintergrund steht dabei die Klage, Opposition und Regierungsparteien seien sich in vielen Bereichen so nahe gekommen, daß klare Alternativen nicht mehr deutlich genug in Erscheinung träten. Deutschland und die Bundesrepublik waren in dieser Hinsicht bisher anderes gewohnt. Einigen der letztgenannten Klage-führern sei in diesem Zusammenhang immerhin die Lektüre des bereits zitierten Johnson-Artikels empfohlen, in dem er sich u. a. mit dem „Mythos des Konzepts" befaßt, „daß es zu jeder (politischen) Frage zwei Antworten geben müsse"

Ob sich alle Bundestags-Kritiker stets darüber im klaren sind, ob sie letztlich ein Rede-oder Arbeitsparlament wollen und welche Konsequenzen mit ihrer jeweiligen Grundentscheidung und den darauf basierenden Forderungen verbunden sind, ist eine offene Frage. Inwieweit die genannten Vorwürfe im Bun13) destag zu Neuorientierungen und Reformen fuhren werden, ist heute gleichfalls noch weitgehend unbestimmt. Eines scheint jedoch evident zu sein: Ein Parlament, das sich einerseits ausschließlich am Modell des Arbeitsparlaments orientiert, droht in der Detailarbeit aufzugeben und den Blick für die großen Linien und Probleme zu verlieren. Einem Parlament, das sich andererseits vornehmlich am Modell des Redeparlaments ausrichtet, droht die Kontrolle über die entscheidenden Detail-probleme immer mehr aus den Händen zu gleiten. Vom modernen Parlament, das sowohl seiner Integrations-wie seiner Kontrollfunktion nachkommen will, sollte erwartet werden, daß es ebenso die Fähigkeit zur öffentlich wirksamen, verantwortlichen Diskussion großer Sachprobleme besitzt, wie das Vermögen, Regierungsvorlagen notfalls auch sachverständiger Detailüberprüfung und -Revision zu unterziehen. In den USA sind es vor allem die Senatoren Javits, Case und Clark, die für eine größere Publizität und Straffung politischer Debatten im Kongreß eintreten. Die gegenwärtigen Diskussionen um eine Reform der Arbeitsprozeduren des amerikanischen Kongresses kreisen auch um diesen Fragenkomplex. Hinsichtlich des britischen Redeparlaments wird demgegenüber neben anderen parlamentarischen Reformerwägungen immer ernsthafter die Frage erörtert, ob nicht ein Ausbau des verkümmerten parlamentarischen Ausschußsystems und die Schaffung kompetenter Fachausschüsse, in denen sachinformierte „Back-bencher" tätig werden könnten, für den Status des Parlaments und dessen Arbeitsleistung von einem gewissen Nutzen wären In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, ob nicht der Deutsche Bundestag auf dem Wege ist, jene Balance zwischen Rede-und Arbeitsparlament zu finden, die für den allgemeinen Entwicklungstrend moderner Parlamente schlechthin beispielhaft werden könnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lewis Deschler, Constitution, Jefferson's Manual and Rules of the House of Representati-ves, Washington 1963, S. VI.

  2. David B. Truman, The Congressional Party — A Case Study, New York 1959, S. VI.

  3. A. Lawrence Lowell, The Influence of Party upon Legislation in England and Amerika, in: Annual Report of the American Historical Association for the Year 1901, Washington 1902, Bd. I, S. 319 ff., bes. S. 343 ff.

  4. Vgl. hierzu vor allem Morton Grodzins, American Political Parties and the American System, in: The Western Political Quarterly, Bd. XIII, Dezember 1960, S. 974— 998, insbesondere S. 998.

  5. Julius Turner, Party and Constituency: Pressures on Congress, Baltimore 1951, S. 34 f. Dieses und die folgenden Zitate habe ich ins Deutsche übertragen.

  6. Allen M. Potter, American Government and Politics, London 1955, S. 170 f.

  7. Lewis A. Froman, Congressmen and their Con-stituencies, Chicago 1963, S. 5 und 7.

  8. Zur Bedeutung des Senioritätsprinzips im Kongreß siehe auch Winfried Steffani, Cannon ist tot, lang lebe Mahon! — Seniorität im amerikanischen Kongreß, in: Der Monat, Nr. 192, September 1964, S. 30— 37.

  9. Lyndon B. Johnson, My Political Philosophy, in: The Texas Quarterly, Bd. I, Winter 1958, S. 17— 22.

  10. Ebd., S. 18 f.

  11. Ebd., S. 22.

  12. Potter a. a. O., S. 171.

  13. Johnson a. a. O., S. 20.

  14. Siehe hierzu Thomas J. Carbery, Views and Opinions — The Americanisation of British Politics, in: The Journal of Politics, Bd. 27, Nr. 1, Februar 1965, S. 179 ff., und S. A. Walkland, Science and Parliament: The Role of the Select Committees of the House of Commons, in: Parliamentary Affairs, Bd. 18. Nr. 3, Sommer 1965, S. 266— 278, bes. S. 277 f.

Weitere Inhalte

Winfried Steffani, Dr. phil., Diplom-Politologe, geb. 1927 in Znin (Westpreußen), Wiss. Assistent am John F. Kennedy-Institut für Amerikastudien der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Republik, 1960; Funktion und Kompetenz parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, 1960; Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, 1962; Cannon ist tot, lang lebe Mahon! -Seniorität im amerikanischen Kongreß, 1964; Offene Fragen nach Johnsons Wahlsieg, 1964.