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Ein deutscher Staatsmann — Zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau | APuZ 39/1967 | bpb.de

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APuZ 39/1967 Gemeinwohl und Macht — Ziel und Mittel politischer Gestaltung Ein deutscher Staatsmann — Zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau

Ein deutscher Staatsmann — Zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau

Hans Lamm

Auch dem Staatsmann flicht die Nachwelt keine Kränze. Wohl keiner der bedeutenden Politiker der Weimarer Republik — von Ebert bis Brüning — wurde oder ist populär: der meisten wird so selten gedacht, als ob sie nicht gewirkt hätten. Zu diesen zu Unrecht Vergessenen gehört Walther Rathenau, von dem auch politisch Informierte nicht viel mehr wissen, als daß er im April 1922 in Rapallo zu einer Verständigung mit der Sowjetunion gelangte und daß er am 24. Juni jenes Jahren den Mordkugeln verhetzter nationalistischer Burschen zum Opfer fiel.

Reiche Geistesgaben

Als Sohn des 1838 geborenen Emil Rathenau, des Gründers der AEG und des Leiters der Berliner Elektrizitäts-Werke, studierte er Philosophie, Physik und Chemie und promovierte 1889 mit einer Studie „Die Absorption des Lichtes in Metallen". Seine ersten Aufsätze, die in Maximilian Hardens „Zukunft"

erschienen, waren teils naturwissenschaftlichen, teils zeitkritischen Themen gewidmet.

Zur gleichen Zeit gründete er die Elektrotechnischen Werke mit Niederlassungen in Frankreich und Polen, trat in das Direktorium der AEG und in die Verwaltung von über 100 Gesellschaften ein, wodurch er ungewöhnliche Einblicke in die wachsenden Industrieunternehmungen Europas erlangte. Viele Auslandsreisen (unter anderem 1907 mit Dernburg nach Ostafrika, 1908 nach Südwestafrika) erweiterten seinen Horizont. Zwei seiner bedeutendsten Bücher erschienen unmittelbar vor dem Weltkrieg; 1912 „Zur Kritik der Zeit", 1913 „Zur Mechanik des Geistes". Vom August 1914 an leitete Rathenau neun Monate lang und mit unbestreitbarem Erfolg die Kriegs-rohstoffversorgung des Deutschen Reiches, worüber er 1916 ausführlich berichtete. Im Jahr 1917 publizierte er zwei geisteswissenschaftliche Werke: „Eine Streitschrift vom Glauben" und „Von kommenden Dingen";

die letztgenannte Schrift erreichte im Laufe der Jahre an die 100 Auflagen. Dem seines Erachtens nach überstürzten Waffenstillstands-angebot setzte Rathenau den Aufruf zur leve en mässe entgegen. 1920 wurde er in die 2. Sozialisierungskommission und nach Spa zur Konferenz zur Regelung der Reparationsfrage entsandt. Joseph Wirth berief ihn als Wiederaufbauminister am 9. Mai 1921 und genau ein Jahr später als Außenminister in die Reichsregierung. In diesen Funktionen errang er Respekt und Zugeständnisse für die junge Republik bei den Beratungen in Cannes, Spa und Genua. Die nationalistische Hetze intensivierte sich unter der Führung des Deutsch-nationalen Karl Helfferich im Reichstag und erreichte ihr Ziel, als am 24. Juni 1922 der Minister auf dem Weg von seiner Wohnung Grunewald zum Auswärtigen Amt erschossen wurde.

Rathenau war aber mindestens ebensosehr wie Philosoph und Politiker ein Mann der Musen. Emil Ludwig berichtet darüber in seinem Buch „Genie und Charakter“ (1925): „Er wußte Porträts zu malen, sein Haus zu zeichnen, den Stuck darin zu formen, Turbinen zu bauen, Holzplastiken zu bestimmen. Montaigne an-15 zugreifen, Bilanzen zu entschleiern, Fabriken umzustellen, Verse zu schreiben, Staatsverträge zu schließen, die Waldstein-Sonate zu spielen. Nicht auf Genie, es kam ihm auf einen gewissen Grad des Könnens an, der meist noch größer war, als was der tüchtige einzelne im einfachen Fache zu leisten vermag. Sein Feld war die Welt, das darf man sagen, in seiner Vielfalt war er überraschend. Rathenau, der ein Genie zu sein wünschte, war vielleicht der talentvollste Kopf seiner Epoche."

All seine reichen Gaben des Geistes und Gemütes ließen ihn freilich schwer den Mitmenschen im freundschaftlichen Gespräch finden. Er war viel bewundert und gehaßt, er war jedoch weder beliebt noch geliebt, was der ihn hoch schätzende eben zitierte Biograph ebenfalls klar erkannte: „Die Gnade der Liebe blieb ihm und seinem Hause vorenthalten. Aus diesem Fluch naturgesetzter Einsamkeit hat er die hohen Werte seines Werkes, seiner Tat gezogen.

Ich weiß nicht, wer ihn etwa liebte; er selber liebte nur die Mutter. Vergebens haben sich Frauen um ihn bemüht, und ob er sich selbst zuweilen um irgend einen Grad von Wärme bemüht hat oder nicht, gilt völlig gleich, sein Inneres blieb einsam. Keineswegs war dies ein strenger Philosoph, der sich den Frauen im Salon entzog oder nicht lächeln konnte; aber er ließ niemand ein in die Cella seiner Seele, zu diesem Tempel war die Tür so schmal wie die seines Hauses."

Was waren die wesentlichen und bleibenden Leistungen des Philosophen und Politikers Rathenau?

Das schriftstellerische Werk

Das literarische Oeuvre Rathenaus ist quantitativ und qualitativ erstaunlich reich. Wenn auch einige Aufsätze aus der Stunde heraus verfaßt wurden und für uns kaum mehr als historisches Interesse haben, ihr Stil und ihr Gedankenreichtum bestechen noch heute. Die Aufsätze von 1897— 1918 sind in den „Gesammelten Schriften in fünf Bänden" (1918), die späteren in den „Nachgelassenen Schriften“ (2 Bände, 1927) enthalten, wozu noch die „Gesammelten Reden“ (1924) sowie die mehrbändigen Briefsammlungen (5 Bände, 1929 bis 1931) treten.

Seine Philosophie hat sich nie in ein System pressen lassen. Ein Schüler Diltheys, war er Pragmatiker auf den Gebieten der Politik wie der Industrie. Als Denker blieb er ein Mann der subjektiven Wahrheit, den wissenschaftlichen Beweisen abhold und als Mann der Künste der künstlerischen Wahrheit — die er nicht selten als die künftige Wahrheit betrachtete — zugeneigt.

Sein leidenschaftlicher Aufstand gegen den „Zweckmenschen der mechanistischen Welt’ war wohl weitgehend Opposition gegen den Vater, den Hans Werner Richter als „einen genialen, doch im persönlichen Umgang sprunghaften, schwierigen und rücksichtslos einseitigen Menschen" kennzeichnete aber natürlich war seine Lebensphilosophie weit mehr als Ausdruck persönlicher Ressentiments.

In der Schrift „Von kommenden Dingen'glaubte er nicht nur den „Fluch", sondern auch die „Überwindung der Mechanisierung“ aufweisen zu können. Er war kein weltfremder Philosoph, sondern stellte fest: „Die Mechanisierung ist Schicksal der Menschheit, somit Werk der Natur; sie ist nicht Eigensinn und Irrtum eines einzelnen, noch einer Gruppe; niemand kann sich ihr entziehen, denn sie ist aus Urgesetzen verhängt. Deshalb ist es kleinliche Ver-zagtheit, das Vergangene zu suchen, die Epoche zu schmähen und zu verleugnen. Als Evolution und Naturwerk gebührt ihr Ehrfurcht — als Not Feindschaft..."

Der Großindustrielle, der nicht nur stolz war, in einem königlichen Schloß (Freienwalde) zu leben, sondern auch sonst Aristokrat und Gentleman war, erhob leidenschaftliche soziale Mahnungen: „Mit der Forderung der seelischen Freiheit und des seelischen Aufstiegs verträgt es sich nicht, daß die eine Hälfte der Menschheit die andere, von der Gottheit mit gleichem Antlitz und gleichen Gaben ausgestattete, zum ewigen Dienstgebrauch sich zähme. Man wende nicht ein, daß beide Hälften nicht sich, sondern der Gemeinschaft leben und schaffen; denn die obere Hälfte wirkt unter freier Selbstbestimmung und unmittelbar, die untere wirkt, indem sie ohne Blick auf ein sichtbares Ziel mittelbar und im Zwange der oberen dient. Niemals sieht man einen Zugehörigen der oberen Schicht freiwillig niedersteigen; der Aufstieg der unteren aber wird durch Vorenthalt der Bildung und des Vermögens so vollkommen verhindert, daß nur wenige Freie in ihrem Kreise einen Menschen erblicken, der selbst oder dessen Vater den untersten Ständen angehört hat."

Dabei war und blieb er undoktrinär: „Wir werden ohne Scheu eine Wegstrecke neben der Bahn des Sozialismus wandern und dennoch seine Ziele ablehnen. Wollen wir in der innern Welt das Wachstum der Seele, so wollen wir in der sichtbaren Welt die Erlösung aus erblicher Knechtschaft. Wollen wir die Befreiung der Unfreien, so bedeutet dies nicht, daß wir irgendeine Güterverteilung an sich für wesentlich, irgendeine Abstufung der Genußrechte für wünschenswert, irgendeine Nützlichkeitsformel für entscheidend halten. Es handelt sich weder darum, die Ungleichheiten des menschlichen Schicksals und Anspruchs auszugleichen noch alle Menschen unabhängig oder wohlhabend oder gleichberechtigt oder glücklich zumachen; es handelt sich darum, an die Stelle einer blinden und unüberwindlichen Institution die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung zu setzen, dem Menschen die Freiheit nicht aufzuzwingen, sondern ihm den Weg zur Freiheit zu öffnen. Welche menschlichen und sittlichen Opfer dies fordert, ist gleichgültig, denn es wird nicht Nützlichkeit und Vorteil erstrebt, sondern göttliches Gesetz. Würde durch dieses Gesetz die Summe des äußeren Glücks auf Erden vermindert, so verschlüge es nichts. Würde der Weg der äußeren Zivilisation und Kultur verlangsamt, so wäre das nebensächlich. Wir werden ohne Leidenschaft erwägen, ob diese Nachteile eintreten; wenn es nicht geschieht, so ist da keine Anpreisung oder Ermunterung für unseren Gang. Denn der bedarf keiner Überredung und keiner Versprechung; im Sichtbaren will ihn die Würde und Gerechtigkeit unseres Daseins und die Liebe zum Menschen, im Jenseitigen will ihn das Gesetz der Seele ... Das Ziel aber, zu dem wir streben, heißt menschliche Freiheit."

Prophetisch hatte er vor und im Krieg den Zusammenbruch des Morschen als unabwendbar erkannt; jetzt sah er auch schon eine sittlich geläuterte Demokratie am Horizont: „Was wir brauchen, ist Unabhängigkeit, Adelsgefühl, Herrenhaftigkeit, Verantwortungswillen, Großmut, Freisein vom Vorgesetzten-und Untergebenengeist, von Kleinlichkeit und Mißgunst. In dieser Forderung liegt die ganze deutsche politische Zukunft beschlossen, sie ist nicht eine Frage der Einrichtung, sondern des Charakters. Jeder künftige Politiker, sofern er nicht Macht oder Interessen vertritt, wird sich bewußt bleiben müssen, daß die Erweckung neuer sittlicher Kräfte die Grundbedingung unserer Gestaltung bildet und daß die Institutionen nachgiebig und beweglich der menschlichen Entwicklung folgen, wie die Rinde dem Wachstum des Stammes. Sind wir vor hundert Jahren zur Nation, vor fünfzig Jahren zur Staatsnation geworden, so müssen wir von jetzt an durch innere Neugeburt zur politischen Nation und zum Volksstaat erwachsen ..."

Der Politiker

Mag sein zeitkritisches Denken nach fünf Jahrzehnten der Wandlung zuweilen unbestimmt und romantisch anmuten, sein politisches Handeln war klar, konkret und zielstrebig. Die Konsequenz seines Denkens und Tuns kann von den Vorkriegstagen bis in die Nachkriegsjahre verfolgt werden. In seiner „Apologie" aus dem Jahr 1919 heißt es unter anderem: „Noch zwei Tage vor Kriegsausbruch, im Augenblick der blindesten Leidenschaft, hatte ich gewarnt und war dafür von gewohnten und Gelegenheitsgegnern verhöhnt und beschimpft worden; ich wußte, der Krieg kann nicht glücklich enden, aber ich hoffte auf Besinnung und wollte nicht, da ich unsere Feinde kannte, daß wir zusammenbrachen, bevor die Besinnung kam. Deshalb brachte ich die Rohstoffwirtschaft in Ordnung, verließ das Amt, sobald es geschehen war, und kämpfte gegen Kriegsverlängerung, Annexionismus, Verfeindung mit Amerika mit allen Mitteln, die mir zu Gebote standen.

Ich habe unsere Rohstoffwirtschaft geordnet, weil ich den Zusammenbruch unseres Landes verhindern wollte, weil ich hoffte, daß nach der Herstellung des Gleichgewichts Besinnung kommen würde. Wir waren blockiert, wir hatten nur wenig Rohstoffe im Lande, Salpeter kaum für sechs Monate, Kupfer, Wolle, Gummi, Jute, Zinn und viele andere bei sparsamstem Verbrauch kaum für ein Jahr. Nur Zwangwirtschaft, nach vollkommen neuen Grundsätzen, konnte uns retten, nur neugeschaffene Organe, Kriegsrohstoffgesellschaften nannte ich sie, konnten den gewaltigen Verbrauch ordnen. Die Rohstoffwirtschaft war die einzige Organisation dieses Umfangs, die nicht versagte. Selbst die von ihr schwer betroffenen Produzenten haben sie anerkannt. Ein ernster Gegenvorschlag ist nie gemacht worden. Wenn man von den Mängeln der Zwangswirtschaft spricht, so denkt aber ein jeder nicht an die Rohstoffversorgung, sondern an die Lebensmittelversorgung, wenn von Kriegsgesellschaften die Rede ist, so meint man die Nahrungsmittelgesellschaften. Diese Verwechselung machen sich meine Gegner zunutze.“

Aus der Niederlage zog er gedankliche wie praktische Schlüsse: „Als der Zusammenbruch kam, wußte ich und sprach es aus, daß der Feind uns in langen Verhandlungen wehrlos machen und vernichten würde. Ich hielt ein formalistisches Verhandeln um Waffenstillstand für töricht und verlangte Verhandlung in Waffen und Verhandlung um Frieden. Das war, wie jeder Verständige einsah, nicht die leve en mässe, sondern die Liquidation an Stelle des Bankerotts. Denn damals waren wir noch furchtbar, sechs Millionen standen im Feld, und der Feind glaubte nicht an unsere Auflösung. Nicht einen Kampftag hat die militärische Verhandlung erspart, siebenundvierzig Tage wurde weitergekämpft; in dieser Zeit hätten wir den Vorfrieden gehabt, und heute wären wir eine große und geachtete Nation. Es mag Menschen geben, denen es gefällt, , an den rauchenden Trümmern des Landes sich die Hände zu wärmen'; vor denen habe ich mich nicht zu rechtfertigen."

Das mangelnde Verständnis für seine politische Haltung — er wurde in der Weimarer Republik zum führenden Kopf derer, die von Deutschnationalen und noch weiter rechts stehenden Eiferern als „Erfüllungs-Politiker" geschmäht wurden — ertrug er mit einer Gelassenheit, die kleinere Geister ihm als Arroganz ankreideten: „Verstanden wird der Interessent, der sich um den Geist nicht kümmert. Verstanden wird der Gelehrte, der die jeweils herrschenden Mächte in ein System bringt und rechtfertigt. Verstanden wird der Romantiker, der irgendeine Vergangenheit preist, obwohl er bewußt weiß, daß sie nicht wiederkehren wird, und unbewußt weiß, daß sie nicht wiederkehren darf. Verstanden, obwohl mit Abneigung, wird der Rationalist, der eine ethische Forderung in die Mitte stellt und die Welt in sein Glück peinigt. Abgelehnt wird der Mensch, der das Bild der Welt und der Idee in sich stark werden läßt und unbefangen ausspricht, was nach seinem Erleben ist und was wird. Etwas anderes habe ich nicht getan, und es steht mir nicht zu, den Wert oder Unwert dieses Tuns zu ermessen."

In den Reden des Ministers ist von Zwiespalt und Zweifeln nichts mehr zu verspüren. Er wirbt lauteren Herzens und mit beredter Zunge um Verständnis für Deutschland und tut dies in einem Geist der Opferwilligkeit. „An Deutschlands Jugend" hatte er schon im letzten Kriegssommer eine noch heute unverwirklichte Mahnung gerichtet: „Ein Völkerbund ist recht und gut, Abrüstung und Schiedsgerichte sind möglich und verständig: doch alles bleibt wirkungslos, sofern nicht als erster ein Wirtschaftsbund, eine Gemeinschaft der Erde geschaffen wird. Darunter verstehe ich weder die Abschaffung der nationalen Wirtschaft, noch Freihandel, noch Zollbünde: sondern die Aufteilung und gemeinsame Verwaltung der internationalen Rohstoffe, die Aufteilung des internationalen Absatzes und der internationalen Finanzierung."

Als Minister hat er zunächst sachlich und schlicht Deutschlands Willen, zum Wiederaufbau des zerstörten Europas beizutragen, dargetan: „Es sind uns eine Reihe von Fragen gestellt worden. Die Fragen beziehen sich einmal auf den Umfang der von Deutschland zu bewirkenden Sach-und Geldleistungen, die möglich wären, ohne Deutschland zu . verkrüppeln'. Sie beziehen sich weiter auf Maßnahmen hinsichtlich der deutschen Finanzen, sie beziehen sich außerdem auf die Sicherheiten, die von Deutschland für die Erfüllung dieser Maßnahmen gegeben werden können, und endlich auf die Teilnahme Deutschlands an dem Wiederaufbau Europas.

Deutschland ist entschlossen, mit seinen Leistungen bis zu den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu gehen. Deutschland ist immer ein Land der Ordnung gewesen. Deutschland ist aber durch einen verlorenen Krieg, durch schwere Verluste und durch eine Revolution hindurchgegangen. Die anormalen Zustände seiner Lebensbedingungen und seiner Finanzen, die die Folge dieser Ereignisse sind, empfindet Deutschland selbst am schwersten und wünscht sie zu beseitigen. Es wünscht nicht, den Weltmarkt durch Unterbietungen zu zerrütten." Er zieht auch die praktischen Grenzen jeder Erfüllungspolitik: „Es wäre unmöglich, da das Land schwerer als seine Nachbarn belastet ist, die Steuern nochmals zu verdoppeln. Es bleibt also die Frage einer sehr großen Anleihe. Ich glaube, daß man eine derartige Anleihe nicht im Auslande wird machen können. Die City von London hat sich schon geweigert, einen sehr viel kleineren Betrag für die Januar-und Februarzahlungen durch eine Anleihe zu finanzieren. Die Frage einer inneren Anleihe wird sehr ernsthaft erörtert werden. Aber in der gegenwärtigen Situation wird es kaum möglich sein, die notwendigen Reizmittel zu finden, um eine Anleihe auch nur annähernd des erforderlichen Umfanges unterzubringen."

Den gegnerischen Mißdeutungen seiner „Erfüllungspolitik" setzte er im Reichstag am 7. März 1922 eine klare Definition entgegen: „Ich habe für die Möglichkeit der Erfüllung die stärkste Grenze gezogen, die man überhaupt ziehen kann, nämlich die sittliche. Ich habe erklärt, daß das Maß der Erfüllung gegeben sei durch die Frage, wie weit man ein Volk in Not geraten lassen dürfe. Dieses . dürfe'unterstreiche ich, denn darin war die sittliche Verpflichtung enthalten, nur bis zu dem Punkte zu gehen, den der Staatsmann verantworten kann."

Der Wirtschaftler Rathenau hatte schon 1913 Ideen formuliert, die noch 1967 nichts an Aktualität verloren haben: „Es bleibt eine letzte Möglichkeit, die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden. Früher als wir beginnen einzelne unserer Nachbarstaaten, die nicht über unseren gewaltigen Binnen-konsum verfügen, die Unbilden der wirtschaftlichen Isolation zu fühlen. Die industrielle Zukunft gehört der schöpferischen Technik, und schöpferisch kann sie nur da sich betä19 tigen, wo sie unter frischem Zuströmen menschlicher und wirtschaftlicher Kräfte sich dauernd im Wachstum erneuert. ... Die Aufgabe, den Ländern unserer europäischen Zone die wirtschaftliche Freizügigkeit zu schaffen, ist schwer; unlösbar ist sie nicht. . . . Das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bundes würde es zurückgebliebene, stockende und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. .. . Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und dies wird früher geschehen, als wir denken, so verschmilzt auch die Politik."

Auf der Konferenz in Genua (Mai 1922) lauschte man seinen Analysen achtungsvoll: „Der heutige Zustand der Welt ist nicht Frieden, sondern ein Zustand, der dem Kriege ähnlich ist, jedenfalls ist es kein vollkommener Friede. Leider ist in den einzelnen Ländern die öffentliche Meinung noch nicht demobilisiert. Die Überreste der Kriegspropaganda zirkulieren noch immer und belasten die Atmosphäre. Jeder, der seine Mittel und seine Arbeit einem Lande anvertraut, hat daher mit der Gefahr zu rechnen, daß dieses Land binnen kurzem durch Verhältnisse höherer Gewalt, die nicht in Naturereignissen, sondern in politischen Ereignissen liegen, gefährdet und verwandelt werden kann. Vor allem ist die Erkenntnis nicht gesichert, daß ein Schuldner, zumal wenn er verarmt ist, der Schonung bedarf, und daß er unfähig wird zu leisten, wenn ihn die Mächte seiner Möglichkeiten, namentlich seines Kredits, berauben. Daß dies tatsächlich die Imponderabilien sind, die den ehemals so großen Austausch des Produktions-und Konsumptionsverkehrs hemmen, geht aus der Tatsache hervor, daß die Produktionsmittel der Welt nahezu vollkommen erhalten sind. Selbst wenn man alle tief bedauerlichen Zerstörungen des Krieges und vor allem der Nachkriegszeit in Rechnung zieht, darf man annehmen, daß im gesamten Produktions-und Verkehrsapparat selbst mehr als 90 Prozent erhalten sind. Die gewaltigen und tief beklagenswerten Zerstörungen innerhalb des russischen Reiches greifen in den Welthandel mit nur etwa 3 Prozent ein."

Die von ihm und den Russen erzielte Verständigung begrüßte er — im Gegensatz zu manchen Westmächten und zu seinen innenpolitischen Gegnern — als Positivum: „Ein weiteres historisches Ergebnis der Konferenz erblickt die deutsche Delegation in der Annäherung des großen, schwerbedrängten russischen Volkes an den Kreis der besten Nationen. Durch manche Aussprachen hat Deutschland sich bemüht, zu einer Annäherung der beiderseitigen Gesichtspunkte beizutragen. Deutschland hofft, durch die Fortsetzung der beiderseitigen Besprechungen das Werk des Friedens zwischen Ost und West zu fördern.“

Er schloß diese letzte Rede vor den Völkern der Welt und auf italienischem Boden mit den berühmt gewordenen Worten: „Die Geschichte Italiens ist älter als die der meisten europäischen Nationen. Auf diesem Boden sind mehr als einmal große Weltbewegungen entstanden. Abermals und hoffentlich nicht vergebens haben die Völker der Erde ihre Augen und Herzen zu Italien erhoben in der tiefen Empfindung, der Petrarca den unsterblichen Ausdruck verliehen hat: Io vö gridando Pace, Pace, Pace!"

Das Ende

Dem Fünfundfünfzigjährigen wurde es nicht gewährt, die Früchte seiner Friedenspolitik reifen zu sehen; er war damit weniger glücklich und erfolgreich als Stresemann, der später sein Amt übernahm und in Locarno mit Briand zu entscheidenden Schritten der Verständigung gelangte.

Die Details der Ermordung Rathenaus sind bekannt. Der oft gewarnte Außenminister fuhr im offenen Wagen zu seinem Büro: Mehrere Handgranaten töteten den Mann, der Polizeischütz abgelehnt hatte. Er war dem Tod gegenüber furchtlos — ob er ihn unbewußt gesucht hat?

Ein Aufschrei der Entrüstung und des Entsetzens durchzog das Land — es war eine der wenigen Stunden nationaler Gemeinsamkeit in der von Not und Leid geschlagenen Weimarer Republik. In Stille und Arbeitsruhe verharrten Millionen einfacher Leute am Beisetzungstag, und im Deutschen Reichstag rief der Kanzler, der Zentrumsmann Dr. Joseph Wirth, das ebenso erbitterte wie prophetische Wort „Der Feind steht rechts!" Der Reichs-präsident, Friedrich Ebert, sprach für das gesamte Volk — mit der Ausnahme der Unbelehrbaren, die den Mördern die Revolver in die Hand gedrückt hatten —, als er am Sarg ausrief: „Die verruchte Tat traf nicht den Menschen Rathenau allein, sie traf Deutschland in seiner Gesamtheit." Nüchtern stellte der englische Ministerpräsident Lloyd George damals fest: „Deutschland hat mit diesem Mord Selbstmord begangen." 1963, unmittelbar vor seinem Tod, hat Altbundespräsident Theodor Heuss reflektiert: „Es bleibt der Phantasie überlassen, welche Möglichkeiten deutscher politischer Entwicklung mit diesem Tod vernichtet wurden." An gleicher Stelle sprach Heuss es unumwunden aus: „Dem Anschlag auf Erzberger, August 1921, folgte am 24. Juni 1922 der Mord an Rathenau, nicht weil dieser den Rapallo-Vertrag abgeschlossen hatte, sondern ganz einfach, weil er ein Jude war."

Deutscher und Jude

Im Monat der Untat hatte Heuss in der „Deutschen Nation" dem Ermordeten einen sehr feinsinnigen und klug deutenden Nachruf gewidmet. Er schrieb damals: „Er hatte das Unglück, Jude zu sein. Wäre er das nicht gewesen, so wäre er leicht zu einer nationalen Legendenfigur geworden; wahrscheinlich mit größerem Recht als jene seiner Gegner von heute, die im Kriege ihre historische Stunde versäumt haben."

In der Regel gebieten es Vernunft und Takt, Herkunft und Bekenntnis einer politischen Persönlichkeit als seine Privatangelegenheit im Hintergrund zu belassen. Bei Rathenau muß jedoch die Verbindung des Deutschen mit dem jüdischen Erbe, das ihn beseelte, prägte und zum Verhängnis wurde, erörtert werden, da man ansonsten weder sein Wesen und Werden noch sein Schicksal verstünde. Einer seiner ersten Aufsätze in Hardens „Zukunft" hieß „Höre, Israel!" (1897). Er wurde ob dieser Schrift nicht nur herb kritisiert, sondern hat sie später selbst als „lieblos" und „grausam" gekennzeichnet. In ihr warf er seinen Glaubensgenossen vor: „Zwischen wedelnder Unterwürfigkeit und schnöder Arroganz findet Ihr schwer den Mittelweg. Selbstbewußtsein ohne Anmaßung läßt sich freilich nicht anlernen; nur der erwirbt es, der sich als niemandes Gläubiger noch Schuldner fühlt.“

Dagegen wog es gering, wenn er sich auch um gerechtere Würdigungen bemühte: „Wenigen Außenstehenden ist es bekannt, daß ein Patriziertum unter den Juden schon vorhanden ist und, ihren höchst konservativen Neigungen gemäß, bereitwillig anerkannt wird. Weit weniger, als man gemeinhin glaubt, wird der Begriff guter Familie von altem und jungem Reichtum verdunkelt, und es stehen ebenso-viele ganz arme Häuser in hohem Ansehen, wie steinreiche für plebejisch gelten, obwohl sie mit dem echten Landesadel Fühlung haben. Dieser Zwischenstand, der schon jetzt eine strenge Selbsterziehung übt, würde mit besserem Erfolg nach unten hin wirken, wenn nicht, durch Verhältnisse veranlaßt, die ich weiterhin erwähnen werde, der Prozeß der Loslösung einzelner Teile beständig vor sich ginge." 1912 schrieb er über den Antisemitismus: „Daß ungermanischer Geist für die Gestaltung der Moderne verantwortlich ist, hat mancher unwillige Denker dem Volksgewissen ins Ohr geraunt, doch stets in der Meinung, zu entarteten Germanen zu sprechen. So suchte man nach einem Ferment und entdeckte es im Judentum. Der Antisemitismus ist die falsche Schlußfolgerung aus einer höchst wahrhaften Prämisse: der europäischen Entgermanisierung; und somit kann derjenige Teil der Bewegung, der Rückkehr zum Germanentum wünscht, sehr wohl geachtet und verstanden werden, wenn er auch die praktische Unmöglichkeit einer Volksentmischung verlangt."

Einer frühen Verehrung der „blonden Götter-söhne" setze er eine kühlere Einsicht 1914 entgegen: „Meine Vorstellungen von der Entwicklung der Menschheit ist heute nicht mehr eine an Rasse gebundene, wie zur Zeit meiner frühesten Schriften. Wir alle wissen, wie überraschend die höchsten Gipfel der Stammesbäume sich zueinanderneigen und sich ähnlich werden; das Phänomen der Menschwerdung stammt nicht von einem Urpaare, sondern ereignet sich bei einer gewissen Planetenreihe so vielfach und notwendig, wie im Juni die fremdesten Rosen ohne Verabredung blühen; der Germane und der Papua sind Enkel von Ahnen, die tief unter beiden standen. Lebenswille schafft Rasse, die nur im Zeit-differential ein verwertbarer Begriff ist. Und dies alles gilt nur von der intellektualen Welt! Wie viel freier ist die Welt der Seele! Sie verträgt sich mit jedem Stande der Physiognomie, des Physikums, der Sinnlichkeit: Im Buddha geht intellektual anderes vor als in Plato, seelisch das gleiche."

Noch eindeutiger heißt es 1917: „Es ist richtig, auf das Nationalverhältnis der Juden bin ich nicht eingegangen, denn für mich steht es fest und selbstverständlich da, daß ein anderes Nationalitätsgefühl als das deutsche für einen gebildeten und gesitteten Juden nicht bestehen kann. Ich wüßte keinen, der mir begegnet wäre, der seine Staatszugehörigkeit anders empfunden hätte als ein Bayer, Sachse oder Ostpreuße.

Wir alle wissen, daß die deutschen Stämme nicht einheitlichen Blutes sind, daß sie noch weniger die Nachkommen der taciteischen Germanen darstellen. Daß die Blutmischung der Juden eine ältere ist, hat für mich keine Bedeutung für ihre nationale Eingliederung; ich halte alle Rassentheorien für Zeitspielerei und kenne nur eins, was Völker zu Nationen, Nationen zu Staaten macht: die Gemeinsamkeit des Bodens, des Erlebnisses und des Geistes." Kein Wunder, daß ihm die national-jüdische Erneuerungsbewegung, der Zionismus, fremd blieb. Ende 1918 schrieb er: „Die überwältigende Mehrzahl der deutschen Juden, unter ihnen viele, deren Vorfahren seit ungezählten Jahrhunderten in Deutschland leben, hat nur ein einziges Nationalgefühl: das deutsche. Wir wollen, wie unsere Väter, in Deutschland und für Deutschland leben und sterben. Mögen andere ein Reich in Palästina begründen —: uns zieht nichts nach Asien."

Seines jüdischen Erbes schämte er sich nie und er übersetzte sogar Partien aus dem jerusalemischen und babylonischen Talmud. An einen französischen Abgeordneten jüdischer Herkunft schrieb er 1919 mahnend: „Wir beide stammen von einem Volke, das auf zwei steinernen Tafeln zehn Grundgesetze bewahrte. Diese Gesetze gelten heute in aller Welt, und Sie werden nicht behaupten, daß Landesfeindschaft sie außer Kraft setzt. Eines dieser Gesetze lautet: „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten."

Es liegt manches Anzeichen dafür vor, daß sich Rathenau sehr bewußt als ein „Wanderer zwischen zwei Welten" empfand. So zum Beispiel die folgende Stelle aus einem Brief an Emil Ludwig aus dem Jahr 1916: „Daß ich als Privatmann und Jude unaufgefordert dem Staat einen Dienst geleistet habe, können beide beteiligten Gruppen nicht verzeihen, und ich glaube nicht, daß zu meinen Lebzeiten diese Stellungnahme sich ändert.“

Kein überragender deutscher Jude hat vor 1933 die schicksalshafte Tragik, Deutscher und Jude gleichzeitig zu sein, so bewußt gelebt und mit seinem Tod besiegelt wie Walther Rathenau.

Aber nicht deswegen — oder nicht deswegen allein — sei seiner an seinem 100. Geburtstag gedacht, sondern vielmehr wegen seiner literarischen menschlichen Größe, seiner -und po litischen Fähigkeiten, die Golo Mann in einem grundgescheiten Vortrag 1963 folgendermaßen umriß: „Das Gefühl, daß es so, wie es ist, nicht bleiben kann, wird beängstigend gerade da, wo niemand es übernimmt, zu bestimmen, wohin die Reise geht, gehen kann, gehen soll. Walther Rathenau hat das Zeit seines Lebens mit ganzem Einsatz versucht. Er hat dabei sorgfältig unterschieden zwischen dem Unvermeidlichen, was er die . universale Mechanisierung'der Menschheit nannte, ihre Verflochtenheit zu einer einzigen, bitter kämpfenden, dennoch solidarisch für die Zukunft sorgenden Zwangsorganisation, und dem, was Freiheit noch tun oder verfehlen könnte. Hier liegt der Unterschied zwischen ihm und Propheten wie Oswald Spengler, die nur das Unvermeidliche sehen wollten, aber nicht die Wahl, die blieb. Und eben darum darf man ihn, nimmt man alles in allem, einen guten Berater seiner Zeit nennen. Es war recht, daß er sich in das Getriebe der Wirtschaft und Politik stürzte, anstatt in friedlicher Philosophenklause zu bleiben. Es war recht, das Heil da zu suchen, wo das ganze Heil nie sein kann und wo so sehr viel Unheil ist, immer war, immer sein wird, eben dort, wo hart im Raum sich die Sachen stoßen, im Reich der Politik. Es war gut, daß er wenigstens versuchte, die Aufgaben seines Zeitalters denkend zusammenzufassen und Ziele zu setzen, über die Not und Opportunitäten des Tages hinaus. Wenn er dabei zu seinen Lebzeiten verlor, so gilt von ihm, wie von so vielen Gutwilligen in der Geschichte, der orakeltiefe Satz, den der Engländer William Morris sich einmal niederschrieb: . Männer kämpfen und verlieren die Schlacht, und die Sache, für die sie kämpfen, setzt sich durch, trotz ihrer Niederlage und ist, wenn sie kommt, doch nicht das, was jene meinten, und andere müssen für das, was jene meinten, unter einem anderen Namen kämpfen.'“

Von den Männern der Paulskirche über Bismarck bis zu Adenauer war die Zahl der Politiker, die man guten Gewissens zu den Staatsmännern zählt, nicht groß. Der deutsche Jude (oder: der jüdische Deutsche) Walther Rathenau war einer von ihnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Nachwort zu der von ihm besorgten Auswahl aus Rathenaus Schriften und Reden (Frankfurt am Main, 1964)).

Weitere Inhalte

Hans Lamm, Dr. phil., geboren 1913 in München, Studium in München, Berlin und in den USA. Promotion in Erlangen „über innere und äußere Wandlungen des deutschen Judentums 1933— 45“. 1955— 61 Kulturdezernent, Zentralrat der Juden in Deutschland. Seit 1961 Abteilungsleiter an der Münchner Volkshochschule. Veröffentlichungen (Autor bzw. Hrsg.): Ewiger Zeitgenosse Heine, Düsseldorf 1956; Von Juden in München, München 1958, 1959 2) ; Erwachsenenbildung gestern und heute, München 1962; Theodor Heuss an und über Juden, Düsseldorf 1964.