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Die Deutschen und ihr Vaterland | APuZ 38/1967 | bpb.de

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APuZ 38/1967 Die Deutschen und ihr Vaterland Nationalbewußtsein in der Welt von heute

Die Deutschen und ihr Vaterland

Eugen Gerstenmaier

Nur noch Rudimente eines deutschen Nationalbewußtseins

Vor einigen Jahren, als von der NPD und dem Rechtsradikalismus in Deutschland noch nichts weiter zu berichten war, schrieb eine englische Journalistin einen Bericht über die innere Verfassung der Deutschen. Sie beschrieb die seelischen und die geistigen Folgen unserer Niederlage und unseres materiellen Wohlstandes.

Sie sagte allerlei Kritisches, aber nichts, was in deutschen Reden und Artikeln dazu nicht auch sdion hundertmal zuvor gesagt worden wäre. Die Engländerin beschrieb den bequem gewordenen Vordergrund Daseins unseres deutschen und die dahinter liegende weitverbreitete geistige und seelische Orientierungslosigkeit. Wirklich gefahrvoll nannte sie in ihrer Schilderung jedoch nur die nahezu vollständige Abwesenheit eines deutschen Nationalgetühls. Was in anderen Völkern durch alle politischen und parteilichen Meinungsverschiedenheiten hindurch selbstverständlich geblieben sei, nämlich ein nationales Bewußtsein von einiger Dichte und Artikulationstähigkeit, das habe sie in Deutschland und — fügte sie hinzu — übrigens auch in Österreich nur noch ganz rudimentär gefunden. Die Engländerin hielt das für abnorm, ja für gefährlich, obwohl aus der Art ihrer Darstellung und Beurteilung zu entnehmen war, daß ihre eigenen Sympathien eher dem Weltbürgerlichen als dem Nationalen gehören.

Jene Journalistin beschrieb, wie ich glaube, damit nur eine Situation, die nahezu zwanzig Jahre hindurch das Bild in Deutschland bestimmte. Das ist nicht Zufall. Der Nationalsozialismus hat nicht nur unsere Städte zu Ruinenfeldern gemacht, sondern er hat auch den ehrbaren Patriotismus, wie er bei uns zu Hause war, hemmungslos übersteigert und verbrecherisch ausgebeutet. Die vaterländische Opierbereitschaft war so mißbraucht, daß Millionen darauf überhaupt nicht mehr anzusprechen waren. Dazu lastete nach der bedingungs-Wolf Graf von Baudissin Nationalbewußtsein in der Welt von heute ...................................................... S. 13 losen Kapitulation noch die Vergeblichkeit der gewaltigen Opfer als schwere Depression auf der deutschen Seele.

Es klingt widerspruchsvoll, aber es ist dennoch wahr: In jener desperaten seelischen Verfassung der Deutschen ist der Kampf um die nackte Existenz, um das Dach über dem Kopf, um das Essen, um das Wiederzusammenfinden der versprengten Familien, um den Arbeitsplatz vielen zur Lebenshilfe geworden, zur Rettung vor Depressionen und Verzweiflung. Die äußere Leistung, der Wiederaufbau, war auch von Bedeutung für die seelische Wieder-erholung der Deutschen und für die Um-und Neubildung unseres nationalen Bewußtseins. Aber vielen blieb doch eine neue, durchgreifende, innere Orientierung versagt. Das Alte war zusammengebrochen und dem Neuen standen sie innerlich beziehungslos gegenüber.

Unsicheres Verhältnis zur deutschen Geschichte

Zwar mußte die öffentliche Meinung gerade in diesem Zusammenhang unterschieden werden von der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Soweit es bei uns eine öffentliche Meinung über die innere, die geistige und die seelische Orientierung der Deutschen überhaupt gibt, äußert sie sich zurückhaltend und meist indirekt. Ganz anders die veröffentlichte Meinung. Sie besetzt das Feld seit mehr als zwanzig Jahren mit Verlautbarungen, Büchern, Artikeln, Kommentaren, Filmen und Publikationen von Leuten unterschiedlichen Gewichts und sehr verschiedener Prägung. Einig waren sie sich jedoch in der Absage an die Vergangenheit. Sie führte zwar zu der notwendigen allgemeinen und öffentlichen Ächtung Hitlers und seines Anhangs durch die Deutschen selbst. Da unsere Vergangenheit aber nicht nur aus dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen besteht, hatte diese Absage auch ein höchst diffuses, verworrenes und unsicheres Verhältnis zur deutschen Geschichte überhaupt zur Folge.

Nicht nur die Ära Hitler, die deutsche Geschichte im ganzen war diskriminiert. Der Amerikaner William Shirer hat dafür ein eklatantes Beispiel geliefert. Er hat in seinem Bestseller über den „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches" die These aufgestellt, daß Hitler kein Zufall, sondern eine Konsequenz der deutschen geschichtlichen Entwicklung gewesen sei. Von Luther über Friedrich den Großen, Bismarck und Wilhelm II. führe eine gerade Linie zu Hitler. In ihm habe sie ihren Höhepunkt erreicht und in ihm sei schließlich das Wesen der Deutschen, das Eigentliche der deutschen Geschichte unmittelbar deutlich und gegenwärtig geworden. Dieser Antigermanismus Shirers ist zwar nicht besser als der Antisemitismus, aber er hat nicht wenig Zustimmung in der Welt gefunden. Auch in Deutschland selbst fand er einen gewissen Anklang. Er ist mehr oder weniger wirr und gebrochen, aber seine Grundtöne sind vernehmbar. Käme darin nur die Fähigkeit zum Ausdruck, sich selbst in Frage zu stellen, so könnte man es für eine, wenn auch nicht geglückte Äußerung der Buße halten. Aber was darin erscheint, hat mit Buße wenig oder nichts zu tun. Denn die Buße setzt Identität, den Willen zur Selbstidentifikation voraus. Wer sich nicht nur von seinen Taten oder Untaten, sondern von sich selber, von seinem eigenen Ich trennen will, der geht nicht nur auf selbst-kritische Distanz, sondern er verläßt den Boden, auf dem Reue allein Sinn hat. Was vom einzelnen gilt, das gilt hier erst recht vom Volk als einem auch in der Generationsfolge mit sich selbst identischen Subjekt der Geschichte. Die seit einigen Jahren in Gang gekommene Diskussion über das deutsche Nationalbewußtsein war von vornherein deshalb überlastet, weil es seit der Hitlerzeit ein ungebrochenes oder auch nur halbwegs geklärtes deutsches Geschichtsbewußtsein nicht mehr gibt. Die berühmte „Bewältigung der Vergangenheit'blieb ein hoffnungsloses Unterfangen, schon weil dabei immer unklar war, was denn eigentlich bewältigt werden sollte. Gemeint war wohl zunächst die allgemeine Einsicht der Deutschen in die moralische und politische Verwerflichkeit des Nationalsozialismus und die Bejahung der Wiedergutmachungspflicht. Das war alles gut und richtig; aber es konnte nicht über die resignierte Erkenntnis hinweg-führen, daß diese Vergangenheit in Wahrheit aber gar nicht zu „bewältigen“ ist. Das heißt, sie ist nicht abwälzbar. Wir können die Augen vor ihr schließen, wir können sie zu vergessen suchen; aber das ändert nichts daran, daß wir bis auf weiteres mit ihr leben müssen. Ihre Bürde drückt uns auch heute, 22 Jahre danach, noch auf Schritt und Tritt bei jeder nennenswerten politischen, insbesondere außen-und verteidigungspolitischen Bewegung. Es wäre schon deshalb unverständlich, ja beunruhigend, wenn sich nicht sofort ein breites kritisches Interesse melden würde, so-B bald es um die Frage der inneren nationalen Orientierung der Deutschen geht. Verständlich ist auch, daß, sobald bei uns von Nationalgefühl oder Nationalbewußtsein gesprochen wird, es um alle Unbefangenheit geschehen ist. Die alsbaldige Warnung ist immer noch fast die Regel. Aber mit der bloßen Warnung vor alten Irrwegen ist die Gegenwart so wenig zu meistern wie mit der Beschwörung abstrakter Zukunftsvorstellungen.

Eine exemplarische Kontroverse

Jeder Versuch zur Neuordnung unseres Nationalbewußtseins muß sich entweder den Vorwurf gefallen lassen, daß damit nur wieder die Ausgangsposition für einen neuen, gefährlichen Nationalismus geschaffen oder aber daß Denk-und Verhaltensweisen heraufbeschworen würden, die reaktionär seien, weil sie die weltgeschichtliche Entwicklung aufhielten, mindestens nicht mit ihr zusammenpaßten.

Im Frühjahr 1966 erschien in einigen evangelischen Kirchenblättern Deutschlands ein Artikel „Warnung vor dem Vaterland". Ein Berliner war sein Verfasser. Der Artikel brachte nichts Neues. Er wiederholte nur, was seit mehr als 20 Jahren in der veröffentlichten Meinung Deutschlands dominierte. Er brachte Überspitzungen im Zeichen der Vergangenheitsbewältigung und schüttete dabei so das Kind mit dem Bade aus, daß Otto Dibelius dagegen auftrat. Er sagte: „Die Liebe zum Vaterland ist nicht eine Sache des kalt überlegenden Verstandes, sondern eine Sache des Gefühls, des Gemüts, des Willens und der Opferbereitschaft für das große Geschenk unseres Gottes. Dieses Geschenk lassen wir uns auch nicht von einer blutleeren Theologie rauben, die sich wieder zu Worte meldet. Das Wort Vaterland werden sie uns stehen lassen müssen."

In dieser Kontroverse stoßen nicht zwei verschiedene Beurteilungen eines katastrophalen Abschnitts der deutschen Geschichte aufeinander. Otto Dibelius hatte mit dem Nationalismus, vor dem jener Berliner Journalist meinte warnen zu müssen, mindestens so wenig im Sinn wie der Warner selbst. Aber die Kontroverse ist deshalb von exemplarischer Bedeutung, weil darin zwei Denkarten aufeinander stoßen, die, wenn ich recht sehe, im deutschen Volk mehr oder weniger gespannt nebeneinander existieren. Der Gegensatz wird deutlicher und gewinnt an Schärfe, wenn er sich nicht historisch, sondern programmatisch ausdrückt. Otto Dibelius ging es um ein neues, sittlich geklärtes deutsches Nationalbewußtsein, um eine Gefühlsbeziehung zum die Vaterland, nationalsozialistische Verführung ausschließt. Seine Kritiker aber behaupten, daß nicht nur der alte Nationalismus, sondern auch jenes Nationalbewußtsein obsolet ist, weil es sowohl geschichtlich wie moralisch erledigt sei.

So hat ein junger deutscher Gelehrter (Hättich) die Frage aufgeworfen, ob in der offenen freiheitlichen Gesellschaft „das dem Nationalbewußtsein zugrunde liegende prinzipielle Verhältnis des Menschen zur Politik der menschlichen Existenz überhaupt noch adäquat sei". Hinter der Frage steht die Behauptung, daß das Nationalbewußtsein deshalb fragwürdig sei, weil es den Menschen der Politik verfügbar mache, während die Politik doch dem Menschen verfügbar bleiben müsse. Dieser Einwand ist auch in der Demokratie zum größten Teil theoretisch. Zudem läßt er außer acht, daß der einzelne die wenigstens relative Sicherung seiner Existenz bislang immer noch in der Gemeinsamkeit der Nation findet.

Die Nation — Strukturprinzip auch im integrierten Europa

Gewichtiger ist die andere Frage desselben Gelehrten, ob die Nationalstaaten in die Zukunft hinein überhaupt noch „das primäre Strukturprinzip politischer Ordnungen“ sein können, genauer: sein dürfen. Jener Mainzer Politologe will eben dies verneinen. Aber auch wenn man ihm dabei zu folgen bereit ist — wie es die europäische Integrationspolitik ungefähr tut —, kann man doch nicht folgern, daß damit das Nationalbewußtsein zum Tode verurteilt sei. Weit berechtigter ist die Annahme, daß es auch noch im supranationalen Integrationsverband eine zwar gewandelte, aber immer noch produktive und strukturierende Bedeutung behält. Realistischerweise muß davon ausgegangen werden, daß auch die supranationale Integration bis jetzt jedenfalls der Nation als Strukturprinzip nicht abgesagt hat. Man kann zwar sagen, daß eine Politik, welche die supranationale Integration anstrebt, die Vorstellung grundsätzlich ausschließt, der souveräne Nationalstaat sei der oberste Wert politischen Denkens und Handelns. Man kann aucn unterstellen, daß die supranationale Integration faktisch und grundsätzlich der soge-nannten offenen pluralistischen Gesellschaft unbefangener gegenübersteht als das herkömmliche Staatsdenken. Aber nach allem, was wir bis jetzt wissen und gesehen haben, wird die europäische Einheit als Föderation gedacht und nicht als zentralistischer Staat.

Es wäre deshalb ganz verfehlt, das vereinte Europa als einen Eintopf vorzustellen, in dem die nationalen Profile und Strukturen untergegangen sind.

Ich glaube auch nicht, daß die Föderation Europas vorgestellt werden darf wie die der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür, daß die supranationale Integration Europas es darauf angelegt hat, ein melting-pot zu werden. Die bis jetzt vorgestellle und programmatisch verkündete Einheit soll jedenfalls kein einsprachiges egalitäres Gebilde sein, sondern eine Föderation nationalstrukturierter und -profilierter Staaten, also ein „Europa der Vaterländer". Auch wenn wir Deutsche uns die vollendete Gestalt dieses vereinten Europas möglicherweise anders vorstellen als der französische Staatschef, der das Wort geprägt hat, so ändert das nichts daran, daß dieser Begriff auch mit unseren politischen Vorstellungen zu vereinbaren ist.

Man kann sich vielleicht auch noch eine sehr viel weitergehende egalitäre Weltgesellsdiaft und Weltföderation vorstellen. Wer aber heute auf sie hin argumentiert, steht mindestens in der Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren und das bloß Spekulative zu treiben.

Gefährlicher Relativismus

Ein ernsterer Gegner auch des selbstkritischen Nationalbewußtseins ist der Relativismus. Er ist nicht in jedem Fall, aber häufig ein Kind des Säkularismus, zuweilen des Nihilismus. Dieser Relativismus hat richtig erfaßt, daß auch das kritische Nationalbewußtsein angelegt ist auf einen breiten, nationalen Konsens, der so „etwas wie Werte an sich" meint. Ausgerechnet in einer der CDU nahestehenden Zeitschrift wurde kürzlich der Münchner Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung vorgehalten, daß sie „das lebensgefährliche Geschäft der Täuschung durch Phrasen" betreibe, weil sie Werte an sich proklamiere. Moral und Sitte hätten nichts mit ewig gültigen Gesetzen zu tun. Die „überlieferten, ausgehöhlten WertVorstellungen" hielten „in der geänderten Gesellschaft nicht mehr stand". Die Intellektuellen hätten verdienstvollerweise „die Pseudoideale“ beiseite geräumt. Jetzt gelte es, sie nicht wieder herbeizuholen, sondern „sich um die Realität zu kümmern".

Ich zitiere diese Kritik, weil ich glaube, daß sie charakteristisch ist für eine weitverbreitete Denkart unserer Zeit, und weil sie in den Kern der Sache stößt, um die es geht. Dieser Relativismus, dessen Höchstes die „Realität“ sein soll, ist deshalb so gefährlich, weil er jederzeit zur sichersten Brutstätte des planen Opportunismus werden kann.

Hitlers Chance im deutschen Volk war um so größer, je weniger er mit einem bedingungslosen, sittlich gegründeten Widerstand zu rechnen hatte. Wer es vor und unter Hitler damit genug sein ließ, sich um die jeweilige „Realität" zu kümmern, wer sich nicht „an ewigen Werten" orientieren wollle oder konnte — wozu nicht nur Glaubens-, sondern auch Rechtsüberzeugungen zu rechnen sind —, der stand Hitler oft und lange hilflos gegenüber. Jener Kritiker hat offenbar vollkommen übersehen, daß sein Lobpreis des Relativismus und des angeblich Realen jedem Opportunismus Tür und Tor öffnet und den Menschen zum Spielhall wechselnder Gewalten und Zustände erniedrigt. Dieser sogenannte Realismus ist ein kurzsichtiges Verfallensein an den Vordergrund der Welt mit Schleichpfaden in das Chaos.

Wer das für Übertreibung hält, der hat sich noch keine zureichende Rechenschaft gegeben über den Verlauf unserer eigenen Geschichte in diesem Jahrhundert. Wer das für Übertreibung hält, hat aber auch die Tiefe des Gegensatzes nicht erfaßt, der die Welt und Deutschland teilt. Ob es nun als chic gilt oder den Vorwurf einbringt, ein sturer kalter Krieger zu sein: Das Ringen mit dem Weltkommunismus ist eben nicht nur ein Kampf gegen ein anderes politisches Zielbild, sondern eine in die Tiefe greifende Auseinandersetzung über den Sinn des Menschseins überhaupt.

Nationalbewußtsein im gespaltenen Deutschland

Das ändert nichts daran, daß wir Deutsche einen dauerhaft-friedlichen Ausgleich auch mit Sowjetrußland und unseren kommunistischen Nachbarn im Osten anstreben. Aber bei aller menschlichen Großzügigkeit dürfen wir uns doch keine Illusionen machen über die Kraft und Bedeutung von Gegensätzen, über die wir keine Gewalt haben. Sie verschwinden nicht dadurch, daß wir die Augen vor ihnen schließen oder ihre realen Konsequenzen ignorieren. Wir glauben nun einmal, daß der einzelne bei aller Gemeinschaftsgebundenheit weder vom Staat noch von der Gesellschaft bewirtschaftet werden darf. Wir bestreiten, daß er zur unbegrenzten Disposition von Machthabern mit oder ohne Ideologie steht.

Trotz solcher profunden Gegensätze ist es, wie gesagt, möglich, Seite an Seite mit kommunistischen Staaten zu leben. Aber es ist nicht möglich, noch oberhalb dieses Gegensatzes ein Nationalbewußtsein zu etablieren, von dem orientierende Kraft ausgeht. Innerhalb eines Staates können beide Grundanschauungen nicht zu gleicher Zeit praktiziert werden. Ich fürchte, das bedeutet auch, daß sich z. B. in einer gesamtdeutschen Konföderation kaum ein Nationalbewußtsein entwickeln könnte von normativer Kraft und Bedeutung. Zwar sieht es gar nicht danach aus, daß es zu einer solchen Konföderation kommen könnte. Einen Funken von Realität hat die Vorstellung ohnehin nur dann, wenn man sich darüber klar ist, daß in einer solchen Organisation die gegensätzlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme nebeneinander weiterbestehen würden. So hoch in einem solchen Falle aber auch die gemeinsam erlebte und erlittene Geschichte und die menschliche Verbundenheit eingeschätzt werden mögen — sie sind konstituierende Bestandteile des Nationalbewußtseins —, so reichen sie allein doch nicht aus, um darauf ein modernes Nationalbewußtsein von einiger Bedeutung zu gründen. Auf der anderen Seite kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Teilung Deutschlands und die Ausbildung eines als Provisorium gedachten neuen deutschen Staates unser Nationalbewußtsein ebenso scharf gespornt wie hart gezügelt hat. Das Verlangen nach der Wiedervereinigung hat das deutsche Nationalbewußtsein wacher und mobiler gehalten als alles andere. Aber es hat ihm auch jenen resignierten, ja pathologischen Zug gegeben, unter dem wir leiden und der uns von anderen Nationen distanziert.

In einer brillanten Analyse hat sich das „Hochland" mit dieser Seite unserer Frage auseinandergesetzt. Burghard Freudenfeld beschreibt dort exakt die paradoxe Situation, in der sich die Bundesrepublik mit ihrem unzureichenden Staats-bzw. Nationalbewußtsein befindet. Allen Versuchen, diesem Mangel abzuhelfen, stehe entgegen, daß sie sich selber nur als ein Provisorium verstehe. Einem solchen Staats-gebilde fehle eben — so meint Freudenfeld — die Qualität einer Staatsnation. Es sei ein „substantieller, kein geographischer Torso".

Bundesrepublik — Provisorium oder deutscher Kernstaat?

Es ist unverkennbar, daß diese Analyse eine eindringliche Kritik am Grundgesetz bzw. an seiner Definition der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet. Aber während Freudenfelds Kritik darauf hinausläuft, daß sich die Bundesrepublik als Provisorium statt als Perfectum definiert, schiene es mir einleuchtender, wenn die Kritik darauf hinausliefe, daß die Väter des Grundgesetzes überhaupt einen neuen, wenn auch „provisorischen" Staat schufen. Eine solche Kritik ist zwar insofern theoretisch, als sie von der konkreten politischen Situation von 1948/49 und der Einflußnahme der verschiedenen Besatzungsmächte absieht. Aber unter systematischen wie unter politischen Gesichtspunkten wird man dennoch bedauern müssen, daß sich der Parlamentarische Rat damals nicht entschließen konnte, den größeren, freiheitlich verfaßten Teil Deutschlands als deutschen Kernstaat mit dem Deutschen Reich zu identifizieren und die sowjetisch besetzten deutschen Länder und Provinzen als das zu bezeichnen, was sie in Tat und Wahrheit auch sind, nämlich deutsche Gebiete, deren Bewohner durch fremde Besatzungsgewalt an der Ausübung ihrer Reichsbürgerrechte gehindert werden. Man darf sich zwar nicht einbilden, daß dadurch die Teilung und alles, was damit zusammenhängt, leichter zu beheben wäre. Aber wir hätten wahrscheinlich etwas weniger Mühe, fremden Völkern unseren Alleinvertretungsanspruch, die Hallstein-Doktrin u. ä., verständlich zu machen. Es war ein Fehler, daß wir nicht wagten, uns damals auch äußerlich mit dem schwer belasteten Deutschen Reich zu identifizieren. Als seine Rechtsnachfolger mußten und müssen wir ohnehin für das Deutsche Reich geradestehen. Im Vergleich zu uns sind die Ulbricht-Leute von vornherein auf das Ganze gegangen. Nach dem Namen des Deutschen Reiches haben sie zwar nicht gegriffen, aber die Verfassung der sogenannten DDR proklamiert, für ganz Deutschland gültig zu sein. In ihrer Präambel heißt es auch dementsprechend schlicht, daß sich „das ganze deutsche Volk diese Verfassung gegeben" habe.

Was man auch dazu sagen mag, in all dem kommt immerhin zum Ausdruck, daß es beiden Seiten einmal um ganz Deutschland ging. Je länger wir auf die Wiedervereinigung warten müssen, desto mehr müssen wir darauf gefaßt sein, daß das, was uns Älteren selbstverständlich ist, für die Nachwachsenden auf beiden Seiten Deutschlands fragwürdig wird. Daß ganz Deutschland und nicht nur die Bundesrepublik oder der Herrschaftsbereich Ulbrichts unser Vaterland ist, wird bei den Jungen immer mühsamer im Bewußtsein zu halten sein. Das ist eine Aufgabe der nationalen Erziehung, die wahrgenommen werden muß.

Legitimes Bedürfnis nach innerer und äußerer Behausung

Eine Erziehungsaufgabe bleibt es auch, dem Bürger einer hochtechnisierten und -politisierten Welt klarzumachen, daß das Wort Vaterland etwas anderes ist und meint als das Determiniertsein des einzelnen in einer Gesellschaft, die er oft nur heteronom erfährt und empfindet. Vaterland meint, daß der auf Gemeinschaft angelegte Mensch aus freien Stükken Ja sagen kann zu den Ordnungen, die seinem eigenen Leben Stil und Rang, Form und Schönheit geben. Dazu gehören Familie und Volk, Land und Heimat. In der Unendlichkeit der Welt bedarf der Mensch einer Stätte, an der er zu Hause ist. Keine noch so weltoffene Politik, kein noch so weltbürgerliches Bewußtsein kann dieses Bedürfnis nach innerer und äußerer Behausung auf längere Zeit ignorieren, ohne daß sich daraus auch politische Schwierigkeiten ergeben. Es ist nicht wahr, daß solche Reaktionen von vornherein suspekt sein müssen. Es ist auch nicht wahr, daß in diesem Bedürfnis nach Behausung, nach Heimat und Vaterland eine reaktionäre Absage an die gegenseitige Abhängigkeit in der einen Welt von heute liege. Ein solches Bedürfnis braucht auch nicht zur nationalen Sonderbündelei zu führen. Es ist aus sich selber urmenschlich, wahrhaft human.

Dem Bedürfnis nach innerer und äußerer Behausung entspringt die freie Bejahung des Volkes mit seiner Geschichte, das heißt der Nation und des Landes, in dem wir geboren sind. Dies alles, was uns umgibt, was uns in Sprache und Kultur überkommen ist, das Schicksal, das wir mit denen, die um uns sind, erlebt und durchlitten haben, unser eigener Lebenswille, der die Notwendigkeit der gemeinsamen Selbstbehauptung erkennt und bejaht, unsere nicht ideale, aber eigene geprägte gemeinsame Lebensweise — das alles ist Vaterland. Warum soll es verdächtig oder gar verhängnisvoll sein, daß sich das Ja dazu wieder einen öffentlichen Ausdruck in unserer Zeit zu schaffen versucht? Gewiß: Was wir davon wahrnehmen, ist oft unklar. Zuweilen tritt das Ja zum Vaterland auch nur zögernd oder in verschämter Form zutage. Aber das ist besser, als wenn es grell und gellend, anspruchsvoll und arrogant sich äußerte. Es ist nicht gut, darin bloß die Wiederkehr eines alten oder neuen Nationalismus zu sehen; es hat und braucht damit überhaupt nichts zu tun zu haben. Es braucht auch nichts zu tun zu haben mit Ressentiments, wie sie heute wieder von rechtsradikalen Gruppen angeheizt werden. Und es braucht erst recht nichts zu tun zu haben mit der Wiederholung eitler und geschichtlich widerlegter Großmacht-und Weltmachtträume, wenn vielleicht auch einige Narren meinen, gerade damit ein Geschäft machen zu können.

Das Ja zum Vaterland in unserer Zeit muß in der Erkenntnis leben, daß die Politik nicht nur Technik und simpler Machtkampf ist, sondern daß sie der Gesinnung und des Ehrbewußtseins bedarf, wenn sie fruchtbar und verbindlich werden soll. Wenn sich eine Bekundung dieser Art unzulänglich ausdrückt, wenn sie nicht immer kristallklar und lauter das rechte Wort findet, so ist das noch keine Rechtfertigung der oft hoffärtigen Art, mit der ein dürrer Positivismus das Nationalbewußtsein und das nationale Gefühl der Deutschen in den letzten zwanzig Jahren behandelt hat. Dieser Positivismus ist ziemlich gedankenlos davon ausgegangen, daß öffentliche Kritik und allenfalls Diskussion genügten, um ein Volk zusammenzuhalten und mit seinen politischen Aufgaben fertig zu werden. Nun kann zwar kein Staat, und am wenigsten die parlamentarische Demokratie, ohne Diskussion und Kritik gestaltet werden. Ein freiheitlicher Rechtsstaat braucht jedoch mehr als dies. Er braucht mehr als eine vorzügliche Verfassung, mehr als zeitgemäße Apparaturen und auch noch mehr als eine florierende Wirtschaft. Er braucht sogar mehr als Bürger, die sich ihrer Rechte bewußt sind. All das ist schön und gut und notwendig. Aber es bringt ein Volk nicht in die Zukunft — es sei denn, daß es eine hinreichend breite Schicht von Männern und Frauen, von Alten und Jungen besitzt, die sich für diesen ihren Staat einsetzen, die sich aus freien Stücken für ihr Volk, für ihr Land und seine Zukunft engagieren.

Politisches Engagement

Ich kann und will nicht sagen, daß sich dieses Engagement nur in den politischen Parteien vollziehe oder sich nur dort verwirklichen könne. Die Parteien sind in unserer Zeit und in unserem Volk bitterer Kritik und vielen Mißdeutungen unterworfen. Das ändert aber nichts daran, daß unser freiheitlicher Rechtsstaat sich ohne die Existenz politischer Parteien nicht zu verwirklichen vermöchte.

Solange das wahr ist, ziemt es sich nicht, von den Parteien geringschätzig zu denken. Ihr Engagement ist Dienst am Vaterland — es sei denn, daß sich eine Partei nur für Gruppeninteressen einsetzen will. Eine Partei, die nur das wollte, wäre vielleicht ein ganz gut funktionierender Interessenverband; eine politische Aktionseinheit aber wäre sie nicht. Denn die Partei als politische Aktionseinheit muß über das berechtigte Interesse vieler Gruppen hinaus das zum Ziel und Maßstab ihres Handelns machen, was dem ganzen Volke nützt und frommt. Dazu gehört mehr als bloßes rationales Kalkül, mehr auch nur als Prestige und Machtbedürfnis. Dazu gehört die Bereitschaft, in unscheinbaren, aber mühsamen Dingen, zum Beispiel bei Wahlkämpfen, selber mitzuarbeiten. Das ist oft eine Sache voller Entsagung. Wer sie auf sich nimmt, hat in der Regel noch ganz andere als bloß rationale oder eigensüchtige Motive.

Das Engagement in einer Partei ist in der Regel auch verkannt, wenn es als Ausdruck geistiger Enge mißdeutet wird. Denn die Entscheidung für ein politisches Ziel ist nicht ein Ausdruck der geistigen Enge, sondern der Entscheidungskraft, ohne die Politik nicht möglich ist.

Das geklärte selbstkritische Nationalbewußtsein, dem ich hier das Wort rede, kann und muß jedenfalls die Bereitschaft zum konkreten politischen Engagement stärken. Schon damit wird die Behauptung widerlegt, daß sich auch ein geläutertes deutsches Nationalgefühl und Nationalbewußtsein nicht politisch-programmatisch auszudrücken vermöge, daß es im Emotionalen steckenbleibe und daß es deshalb, wenn nicht gefährlich, so doch zumindest politisch wertlos sei.

Dieser Vorwurf kann, wenn ich recht sehe, nur der NPD und ähnlichen Gruppen gemacht werden. Mit ihrem Appell an Ressentiments und ähnlich zwielichtige Gefühle diskreditieren sie in der Tat die große positive Kraft und Bedeutung des geläuterten deutschen National-gefühls für den Weg der Deutschen in die Zukunft. Dennoch ist es ein politischer Faktor ersten Ranges; denn ebenso wie der Mensch eine Seele hat und diese Seele von Bedeutung für ihn und sein Verhalten ist, ebenso ist auch ein Volk eine beseelte Ganzheit, eine geschichtliche Individualität, und nicht nur ein soziologischer Ausschnitt aus einer uniformen Weltgesellschaft. Für das Leben, für die Selbst-gestaltung, für das politische Tun und Lassen eines Volkes sind darum auch seelische Elemente und Einflüsse von oft entscheidender Bedeutung.

Geistige und sittliche Orientierung

So sehr die Meisterung der politischen Sachund Einzelfragen das nüchterne — rationale — Erfassen der Situation, eine durchdachte politische Programmatik und methodische Klarheit verlangen, so wenig leistet eine Politik, wenn sie nicht von einer großen Gesinnung getragen wird und wenn sie nicht weiß, was sie im großen und ganzen will und soll. Selbst für die Entscheidung vieler Einzelfragen ist es von Bedeutung, auf welches Gesamtziel hin sie getroffen und verantwortet und von welcher inneren Orientierung sie getragen wird. Die Rationalisten, Positivisten und bloßen Techniker der Macht kann man in diesem Zu-B sammenhang nur daran erinnern, daß die sittliche Norm Kants — der gute Wille — oder die des Apostel Paulus (I. Kor. 13) und Augustinus („Liebe und tue was du willst!") auch für die Politik produktiver und brauchbarer ist als jede politische Kasuistik. Mit anderen Worten heißt das: Die Politik, jedenfalls die deutsche Politik, kann in der Weltlage, mit der wir Deutsche uns seit Jahr und Tag konfrontiert sehen, nicht darauf verzichten, sich immer wieder — geistig und sittlich —-zu orientieren. Sie kann und soll auf die politische Taktik deshalb nicht verzichten. Aber ihre nur taktische Orientierung wäre nicht zu vertreten.

Der deutschen Nachkriegspolitik zum Beispiel liegt eine sittlich und national verantwortete Rangordnung der Werte zugrunde. Sie heißt — ich habe es oft gesagt — Freiheit, Friede, Einheit. Ohne eine solche grundsätzliche Orientierung wäre der politische Weg Deutschlands in den Wirren der letzten zwanzig Jahre kaum möglich gewesen. Auf diesem Wege wurde die Probe darauf gemacht, daß es möglich ist, auch ohne die lange für unerläßlich gehaltene nationale Souveränität ein Nationalbewußtsein zu entwickeln, das eine moderne, kritische und politisch-produktive Welt-orientierung ermöglicht und die Politik davor bewahrt, in bloßen Opportunismus abzusinken. Ich sehe nicht, was gegen eine „nationale" Orientierung dieser Art im Namen der Humanität oder einer neuen Weltfriedensordnung eingewandt werden könnte. Wenn wir unser Recht, Deutsche und ein Volk zu sein, selber in Frage stellten oder unwidersprochen in Frage stellen ließen, dann wären wir freilich nicht „national", aber wir wären auch nicht human. Zudem brauchten wir uns nicht zu wundern, wenn wir auch damit nicht jedermanns Liebling in der Welt würden, denn der Wechsel von Hybris in bloße Unterwürfigkeit kann weder Achtung noch Vertrauen schaffen. Wir brauchen aber die Achtung und — soweit das überhaupt möglich ist — auch das Vertrauen der Welt. Und wir brauchen auch die Achtung vor uns selbst und das Vertrauen zu uns selbst, wenn wir mit unserem Vaterland Deutschland in der Fährlichkeit der Welt bestehen wollen.

Als wir uns an Pfingsten 1943 in Helmuth von Moltkes Kreisau um die innere und äußere Orientierung eines neuen rechtschaffenen Deutschlands bemühten, einigten wir uns — Sozialisten und Konservative — darauf: „Die besondere Verantwortung und Treue, die jeder einzelne seinem nationalen Ursprung, seiner Sprache, der geistigen und geschichtlichen Überlieferung seines Volkes schuldet, muß geachtet und geschützt werden. Sie darf jedoch nicht zur politischen Machtzusammenballung, zur Herabwürdigung, Verfolgung oder Unterdrückung fremden Volkstums mißbraucht werden. Die freie und friedliche Entfaltung nationaler Kultur ist mit der Aufrechterhaltung absoluter einzelstaatlicher Souveränität nicht mehr zu vereinbaren. Der Friede erfordert die Schaffung einer die einzelnen Staaten umfassenden Ordnung. Sobald die freie Zustimmung aller beteiligten Völker gewährleistet ist, muß den Trägern dieser Ordnung das Recht zustehen, auch von jedem einzelnen Gehorsam, Ehrfurcht, notfalls auch den Einsatz von Leben und Eigentum für die höchste politische Autorität der Völkergemeinschaft zu fordern." Ich halte dieses Wort der Kreisauer auch heute noch für verbindlich.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eugen Gerstenmaier, Prof. D. Dr., Präsident des Deutschen Bundestages, Oberkonsistorialrat. Geboren 25. August 1906 in Kirchheim/Teck. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Promotion an der Universität Rostock. 1935/37 Habilitation in Rostock und Berlin. 1938 Entziehung der Dozentur. Wiss. Hilfsarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche. Mitglied des Kreisauer Kreises. Nach dem 20. Juli 1944 Zuchthaus. 1945/51 Leiter des Hilfswerks der EKiD. Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1949, Präsident des Deutschen Bundestages seit 1954. Veröffentlichungen u. a.: Die Kirche und die Schöpfung, Berlin 1938; Reden und Aufsätze, Bd. I Stuttgart 1956, Bd. II 1962; Die NATO-Reform im Sicherheitssystem der freien Welt, Bonn 1964; Neuer Nationalismus? Zur Wandlung des deutschen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1965; Konrad Adenauer — Ehrung und Gedenken, Stuttgart 1967.