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Die sowjetische Taktik in der Dritten Welt | APuZ 49/1965 | bpb.de

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APuZ 49/1965 Osteuropa: Der sowjetische Griff lockert sich Die sowjetische Taktik in der Dritten Welt

Die sowjetische Taktik in der Dritten Welt

Uri Ra'anan

Widersprüche in der Strategie und Taktik Moskaus

Fast alles, was bisher über die sowjetische Einstellung zur „Dritten Welt" geschrieben worden ist, hat diese beinahe ausschließlich im Lichte des chinesisch-sowjetischen Konflikts betrachtet, als seien Rußlands Schwierigkeiten nur auf die militante Haltung Pekings zurückzuführen. Trotz der auf der Hand liegenden Gefahren, die Maos Politik heraufbeschworen hat, beruhen jedoch die Probleme, mit denen sich die Sowjetführer in den letzten drei bis vier Jahren hinsichtlich ihrer Beziehungen zu diesen Ländern herumschlagen mußten, im Grunde auf den Widersprüchen in der Strategie und Taktik Moskaus selbst.

Moskau sieht dies nicht als eine Sache von geringer Bedeutung an und kann es auch nicht so ansehen. Die UdSSR ist bestrebt, das vom thermo-nuklearen Zeitalter auferzwungene globale Patt zu überwinden und hält, wie wir zu zeigen versuchen wollen, die „Dritte Welt" für einen entscheidenden Schauplatz und die „nationale Befreiungsbewegung" für eine der entscheidenden Kräfte in diesem Bemühen. Ferner ist Moskau der Ansicht, daß die gegenwärtige Phase für einen größeren Durchbruch, für eine Änderung im Gleichgewicht der Kräfte günstig sei. Die Prawda vom 19. Dezember 1964 erklärte: „Die objektiven Verhältnisse (in Afrika, Asien und Lateinamerika) steuern jetzt rasch auf eine weitere Verschärfung der äußeren und inneren Widersprüche des Imperialismus, auf das Voranschreiten der linken revolutionären Kräfte zu." An dieser Einstellung hält Moskau grundsätzlich fest, auch wenn die jüngsten Ereignisse in Vietnam den sowjetischen Optimismus ein wenig gedämpft haben. Da sich nach Ansicht der Russen einmalige Gelegenheiten bieten könnten, die sie zu versäumen fürchten, ist es nach wie vor besonders wichtig und dringlich, zu versuchen, ein in sich geschlossenes und realistisches taktisches Konzept zur Ausnutzung der gegenwärtigen Konstellation in der Dritten Welt zu entwickeln.

Die nähere Betrachtung der sowjetischen Bemühungen der letzten Jahre zeigt allerdings, daß für eine bewußte Wahl nicht viel Raum vorhanden gewesen ist; die wissenschaftliche und militärische Entwicklung hat die Methoden, deren sich eine Großmacht ohne Gefahr bedienen kann, drastisch eingeschränkt. Das bezieht sich nicht auf die Taktik allein. Auch der Entschluß selbst, die Dritte Welt zum besonderen Ziel der Sowjetpolitik zu machen, ist weitgehend von den Verhältnissen diktiert worden. Das wird sofort deutlich, wenn man sich die Entwicklung der sowjetischen Vorstellung von der friedlichen Koexistenz vor Augen führt.

In ihren frühesten Stadien hat die friedliche Koexistenz unter Malenkow und Chruschtschow vielleicht nicht viel mehr als die Einsicht bedeutet, daß eine direkte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen West und Ost im thermo-nuklearen Zeitalter Konsequenzen haben würde, die für die UdSSR ebenso wie für die übrige Welt untragbar wären und deshalb vermieden werden müßten. Es zeigte sich jedoch rasch, daß dieser Gedanke schädlich sein könnte, wenn er die gesamte politische und paramilitärische Initiative der Sowjets hemmte oder lähmte. Ein solches Ergebnis wäre für die sowjetische Elite, die noch immer von der „revolutionären Dynamik" sprach, natürlich unangenehm gewesen und hätte außerdem bedeutet, daß Rußland die Führung aller militanten Bewegungen außerhalb des Blocks Peking hätte überlassen müssen. Die Sowjetführer hielten es daher für unumgänglich, eine Strategie zu entwickeln, die eine unterschiedliche Handhabung der friedlichen Koexistenz erlaubte, damit wenigstens in einigen Teilen der Welt sowjetische Offensivaktionen weiterhin möglich blieben.

Status quo in der nördlichen Hemisphäre — Dynamik in der Dritten Welt

Welche Gebiete sich für eine dynamische und welche sich für eine statische Politik eigneten, lag auf der Hand. Dort, wo sich die Streitkräfte der atomaren Gegner nahe gegenüberstanden — wie in Europa und Teilen des Fernen Ostens —, ließ die Angst vor einer Massenvernichtung den Sowjets kaum eine Wahl. Dort war nur eine Politik des Status quo möglich. (Das galt sogar, wie die Russen rasch entdeckten, für eine Enklave wie West-Berlin.) In Gebieten hingegen, in denen es keine unmittelbare Konfrontation gab, wie zum Beispiel in der Dritten Welt, schien es durchaus möglich, die sowjetische Offensive fortzusetzen. In Afro-Asien waren die Streitkräfte der großen Gegner durch gewaltige Entfernungen getrennt, und in den meisten Fällen war weder der Osten noch der Westen durch formelle Verträge verpflichtet, örtlichen Gruppierungen automatisch zu Hilfe zu eilen. Der wenig stabile internationale Status der Dritten Welt sowie ihre interne Struktur (schwache und wenig gefestigte Regime herrschen vor) machten sie für die Sowjets zu einem idealen Gebiet, um ohne allzu große Gefahr möglicherweise bedeutsame Fortschritte zu erzielen. In den Augen der Sowjets lief die friedliche Koexistenz schließlich in der nördlichen Hemisphäre auf Stillstand, in der südlichen auf eine dynasche, offensive Politik hinaus.

Dies zur Strategie; was die Taktik anging, so verstand es sich von selbst, daß die erfolgreiche Durchführung dieser Politik einen hohen Grad von Geschicklichkeit verlangte. Bei ihrer Offensive in Afro-Asien mußte die UdSSR so vorgehen, daß jede Herausforderung einer westlichen Intervention größeren Umfangs vermieden wurde. Schließlich war es Moskaus Ziel, dem Westen alle Stützpunkte zu nehmen — und nicht, die Westmächte durch eigene Aktionen erst recht zum Bleiben zu zwingen. Wenn die Sowjetführer diese Bedingungen nicht erfüllten oder wenn unvorsichtige sowjetische Schritte massive Gegenmaßnahmen des Westens hervorriefen, hätte man die Dritte Welt nicht mehr als ein eindeutig zur einen oder anderen Seite gehörendes Gebiet bezeichnen können. Ja, sie wäre dann keine Dritte Welt mehr gewesen. Die festgefrorenen Grenzen in Europa und im Nordpazifik würden sich dann in den südlichen Teil der Welt verlängern, und es gäbe keine Gebiete mehr, in denen die atomaren Gegner sich nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden. Dann würde das atomare Patt die sowjetische Initiative überall lähmen und Peking würde die ungeschmälerte Führung der militanten Elemente zufallen. So würde die UdSSR durch mangelnde Zurückhaltung oder offene Provokation des Westens lediglich ihre eigenen Ziele durchkreuzen.

Aktionsplan für die Offensive

Um das zu vermeiden, entwarf die Sowjetunion zwei Leitgedanken für einen Vorstoß in die Dritte Welt: a) da eine westliche Gegenaktion am wahrscheinlichsten durch die tatsächliche Gegenwart der UdSSR in Afro-Asien hervorgerufen werden würde, war es unerläßlich, nicht direkt, sondern wo immer möglich mittelbar durch Helfer vorzugehen; b) bei einem solchen indirekten Vorgehen aber war es besonders wichtig, eine strenge sowjetische Kontrolle über jedes Stadium der sich entfaltenden Offensive zu üben, um unliebsame Zufälle zu verhindern oder eine Ausweitung rechtzeitig zum Stillstand zu bringen.

Was die Durchführung einer solchen Politik betrifft, so zeigen verschiedene eindeutige sowjetische Erklärungen (Leitartikel in den Zeitschriften Kommunist, Nr. 3, 1965, International Aifairs, Nr. 12, 1964, Prawda vom 19. und 26. Dezember 1964), daß diese taktischen Vorstellungen zu einer Art Leitfaden für die Praxis zusammengefaßt worden sind. Offenbar davon ausgehend, daß der chinesisch-sowjetische Konflikt immer noch überwunden werden könne oder im Zuge einer kommunistischen Offensive zumindest nicht offen auszubrechen brauche, stellte Moskau eine Reihe von Thesen auf. Die Dritte Welt wurde zum Schauplatz einer Offensive bestimmt, die von einer geeinten Front der kommunistischen Länder (mit oder ohne China), der kommunistischen Parteien des Westens und der „nationalen Befreiungsbewegungen" eingeleitet werden solle. (Letztere wurden unterteilt in 1. aufrührerische Kräfte in kolonialen oder unzufriedenen Gebieten und 2. militante oder expansionshungrige Regimes in den erst seit kurzem unabhängigen Ländern.) Jedem dieser Elemente wurden fest umrissene Aufgaben zugeteilt, wobei die UdSSR die nach außen hin aktive Rolle fast ausschließlich ihren verschiedenen Partnern überließ. Obwohl nicht alle Einzelheiten dieses Aktionsplans ausdrücklich aufgeführt wurden, ließ sich aus der Terminologie und aus den Hinweisen auf zeitgenössische Ereignisse vieles schließen.

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(i Begrenzte Mittel

Die UdSSR und ihre osteuropäischen Verbündeten sollten den Westen durch eine geeignete Mischung bewaffneter Abschreckung und engerer zweiseitiger Beziehungen in Schach halten und dabei gleichzeitig die radikalen Regimes der Dritten Welt politisch ermutigen und militärisch und wirtschaftlich unterstützen sowie den Aufrührern gegen prowestliche oder koloniale Regierungen indirekte Hilfe gewähren. Moskau wird vielleicht gehofft haben, daß eine allgemeine Entspannung der Beziehungen zwischen den Großmächten die Wahrscheinlichkeit einer massiven westlichen Reaktion auf die Entwicklung in der Dritten Welt mindern würde. Diese Richtlinien erhoben nicht den Anspruch, ein ausgearbeiteter Plan zu sein, sondern versuchten nur, die revolutionäre Dynamik mit den Forderungen der rauhen Wirklichkeit zu vereinen. So wiesen die sowjetischen Veröffentlichungen deutlich auf die Gründe hin, warum die UdSSR sich an die streng begrenzte Aufgabe halten müsse, die Macht des Westens durch politische Mittel zu neutralisieren und die Austragung des eigentlichen Kampfes anderen zu überlassen. Ganz abgesehen von den verheerenden Folgen eines Zusammenstoßes zwischen Ost und West, dürfte man, so erklärte Moskau seinen Lesern warnend, die Vorherrschaft der gemäßigten Elemente im Westen nicht für selbstverständlich halten; andere Kräfte wüchsen heran und würden aus jeder unnötigen Krise Nutzen ziehen. Das liege nicht im Interesse der Sowjetunion. Nicht weniger wichtig ist das Eingeständnis Moskaus, daß die UdSSR und ihre Verbündeten eine lange Zeit der Ruhe brauchten, um sich der Lösung ernster wirtschaftlicher Probleme zuzuwenden und gefährliche politische Spannungen innerhalb des kommunistischen Lagers selbst zu lindern.

In den Teilen der Dritten Welt mit schwachen oder unbeliebten Regierungen sollten Rebellenverbände, Partisanengruppen oder einzelne Agitatoren sowjetische Hilfe — möglichst in indirekter Form — erhalten. Da Konflikte dieser Art als intere Konflikte behandelt werden würden, könne die Gefahr einer ost-westlichen atomaren Konfrontation als unwahrscheinlich betrachtet werden — mit Ausnahme der Gebiete um China (d. h. Vietnam). Uber Aufstände im allgemeinen hieß es in Communist of the Armed Forces im Januar 1964: „Es besteht Einigkeit darüber, daß sich die Frage, ob Atomraketen eingesetzt werden, nicht erheben wird." Mit anderen Worten, in diesen Fällen könne die UdSSR ihre Politik verhältnismäßig ungefährdet weiter verfolgen.

Gewisse diktatorische Regimes in früheren Kolonialländern, die radikale Maßnahmen im eigenen Lande mit einer militanten Politik im Ausland verbinden, sollten von Moskau kräftig unterstützt werden und dafür ihrerseits Waffen an aufrührerische Elemente in anderen Ländern weiterleiten. Da diese „revolutionären Demokraten" die Macht allein in Händen hielten, könnte die gesamte Gesellschaft eines Staates durch sie beeinflußt werden. Durch eine geschickte und elastische Politik gegenüber solchen Regimes könnte daher die UdSSR unmerklich und ohne verheerende internationale Auswirkungen zur Vorherrschaft gelangen. Im Jahre 1964 haben die Russen sich tatsächlich einer Taktik dieser Art bedient und sind von der ideologischen Orthodoxie abgewichen, um verschiedene nichtkommunistische Regimes zu stützen, weil sie sich eindeutig auf den „nichtkapitalistischen" oder gar den „sozialistischen Weg" begeben hatten. Zu den auf diese Weise bevorzugten Ländern gehörten Algerien, Mali, die Vereinigte Arabische Republik, Birma, Ghana, der Kongo (Brazzaville) und Guinea. „In unserer Zeit", rief ein kommunistischer Führer Algeriens begeistert aus, „werden in Afrika, Lateinamerika und Asien neue Kubas entstehen!" Ob diese Schritte wirklich zu einem dauerhaften Erfolg führen würden, war natürlich eine andere Frage. (Jedenfalls konnten Punkte gegen Peking erzielt werden; man konnte sagen, friedliche Koexistenz ermögliche solche Erfolge.)

Direkter Zusammenstoß der Großmächte ist zu vermeiden

So sah also der recht komplizierte Rahmen für die sowjetische Weltpolitik aus, von der man in Moskau träumte. Das gesamte Konzept beruhte auf der Voraussetzung, daß ein bewaffneter Zusammenstoß zwischen Ost und West in der Dritten Welt strikt vermieden wurde. Darüber hinaus versuchte die sowjetische Politik selbst dort, wo keine Gefahr einer solchen Konfrontation zu bestehen schien, jede offene Aktion militanter einheimischer Regimes zu verhindern, die die bewaffnete Intervention des Westens hervorrufen könnte. Der Grund für Moskaus Haltung war sehr einfach. Das sowjetische Interesse erforderte, daß die westliche Präsenz in Afro-Asien aufhöre und nicht noch verstärkt werde. Obwohl der Westen nicht durch offizielle Verträge verpflichtet war, den nichtgebundenen Ländern zu Hilfe zu kommen, bestanden in einigen Fällen moralische Verpflichtungen, ‘die zu einer Intervention des Westens hätten führen können. Die UdSSR konnte das nur dann verhindern, wenn sie diskret im Hintergrund blieb, gleichzeitig aber das Vorgehen der militanten Elemente der Dritten Welt unter fester Kontrolle hielt. Verschleierte Aktionen solcher Elemente, um aufständischen Gruppen in benachbarten Gebieten zu helfen, das heißt also „interne" Konflikte, konnte die Sowjetunion mit Gleichmut betrachten (wenn auch die Sowjets verständlicherweise beunruhigt waren über die möglichen Folgen von Guerillaaktionen in so empfindlichen Gebieten wie Vietnam oder im Karibischen Meer). Offene, großangelegte Invasionen über internationale Grenzen hingegen konnten weder als ungefährlich noch als wünschenswert gelten.

An diesen Maßstäben gemessen, litt der sowjetische Plan an ernsten Mängeln. Die beiden Grundelemente widersprachen sich: auf der einen Seite die Notwendigkeit, eine unmittelbare sowjetische Aktion zu vermeiden und durch andere zu handeln, auf der anderen die Notwendigkeit, die angewandte Taktik fest unter Kontrolle zu halten. In Wirklichkeit mußte man bei dieser Politik so überlegt und vorsichtig operieren, daß sie nur gelingen konnte, wenn die UdSSR jeden einzelnen Schritt selbst tat. Trotzdem sollte nach diesem Plan jede direkte Aktion in der Dritten Welt den „nationalen Befreiungsbewegungen" anvertraut werden, von deren Einfällen Moskau damit abhängig wurde. Unberechenbare Elemente, denen fremde Interessen gleichgültig waren, verfolgten in Afro-Asien und Lateinamerika ihre eigenen Ziele und durchkreuzten häufig die Taktik der Sowjets. Indirekte Aktion und feste Kontrolle erwiesen sich für die Sowjetunion als miteinander unvermeidbar.

Sowjetische Militärhilfe

Obwohl diese Konzeption Moskaus erst seit kurzem in der sowjetischen Presse erörtert wird, bildet sie in Wirklichkeit schon seit einigen Jahren die Grundlage für sowjetisches Handeln, und der diesem Programm innewohnende erhebliche Widerspruch ist schon seit einiger Zeit bekannt. Die Sowjetführer haben verschiedenes unternommen, um diese Schwierigkeit zu überwinden — bisher allerdings ohne Erfolg. Das Problem mit all seinen Auswirkungen läßt sich vielleicht am besten klarlegen, wenn man eine bestimmte Form der sowjetischen Tätigkeit in der Dritten Welt — die Militärhilfe — sowie einige Fälle näher untersucht, in denen die UdSSR und die Empfänger sowjetischer Waffen über Fragen der Taktik uneins geworden sind.

Die militärischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und bestimmten Entwicklungsländern bieten ein besonders deutliches Beispiel für die Kompliziertheit und die potentiellen Gefahren der Politik Moskaus. Ursprünglich hatte die UdSSR eben unabhängig gewordenen oder revolutionären Regimes Waffen auf Kredit geliefert, um sich Zugang zu verschaffen zu Gebieten wie dem Nahen Osten, Afrika und dem südostasiatischen Archipel, wo der Westen die militärische Vorherrschaft besaß. Da die Sowjetunion sich hier einem stärkeren Gegner nicht stellen konnte, hatte sie sich einer Umgehungstaktik bedient. Die durch die sowjetischen Waffen geköderten Regimes befanden sich oftmals im Konflikt mit ihren Nachbarn, wobei sie meist irgendwelche Gebietsansprüche gegen diese hatten. Der Westen, der seinen Schutzschild über diese Gebiete hielt, verfolgte eine Politik gleichmäßiger Freundschaft mit den örtlichen Machthabern, da er die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen ihnen als die beste Gewähr für die Stabilität ansah. Ein Wettrüsten oder eine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts, die einen der Herrscher dazu verlocken könnte, seinen Nachbarn zu überfallen, konnte dem Westen daher nicht recht sein. Die Sowjetunion hingegen, als Außenseiter ohne Ver-antwortung für die Ruhe in diesen Gebieten, hielt es für vorteilhaft, sie mit Waffen zu überschütten und damit die Konflikte zu verschärfen. Das mußte dem Westen peinlich sein, da er in den seinem Schutz unterstellten Gebieten kaum in Konkurrenz mit'der Sowjetunion Unruhe stiften konnte.

Dilemma der Sowjets

Diese sowjetischen Kalkulationen waren so lange richtig, wie die afro-asiatischen Waffen-empfänger die russischen Waffen für politische Zwecke benutzten, zum Beispiel um Prestige zu gewinnen und von schwächeren Nachbarn Zugeständnisse zu erzwingen oder um militante aufrührerische Elemente in anderen Staaten auszurüsten. Sollte jedoch ein durch den Überfluß an Material in Versuchung geratener Empfänger sowjetischer Waffen einen groß-angelegten Überfall aut ein prowestliches Land inszenieren, so befände sich die UdSSR in einem Dilemma. Die Sowjetführer gingen natürlich davon aus, daß der Westen im Falle einer solchen offenen Aggression eingreifen würde, um dem Konflikt Einhalt zu gebieten. Da der Westen die Zugangswege zu Afro-Asien noch immer militärisch beherrschte, wäre die Sowjetunion gezwungen, entweder zu Atomwaffen zu greifen oder seinen Schützling fallen zu lassen mit dem damit verbundenen Verlust an Ansehen, Einfluß und Investitionen. Da weder die eine noch die andere Alternative angenehm war, lag es offensichtlich im nationalen Interesse der Sowjets, Maßnahmen zur Verhinderung eines größeren Krieges zu ergreifen. Auch mußte die UdSSR die für sie peinliche Möglichkeit eines Konflikts zwischen den Empfängern sowjetischer Waffen und anderen gleichfalls von der Sowjetunion unterstützten afro-asiatischen Ländern vermeiden. Das Problem lag darin, die von Gefühlen gelenkten, unberechenbaren Regimes von diesen gefährlichen Wegen abzuhalten.

Theoretisch konnte die Sowjetunion natürlich Bedingungen stellen, wenn sie militärische Hilfe gewährte, und mit der Einstellung der Lieferungen drohen, wenn die Bedingungen nicht eingehalten würden. Praktisch aber entdeckte Moskau, daß die Starken oft gehemmt sind, wenn sie die Schwachen unter Druck setzen wollen. Wer Hilfe gewährt, ist, da er seine materiellen und politischen Investitionen nicht gefährden will, beinahe ebenso angreifbar wie der Empfänger. Außerdem hatte sich die sowjetische Hilfe für die Afro-Asiaten als annehmbar erwiesen, gerade weil sie nicht mit politischen Bedingungen verbunden war. Wenn Moskau die politische Kontrolle über die Verwendung sowjetischer Waffen zu so später Stunde verlangte, könnten die Reaktionen heftig sein. (Kuba, an der vordersten Front des Ost-West-Konflikts, war ein Sonderfall, der besonders strenge Kontrollen verlangte, wie sehr sich auch Castro darüber beschweren mochte.) Natürlich wollte die Sowjetunion die so mühsam gepflegten Beziehungen zu den Empfängern militärischer Hilfe nur ungern gefährden. Es ist bemerkenswert, daß Moskau in dieser ganzen Zeit nur bei kommunistischen Empfängern — Jugoslawien, Albanien und China — wagte, die militärischen Lieferungen einzustellen. Wahrscheinlich glaubte die Sowjetunion, den kommunistischen Ländern blieben weniger Möglichkeiten offen als den nichtkommunistischen.

Internationalisierung des Problems

Schließlich entschlossen sich die sowjetischen Führer, die lästige Alternative der Duldung gefährlicher Tendenzen in der Dritten Welt und unangenehmen Auseinandersetzungen mit einzelnen Waffenempfängern zu umgehen. Die Sowjetunion erkannte, daß viele afrikanische und asiatische Länder die sowjeti-sehen Waffen von Anfang an nur angenommen hatten, um ihre territorialen Wünsche zu befriedigen, und daß sie auf Gelegenheiten, diese Waffen zu verwenden, nicht gerne verzichten würden. Moskau ersann daher eine Methode, um die Aktionen solcher Länder zu lähmen, ohne daß die UdSSR ihren ganzen Zorn zu spüren bekam. Am 31. Dezember 1963 unternahm Chruschtschow einen Schritt, der das ganze Problem zu einer internationalen Frage machte. In langen Botschaften an über hundert überraschte Regierungen schlug er ein weltweites Abkommen vor, das die Anwendung von Gewalt zur Lösung territorialer Konflikte verurteilen sollte. Die Sowjetunion wollte sich auf diese Weise des Einflusses der Weltöffentlichkeit auf widerspenstige Waffen-empfänger bedienen und hoffte so, eine Einbuße ihres politischen Kapitals in diesen Ländern zu vermeiden. Auch andere Überlegungen in bezug auf Europa und China spielten eine Rolle, aber die Botschaft selbst (sowie spätere Kommentare) befaßte sich vorwiegend mit den Entwicklungsländern und verurteilte regionale Kriege:

„Viele junge souveräne Staaten ... haben von den Kolonialregimes Grenzprobleme geerbt, die künstlich verwirrt worden sind.... Die jüngsten Ereignisse in Nordafrika lassen keinen Zweifel, daß die Stärkung und Entwicklung der unabhängigen afrikanischen Staaten großen Schaden erleidet, wenn einer von ihnen bewaffnete Streitkräfte gegen einen anderen einsetzt in dem Versuch, seine territorialen Ansprüche zu befriedigen.... Das könnte stärkeren Staaten zugute kommen. Ist es nicht gefährlich für die Völker Asiens, Gewalt anzuwenden, um Staatsgrenzen in ihrem Teil der Welt zu berichtigen?"

Chruschtschow gab ganz offen seine Sorge über die Möglichkeit einer atomaren Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und dem Westen zu erkennen, die ein bewaffneter Angriff eines mit sowjetischen Waffen ausgestatteten Staates auf ein prowestliches Land zur Folge haben könnte:

„Es besteht eine enge Verflechtung zwischen den Staaten — wirtschaftlich, politisch und strategisch. .. . Ein Zusammenstoß, der .. . zunächst rein lokaler Natur zu sein scheint, könnte rasch größere Ausmaße annehmen. ... Das würde Verbündete hineinziehen und bei anderen Staaten, die dem Konfliktgebiet benachbart oder aber Tausende von Kilometern entfernt sind, Befürchtungen, ob echte oder eingebildete, wachrufen . .. Kriege, in denen zunächst konventionelle Waffen verwendet werden, können sich heute leicht in einen Weltkrieg verwandeln."

Von dieser allgemeinen Verdammung der Anwendung von Gewalt nahm Chruschtschow jedoch „nationale Befreiungskämpfe" ausdrücklich aus, das heißt Fälle von Aufruhr oder Infiltration in kolonialen oder prowestlichen Gebieten. Von der Umgebung Chinas abgesehen (Vietnam), hielt die Sowjetunion die Gefahr der Ausweitung solcher „innerer" Konflikte für verhältnismäßig gering.

Entwicklungsländer durchkreuzen Chruschtschows Plan

Chruschtschows Versuch, den territorialen Wünschen der Dritten Welt in internationalem Rahmen und nicht durch die Sowjets allein Zügel anzulegen, schlug fehl. Seine afroasiatischen Partner griffen auf die einfache Lösung zurück, ihre jeweiligen Ansprüche in die Kategorie der zulässigen „nationalen Befreiungskämpfe" einzuordnen, während sie gleichzeitig ein Lippenbekenntnis zur Ablehnung „regionaler Kriege" ablegten. Mit anderen Worten, sie verdrehten seine Botschaft so lange, bis sie so tun konnten, als habe die Sowjetunion sich ihren Absichten nicht widersetzt, sondern sie unterstützt. In besonders krassen Fällen veröffentlichte die sowjetische Presse gekürzte Versionen der Antworten auf Chruschtschows Note. In einem amtlichen Kommentar in International Affairs (Nr. 4, 1964) gab Professor Molodzow zu: „Einige offizielle Antworten und inoffizielle Kommentare auf Ministerpräsident Chruschtschows Botschaft zeigen, daß Versuche gemacht werden, die Durchführung des sowjetischen Vorschlags zu verhindern." Er stellte es keineswegs so dar, als habe nur der Westen auf diese Weise reagiert.

Chruschtschow, Suslow und Mikojan erinnerten die Waffenempfänger öffentlich an die ihnen zuteil gewordenen Wohltaten und wiesen darauf hin, daß Moskau eine gewisse Gegenleistung erwarte. Am 22. Dezember 1963 erklärte Chruschtschow:

„Die UdSSR hat große Mengen von Waffen an die algerischen Patrioten kostenlos verteilt. Auch Indonesien, dem Jemen und anderen Ländern haben wir in ihrem bewaffneten Kampf sehr viel geholfen. Wir haben unsere gesamte Macht eingesetzt, um das ägyptische Volk zu unterstützen, als es sich genötigt sah, den imperialistischen Aggressoren bewaffneten Widerstand zu leisten."

Am 14. Februar 1964 wiederholte Suslow in einer zwei Monate später veröffentlichten antichinesischen Rede vor dem Zentralkomitee der KPdSU Chruschtschows Bemerkungen, in denen er Panama, Zypern, Vietnam, Sansibar und Ostafrika als weitere Beispiele für sowjetische Unterstützung genannt hatte. Moskau, so sagte er, helfe „der nationalen Befreiungsbewegung wirtschaftlich, politisch und, wenn nötig, militärisch", unterstütze damit „gerechte Kriege, die das Volk gegen seine Unterdrücker führe" und verhindere sowohl „den Ausbruch regionaler Kriege" (für die er die „Imperialisten" verantwortlich machte) als auch den „Export der Konterrevolution."

Sowjetische Mahnungen

Offenbar betrachtete die UdSSR die Verhinderung regionaler Kriege in einer Art von Tauschgeschäft als Gegenleistung für die sowjetische Hilfe. Die angeführten Beispiele sowjetischer Unterstützung sollten eindeutig großangelegte Invasionen ausschließen. In allen hier erwähnten Fällen waren die Waffen nur zu politischen Demonstrationen, für Guerillakriege, für Infiltration oder „interne" Konflikte, niemals aber für einen „richtigen" Krieg zwischen zwei Nationen eingesetzt worden. Was die Sowjetunion selbst betrifft, so zeichnete sich ihre Haltung im Suezkanal und in Zypern auf dem Höhepunkt der Krise durch äußerste Vorsicht, durch Säbelrasseln beim Nachlassen der Gefahr und durch heroische Posen nach der Krise aus. Ihr Verhalten in Algerien war auffallend zwiespältig und ihre Unterstützung in anderen Fällen vorwiegend verbal. (Zugegeben, die von den Sowjetführern angeführten Beispiele sollten Pekings Behauptung widerlegen, daß die Anwendung von Gewalt in der Dritten Welt unerläßlich sei.)

Uber Indonesien sagte Mikojan am 16. Mai 1964, Rußland habe, „wenn nötig, militärische Fachleute und Waffen geschickt, damit Indonesien das von den Kolonisatoren eroberte Gebiet in den Schoß des Mutterlandes zurückholen könne, wenn sich das als notwendig erweisen sollte. Dann drohte Indonesien so sehr mit der Faust, daß sich die Kolonisatoren still zurückzogen und West-Irian ohne Blutvergießen an Indonesien überging."

Am 20. Juni 1964 wies Mikojan die Indonesier in Bandung darauf hin, daß sie West-Irian an-geblich mit sowjetischer Hilfe, „ohne einen einzigen Schuß abzugeben", bekommen hätten. Im gleichen Atemzug erwähnte er Nordborneo, womit er anscheinend andeuten wollte, daß man dort die gleichen Methoden anwenden solle. In diesem Zusammenhang ist Professor Molodzows Bemerkung in seiner offiziellen Auslegung der Chruschtschow-Botschaft aufschlußreich: „Zur friedlichen Beilegung der West-Irian-Frage haben letztlich die Vereinten Nationen beigetragen ..., die West-Irian als indonesisches Gebiet anerkannten."

Im gleichen Aufsatz lobte Molodzow die Organisation für Afrikanische Einheit, weil sie im vergangenen Oktober zur „Feuereinstellung an der algerisch-marokkanischen Front und im Februar an der Grenze zwischen Somaliland und Äthiopien" beigetragen habe. In diesen beiden peinlichen Fällen waren die Empfänger sowjetischer Waffen gewaltsam gegen Länder vorgegangen, um die die Sowjetunion selbst gerade warb. Chruschtschow hatte den algerisch-marokkanischen Konflikt als einen besonders bedauerlichen Fall erwähnt. Kurz danach, am 10. Februar 1964, unternahm er den ungewöhnlichen Schritt, die persönliche Bitte um Feuereinstellung an die äthiopischen und somalischen Führer zu richten. Zur gleichen Zeit erklärte Moskaus Afrika-Experte, der kürzlich verstorbene Professor Potechin, „eine allgemeine Revision der [afrikanischen] Grenzen ist undenkbar" — und das, nachdem jahrelang betont worden war, die künstlichen kolonialen Grenzen müßten hinweggefegt werden!

Beispiel VAR

Moskaus Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Taktik nichtgebundener Länder zu beeinflussen, traten besonders deutlich hervor, als Chruchtschow im Mai 1964 seine Reise nach Ägypten unternahm — den einzigen größeren Besuch, den er nach seiner Botschaft über territoriale Konflikte bei einem Waffenempfänger machte. In ihrer Antwort an Chruschtschow im Februar 1964 klammerten Präsident Nasser und der syrische Premiermini-ster Hafez den arabisch-israelischen Streit aus der Gruppe der Konflikte aus, die auf friedlichem Wege gelöst werden müßten. Damals reagierte die UdSSR nicht offiziell auf diese Auslegung. Dfei Monate später aber hielt Chruschtschow fast unmittelbar'nach seiner Ankunft in Kairo eine vorbereitete Rede vor der Nationalversammlung der Vereinten Arabischen Republik, die eine versteckte Warnung enthielt: „Wie kommt es, daß die Sowjetunion sich einerseits für die Lösung internationaler Probleme durch Verhandlungen einsetzt und andererseits sich nicht weigert, einigen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika Waffen zu liefern? ... Es ist richtig, daß wir Waffen geben an diejenigen, die unsere Hilfe im gerechten Kampf um die nationale Unabhängigkeit erbitten. Aber . . . wir geben Waffen zur Verteidigung Freiheit und nicht der für einen Angriff auf andere Länder." Im Laufe seines Besuchs fand es Chruschtschow immer wichtiger, seine Popularität zu stärken und wich häufig von seinem Text ab, um den Beifall der Zuhörer hervorzurufen. Infolgedessen mußten einige seiner Bemerkungen später von Moskau richtiggestellt werden, wodurch dem kritischen Betrachter eine seltene Gelegenheit geboten wurde, in die sowjetische Denkweise einzudringen. So ließ Chruschtschow zum Beispiel bei einem von Marschall Amer veranstalteten Essen am 18. Mai erkennen, daß sein Gastgeber um zusätzliche sowjetische Waffen gebeten hatte. Dazu erklärte er aus dem Stegreif: „Mit den Waffen wird es keine Schwierigkeiten geben, wenn sie benötigt werden. Es ist besser, gute Waffen zu haben, damit unsere Feinde davon wissen und uns nicht zwingen, sie zu gebrauchen." Am nächsten Tage änderte Radio Moskau den Wortlaut der Rede durch die Hinzufügung einiger bedeutsamer, einschränkender Worte, die Chruschtschow nicht gebraucht hatte: „Mit den Waffen wird es keine Verzögerung geben, falls es notwendig werden sollte, Aggressoren zurückzuschlagen.“

In seiner Rede vom 19. Mai in Port Said erklärte Chruschtschow: „Die Vereinigte Arabische Republik ist auch für . . . die Vorschläge zur friedlichen Lösung regionaler Probleme." Ein paar Sätze weiter fügte er hinzu: „Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß eine logische und gerechte Lösung für die Palästina-Frage gefunden werden sollte. Die Sowjetunion unterstützt uneingeschränkt die Position der arabischen Völker."

Zwar unterstützte er damit eine Lösung, die nach arabischen Maßstäben gerecht sein müsse, gab aber nicht eindeutig zu erkennen, ob diese Frage zur Kategorie vor Problemen gehörte, für die eine friedliche Lösung gefunden werden müsse. Seine Zuhörer, die begeisterten Beifall spendeten, hatten offenbar nicht den Eindruck, daß er die Methoden, durch die dieses Gebiet gewonnen werden könnte, in irgendeiner Form einschränken wollte. Am 15. Juni 1964 wurde jedoch die Rede in einer arabischen Sendung aus Moskau revidiert wiedergegeben: „Premierminister Chruschtschow sagte ... in Port Said . . ., eine vernünftige Lösung mit friedlichen Mitteln müsse für diese Konflikte einschließlich derjenigen zwischen Israel und den benachbarten Ländern gefunden werden." Die VAR reagierte mit einer amtlichen Erklärung (Al Ahram 25. September 1964), die dem Korrespondenten der New York Times zufolge einer Kritik an der sowjetischen Verurteilung regionaler Kriege gleichkam: Manche Mächte (das heißt der Westen) „besitzen Flotten auf dem Meer in unserer Nähe und Stützpunkte, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Kämpfe haben und in kritischen Augenblicken den Ausschlag geben können", während eine andere Macht (das heißt die Sowjetunion) „das Zeitalter, in dem wir leben" widerspiegelt, das „unter dem Druck des atomaren Schreckens steht und viele den Frieden herbeiwünschen läßt, auch wenn er nicht auf Gerechtigkeit beruht."

Einmischung Chinas

Die Chinesen waren rasch bei der Hand, die Reibereien zwischen der UdSSR und den afroasiatischen Ländern auszuschlachten. Auf der sechsten Sitzung des afro-asiatischen Solidaritätsrats (Algier, 22— 27. März 1964) forderte die UdSSR die Delegierten auf, Chruschtschows Botschaft über territoriale Konflikte gutzuheißen. Von Indonesien unterstützt, widersetzte sich die chinesische Delegierte, Mme. Kuo Chien, diesem Vorschlag auf das schärfste und verlangte, daß die Konflikte im Pazifik, im arabisch-israelischen Gebiet und anderswo als „gerechte" Kämpfe anerkannt würden, in denen die Anwendung von Gewalt zulässig sei. Die Konferenz billigte den sowjetischen Vorschlag nicht. Der Versuch der Sowjetunion, die Kontrolle über militante Kreise der atro-asiatischen Welt zu behalten und gleichzeitig die Gefahr einer Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden, war fehlgeschlagen; die Chinesen brachten ihre Freude darüber offen zum Ausdruck.

Im September 1964 ersuchte die UdSSR die Generalversammlung der Vereinten Nationen, Chruschtschows Botschaft auf die Tagesordnung zu setzen. Allmählich hörte die sowjetische Presse jedoch auf, der Note so viel Aufmerksamkeit zu widmen — zum Teil vielleicht wegen der engen Verbindung mit dem Namen des abgesetzten Ersten Sekretärs, zum Teil wegen der andauernden Reibereien in der Dritten Welt. Nach Chruschtschows fehlgeschlagenem Schritt stand die Sowjetunion wieder einmal vor dem grundsätzlichen Dilemma der friedlichen Koexistenz. Der Erfolg der sowjetischen Offensive in der Dritten Welt setzte voraus, daß Situationen, die eine westliche Gegenaktion hervorrufen könnten, vermieden würden. Das wiederum setzte voraus, daß die Sowjetunion nur durch dritte Parteien handelte und daß sie gleichzeitig eine feste Kontrolle über die angewandte Taktik ausübte. Das für die Durchführung dieser Politik auserwählte Instrument — die „nationale Befreiungsbewegung" — bestand jedoch darauf, eigene Methoden anzuwenden und lehnte alle sowjetischen Versuche ab, diese Kontrolle auszuüben.

Schwenkung in der sowjetischen Militärtheorie

Daß es nicht gelungen war, diese Schwierigkeit zu überwinden, hätte vielleicht zu einem völligen Stillstand geführt, wenn sich den sowjetischen Militärs nicht schon früher eine andere Möglichkeit geboten hätte. Da es sich — so hatten einige offenbar erörtert — als so schwierig erweise, eine Provozierung des Westens durch die „nationale Befreiungsbewegung" zu-vermeiden, solle man versuchen, des Westen davon abzuhalten, auf solche Situationen überhaupt zu reagieren, das heißt, seine konventionelle militärische Vorherrschaft auszunutzen, um lokale Konflikte zu unterbinden. Dann könne die UdSSR ihre Offensive in der Dritten Welt weitertreiben, ohne sich Sorgen über die möglichen Folgen der afro-asiatischen Kriegslust machen zu müssen. Hier bedeutete „der Westen" in erster Linie die 6. und 7. Flotte der Vereinigten Staaten, deren Bewegungen im Mittelmeer, im Pazifik und im Indischen Ozean die sowjetische Presse, insbesondere die Armee-zeitschrift Roter Stern, in den Jahren 1963/64 ständig beschäftigte.

Inzwischen begannen die sowjetischen Militärs sich immer mehr für die Dritte Welt und das Problem lokaler Konflikte zu interessieren. Bisher hatten sie behauptet, regionale Kriege müßten unweigerlich zu einem allgemeinen Vernichtungskrieg führen, wenn sich die Atommächte in irgendeiner Form daran beteiligten. Die natürliche Folge dieser These war, daß die Atommacht Rußland eine Verwicklung in Konflikte dieser Art fürchten und sich deshalb aus ihnen heraushalten müsse. Nun kamen die sowjetischen Militärs zu der Überzeugung, daß gerade diese Haltung dem Westen freie Bahn verschaffe. Wäre es hingegen möglich, den Eindruck zu erwecken, daß die UdSSR bereit sei, Risiken einzugehen, so könnte das den Westen davon abhalten, in örtliche Aggressionskriege einzugreifen. Der Westen könne — so meinte man in Moskau — zu der Überzeugung gebracht werden, daß jede westliche Aktion zu einer sowjetischen Gegenaktion führen würde. So wurden Ende 1963 die strategischen Vorstellungen der Sowjetunion revidiert und nun dem Westen deutlich gemacht, daß die Rote Armee eine Ausweitung regionaler Kriege nicht mehr für unvermeidlich, sondern nur für möglich halte. Dieser Wandel — so hoffte die Sowjetunion offenbar — werde zeigen, daß Rußland die Folgen einer Beteiligung an regionalen Kriegen nicht mehr fürchte und daß der Westen deshalb die sowjetische Nichtintervention nicht mehr für selbstverständlich halten dürfe. Außerdem enthielt das amtliche sowjetische Lehrbuch für Militärstrategie die drohende Warnung, daß „ein regionaler Aggressionskrieg gegen ein nichtsozialistisches Land, der die grundliegenden Interessen der sozialistischen Staaten in Mitleidenschalt zieht", . eine energische sowjetische Gegen-aktion hervorrufen werde. Im gleichen Buch werden die sowjetischen Vorbereitungen für eine Beteiligung an überseeischen Kriegen dieser Art erwähnt.

Der Westen ist militärisch im Vorteil

Diese versteckten Warnungen an, den Westen wurden von Zeit zu Zeit bekräftigt. Ende 1964 brachte die sowjetische Wochenzeitschrift New Times (Nr. 48, 1964) einen Aufsatz von Oberst Glasow über „Das neue Konzept regionaler Kriege". Darin befaßte sich der Autor ausführlich mit Europa und Südostasien, erwähnte aber auch die Dritte Welt: „Militärische und politische Führer des Westens, die regionale Kriege unterstützen, spielen mit dem Feuer ... Die Anwendung taktischer Atomwaffen auf . unterentwickelten'Kriegsschauplätzen werde, so glauben sie, keine große internationale Reaktion hervorrufen und man könne sie sich deshalb ohne ernste Folgen erlauben. . . . Wir wissen zum Beispiel, daß die 6. Flotte der Vereinigten Staaten, als sie 1958 den Auftrag erhielt, sich in die inneren Angelegenheiten des Libanons einzumischen, Honest John-Raketen an Bord hatte, die mit Atomsprengköpfen ausgerüstet werden können. Die amerikanische Armee sowie die Armeen anderer NATO-Staaten haben umfangreiche Untersuchungen über die Anwendung von Atomwaffen in Asien und im Mittleren Osten angestellt." Das klang wie eine Warnung, daß die UdSSR nicht nur auf die Anwendung taktischer Atomwaffen in regionalen Kriegen, sondern sogar auf den Einsatz westlicher Einheiten reagieren würde, Jie nur die Möglichkeit besitzen, Atomwaffen anzuwenden. Vielleicht wollte die Sowjetanion lediglich den Eindruck vermitteln, daß keine irgendwie geartete Aktion des Westens, vor einer sowjetischen Gegenaktion sicher sei. Man mag zweifeln, ob die Sowjetführer selbst solche Warnungen für überzeugend hielten. Schließlich hatte sich die sowjetische Terminologie zwar geändert, das Gleichgewicht der Kräfte in den Entwicklungsländern aber nicht. Der Westen besaß noch immer die militärische Vorherrschaft über die Zugänge zur Dritten Welt, und die Politiker in Moskau mögen an der abschreckenden Wirkung der sowjetischen Erklärungen mit Recht gezweifelt haben.

Es ist zwar richtig, daß die Sowjetunion im Jahre 1965 angefangen hat, einige der für militärische Aktionen in Übersee nötigen Voraussetzungen zu schaffen; so wurde zum Beispiel die Marineinfanterie reaktiviert. Da aber wesentliche Bestandteile einer schlagkräftigen See-Luft-Macht, vor allem Flugzeugträger, immer noch fehlen, war nicht anzunehmen, daß die Sowjetunion in naher Zukunft wirklich in der Lage sein würde, mit begrenzten und konventionellen Mitteln in afro-asiatische Ereignisse einzugreifen. Die 6. und 7. Flotte der Vereinigten Staaten spielte in diesem Gebiet noch immer eine entscheidende Rolle und die sowjetischen Drohungen mit einer Gegenaktion schienen nicht allzu fundiert zu sein (natürlich immer unter der Voraussetzung, daß ein atomarer Zusammenstoß außer Frage steht).

Das Problem ist ungelöst

Im ganzen gesehen können also die Sowjet-führer sich kaum Illusionen hingeben über den Erfolg ihrer verschiedenen Versuche, die Widersprüche ihrer Politik in der Dritten Welt zu lösen. Moskau hat keinen Weg gefunden, kriegslüsterne Elemente in den Entwicklungsgebieten von Aktionen abzuhalten, die den Westen provozieren könnten, oder den Westen davon abzuhalten, auf solche Situationen zu reagieren. Im Gegenteil, die Lage in Vietnam hat ihre Entschlossenheit bestätigt, die unter ihrem Schutz stehenden Gebiete trotz Drohungen aus Moskau und Peking zu verteidigen. Das sowjetische Dilemma ist nach wie vor ungelöst, und in Moskau wächst die Sorge über die afro-asiatische Entwicklung. Andererseits stellt die unstabile Lage für die Sowjetführer eine ständige Versuchung dar. Sie glauben offenbar, man erwarte unter den momentanen Bedingungen von ihnen, daß sie auf irgendeine Art und Weise greifbare Erfolge erzielen. Die ständige Verhöhnung durch Peking und die unaufhörliche Konkurrenz mit den Chinesen bei allen afro-asiatischen Treffen machen es den Russen besonders schwer, sich von diesem Gefühl zu befreien. Das Ergebnis ist, daß man in Moskau aus den offensichtlichen Schwierigkeiten und Gefahren, in die sich die Sowjetunion allmählich verwikkelt hat, keine logischen Konsequenzen gezogen hat.

Im Atomzeitalter kann also die Sowjetpolitik in der Dritten Welt kaum für „idiotensicher" gehalten werden. Die Dynamik der nationalen Befreiungsbewegungen hat zwar Moskau zum Zögern veranlaßt, aber niemand scheint vorgeschlagen zu haben, daß die UdSSR sich her-aushalten sollte. Alle Bedenken werden — wahrscheinlich wegen der Notwendigkeit, mit Peking Schritt zu halten — erstickt durch einen Schwall kriegerischer Worte, und in letzter Zeit haben sich die Sowjets in den Entwicklungsländern mehr als zuvor engagiert. Unter diesen Umständen werden die'hier erörterten Probleme wahrscheinlich noch größere Bedeutung gewinnen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Uri Ra'anan, Mitglied des Forschungsinstituts für Fragen des Kommunismus der Columbia-Universität, lehrt über sowjetische Außenpolitik an der School of Government der Columbia-Universität. Er ist Autor eines Buches über die diplomatische Geschichte des Mittleren Ostens und schreibt zur Zeit an einem Buch über die sowjetische Politik in den Entwicklungsländern.