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Moskau und die Große Koalition in Bonn | APuZ 10/1968 | bpb.de

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APuZ 10/1968 Moskau und die Große Koalition in Bonn

Moskau und die Große Koalition in Bonn

Gerhard Wettig

Das sowjetische Echo auf die Bildung der Großen Koalition

Bis Ende November 1966 verfolgte die sowjetische Führung einen Kurs, der sich scharf gegen die Bundesrepublik Deutschland richtete. Alle Verlautbarungen über Westdeutschland waren darauf abgestellt, in der sowjetischen und außersowjetischen Öffentlichkeit das schreckenerregende Bild eines „militaristischen" und „revanchistischen" Landes zu erzeugen, dessen Aggressivität den Frieden in Europa bedrohe. Anklagen wie Forderungen zielten darauf ab, die Führungsgruppen der Bundesrepublik einschließlich der sozialdemokratischen Opposition international zu diskreditieren und sie auf diese Weise zunehmend ihres Rückhalts im In-und Ausland zu berauben. Das sowjetische Verhalten änderte sich schlagartig, als das Kabinett Erhard durch die Regierung der Großen Koalition abgelöst wurde. Die Parolen von dem „militaristischen" und „revanchistischen" Charakter der Bundesrepublik verschwanden aus dem sowjetischen Propagandarepertoire, und die Forderungen, welche die sowjetischen Führer an die Bundesregierung richteten, wurden in Form von Ratschlägen und Empfehlungen zu einer „realistischen“ Politik formuliert. In den sowjetischen Stellungnahmen machte sich erstmalig seit langem wieder das Bestreben bemerkbar, die Konstellation in Bonn auf mögliche Ansatzpunkte für die — in ihren Sachzielen freilich unveränderte. — sowjetische Politik hin zu überprüfen. Aufmerksames Abwarten statt unterschiedsloser Verdammung kennzeichnete nun das sowjetische Verhalten, Das zeigte sich besonders deutlich daran, wie auf die politische Aktivität der NPD in der Bundesrepublik Bezug genommen wurde. Von der bisherigen Anschuldigung, die Bundesrepublik und ihre führenden Kreise seien nazistisch verseucht und drängten auf einen Wiederbeginn expansionistischer Abenteuer Hitlerscher Prägung, war keine Rede mehr. Statt dessen warnte Moskau jetzt die Bundesregierung vor den Gefahren, denen sie sich infolge weiteren Anwachsens neonazistischer Tendenzen ausgesetzt sehen könnte, und forderte sie auf, der drohenden Entwicklung durch eine grundlegende Neuorientierung ihrer Außenpolitik in sowjetischem Sinne zuvorzukommen. Der Verzicht der sowjetischen Führer auf polemische Zuspitzungen gegen Bonn drückte sich auch darin aus, daß in Presse und Rundfunk der UdSSR die bislang üblichen Pro-DDR-Stellungnahmen plötzlich aufhörten

Der Kurswechsel der sowjetischen Agitation und Propaganda führte jedoch für die sowjetischen Stellungnahmen, die speziell an die westlichen Länder gerichtet waren, keinen grundlegenden Wandel herbei. Hier wurde weiterhin gegen die Bundesrepublik Deutschland polemisiert, wenn auch teilweise in indirekter und abgeschwächter Form. So gab etwa Radio Moskau in einer englischen Sendung am 30. November 1966 die Ansicht des WestBerliner SED-Vorsitzenden Danelius wieder, nun schwimme auch die SPD „auf der Woge der Bonner Revanchepolitik", und am 13. Dezember 1966 verbreitete der englische Dienst von TASS eine ADN-Erklärung, in der Bundeskanzler Kiesinger als „ehemaliger Nazi-Propagandist" bezeichnet wurde. Auch die scharfen Ausfälle gegen die Bundesrepublik Deutschland, die Ministerpräsident Kossygin am 2. Dezember 1966 vor einem französischen Publikum unternahm, gehören in diese Linie. Die DDR setzte in allen ihren publizistischen Organen die bisherige Hetzkampagne fort, ohne sich um die Modifikationen auf sowjetischer Seite zu kümmern.

Die Abänderungen der sowjetischen Linie sind offensichtlich auf eine Neueinschätzung der politischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland durch die sowjetischen Führer zurückzuführen. Aus den russischsprachigen Verlautbarungen, in denen die Leiter der sowjetischen Politik ihre Haltung vor ihrer Gefolgschaft und (da „Pravda" und „Izvestija" im Ausland als Indikatoren des sowjetischen Kurses aufmerksam beobachtet werden) auch vor der Weltöffentlichkeit festlegten, spricht deutlich die Erwartung, daß die neue Bundesregierung sich möglicherweise veranlaßt sehen könnte, in wesentlichen Fragen eine der sowjetischen Seite erwünschte Wahl zu treffen. In diese Hoffnung mischten sich freilich von Anfang an Zweifel und Skepsis. Die positiven Erwartungen kamen abgeschwächt auch in den für Deutschland, das heißt in erster Linie für die westdeutsche Öffentlichkeit, bestimmten Äußerungen zum Ausdruck, wobei freilich zugleich die drohende Möglichkeit oder sogar der aktuelle Beginn einer negativen Wende stark akzentuiert wurde. Diese von der Haupt-linie abweichende Ausrichtung zielte offensichtlich darauf ab, die Westdeutschen weiter zu Unzufriedenheit und „Wachsamkeit" gegenüber ihrer Regierung zu ermuntern, um die Große Koalition weiterhin einem möglichst starken „Druck von unten" in sowjetischem Sinne auszusetzen. In den russischsprachigen Verlautbarungen war dementsprechend verschiedentlich davon die Rede, daß der Mißmut der westdeutschen Bevölkerung die Ablösung der Regierung Erhard direkt und indirekt verursacht habe und daß vor allem die SPD-Führer künftig mit diesen Tendenzen zu rechnen haben würden, weil diese an ihrer politischen Basis besonders stark seien und weil sie ihnen den Weg zur Regierungsmacht verdankten. Diese Einschätzung widersprach den Schlüssen, welche die sowjetischen Führer aus dem Verlauf des Dortmunder SPD-Parteitages von Anfang Juni 1966 gezogen hatten, wonach die „rechten SPD-Führer" in ihrer antikommunistischen und sowjetunabhängigen Haltung von ihren Anhängern eindeutig unterstützt wurden Es scheint so, als habe man in Moskau, wo man die Bonner Regierungskrise allem Anschein nach als eine prinzipielle Krise der „bankrotten" bundesdeutschen Politik angesehen hat, nunmehr geglaubt, die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland seien so weit erschüttert, daß sich das Verhältnis von Führenden und Geführten qualitativ verändert habe.

In den sowjetischen Verlautbarungen wurde allerdings von Anfang an auch die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß es 'den Verfechtern der bisherigen bundesdeutschen Außenpolitik gelingen könnte, gestützt auf die neu an der Regierungsgewalt beteiligten Kräfte, dem alten Kurs wieder größere Festigkeit zu verleihen. Die SED-Führung ging von Anfang an davon aus, daß die Große Koalition zu keinem anderen Ergebnis führen könne. Schon am 29. November 1966 — also bevor eine sowjetische Stellungnahme festgelegt worden war — warnte Ulbricht in einer Rede vor der reaktionären „Notstands-und Bunkergemeinschaft" der „Herren Adenauer und Strauß" mit den „Revanchepolitikern in der sozialdemokratischen Partei", die sich als chauvinistisch-revanchistische Front gegen die DDR und die Staaten des sowjetischen Lagers richte Die sowjetische Seite dagegen hoffte darauf, daß es in Bonn jetzt durchaus kräftige Tendenzen gebe, die in eine andere Richtung drängten. Wie es in Moskau hieß, regten sich in der SPD, auch in ihrer Führung und sogar in Teilen der CDU/CSU Kräfte, die für eine „realistischere" Politik plädierten.

Die Erwartungen galten nicht der Gruppe um Herbert Wehner, die — unter Aufrechterhaltung der rechtlichen und politischen Vorbehalte beider Regierungen — für die Anbahnung von Kontakten und Kooperationsmöglichkeiten mit der DDR zum Zwecke einer allmählichen gesamtdeutschen Annäherung eintrat. Wehners entsprechende Erwägungen waren in der UdSSR ignoriert worden, und im übrigen weisen zahlreiche sowjetische Äußerungen aus der Zeit vor und nach dem Zustandekommen der Großen Koalition darauf hin, daß Wehner den sowjetischen Führern als Feind Nr. 1 in der SPD galt. Die sowjetischen Hoffnungen scheinen sich stärker auf den Parteivorsitzenden Willy Brandt und auf weniger prominente Sozialdemokraten wie Hans-Jürgen Wischnewski gestützt zu haben. Daneben rechneten die sowjetischen Führer auch mit einem Zusammenspiel zwischen „progressiven" Sozialdemokraten und linken CDU/CSU-Politikern und hofften, daß, nicht zuletzt wegen der Umstände einer allgemeinen Krisensituation, hier der Schlüssel für die künftige Entwicklung liegen könnte. Die sowjetische Ansicht, die SPD würde sich vielleicht diesmal als ein positiverer Faktor erweisen als während des SPD-SED-Dialoges, mag teilweise auch auf die Erwägung zurückgehen, daß es nunmehr nicht um innerdeutsche Prinzipien-und Machtfragen, sondern um außenpolitische Probleme gehe, bei denen sich die antikommunistische Grundüberzeugung der Partei weniger hinderlich bemerkbar machen würde. Mochte es auch den sowjetischen Führern ungwiß erscheinen, ob sich die von ihnen favorisierten Tendenzen tatsächlich durchsetzen würden, so sahen sie es doch offenbar als gute Politik an, eine agitatorisch-propagandistische Herausforderung der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden, solange die Möglichkeit 4 bestand, daß neue Tendenzen künftig das Übergewicht erlangten.

Es war kein Zufall, daß der sowjetische Kurs in dieser Hinsicht von Ost-Berlin nicht befolgt wurde. Für das SED-Regime stellte eine außenpolitische Umorientierung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie die sowjetische Führung erhoffte, kein erstrangiges Interesse dar. Statt dessen waren Ulbricht und seine Gefolgsleute bestrebt, die Bundesrepublik in den Einflußbereich der SED zu bringen. Seit sich dies im Verlauf des SPD-SED-Dialogs als unmöglich erwiesen hatte sahen sie in der Bundesrepublik nur noch den unveränderlich feindseligen Rivalen in dem Ringen um Deutschland und machten sich daher mit großer Eile anheischig, ihre sowjetischen Freunde vor ihm zu warnen. Es ist fraglich, ob sie überhaupt ein Einschwenken der Bundesrepublik auf die sowjetische Linie als einen überwiegenden Vorteil gewertet hätten, barg doch eine Annäherung Bonns an Moskau für sie das Risiko einer Abschwächung des sowjetischen Rückhaltes in sich. Die SED-Führung dürfte dieses Risiko um so stärker empfunden haben, als die Pro-DDR-Stellungnahmen in der UdSSR plötzlich aufgehört hatten. Auch wenn man mit hinreichendem Grund annehmen kann, daß es sich dabei nur um eine taktisch bedingte — und nicht um eine grundsätzlich gemeinte — Auslassung handelte, so bedeutete schon dies einen Rückschlag für ein Regime, das in der unversöhnlichen Feindschaft gegen die — seinem Zugriff sich entziehende — Bundesrepublik sein Lebenselement sah. Und niemand konnte voraussagen, ob die sowjetischen Führer nicht eines Tages im Austausch gegen ihnen eingeräumte Vorteile ernsthafte Zugeständnisse an die Bundesregierung machen würden. So wenig dabei zu erwarten stand, daß jemals die Existenz der DDR zur Disposition gestellt werden würde, gab es doch manches andere, was Ulbricht und seinen Leuten unangenehm werden konnte,und wenn es sich nur um eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Moskau und Bonn auf Kosten der sowjetischen Vorliebe für OstBerlin handelte.

Solche Befürchtungen, wie sie das SED-Regime hegte, besagten freilich nicht, daß die von Moskau gebotenen Aussichten für Bonn verlockend gewesen wären. Der Bundesregierung wurden wie bisher Bedingungen zugemutet, die auf ein Resultat abzielten, das einer Kapitulation nicht unähnlich war. Eine sowjetische Gegenleistung war nicht in Aussicht gestellt: Die sowjetischen Führer deuteten keinerlei Konzessionen in der deutschen Frage an, sondern lehnten vielmehr ein derartiges Entgegenkommen von vornherein ab, indem sie alle aus der deutschen Teilung resultierenden Probleme für grundverschieden von den Angelegenheiten einer weltweiten oder europäischen Sicherheitsregelung erklärten und die Westdeutschen in dieser Hinsicht ausschließlich auf Verhandlungen mit dem SED-Regime verwiesen. Mit anderen Worten: Es sollte das kollektive Sicherheitssystem sowjetischer Prägung, für das Moskau die Unterstützung Bonns suchte, nicht gegen gesamtdeutsche Fortschritte — und seien es auch nur solche der Milderung und Entkrampfung — aushandelbar sein. Wenn sich die Bundesregierung den sowjetischen Wünschen fügte, ließ sich freilich erwarten, daß die bisherige antideutsche Polemik der UdSSR, die Bonn den Widerstand gegen die sowjetischen Forderungen zum Vorwurf gemacht hatte, ein Ende finden würde. Das war freilich kein ernstlicher Preis für die verlangten erheblichen deutschen Konzessionen, zumal es nicht einmal eine Garantie dafür gab, daß die sowjetischen Führer nicht mit weiteren Forderungen erneuten Druck auf die Bundesrepublik Deutschland ausüben konnten, wenn ihnen dies zweckmäßig erscheinen mochte. Wenn Bonn erst einmal entsprechend dem sowjetischen Ansinnen auf den amerikanischen und atlantischen Rückhalt verzichtet hatte, entbehrte zudem die Bundesrepublik jedes Schutzes gegen sowjetische Zumutungen.

Es stellt sich die Frage, wie die sowjetischen Führer glauben konnten, die Bundesregierung könnte unter diesen Voraussetzungen auf ihre Forderungen eingehen. Moskau ließ sich offensichtlich von der Situationseinschätzung leiten, daß die Führer der Bundesrepublik durch die NATO-Krise sowie die Ostpolitik Frankreichs und anderer westlicher Staaten in eine immer unerträglichere Klemme geraten seien, aus der sie um jeden Preis herauszukommen suchen müßten. Wenn die sowjetische Seite im westlichen Ausland weiter gegen die Bundesrepublik Deutschland agitierte, so diente dies deutlich dem Zweck, dort Stimmungen zu erzeugen, die der Bundesregierung ihre Klemme zwischen der UdSSR und einem unzuverlässigen oder mißtrauischen Westen fühlbar machen mußten. Antibundesdeutsche Ausfälle vor westlichen Zuhörern wie die Pariser Anschuldigungen Kossygins waren, wenn energische Reaktionen der gastgebenden Regierung ausblieben, darüber hinaus geeignet, Bonn eine mangelnde Unterstützung seitens seiner westlichen Partner vor Augen zu führen. Alle diese. Schritte zielten letztlich darauf, die Bundesregierung davon zu überzeugen, daß sie ihre Situation nur durch eine Anlehnung an die Sowjetunion entlasten könne.

Das sowjetische Echo auf die ersten Aktionen der Großen Koalition

Nach der Bildung der Großen Koalition verfolgten die publizistischen Organe der UdSSR die politische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit. Alle Stellungnahmen maßgeb-licher Persönlichkeiten wurden beachtet und vielfach ausführlich kommentiert. Seit den ersten Dezembertagen lenkten Rundfunk und Presse die Aufmerksamkeit ihres Publikums auf die bevorstehende Regierungserklärung des Kabinetts Kiesinger-Brandt. Diese werde, so hieß es, die Fragen beantworten, die beim Zustandekommen der Großen Koalition noch offen geblieben seien. Es war deutlich, daß die sowjetische Führung darauf hoffte, die neue Bundesregierung werde möglicherweise einen Kurswechsel einleiten, der den sowjetischen Vorstellungen mehr entsprach als die bisherige Linie der Bundesrepublik. Daher achtete man in Moskau peinlich auf alle Anzeichen, die Aufschluß über die neue Haltung Bonns geben konnten.

Die Regierungserklärung, die Bundeskanzler Kiesinger am 13. Dezember vor dem Bundestag abgab, wurde noch am gleichen Tag von Radio Moskau kommentiert und bildete während der folgenden zwei Wochen das konstante Thema der sowjetischen Publikationsorgane. Die sowjetische Aufmerksamkeit galt von Anfang an im wesentlichen zwei Problemkreisen: der Haltung der Bundesregierung zur UdSSR und zu deren Verbündeten einschließlich der DDR sowie der Bonner Allianz-und Rüstungspolitik. Als notwendige Schritte Bonns wurden eine Anerkennung der bestehenden europäischen Grenzen einschließlich der innerdeutschen Teilungslinie sowie ein Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf jede Form des Zugangs zu nuklearen Waffen herausgestellt.

Im einzelnen fanden folgende Punkte der Regierungserklärung besondere Beachtung: 1. Die Erklärung, die Bundesregierung wolle eine konsequente Friedenspolitik betreiben sowie den Abbau der Spannungen und des Wettrüstens fördern, 2.der erneut vorgetragene Standpunkt, daß die Grenzen Deutschlands nur durch eine Regelung festgelegt werden könnten, die mit einer gesamtdeutschen Regierung frei vereinbart sei, 3. das Festhalten an Alleinvertretungsrecht und Nicht-Anerkennung der DDR bei gleichzeitig bekundeter Bereitschaft zur Anbahnung praktischer Kontakte zwischen Behörden in beiden Teilen Deutschlands, 4.der zum Ausdruck gebrachte Wille, das Verhältnis zur Sowjetunion und zu den anderen osteuropäischen Staaten zu verbessern und nach Möglichkeit diplomatische Beziehungen zu den Verbündeten der UdSSR aufzunehmen, und 5.der erneute Verzicht auf das Streben nach einer nationalen Verfügung über Kernwaffen

Während der ersten Tage, vom 13. bis 15. Dezember, war die sowjetische Seite um äußerste Zurückhaltung bei jeder Kritik bemüht. Obwohl den sowjetischen Verlautbarungen eindeutig die Ansicht zugrunde lag, daß der Inhalt der Bonner Regierungserklärung in entscheidenden Fragen den Erfordernissen nicht entspreche, wurde davon Abstand genommen, die Politik des Kabinetts Kiesinger-Brandt generell oder auch nur partiell zu veruteilen. Statt dessen hieß es, man müsse abwarten, welche praktischen Schritte die neue Bundesregierung ihren Worten folgen lassen werde. Die Linie größter Mäßigung war in den russischen Stellungnahmen besonders ausgeprägt. Offensichtlich wollte die sowjetische Führung ihre Gefolgschaft auf die Eventualität eines Rapprochement mit der Bundesrepublik vorbereiten. In den deutschen Verlautbarungen trat das kritische Moment stärker hervor, doch wurde auch hier die Politik der Bundesregierung nicht allgemein verurteilt. Statt dessen war von „zwiespältigem Eindruck", „halben Maßnahmen" und von „Phrasen" ohne „entsprechenden politischen Zusammenhang" die Rede. Das diente offenbar dem Zweck, die Westdeutschen zu kritischer Wachsamkeit gegenüber den außenpolitischen Maßnahmen ihrer Führung zu ermuntern. Die sowjetische Agitation in den westlichen Ländern, die weiterhin gegen die Bundesrepublik gerichtet war, ging auf die Regierungserklärung nicht ein. Die sowjetische Führung wollte im Westen nicht die Hoffnungen zu erkennen geben, die sie auf die neue Bundesregierung setzte. Sie wollte dort nach wie vor Druck gegen die Bundesrepublik mobilisieren, ohne jedoch die Bonner Regierungserklärung im Widerspruch zur sowjetischen Generallinie zu verunglimpfen.

Im einzelnen bezog sich die sowjetische Kritik vor allem auf den Kernwaffenverzicht der Bundesrepublik und die Anerkennung der bestehenden Grenzen durch Bonn. Nach sowjetischer Ansicht hatte sich die Bundesregierung mit dem Verzicht auf eine nationale Verfügung über Kernwaffen die Möglichkeit vorbehalten, eine nuklearmilitärische Verfügung in nicht-nationaler Form anzustreben, um damit den ihr abverlangten Verzicht zu umgehen. Dieses Versäumnis wurde aber mehr als eine gebliebene Unklarheit denn als eine eindeutige Weigerung gedeutet. Offensichtlich erwartete Moskau nach wie vor, daß der geforderte Verzicht noch geleistet werden könnte. Der bundesdeutsche Standpunkt in der Grenzfrage erschien in sowjetischer Darstellung ebenfalls nur als das Ergebnis eines Ausweichens vor der klaren Entscheidung. Die Vertagung der Angelegenheit bis zum Zustandekommen einer gesamtdeutschen Regierung, das nach sowjetischer Ansicht erst in einer nebelhaften fernen — und damit unwirklichen — Zukunft denkbar ist, wurde zwar darauf zurückgeführt, daß die Bundesregierung ihre territorialen Ansprüche weiter aufrechterhalten wolle, doch fehlten trotzdem die bisher üblichen Anklagen gegen den Bonner „Revanchismus" und „Militarismus". Die sowjetischen Äußerungen ließen erkennen, daß es Moskau in erster Linie auf eine Sanktionierung der innerdeutschen Teilungslinie ankam. Daher wurden auch der bundesdeutsche Alleinvertretungsstandpunkt und die Bonner Politik einer Nicht-Anerkennung der DDR kritisiert, wohingegen die von Kiesinger in Aussicht gestellten Behördenkontakte zwischen beiden Teilen Deutschlands ein positives Echo fanden. Bemerkenswerterweise machten die sowjetischen Stellungnahmen den Kurs Bonns gegenüber Ost-Berlin nicht zum Kriterium bundesdeutschen Wohlverhaltens. Moskau blieb an Bonn interessiert, obwohl die Bundesregierung keinen Hinweis darauf gegeben hatte, daß sie ihre Haltung gegenüber dem SED-Regime grundsätzlich ändern könnte.

Trotz aller Kritik im einzelnen suchten die sowjetischen Kommentatoren, soweit sie sich an das Inland wandten, der bundesdeutschen Regierungserklärung ein weithin positives Aussehen zu geben. Deshalb wurde die Bereitschaft der Bundesregierung zu einer Politik des Friedens und der politisch-militärischen Entspannung stark hervorgehoben. Mehrfach knüpfte sich daran die Argumentation, daß eine solche Politik den kritisch angemerkten Punkten widerspreche und, wenn sie ernst gemeint sei, zu deren Überprüfung führen müsse. Auch die Bemerkungen hinsichtlich eines besseren Verhältnisses der Bundesrepublik zu Osteuropa fanden große Beachtung. Außerdem hieß es, die Regierungserklärung unterscheide sich durch das Fehlen von Ausfällen gegen UdSSR und DDR wohltuend von ihren Vorgängerinnen. Die sowjetische Linie gegenüber der Bundesrepublik war von dem Bestreben des Abwartens bestimmt. Die sowjetische Publizistik vermied dabei scharfe Kritik, um das erhoffte Umdenken in Bonn nicht zu stören.

Vom 16. bis 27. Dezember vollzog sich in den sowjetischen Stellungnahmen eine stufenweise polemische Eskalation gegenüber der Bundesrepublik. Den Anstoß hierfür bildeten, wie die Zeitpunkte des sowjetischen Kurswechsels und die Bezugnahmen in den sowjetischen Äußerungen erkennen lassen, die Vorgänge in der westlichen Allianz, an denen sich die neue Bundesregierung beteiligte. Am 14. und 15. Dezember kamen die Regierungen der NATO-Staaten überein, ein Komitee für Kernverteidigung, in dem alle Mitgliedsländer vertreten sein sollten, und eine Nukleare Planungsgruppe einzurichten, in der die Bundesrepublik als einer der vier ständigen Teilnehmer vorgesehen war. Diese Entscheidungen wurden getroffen, nachdem die Sowjetunion während der vorangegangenen Tage eine heftige Kampagne gegen die Übernahme nuklearer Aufgaben durch die NATO geführt hatte. Auf der NATO-Tagung, die bis zum 16. Dezember dauerte, machten Bundesaußenminister Brandt und Bundesverteidigungsminister Schröder die Haltung der Großen Koalition zum atlantischen Bündnis klar. Einige Tage später nahm Brandt auf einer WEU-Ministertagung die Gelegenheit wahr, die Position der Bundesregierung in den atlantischen Fragen nochmals zu umreißen. Alle diese Stellungnahmen — und auch diejenigen anderer offizieller Westdeutscher wie etwa des Generalinspekteurs de Maiziere — wurden in den publizistischen Organen der UdSSR stark beachtet und ausführlich kommentiert. Die dabei gezogenen Schlüsse gingen in die Neuinterpretierung ein, der die Bonner Regierungserklärung sukzessiv unterzogen wurde. Die sowjetische Seite war offensichtlich bestrebt, aus den Schritten der Bonner NATO-Politik Praxis-Antworten auf die Fragen zu entnehmen, die ihr die Regierungserklärung offengelassen oder nur verbal umrissen hatte.

Im Mittelpunkt der sich verschärfenden sowjetischen Kritik stand seit 16. Dezember das Argument, die westlichen Regierungen und die Bundesregierung beschwörten durch ihr Vorgehen die Gefahr herauf, daß der Bundesrepublik innerhalb der NATO der Zugang zu den Kernwaffen eröffnet werde. Eine derartige Aussicht wurde als in schärfstem Widerspruch zu den Erfordernissen des Friedens und der Entspannung stehend bezeichnet Ab 17. /18. Dezember sah sich die Bundesregierung dem Vorwurf ausgesetzt, nur den Anschein eines Kernwaffenverzichts erbracht zu haben und praktisch auf dem Weg zu den Kernwaffen weitergeschritten zu sein. Ab 19. Dezember erschienen in den publizistischen Organen der UdSSR Warnungen, die Sowjetunion und ihre Verbündete würden vor einer „nuklearen Zusammenarbeit innerhalb der NATO" nicht „die Augen verschließen" und einen Zugang der Bundesrepublik zu den Kernwaffen durch „sogenannte" nukleare Konsultationen keinesfalls hinnehmen. Ab 20. Dezember war von der Notwendigkeit einer „Bändigung der westdeutschen Atompolitiker" die Rede. In all diesen Darstellungen wurde die angeblich auf den Kernwaffenerwerb ausgerichtete Politik Bonns noch nicht als ein endgültiges und unwiderrufliches Faktum hingestellt. Dies erschien erst in einer „Izvestija" -Stellungnahme vom 27. Dezember als feste Gewißheit.

Die sowjetische Polemik gegen den angeblichen Zugang der Bundesrepublik zu den Kernwaffen zielte mindestens ebensosehr gegen die Bindung Westdeutschlands an die NATO und gegen den Einbau der nuklearen Komponente in die atlantische Bündnisorganisation als gegen die Bonner Beteiligung an irgendwelchen nuklearmilitärischen Erörterungen. Offensichtlich wollte die sowjetische Führung dem Versuch der NATO-Mächte entgegenwirken, ihre Allianzorganisation nach dem Schlag des französischen Austritts erneut zu konsolidieren und die Spannungen zwischen den Bündnispartnern durch eine Zusammenarbeit in nuklearmilitärischen Konsultationsgremien zu überwinden. In diesem Sinne wurde immer wieder die NATO schlechthin attackiert, wobei die Anklage, die NATO bilde den Rahmen für den sich abzeichnenden Zugang der Bundesrepublik zu den Kernwaffen, im Vordergrund stand. Bezeichnend hierfür ist ein Kern-satz aus der „Izvestija" vom 20. Dezember:

„Wenn die Führer der NATO dem Frieden in Europa wirklich [so wie sie erklären] einen Dienst hätten leisten wollen, hätten sie den aufdringlichen Generälen der Bundeswehr mit einem Knall die Tür vor der Nase zugeschlagen." Hinter der Polemik gegen den der Bundesrepublik angeblich eröffneten Zugang zu den Kernwaffen stand der Zweck, den Kurs der atlantischen Bündnisorganisation als aggressiv und friedensfeindlich zu denunzieren. Als friedliche Alternative implizierte die so-wjetische Argumentation dabei die — unmögliche, weil allianzzerstörende — Zumutung an die nicht-deutschen NATO-Mächte, ihren deutschen Bundesgenossen mit brüsker Ablehnung zu provozieren.

Im Verlauf der polemischen Eskalation trat die sowjetische Stoßrichtung gegen die Verbindung der Bundesrepublik zur NATO und damit — in Anbetracht der entscheidenden Funktion Westdeutschlands für das atlantische Bündnis — gegen die NATO schlechthin auch in direkter Form hervor. Am 20. Dezember kommentierte Radio Moskau in einer für das Inland bestimmten Sendung ein Plädoyer Brandts vor dem WEU-Ministerrat für eine gleichmäßige und allmähliche Herabsetzung der Streitkräfte von NATO und Warschauer Pakt (also gegen einen einseitigen Truppenabbau des Westens), gegen die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa und gegen eine Auflösung der beiden in Europa gegeneinanderstehenden Bündnisorganisationen mit dem Bemerken, an der alten bundesdeutschen Politik habe sich „faktisch nichts" geändert. Am folgenden Tag hieß es an gleicher Stelle, der Außenminister der Bundesrepublik habe in seiner WEU-Rede die Haltung Bonns zu Fragen klargestellt, über die in der Regierungserklärung nichts verlautet sei. Als entscheidend wurde die Absage Brandts an den sowjetischen Vorschlag zur Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems — das dem atlantischen Bündnis seine Existenzberechtigung zu nehmen bestimmt ist — gewertet. Diese Haltung, so lautete das Fazit, lasse Zweifel-an der Aufrichtigkeit der Bundesregierung aufkommen. Die Teilnahme der Bundesrepublik an der NATO-Politik, für die stellvertretend immer wieder die bundesdeutsche Mitarbeit in den nuklearmilitärischen Konsultationsorganen der NATO als Angriffsziel herhalten mußte, bildete schließlich in dem entscheidenden „Izvestija" -Artikel vom 27. Dezember die Hauptbegründung für die These, daß die Bundesregierung nunmehr ihre negative Haltung gegenüber den „grundlegenden Problemen des Friedens und der Sicherheit in Europa" deutlich gemacht habe Daneben ist es auch bezeichnend, daß seit dem 18. Dezember westdeutsche Stellungnahmen, die der Verteidigungspolitik der Bundesrepublik die Annahme einer möglichen militärischen Bedrohung aus dem Osten zugrunde legten und an dem NATO-Postulat einer Abschreckung des potentiellen Gegners festhielten, immer wieder als Anzeichen für ein Ausbleiben des Umdenkens in Bonn gedeutet wurden.

In den Appellen, welche die UdSSR an die westdeutsche Öffentlichkeit richtete, wurde noch sehr viel deutlicher ausgesprochen, daß Moskau die Haltung Bonns gegenüber der NATO als entscheidendes Kriterium für die außen-politische Haltung der Bundesregierung überhaupt werte. So erklärte Radio Moskau am 17. Dezember in einer deutschsprachigen Sendung, Brandts „Bekenntnis" zu den NATO-Pflichten laufe auf eine Beibehaltung der alten Linie hinaus, und führte begründend aus, mit der Festlegung auf den NATO-Kurs nehme sich die Bundesregierung „praktisch die Möglichkeit . . ., einen selbständigen außenpolitischen Kurs zu gehen, der nicht scheinbar, sondern wahrhaft den nationalen Interessen entsprechen würde." Dieses Argument tauchte, weitaus weniger klar formuliert, auch in den an die eigene Gefolgschaft und an die internationale Öffentlichkeit gerichteten Äußerungen der sowjetischen Zentralpresse auf. In der entscheidenden Stellungnahme der „Izvestija" vom 27. Dezember wurde die Bundesregierung angeklagt, sie wolle jetzt „in der Politik mit mehreren Kugeln zugleich spielen" Das konnte nur heißen, daß der Bundesregierung zum Vorwurf gemacht wurde, sich nicht einseitig für die wesentlichen Punkte des antiatlantischen und antiamerikanischen Europa-Programms der UdSSR entschieden zu haben.

Dieser Schluß wird bestätigt durch deutschsprachige Verlautbarungen seit dem 17. Dezember, in denen die Solidarität Bonns mit Washington im Vietnam-Konflikt als kennzeichnend für die von der neuen Bundesregierung eingeschlagene bedenkliche Richtung hingestellt wurde. Daß die Vietnam-Frage mit den europäischen Angelegenheiten in Zusammenhang gebracht wurde, ist kein Zufall. Die Vietnam-Propaganda hat in der sowjetischen Politik die Funktion eines „Katalysators", der die Gegensätze zwischen den Staaten der atlantischen Bündnisse fortlaufend verschärfen soll In Moskau betrachtet man das Ringen um eine Solidarität der Westeuropäer mit Nordvietnam als „eine der Formen des Kampfes für den Frieden in Europa und gegen Einmischung von außerhalb" Mit Hilfe der Vietnam-Frage soll also die Verbindung Westeuropas mit den Vereinigten Staaten, die in der NATO seinen organisatorischen Niederschlag gefunden hat, zerstört werden. Wenn die Solidarität der Bundesregierung mit der Administration Johnson in der Vietnam-Frage als Symptom einer negativen Haltung zur europäischen Entspannung hingestellt wird, so liegt dem zugrunde, daß die Weigerung Bonns, auf eine Entfernung der USA und der NATO aus den europäischen Angelegenheiten hinzuwirken, von sowjetischer Seite als entscheidendes Negativum gewertet wird.

Neben dem Fragenkomplex Bündnisse und Sicherheitssystem spielten auch die Deutschland-Probleme der Grenzen und des DDR-Status eine Rolle in den sowjetischen Stellungnahmen. Ständig wurde betont, die Unerschütterlichkeit der Grenzen in und um Deutschland stelle eine wesentliche und unerläßliche Grundlage für den Frieden in Europa dar. Die Koexistenz der „beiden deutschen Staaten" wurde zur unausweichlichen Voraussetzung des geforderten europäischen Sicherheitssystems erklärt. Dementsprechend stießen der Alleinvertretungsstandpunkt und die Nicht-Anerkennungspolitik der Bundesregierung auf deutliche Kritik. Immer wieder wurde gefordert, daß Bonn endlich die bestehenden Realitäten „zur Kenntnis nehmen" und die vorhandenen Grenzen sowie die DDR als „zweiten deutschen Staat" anerkennen müsse.

Obwohl diese Argumentation ständig auftauchte, kam ihr nur eine zweitrangige Bedeutung zu. Das läßt sich an mehreren Umständen ablesen. Die Deutschland-Argumente nahmen zwar einen großen Raum in den sowjetischen Verlautbarungen ein, wurden aber doch von der Polemik im Bereich der Sicherheitsfragen quantitativ erheblich übertroffen. Die Bezug-nahmen auf die atlantische Bündnisorganisation, die westliche Verteidigungspolitik und die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen hatten jedoch vor allem in qualitativer Hinsicht ein sehr viel größeres Gewicht als die nur Deutschland betreffenden Darlegungen. Die Außenpolitik Bonns wurde während des hier betrachteten Zeitraums immer wieder an dem Verhalten der Bundesregierung zur NATO und zu den USA einerseits und zu den sowjetischen Vorschlägen eines europäischen Sicherheitssystems andererseits gemessen. Als Bundeskanzler Kiesinger am 13. Dezember seine Regierungserklärung abgegeben hatte, hinderte die darin enthaltene Ablehnung der sowjetischen Grenz-und DDR-Forderungen die sowjetischen Führer nicht daran, der Politik der neuen Bundesregierung erwartungsvolle Aufmerksamkeit entgegenzubringen. In dem Maße, wie das Bonner Verhalten der sowjetischen Seite allmählich klarmachte, daß auch die neue Führung der Bundesrepublik nicht an ein Abrücken von der NATO-Politik und an eine Unterstützung der sowjetischen Europa-pläne dachte, wurde das sowjetische Echo feindseliger. Dementsprechend änderten sich zwischen dem 16. und 27. Dezember die Akzente in der sowjetischen Bewertung der bundesdeutschen Sicherheitspolitik, nicht aber des bundesdeutschen Deutschlandkurses. Als die sowjetischen Führer schließlich endgültig zu dem Schluß gekommen waren, daß das Kabinett der Großen Koalition ihre Hoffnungen enttäuschte, änderte sich die sowjetische Linie auch hier, und Pro-DDR-Beteuerungen erhielten erstmals wieder einen Platz in den sowjetischen Verlautbarungen. Die „Pravda" stellte am 27. Dezember den „konstruktiven friedliebenden Kurs der DDR als Gegengewicht gegen die gefährliche Politik der revanchistischen Kreise in Bonn" heraus und lobte ihn als „wichtigen Faktor der Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa" Mithin kamen die sowjetischen Führer erst, als sie nicht mehr damit rechneten, die Bundesrepublik für eine Politik der NATO-Demontage gewinnen zu können, auf ihre frühere These zurück, daß die DDR der einzige deutsche Garant für Frieden und Sicherheit in Europa sei. So veranlaßte die fehlende Bereitwilligkeit der Bundesregierung, dem sowjetischen Anti-NATO-Kurs der „europäischen Sicherheit" zu folgen, Moskau erneut dazu, der DDR eindeutig den Vorzug vor der Bundesrepublik zu geben und Bonn zum Hauptfeind in Europa zu erklären, nicht zuletzt durch eine demonstrative Unterstützung des SED-Regimes. Die „Thesen der aggressiven Washingtoner und Bonner Kreise" wurden wie zu Erhards Zeiten zu dem Angriffsziel, dem alle Bemühungen der sowjetischen Polemik galten. In der „Achse Washington—Bonn" sollte die internationale Öffentlichkeit nach dem Willen der sowjetischen Führer erneut das Schreckgespenst erblicken, das im Interesse des Friedens und der Sicherheit zu beseitigen sei. die ersten Großen -Auf Wochen der Koali tion zurückblickend, erklärten die Verfasser einer späteren autoritativen Stellungnahme, die Sowjetunion „hätte gern eine grundlegende Verbesserung ihrer Beziehungen zur desrepublik Deutschlands [sic] gewollt", doch habe sich die Bundesregierung geweigert, die „unerfüllbaren und gefährlichen Chimären in ihrer Außenpolitik" aufzugeben und zu einem „wirklichen friedliebenden Kurs" überzugehen, wie dies notwendig gewesen wäre. Daher, so lautete die Schlußfolgerung, müsse jetzt die „Position Bonns, das über die Unterstützung einiger seiner NATO-Verbündeten verfügt", als die „Quelle der Instabilität und der Unruhe in Europa" und als das „Haupthindernis auf dem Weg zur Lösung des Problems der europäischen Sicherheit" angesehen und — wie selbstverständlich damit impliziert war — bekämpft werden Unter den „Chimären" der bundesdeutschen Außenpolitik messen die sowjetischen Führer dem NATO-Kurs der Bundesregierung entscheidende Bedeutung bei. Im Vergleich hierzu stellen die Fragen der deutschen Grenzen und des DDR-Status, so wenig auch Moskau nach Bildung der Großen Koalition irgendwelche Abstriche von den eingenommenen Positionen andeutete, nur ein minderes Interesse der UdSSR dar. Ob Bonn den politischen und territorialen Zustand in Mitteleuropa, den die immer mehr erstarkende Militärmacht der Sowjetunion und ihrer Verbündeten fest sichert, anzuerkennen bereit ist oder nicht, gilt den sowjetischen Führern offenbar als eine relativ geringe Sorge, wenn es darum geht, die nordatlantische Allianz als das wesentliche Hindernis für den Aufbau einer sowjetischen Vormachtstellung in ganz Europa zu beseitigen.

Strategie und Taktik der sowjetischen Politik gegenüber der neuen Bundesregierung seit Ende Dezember 1966

Auch wenn die Feindseligkeit der sowjetischen Führung gegenüber der Bundesregierung Kiesinger-Brandt im entscheidenden darin wurzelt, daß Bonn sich nicht zu einer Politik der NATO-Demontage und des Antiamerikanismus verstanden hat, rückten die sowjetischen Propaganda-und Agitationsverlautbarungen seit Anfang Januar 1967 stärker als jemals zuvor das Verlangen nach einer Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik in den Mittelpunkt. Diesem Verhalten liegt die — auch sonst immer wieder durchscheinende — sowjetische Einschätzung zugrunde, daß die Interessenunterschiede zwischen Bonn und den westlichen Regierungen in den Fragen der Deutschlandpolitik am größten seien und daß daher die Bundesrepublik auf dieser Ebene am ehesten in einen grundlegenden Gegensatz zu ihren westlichen Verbündeten manövriert werden könne. Nach sowjetischer Ansicht verfolgen die westlichen Länder ausgeprägte Statusquo-Interessen und sehen demzufolge in Ruhe, Stabilität und Sicherheit die obersten Maximen ihres politischen Handelns. Den sowjetischen Führern erscheinen daher gegenwärtig Entspannungsparolen als die beste Möglichkeit, in Europa und Nordamerika an die Träger der öffentlichen Meinung und an die Regierungen zu appellieren, um sie sowjetischen Vorstellungen geneigt zu machen. Umgekehrt werden in Moskau dem Versuch, die Bundesrepublik bei ihren westlichen Verbündeten in Mißkredit zu bringen, die größten Erfolgsaussichten beigemessen, wenn man die bundesdeutsche Politik als entspannungsfeindlich sowie als ruhe-und friedensgefährdend hinstellt.

Anklagen gegen Bonn, der DDR die Anerkennung zu verweigern, und Forderungen, daß dieser Kurs revidiert werden müsse, lassen sich leicht auf den Zweck hinordnen, die Bundesrepublik zum Störenfried in Europa zu erklären. Indem die Bundesregierung, so heißt es in den sowjetischen Verlautbarungen, der DDR die Anerkennung versage, bekunde sie ihren Willen zu einer Annexion der DDR und damit zur gewaltsamen Auslöschung eines anderen europäischen Staates. Gegen dieses der Bundesregierung unterstellte Bestreben sollen im Westen auf doppelte Weise Furcht und Argwohn mobilisiert werden. Zum einen wird versucht, bei den Verbündeten der Bundesrepublik die Sorge wachzurufen, der westdeutsche Partner könne die westliche Allianz zur Entfesselung eines Angriffskrieges benutzen und so die westlichen Länder gegen ihren Willen seinen angeblichen Eroberungszielen dienstbar machen. Zum anderen soll den Staaten Westeuropas durch entsprechende Vergleiche und Warnungen das Bewußtsein vermittelt werden, daß sich der Expansionsdrang der Bundesrepublik nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen — beispielsweise auf das französische Elsaß-Lothringen oder auf das italienische Südtirol — richte. Nach sowjetischer Darstellung wünschen alle europäischen Staaten Entspannung und Frieden — mit der einzigen Ausnahme der Bundesrepublik, die es auf ein Anwachsen der internationalen Spannungen, auf die Erzeugung von Unruhe unter den Völkern und letztlich auf kriegerische Abenteuer abgesehen habe, wie ihr Versuch, die Existenz der DDR mittels Nicht-Anerkennung zu negieren, hinlänglich beweise. Mit dieser These glauben die sowjetischen Führer die Bundesrepublik leichter ins Unrecht setzen zu können, als wenn sie in den westlichen Ländern die bundesdeutsche NATO-Bindung — also die politische Westorientierung der Bundesrepublik — in den Mittelpunkt ihrer antibundesdeutschen Polemik stellen würden.

Die nachgeordnete Rolle, die das Ziel der DDR-Anerkennung in der sowjetischen Deutschland-Politik spielt, kommt in der Art der sowjetischen Argumentation klar zum Ausdruck. Die neue Ostpolitik, welche die Bundesregierung im Jahre 1967 auch gegenüber der DDR eingeleitet hat, als Bundeskanzler Kiesinger sich zu Antwortschreiben auf die Briefe des DDR-Ministerpräsidenten Stoph entschloß, wird in den sowjetischen Verlautbarungen nicht etwa als ein Kurs bewertet, der die verlangte Anerkennung der DDR logisch nach sich ziehen müßte oder auch de facto bedeute — wie es in sowjetischem Interesse liegen müßte, wenn die Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik tatsächlich das vorrangige Ziel Moskaus wäre. Die sowjetische Seite unterläßt zugleich auch alle Versuche, Bonn zu einem Weitergehen auf dem eingeschlagenen Weg zu ermuntern, obwohl auf diese Weise vielleicht einmal eine Station erreicht werden könnte, welche die förmliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik unvermeidlich machen würde. Statt dessen wird, welche neuartigen Schritte die Bundesregierung auch immer tun mag, die Parole ausgegeben, daß sich an der bundesdeutschen Ostpolitik in keiner Hinsicht wirklich etwas geändert habe und daß alle neuen Bemühungen in Wahrheit nur eine raffinierte Mimikry der sich gleichgebliebenen alten Ost-politik der Bundesrepublik darstellten, die, weil sie die Völker über ihren „militärischen" und „revanchistischen" Charakter zu täuschen versuche, nur um so gefährlicher sei. Die sowjetische Führung schlägt also die Chance, durch das konziliantere Verhalten der Bundesregierung bestimmten Programmzielen wie der Anerkennung der DDR näher zu kommen, bewußt aus, um unter dem Motto dieser Programmziele weiter eine Propaganda-Kampagne gegen die Bundesrepublik führen zu können. Darüber hinaus wird in den sowjetischen Verlautbarungen das Bestreben deutlich, die Bundesregierung bei ihrer neuen Ostpolitik zu entmutigen. Ein solches Propaganda-Verhalten kann sinnvollerweise nur darauf abzielen, der sowjetischen Polemik die Bundesrepublik als ein möglichst erfolgversprechendes Angriffs-ziel zu erhalten.

Im Widerspruch zu den unermüdlichen sowjetischen Propaganda-Versicherungen, die neue Ostpolitik der Bundesregierung stelle keine wirklich neue Politik dar, deuten die sowjetischen Führer durch ihr Verhalten an, daß sie den neuen Bonner Kurs als eine Wende einschätzen. Sie haben ihre Forderung nach dem Status eines „selbständigen politischen Gebietes" für West-Berlin, auf die während der Ara Erhard kaum politisches Gewicht gelegt worden ist, seit Anfang Januar 1967 mit äußerster Schärfe geltend gemacht und als Hauptanklagepunkt gegen Bonn verwendet. Nicht mehr nur die Annahme der Oder-Neiße-Linie und die Anerkennung der DDR erscheinen seitdem in den sowjetischen Darstellungen als die Kriterien für eine friedliche Politik der Bundesrepublik, sondern auch der Abbruch aller politischen und administrativen Verbindungen zu West-Berlin, dessen Lebensfähigkeit auf längere Sicht an diesen Verbindungen hängt. Offensichtlich hielt die sowjetische Führung es nunmehr für notwendig, im Verhältnis zur Bundesrepublik zu den früher betonten Bedingungen noch eine weitere Bedingung herauszustellen. Da hinsichtlich der strittigen Angelegenheiten keine Änderung eingetreten ist, muß man wohl annehmen, daß ein anderer Faktor, der sich geändert hat, nämlich das Verhalten der Bundesregierung gegenüber Osteuropa, die sowjetische Seite motiviert. Allem Anschein nach sah die sowjetische Führung die Anklagen wegen der Oder-Neiße-Linie und der DDR-Anerkennung nicht mehr als ausreichend an, um die Polemik gegen die Bundesrepublik unter allen vorbedachten Umständen zu rechtfertigen, weil sich die Bundesregierung in diesen Fragen vielleicht zu wesentlichem Entgegenkommen entschließen könnte. Von daher gewinnt es einen Sinn, die West-Berlin-Forderungen gegen Bonn hervorzukehren, denn die Bundesregierung kann in dieser Angelegenheit nicht von ihrem Standpunkt abgehen, wenn sie nicht West-Berlin an die DDR ausliefern will.

Die Herausstellung der sowjetischen West-Berlin-Forderung diente also vermutlich dem Zweck, mit ihrer Hilfe die Aggressivitäts-und Revanchismusanklage gegen die Bundesrepublik selbst dann noch aufrechtzuerhalten, wenn die Forderungen nach einer Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und der DDR einmal gegenstandslos werden sollten. Die sowjetische Argumentation weist recht deutlich auf einen derartigen Zweck hin. Der Status quo in West-Berlin, demzufolge die Stadt seit 1949 ein Bundesland unter bestimmten westlichen Vorbehalten ist, wird als ein Angriff der Bundesrepublik auf den angeblichen Status quo West-Berlins als einer „selbständigen politischen Einheit", ja, als der Versuch zur widerrechtlichen Annexion des fremden Staatswesens West-Berlin hingestellt. Wie die sowjetische Propaganda behauptet, ist die angebliche bundesdeutsche Aggression gegen West-Berlin die erste Etappe des Eroberungsfeldzuges, den die Bundesregierung gegen die DDR, gegen die UdSSR, gegen Polen und gegen die Tschechoslowakei plane. Das Fazit dieser Argumentation ist, daß von einem Verzicht Bonns auf seine aggressiven Ziele erst dann die Rede sein könne, wenn Bonn nicht nur auf die Oder-Neiße-Gebiete und auf den Anschluß der DDR verzichte, sondern auch die sogenannten Ansprüche auf West-Berlin aufgebe. Die sowjetische West-Berlin-Forderung hat mithin die Funktion einer Rückfallposition, von der aus der Vorwurf „revanchistischer" und „aggressiver" Bestrebungen weiter gegen die Bundesrepublik erhoben werden kann, auch wenn die Bundesregierung, wie es in sowjetischen Verlautbarungen bezeichnenderweise heißt, ihre überdehnten ostpolitischen Fronten durch weitreichende Zurücknahmen „begradigen" sollte.

Wenn die sowjetische Führung die Chance der Durchsetzung von Sachforderungen, wie die neue Ostpolitik der Bundesrepublik sie ihr bietet, ausschlägt und statt dessen propagandistische Gegenzüge durchführt, um die antibundesdeutsche Polemik fortführen zu können, so wird daran zweierlei deutlich. Erstens läßt sich daraus schließen, daß die sowjetische Führung ein überwiegendes Interesse an einem Anti-Bundesrepublik-Kurs hat, obwohl ein solcher Kurs dem sonst verkündeten Prinzip der gesamteuropäischen Annäherung und des gesamteuropäischen Dialogs widerspricht. Zum zweiten muß man aus dem sowjetischen Verhalten entnehmen, daß die konzilianter gewordene Ostpolitik der Großen Koalition in Moskau als eine sehr unangenehme Störung des Bemühens um eine möglichst weitgehende Diskreditierung der Bundesrepublik in Ost und West angesehen wird. Wenn die neue Bundesregierung es der sowjetischen Seite nicht weitaus schwerer gemacht hätte als das weniger bewegliche Kabinett Erhard, die Bundesrepublik der Welt als „aggressives" und „revanchistisches" Schreckgespenst zu präsentieren, hätte es Moskau kaum nötig gehabt, Anfang 1967 in nervöser Aufgeregtheit zusammen mit der DDR und mit Polen den Warschauer-Pakt-Staaten eine antibundesdeutsche Einheitsfront aufzunötigen und den Kurs gegenüber Bonn durch eine äußerste Überspitzung aller nur denkbaren Ansprüche und Anklagen an die westdeutsche Adresse zu verschärfen. Die Radikalisierung der sowjetischen Position gegenüber der Bundesrepublik birgt ja schließlich für Moskau nicht zuletzt die Gefahr in sich, daß in anderen Ländern der harte sowjetische Standpunkt gegenüber Bonn — und nicht die Politik der Bundesrepublik, wie es in sowjetischer Absicht liegt — zur Zielscheibe der Kritik wird. Diesem Sachverhalt sucht die sowjetische Führung dadurch Rechnung zu tragen, daß sie keine Mühe scheut, um den Initiativen der Bundesrepublik Frustrationen zu bereiten und auf diese Weise die Bundesregierung auf dem eingeschlagenen Weg zu entmutigen. Nach einigen Geschehnissen in der Bundesrepublik während des Frühherbstes 1967, die in Moskau als Anzeichen für ein Wiedererstarken der früheren ostpolitischen Tendenzen gewertet wurden, machte sich in den sowjetischen Propaganda-Verlautbarungen ein weniger nervöser und stärker zuversichtlicher Ton spürbar als vorher. Gleichzeitig verschob sich der propagandistische Nachdruck wieder ein klein wenig von der West-Berlin-Forderung auf das Verlangen nach einer Anerkennung der DDR zurück Umgekehrt führte der Entschluß der Bundesregierung zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugo-slawien sogleich zu einer erheblichen Verstärkung der sowjetischen Versuche, die politische Rechtschaffenheit der Bundesrepublik in Zweifel zu ziehen, und zwar vor allem durch innenpolitische Anschuldigungen.

Die sowjetischen Deutschland-Forderungen haben die instrumentale Funktion, die Bundesrepublik unter Druck zu setzen und der Weltöffentlichkeit den angeblich aggressiven Charakter der bundesdeutschen Politik zu demonstrieren. In den sowjetischen Stellungnahmen wird dies gelegentlich indirekt ausgesprochen, indem die Propaganda-These, die Ostpolitik der Bundesrepublik habe sich nicht wesentlich verändert, mit Hinweisen auf den bundesdeutschen NATO-Kurs begründet wird. „Obwohl", so ließ sich aus der „Izvestija" am 18. Februar 1967 vernehmen, „man jetzt am Rhein großen Lärm über die . neue Orientierung'der Bonner Politiker" mache, bleibe „die Tatsache eine Tatsache, daß die hauptsächlichen Zielsetzungen der westdeutschen Militaristen unverändert" seien, wie sie unter anderem in dem „unvernünftigen Ignorieren der gegenwärtigen Bedingungen der europäischen Wirklichkeit durch die BRD" zum Ausdruck komme. Die vorangehenden Darlegungen ließen deutlich werden, daß mit den Forderungen der „europäischen Wirklichkeit", die es zu beachten gelte, eine Distanzierung von den angeblich friedensbedrohenden „amerikanischen Imperialisten" und von der NATO als dem „Kind des kalten Krieges" gemeint war

Wenig später warf die „Pravda" der Bundesregierung vor, sie suche mit ihrer Ostpolitik und mit ihren Entspannungsangeboten die „Aufgabe eines NATO-Bevollmächtigten für die Entzweiung der sozialistischen Länder" zu erfüllen Die Ausführungen basierten auf der Logik, daß die Entspannungsbereitschaft nicht echt sein könne, weil Bonn gleichzeitig an der NATO festhalte. Nach dem Rumänien-Besuch von Außenminister Brandt, als sich in einer Reihe offizieller Stellungnahmen ein noch flexibleres Verhalten Bonns gegenüber der DDR als während des Kiesinger-Stoph-Briefwechsels anzukündigen schien, beeilte sich die „Izvestija", ihren Lesern klarzumachen: „Insgesamt läuft das Neue wie das Alte [in der bundesdeutschen Politik] nur auf eins hinaus: um jeden Preis die NATO zu zementieren . . Auf die weitreichende Entspannungsofferte hin, die Brandt in der August-Nummer der „Außenpolitik" machte, erklärte die „Pravda" rundheraus, dieses Anerbieten sei dadurch entwertet, daß die „Erhaltung und Benutzung der NATO, des aggressiven Militärblocks", zur „Hauptvoraussetzung" von Brandt gemacht worden sei. „Da also liegt der Hund begraben! Man soll in den Händen der Revanchisten das Werkzeug der Aggression belassen und gleichzeitig die Völker der sozialistischen Länder des gemeinsamen Schutzes ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, des Friedens und der Sicherheit in Europa berauben. Das wird natürlich nicht geschehen." Ein Fortbestand der NATO laufe darauf hinaus, „in den Händen der Revanchisten das Aggressionswerkzeug zu belassen" In gleicher Weise bezeichnete der hohe sowjetische Funktionär Nikolaj Poljanov die Entspannungsvorschläge des Harmel-Planes als „an und für sich nicht schlecht", wenn darin nur nicht „auf einer einzigen unerläßlichen Bedingung bestanden" worden wäre, nämlich auf der „Aufrechterhaltung der NATO"

Die neue Ostpolitik der Regierung der Großen Koalition wird in Moskau darum nicht als Beitrag zur europäischen Entspannung anerkannt, weil Bonn zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, deren Verhältnis der sowjetischen Seite offensichtlich als ein scharfer und unversöhnlicher Antagonismus gilt, keine antiamerikanische Wahl treffen will. Nur wer sich zusammen mit der UdSSR in die politische Front gegen die USA und gegen die NATO einreiht, leistet nach sowjetischer Darstellung seinen Beitrag zu Frieden und Entspannung, indem er den Amerikanern, die als die Feinde von Frieden und Entspannung zu gelten haben, das Handwerk legt. Solange die Bundesrepublik an der Verbindung mit den Vereinigten Staaten festhält, will die sowjetische Führung ihr die gleiche politisch-psychologische Pariarolle zuweisen, die sie den Amerikanern in der Welt zudenkt. Diese Absicht besteht grundsätzlich auch hinsichtlich aller anderen europäischen Staaten, die auf einem proamerikanischen und atlantischen Kurs beharren, wie dies beispielsweise die erwähnte sowjetische Kritik an den Entspannungsvorschlägen des belgischen Außenministers Harmel deutlich erkennen läßt. Trotzdem konzentriert sich die sowjetische Polemik vor allem auf die Bundesrepublik, auch wenn diese durchaus nicht das einzige europäische Land ist, das den Nordatlantikpakt nach wie vor als unerläßliche Grundlage seiner Außenpolitik betrachtet.

Für die unverhältnismäßig starke Ausrichtung der publizistischen Angriffe gegen die Bundesrepublik bei gleichzeitiger relativer Schonung der anderen europäischen NATO-Partner dürften zwei Gesichtspunkte maßgebend sein. Zum einen ist die Bundesrepublik, wie vor allem in den russischsprachigen sowjetischen Verlautbarungen immer wieder betont wird, für die UdSSR diejenige NATO-Macht, mit deren weiterer Beteiligung oder Nichtbeteiligung das atlantische Bündnis auf dem europäischen Festland in politischer und militärischer Hinsicht steht oder fällt Eine Fortexistenz des Nordatlantikpakts und eine weitere amerikanische Präsenz in Europa scheinen Moskau notfalls ohne Belgien oder Italien oder eines entsprechenden kontinentaleuropäischen NATO-Landes, nicht aber ohne die Bundesrepublik denkbar. Großbritannien spielt in den sowjeti\ Erwägungen wegen seiner abseitigen Insellage keine wesentliche Rolle. Allerdings ist ein außerordentlich starkes sowjetisches Interesse daran zu bemerken, daß Großbritannien nicht durch einen EWG-Beitritt einen größeren Einfluß auf dem europäischen Festland erlangt. Zum zweiten erscheint die Bundesrepublik der sowjetischen Führung wie kein anderes Land geeignet, die atlantische Orientierung in den übrigen NATO-Staaten zu diskreditieren. Als diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg begonnen und dann über die meisten ihrer jetzigen Verbündeten eine Besatzungsherrschaft aufgerichtet haben, und zwar unter höchst mißliebigen Umständen, sind die Deutschen auch heute noch im westlichen Ausland vielfach Ressentiments ausgesetzt. Diese Ressentiments sucht die sowjetische Propaganda mit allen Mitteln wachzuhalten, zu. reaktivieren und sowohl gegen die Bundesrepublik als auch gegen die atlantische Allianz, der die Bundesrepublik angehört, zu wenden. Dementsprechend wird den westeuropäischen Völkern unaufhörlich eingeredet, das atlantische Bündnis stelle praktisch nur ein amerikanisch-deutsches Beherrschungsinstrument dar, das den anderen Nationen keine Selbstbestimmung und keine Mitsprache mehr lasse.

Die sowjetische Führung sucht, seit die neue Bundesregierung die Hoffnungen auf einen antiatlantischen Kurswechsel der Bundesrepublik enttäuscht hat, mit schroffen Forderungen und scharfen Anklagen einen maximalen Druck auf Bonn auszuüben. Dabei agiert sie sichtlich in dem Bewußtsein ihrer Stärke gegenüber der Bundesrepublik, das einerseits auf der in letzter Zeit sehr angewachsenen militärischen Macht der Sowjetunion gegenüber der NATO und den USA und andererseits auf der Vorstellung von einer unablässig abnehmenden westlichen Solidarität mit der Bundesrepublik beruht. Die sowjetischen Appelle an das west- deutsche Publikum, von der NATO abzulassen und sich der sowjetischen Linie der europäischen Sicherheit anzuschließen, werden durch warnende Hinweise darauf unterstrichen, daß die Sicherheit der Bundesrepublik unter den gegebenen Umständen sehr gefährdet sei und daß es daher klug wäre, durch das Eingehen auf die sowjetischen Europa-Vorschläge Sicherheit für die Bundesrepublik zu suchen. Wie sehr sich die sowjetische Propaganda auch bemüht, die Politik der Bundesrepublik und der NATO als eine Bedrohung des Friedens unter den Völkern und der internationalen Sicherheit hinzustellen, so geht sie doch zugleich in allen ihren Verlautbarungen davon aus, daß weder die Bundeswehr noch die atlantische Allianz den europäischen Staaten außerhalb des sowjetischen Einflußbereichs wirklichen Schutz bieten könnten. Die sowjetischen Führer zeigen in ihren Ansprachen ein deutliches militärisches Uberlegenheitsgefühl gegenüber Westeuropa. Dementsprechend findet sich niemals eine Andeutung, derzufolge ihnen die Sicherheit der Warschau-Pakt-Staaten in irgendeiner Hinsicht zweifelhaft erscheinen könnte, während zugleich immer wieder der Versuch unternommen wird, die westliche Seite Europas durch Demonstrationen östlicher Militärmacht zu beeindrucken. Auch der offensichtlich minimale Kurswert, den westdeutsche Sicherheitsofferten — etwa im Hinblick auf die Oder-Neiße-Linie, in der Form eines gegenseitigen Gewaltverzichts oder nach der Art von Barzels Anerbieten der Stationierung sowjetischer Truppen in einem künftigen Gesamtdeutsch-land — in Moskau haben, deutet darauf hin, wie gering man dort die militärischen Potenzen der Gegenseite einschätzt.

Zu einer optimistischen Beurteilung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa hat die sowjetische Führung guten Grund, denn auch dann, wenn man bei einem militärischen Konfliktsfall die Bindung der global-nuklearen Kapazität der UdSSR durch die Vereinigten Staaten voraussetzt, verschaffen die ungekonterten sowjetischen Mittelstreckenraketen der sowjetischen Seite einen außerordentlichen Vorteil auf dem europäischen Schauplatz. Es verwundert darum nicht, daß die sowjetische Führung bestrebt ist, sich für die Zukunft die Möglichkeit politscher Pressionen mit militärischen Mitteln gegenüber der Bundesrepublik offen zu halten. Der Verzicht auf die Ausübung von Druck mit Hilfe von Kernwaffen gegenüber Nicht-Kernwaffen-Mächten, wie er in Zusammenhang mit dem Atomsperrvertrag gefordert worden ist, soll nach sowjetischer Ansicht nicht im Verhältnis zur Bundesrepublik gelten, solange diese in die NATO-Strategie einbezogen sei. In einer maßgeblichen sowjetischen Stellungnahme wird der Bundesregierung vorgestellt, welche Gefahren sie mit der Wahl des NATO-Kurses laufe. In Bonn, so heißt es da, glaube man „offenbar an die Stabilität der amerikanischen Unterstützung, wenn man dort trotz allem mit dem Kopf durch die Wand zu gehen" riskiere, „wenn man dort unter den Bedingungen der neuen Tendenzen, die sich immer mehr in der politischen Atmosphäre Europas bemerkbar machen, die alte Linie" durchsetze, „die den Forderungen der europäischen Sicherheit diamentral entgegensteht". Diese im Linie, so wird hinzugefügt, habe „auch Gewände der . neuen Ostpolitik'Kiesingers keine Zukunft" Die sowjetische Führung unternimmt alle Anstrengungen, um der Bundesregierung auch im politischen Leben zu demonstrieren, wie riskant es für sie sei, auf den Rückhalt der Vereinigten Staaten zu bauen. Die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über den Kernwaffensperrvertrag hatten und haben nach sowjetischer Absicht nicht zuletzt die Funktion, die amerikanische Regierung zu bestimmten Affronts gegenüber Bonn zu bewegen, um dadurch in der Bundesrepublik den Eindruck zu erzeugen, daß man von dem amerikanischen Bundesgenossen im Stich gelassen werde. Unter der Parole der nuklearen Nichtweiterverbreitung hofft die sowjetische Füh-rung die Amerikaner auf ähnliche Weise zur Besorgung sowjetischer Geschäfte veranlassen zu können, wie diese das in gewisser Weise bereits in Vietnahm tun, wo sie die Aufmerk-samkeit des chinesischen Konkurrenten der UdSSR binden und damit eine Konzentration der sowjetischen Kräfte auf Europa ermöglichen

Die bestimmenden Faktoren des sowjetischen Verhaltens gegenüber der Regierung der Großen Koalition

Die gegenwärtige Europa-und Deutschland-politik der Sowjetunion unterscheidet sich grundlegend von dem sowjetischen Kurs während der ausgehenden Chruschtschow-Ära. Damals hatte die sowjetische Führung mit dem Vorschlag eines Nicht-Angriffspaktes zwischen den Staaten des Warschauer Vertrages und des nordatlantischen Bündnisses ein Entspannungsmodell ausgestellt, das die Vereinigten Staaten und Kanada in die erstrebte gesamteuropäische Regelung einbezog und die Fortdauer der beiderseitigen Allianzsysteme zuließ. Demgegenüber zielt das Entspannungsmodell, das Moskau heute anbietet, darauf ab, die Vereinigten Staaten und Kanada aus Europa zu entfernen und den Nordatlantikpakt zu beseitigen. Gleichzeitig legt die sowjetische Führung einen so außerordentlich großen Nachdruck auf den engen politischen und militärischen Zusammenschluß der kommunistischen Staaten Osteuropas im Warschauer Pakt, daß es zweifelhaft erscheint, ob man in Moskau ernstlich eine Auflösung auch des östlichen Allianzsystems anstrebt. Die sowjetische These, die Gegner im Westen würden, gerade weil sie immer mehr an Stärke verlören, gegenwärtig immer abenteuerlicher und damit friedensgefährlicher, so daß man sich mehr denn je stark gegen sie machen müsse, läßt eher vermuten, daß die sowjetischen Führer so lange wie irgend möglich an dem War-schauer Pakt festhalten wollen. Anscheinend glauben sie daran, nicht zuletzt durch die sowjetische Politik der europäischen Sicherheit könnten die antiatlantischen Tendenzen und Kräfte in Westeuropa schließlich so mächtig werden, daß sie die atlantisch orientierten Gruppen, die in den meisten Ländern heute noch führend sind, zu einer Abkehr von dem nordatlantischen Bündnis nötigen oder aber politisch eliminieren könnten. In diesem Fall käme das sowjetischerseits verlangte System der europäischen Sicherheit nicht durch Verhandlungen und Abkommen zwischen den Regierungen der europäischen Staaten, sondern durch selbstläufige Entwicklungen in Westeu-ropa zustande, und das würde dann die sowjetische Regierung der Notwendigkeit entheben, für die NATO-Abkehr der westeuropäischen Länder einen Preis anzubieten Im übrigen hat sich Moskau mit einem inzwischen sehr gut ausgebauten Netz bilateraler Beistandspakte einen Ersatz für das Warschauer Allianzsystem geschaffen, der es der sowjetischen Seite notfalls jederzeit erlauben wird, mit den westeuropäischen Regierungen über die Abschaffung der multilateralen Bündnisse im Westen und Osten zu verhandeln, ohne daß dabei mehr als die jetzigen Modalitäten der militärisch-politischen Bindungen zwischen der UdSSR und ihren Verbündeten zur Disposition gestellt werden müßte.

Die sowjetische Führung sieht grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie ihr Projekt der europäischen Sicherheit bei der Gesamtheit der atlantischen Staaten in Europa durchgesetzt werden könnte. Die eine Möglichkeit, die Moskau bei der Initiierung des neuen Europa-Kurses gewählt hat und auf die sie nach der Enttäuschung ihrer Erwartungen durch die Große Koalition wieder zurückgekommen ist, besteht darin, die Bundesrepublik zur Zielscheibe aller sowjetischen Angriffe zu machen und in propagandistischer Entgegensetzung die antiatlantisch-ostkooperative Haltung des gaullistischen Frankreich als vorbildlich und nachahmenswert herauszustellen. Die andere Möglichkeit, der die sowjetische Führung den Vorzug gegeben hätte, wenn die neue Bundesregierung Kiesinger-Brandt dafür zu gewinnen gewesen wäre, besteht darin, die Bundesrepublik aus der NATO herauszulocken und auf diese Weise die atlantisch-proamerikanische Front in Europa zum Einsturz zu bringen. In beiden Fällen beruht die politische Strategie auf der Einschätzung, daß nach dem Austritt

Frankreichs aus der NATO-Militärorganisation die Bundesrepublik Deutschland den entscheidenden Mitgliedstaat der nordatlantischen Allianz auf dem europäischen Festland darstellt, von dessen Haltung es abhängen wird, ob das transatlantische Bündnis künftig weiter nach Kontinentaleuropa hineinreichen kann und damit seine Existenzberechtigung behält. Die Haltung dieses entscheidenden Staates in antiatlantischem Sinne zu verändern, ist der Zweck des sowjetischen Vorgehens gegenüber der Bundesrepublik, ob dieses nun — wie bis zum Dezember 1966 und dann wieder seit den letzten Dezembertagen von 1966 — einen ausgesprochen feindseligen Charakter trägt oder aber — wie in den ersten Wochen der Großen Koalition — positivere Formen erhält.

Läßt der Eindruck unerschütterlicher atlantischer Solidarität auf selten der Bundesregierung es den sowjetischen Führern zweckmäßig erscheinen, einen Anti-Bundesrepublik-Kurs zu steuern, so zielt das sowjetische Bestreben darauf ab, die Bundesrepublik im Westen zu isolieren und damit des unerläßlichen außenpolitischen Rückhalts zu berauben. Mit einer derartigen Entwicklung verknüpft Moskau vermutlich zwei alternative Erwartungen. Zum einen könnte die Erfahrung schwindenden westlichen Rückhalts schließlich in der Bundesrepublik eine antiatlantische Reaktion herauf-führen, die notwendigerweise eine Anpassung an die sowjetische Politik nach sich ziehen müßte. In diesem Lichte haben die sowjetischen Führer allem Anschein nach die Ablösung der Regierung Erhard durch die Große Koalition gesehen, was ihre Erwartungen an die neue Bundesregierung erklären würde. Zum zweiten könnte ein immer engeres Zusammenspiel der Sowjetunion mit den westeuropäischen Staaten, wie es gegenwärtig in mancher Hinsicht bereits zwischen Moskau und Paris eingeleitet ist, vor allem dann, wenn es unter den sowjetischen Parolen der europäischen Sicherheit stehen würde, allmählich die Bundesrepublik in eine immer weniger haltbare Position versetzen, die von einem bestimmten Zeitpunkt ab auch durch Anlehnung an die Vereinigten Staaten nicht mehr zu retten wäre und damit der Bundesregierung nur noch den Ausweg einer Kapitulation vor den sowjetischen Forderungen ließe. Sobald die sowjetischen Führer den Eindruck gewinnen, Bonn könnte vieleicht schon jetzt zu einem Einschwenken auf die entscheidenden Punkte ihrer antiatlantischen Linie bereit sein, optieren sie gerne für ein Zusammengehen mit Bonn, weil ihnen das — im Unterschied zu einem antiatlantischen Kurs mit bundesdeutscher Gegnerschaft — eine rasche und sichere Beseitigung des kontinentaleuropäischen NATO-Pfeilers verheißen würde. Für den Fall einer solchen Entente zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik stellt Moskau der westdeutschen Seite eine Beendigung der Polemik und eine Zurückstellung von Forderungen wie der nach einer Anerkennung der DDR in Aussicht. Mit welchen Ansprüchen die sowjetischen Führer die Bundesregierung später konfrontieren würden, wenn sie erst einmal ihr Hauptziel, die Eliminierung des amerikanischen Gegengewichts aus Europa und demzufolge die Ausdehnung der sowjetischen Vormacht auf den ganzen Kontinent, erreicht hätten, läßt sich nicht voraussagen.

Die sowjetische Europa-Politik ist langfristig konzipiert. Sie zielt darauf ab, die Machtverhältnisse, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa herausgebildet haben, auf lange Sicht hin zu verändern. Kurzfristige Erwägungen werden hintangestellt, auch wenn wichtige Verbündete in ihnen ihr Interesse sehen. Das bekam die DDR-Regierung im Dezember 1966 zu spüren, als die sowjetische Führung im Interesse einer Anti-NATO-Entente mit der Bundesrepublik nicht nur die Anerkennungsforderung Ost-Berlins als quantite negligeable behandelte, sondern auch die verbalen Bekenntnisse zur DDR einstellte. Erst als die sowjetischen Erwartungen von der Bundesregierung enttäuscht wurden, schwenkten die sowjetischen Führer auf die Anti-Bundesrepublik-Linie ein, die Ulbricht von Anfang an befürwortet hatte, und kehrten zu den Pro-DDR-Stellungnahmen zurück, wie sie vor der Bildung der Großen Koalition üblich gewesen waren. Damit war der politische Gleichklang zwischen UdSSR und DDR wiederhergestellt, aber es war zugleich deutlich geworden, daß sich die beiden Staaten dabei von verschiedenen Gesichtspunkten leiten ließen. Für die sowjetische Führung war das Bestreben maßgebend, das nordatlantische Bündnis zu zerstören, während die Führer der SED vor allem daran dachten, den politischen Konkurrenten auf gesamtdeutscher Ebene Schläge zu versetzen, um den Widerstand gegen eine künftige Ausdehnung des SED-Einflusses auf die Bundesrepublik zu schwächen. Die gesamtdeutsche Machtposition Ost-Berlins zu stärken, erscheint Moskau offenbar nicht vordringlich. Verschiedenes in dem sowjetischen Verhalten deutet sogar darauf hin, daß die sowjetische Regierung gegenwärtig die bestehende Teilung Deutschlands einem kommunistisch wiedervereinigten deutschen Staat zumindest dann vorziehen würde, wenn die Bundesrepublik nicht länger die Basis der amerikanischen Präsenz und des atlantischen Bündnisses in Europa bilden würde. Moskau könnte freilich in diesem Fall die Bundesrepublik auch auf andere Weise als durch den Anschluß an die DDR in innenpolitischer Hinsicht zu beeinflussen suchen. Auflagen innenpolitischer Art, welche die sowjetische Regierung in der letzten Zeit unter Hinweis auf das Potsdamer Abkommen formuliert hat, lassen die Absicht erkennen, Grundlagen für eine Politik innenpolitischer Servituten gegenüber der Bundesrepublik zu schaffen. Wenn die sowjetische Regierung diese Linie weiterverfolgen würde, liefe das darauf hinaus, daß der DDR in der Westdeutschland-Politik der UdSSR eine weniger bedeutende Rolle als in früheren Jahren zu-fiele, weil Moskau mit dem Geltendmachen des Potsdamer Abkommens gegenüber der Bundesrepublik einen unmittelbaren Hebel der Einflußnahme besitzen würde. Man möchte vermuten, daß die sowjetische Seite angesichts der polyzentristischen Tendenzen innerhalb des östlichen Bündnissystems das Entstehen eines großen kommunistischen Staates in Deutschland nicht wünscht, der irgendwann einmal ein unangenehmes Eigengewicht erlangen könnte. Diese Erwägung könnte freilich für Moskau einmal weniger schwer wiegen, wenn die sowjetische Vormacht künftig auf ganz Europa ausgedehnt wäre und mit der Entfernung der amerikanischen Macht aus Westeuropa eine Rekonsolidierung der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa möglich würde. Ulbricht scheint in dieser Möglichkeit seine Chance zu sehen, denn er hat auf die im Dezember 1966 deutlich gewordene Gefahr, daß die sowjetischen Führer der Deutschland-Politik der DDR in bestimmten Punkten ihren Rückhalt entziehen könnten, mit der verstärkten Bindung an Moskau reagiert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. E. Pral'nikov, Deljat portfeli, in: Izvestija vom 1. 12. 1966; E. Pral'nikov, Bonnskie peremeny, in: Izvestija vom 2. 12. 1966; V. Michajlov, Smena kresla ili politiki, in: Pravda vom 2. 12. 1966.

  2. Vgl. G. Wettig, Der Dialog zwischen SPD und SED in der kommunistischen Deutschland-Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 9/67 vom 1. 3. 67, S. 22 f.

  3. Abgedruckt in: Neues Deutschland vom 30. 11. 1966.

  4. Veröffentlicht im „Stern" am 19. 10. 1966.

  5. Vgl. G. Wettig, Der Dialog zwischen SPD und SED, a. a. O., S. 14— 20.

  6. Vgl. Zajavlenie Kizingera v Bundestage, in: Pravda vom 14. 12. 1966; N. Bragin/B. Kotov, V protivorecii s zizn'ju, in: Pravda vom 15. 12. 1966; E. Pral'nikov/A. Tjupaev, Programma pravitel'stva bolsoj koalicii, in Izvestija vom 15. 12. 1966.

  7. Vgl. N. Poljanov, Sudit’ o politike Bonna po ego delam, in: Izvestija vom 16. 12. 1966.

  8. So S. Beglov, Kuda povoracivajut jadernoe dyslo NATO, in: Pravda vom 19. 12. 1966

  9. So Ju. Golosubov, Ustupka Bonnskim milita ristam, in: Izvestija vom 20. 12. 1966.

  10. Ju. Golosubov, a. a. O.

  11. Zakryt’ put'silam revansa i militarizma [ungezeichneter Leitartikel], in: Izvestija vom 27. 12. 1966.

  12. Zakryt'put'..., a. a. O.

  13. E. Grigor’ev, Real'nost'i bezrassudstvo, in: Pravda vom 13. 3. 1966.

  14. V interesach procnogo mira v Evrope [ungezeichneter Leitartikel], in: Mezdunarodnaja izn‘, 1967, H. 6, S. 6.

  15. Näheres darüber bei G. Wettig, Die europäische Sicherheit in der Politik des Ostblocks 1966, in: Osteuropa, 1967 H. 2/3, S. 94— 113.

  16. V. Kuznecov, Zakonnoe pravo GDR, in Pravda vom 27. 12. 1966.

  17. Leninskaja diplomatija v dejstvii [ungezeichneter Leitartikel], in: Mezdunarodnaja zizn', 1967 H. 4, S. 5.

  18. Vgl. Sendung von Radio Frieden und Fortschritt (Moskau) vom 11. 12. 1967 um 16. 30 Uhr.

  19. Ju. Golosubov, Bolezn NATO, in Izvestija vom 18. 2. 1967.

  20. B. PjadyseV/R. Sergeev, Problemy evropejskoj bezopasnosti, in: Pravda vom 24. 2. 1967.

  21. E. Pral'nikov, Bonn b'et v baraban, in: Izvestija vom 23. 8. 1967.

  22. E. Grigor’ev, Golosom Strausa, in: Pravda vom 12. 8. 1967.

  23. N. Poljanov, Evropa: voennoe protivostojanie i bezopasnost’, in: Mirovaja ekonomika i medunarödnye otnosenija, 1967 H. 9, S. 43.

  24. Vgl. hierzu etwa: Opasnye tendencii, in: Novoe vremja, 1967 H. 6 (3. 2. 1967), S. 4; V. Krjukov, Germanskij vopros i sovremennost', in: Medunarodnaja zizn', 1967 H. 2, S. 19; V. Maevskij, V gostjach u marionetki, in: Pravda vom 5. 3. 1967; V interesach procnogo mira v Evrope [ungezeichneter Leitartikel], in: Mezdunarodnaja zizn', 1967 H. 6, S. 5 f. — Zur Frage des sowjetischen Anti-NATO-Kurses vgl. auch W. Berner, Das Karlsbader Aktionsprogramm, in: Europa-Archiv, 1967 H. 11, S. 393— 400.

  25. N. Poljanov, Evropa: voennoe protivostojanie i bezopasnost’, in: Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija, 1967 H. 9, S. 47.

  26. Das ist selbstverständlich nur einer der vielfältigen Aspekte, die der Vietnam-Konflikt für die sowjetische Führung hat. Das amerikanische Vorgehen in Vietnam bereitet in Moskau gleichzeitig Verlegenheiten: Die sowjetischen Kommunisten sympathisieren natürlich mit ihren vietnamesischen Gesinnungsgenossen gegen die amerikanischen „Imperialisten" und sehen sich im übrigen im Hinblick auf ihren Führungsanspruch im Weltkommunismus genötigt, den Nordvietnamesen und dem Vietcong effektiven Beistand zu leisten, während sie zugleich einer direkten militärischen Konfrontation mit den Vereinigten Staaten ausweichen wollen — ein Dilemma, das der sowjetischen Führung vor allem in den verbalen Auseinandersetzungen mit dem chinesischen Rivalen sehr unangenehm ist. — Auf dem europäischen Schauplatz weiß die sowjetische Agitation die Angelegenheit des Vietnam-Konflikts sehr geschickt ihren Zwecken dienstbar zu machen, in dem sie sie den NATO-Mitgliedsländern als gefährlich im Sinne ihrer drohenden Verstrickung in amerikanische „Kriegsabenteuer" wie Vietnam vorstellt. Hinzu kommt, daß das Engagement in Vietnam die Position der USA in Europa in militärischer, wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht unmittelbar schwächt und inneramerikanische Tendenzen gegen ein „overcommitment" außerhalb des Landes starken Auftrieb gibt.

  27. Hinsichtlich des betreffenden Verbalverhaltens der UdSSR und der daran anschließenden sowjetisch-rumänischen Kontroverse vgl. G. Wettig, Die europäische Sicherheit in der Politik des Ostblocks im Jahre 1966, in: Osteuropa, 1967 H. 2/3, S. 95— 99. Die Argumentationslinie von 1966 wurde auch 1967 fortgeführt.

  28. Die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien hat entgegen zuweilen geäußerten Vermutungen bei der erneuten antibundesdeutschen Wendung der sowjetischen Politik keine wesentliche Rolle gespielt.

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Gerhard Wettig, Dr. phil., geboren 1934 in Gelnhausen/Hessen, Studium der Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft, Wiss. Referent am Bundesinstitut für ost-wissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943 bis 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917, Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 12, Berlin 1967; Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Fischer Bücherei 845, Frankfurt 1967.