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Gedanken zur Bundestagsdebatte über politische Bildung am 15. November 1968 | APuZ 4/1969 | bpb.de

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APuZ 4/1969 Frieden und Macht Ein Vorblick auf die siebziger Jahre Das Wesen der politischen Unterweisung Gedanken zur Bundestagsdebatte über politische Bildung am 15. November 1968

Gedanken zur Bundestagsdebatte über politische Bildung am 15. November 1968

Walter Jacobsen

Neue Lage — neue Probleme

n den meisten Diskussionen der letzten Zeit ber die Wirksamkeit der politischen Bildungsarbeit fällt auf, daß eine gewisse Ratlosigkeit um sich gegriffen zu haben scheint. Die immer wieder festgestellte Indifferenz des größten Teils der Jugend erscheint plötzlich überwunden;

aber das vehement zutage getretene politische Engagement ist ganz anders, als man es sich erhofft hatte.

Immer wieder untersucht man die „Wirksamkeit"

der Bildungsbemühungen auf diesem Felde. Auch die einschlägige „Kommission zur Beratung der Bundesregierung" forderte in ihrer Empfehlung, „Untersuchungen über die Wirkung der Maßnahmen zur politischen Bildung in die Wege zu leiten" Was aber bisher bekannt wurde, das lief immer wieder nur auf Erfolgskontrollen hinaus. Der Begriff „Wirkung" ist offenbar doppeldeutig. Einerseits meint er „Bewirktes", andererseits den Prozeß des Wirkens. Gerade dieses Letztere aber ist das, was es aufzuklären gälte, wenn Iman methodische und didaktische Verbesserungen anstrebt, wie dies ja immer wieder betont wird. Es sollte jetzt nicht mehr länger um die Überprüfung von Endwirkungen gehen, sondern um Prozeß-, das heißt um Bedingungs-, Einfluß-und Verlaufsanalysen des politisch bildenden Unterrichts. Das wurde übrigens schon 1965 auf einer gemeinsamen Tagung von Pädagogen und Psychologen in der Heimvolkshochschule Bergneustadt in einer Resolution gefordert. Dort war — neben anderen Fakto-ren — die Rede etwa von „Erscheinungsformen und Hintergründen von Konformismus, Gehorsam und Widerstand", von den „Bildungsfaktoren und Prozessen in Erziehungsfeldern wie z. B. Familie, Schule, Beruf, Jugendarbeit, Erwachsenenbildung und Öffentlichkeit"

In der Arbeitsgruppe, die die Resolution vorbereitete, forderte man außerdem Untersuchungen über „Bedürfnis und Wille zum Engagement", über „Zusammenhänge zwischen politischer Einstellung und sozialem Status", über „den politischen Sprachgebrauch und dessen Auswirkungen" sowie über einiges andere. Vor allem interessieren heute die „Bedingungsanalysen": Psychologische Untersuchungen der Faktoren, die bei der Genese und Änderung politischer Einstellungen und Verhaltensformen wirksam sind; der Ursachen der Verfestigung von Verhaltens-und Einstellungsformen, die im Kindes-und Jugendalter anerzogen werden; der Wechselwirkungen zwischen Information, Kenntnis, Einsicht und Verhalten; der Auswirkungen verschiedener Gruppenstrukturen, Maßnahmen und Kommunikationsmedien; Untersuchungen zum Problem der geistigen Selbständigkeit; der Entwicklung des Gehorsams vom „Triebgehorsam" über „Lerngehorsam" und „Gewissensgehorsam" zum „Ichgehorsam" und „konstruktiven Ungehorsam" und noch verschiedene andere Untersuchungsobjekte mehr Seit geraumer Zeit wenden sich die Hoffnungen der politischen Pädagogen den Soziologen und Politologen zu; von ihnen erwartet man gründlichere Aufklärungen und „Handreichungen" für den Politikunterricht. Neuerdings entdeckt man aber auch Zweischneidig-keifen aus dieser Richtung. Man findet sich mehr und mehr einem Schlachtfeld von Ideologien gegenübergestellt. Mit dem Postulat einer „objektiven Kritik" solchen aktuellen und affekterfüllten Einflüssen gegenüber sind aber die jungen Menschen deutlich überfordert — die Lehrer übrigens wohl auch. Man kann von den wenigsten von ihnen erwarten, daß sie sachverständig über Grundsatzdifferenzen wie etwa zwischen Adorno und Dahrendorf oder über die Stellungnahmen verschiedener Soziologen und Politologen zu den Thesen von Herbert Marcuse Auskunft geben — um nur ein paar „aktuelle" Beispiele zu nennen, übrigens deutete in der Bundestagsdebatte auch ein Abgeordneter (Dr. Martin) auf die Komplikationen hin, die sich für ein sachliches Unterrichten aus solchen ideologischen Spannungen ergeben können. Er sagte: „Manche Politologen und Soziologen sind zu sehr gebannt von der Vorstellung neuer politischer Gesamtvorstellungen, die manchmal durchaus den Charakter neuer sozialer Heilslehren enthalten, als daß sie dem nüchternen Alltagsgeschehen des Politischen genügend Rechnung tragen .. ."

Die eigentliche Ratlosigkeit besteht offenbar gegenüber dem, was „vor sich geht", wenn Kinder und Jugendliche Erziehung und Aufklärung verschiedener Art von Eltern und Lehrern her erleben — verschieden in Stil und Inhalt — und wenn nebenher zugleich Einfluf außerhäuslicher und außerschulischer F sowie des Fernsehens stattfinden. Wie das alles an, wie wird das verarbeite der Einfluß der Erziehungsverantwc akzeptiert (willig oder widerwillig) odi lehnt (nur innerlich oder auch manifest Angebotenes aufgespeichert (mit ode Verdrängungen ins Unbewußte) oder abgeschoben (mit oder ohne Proteste Wird durch das Einflußnehmen das Ic gerufen oder gelähmt? Das sind alles gisch-psychologische Fragen, denen no andere hinzuzufügen wären und die gel die politische Erziehungsproblematik v senschaftlicher Seite noch ganz unbean geblieben sind. Dabei ist das „Ankommi Verarbeiten bzw. das Nichtankomm« Nichtverarbeiten um so haltungsentsc der für die reifende Persönlichkeit, j sich die pädagogischen Einflüsse auf d einandersetzung mit der gesellscha Wirklichkeit, insbesondere auf das Ve „als demokratischer Staatsbürger" zu; wovon ja nun einmal im Politikunterri Rede sein muß. Man kann manche der Reifungszeit sich bildenden Verhaltes ziemlich früh erkennen: sie reichen von lenkbaren Unterwerfungstyp bis hin zu zipiell widerborstigen Protesttyp; dara sich dominierend entwickelt, sind nicht auch die Lehrer des Politikunterrichts b« Von ihnen erwartet man daher wohl mi ein besonderes Maß von psychologische] gefühl (durch Training zu entwickeln) u psychologischem Wissen.

Identifizierung mit demokratischem Prinzip

Die Frage ist: Will man die Methodik und Didaktik von der Wurzel her überprüfen und Verbesserungsmöglichkeiten ausfindig machen, weil das politische Ziel eine solche Aufwendung rechtfertigt, oder will man sich mit der nicht zu bezweifelnden Wahrheit zufrieden ge-ben: „Patentrezepte gibt es nicht!“? Der ordnete Huys sagte im Bundestag u. a. theoretische Ziel, den Bürger für eine Ic zierung mit den Prinzipien der freihei Demokratie zu gewinnen, . .. erkenne alle an. Den Weg zu seiner Verwirkl haben wir noch nicht gewonnen, und a tentrezepte, die wir vom hohen Kathed nin Diskussionen gehört haben, haben weitgethend ... versagt." Dann etwas später: „Die Schulen können den jungen Menschen nur ein seinem Alter oder seiner Reife und auch seiner Intelligenz gemäßes Wissen vermitteln, von Idem sie nur hoffen können, daß es sich in politische Bildung umsetzt."

Darin liegt viel Resignation. Natürlich soll der Schulentlassene sich nicht „in vorgegebenen Bahnen weiterentwickeln", wie Huys richtig betont, aber deswegen brauchte man sich auch nicht mit Wissensvermittlung und Instruktionen zu begnügen, sondern könnte und sollte weiter nach Wegen forschen, um jenes „theoretische Ziel", die „Identifizierung", von der der Abg. Huys sprach, doch noch wenigstens annähernd erreichen zu können. Natürlich wird es nie „Patentrezepte" auf pädagogischem Gebiet geben, aber soll man deswegen sauf wichtige psychologische Einsichten verzichten, die helfen könnten, jene Identifizierung doch noch auch bei solchen Schülern auszulösen, die dazu nicht „von selbst" geneigt sind?

(Daß es sich hier nicht einseitig um eine ganz bestimmte Form der Demokratieverwirklichung handeln kann, versteht sich am Rande).

Allerdings sollten solche psychologischen Untersuchungen wohl besser nicht die Herstellung und „Verbreitung demokratischer Verhaltenslehren"

(so in Punkt III/l 1 der Regierungsantwort)

zum Ziele haben, denn was nach Katechismus schmeckt, läßt sich schwerlich mit dem doch in derselben Regierungsantwort auch geforderten „Eigenbewußtsein" vereinIbaren. Oder ist mit „Verhaltenslehre" nur an eine Liste von formalen demokratischen Spielregeln und „Einsatz" möglichkeiten für den bereits selbstverantwortlich denkenden Staatsbürger gedacht? Dann wäre das eigentlich nichts Neues; ich verweise nur auf die schon [seit 1963 in mehreren Auflagen erschienene „Politische Verhaltenslehre" von Thomas Ellwein Im Vordergrund der Untersuchungen sollen ja aber nun die (psychischen) Bedingun-gen stehen, unter welchen „Interesse und Bereitschaft geweckt" (Regierungsantwort Punkt III/ll) werden können, und diese Absicht läßt auf neue wichtige Handreichungen hoffen, die nun von der Wissenschaft zu leisten wären.

Die in Absatz 2 des Abschnitts II der Regierungsantwort aufgezählten Aufgaben der politischen Bildungsarbeit sind alle so formuliert, daß ihnen wohl niemand zu widersprechen vermöchte. Nur wird man dazu sagen können und wohl auch müssen, daß alle diese Aufgaben ihr Ziel verfehlen könnten, wenn nicht auch ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß zur Erfüllung dieser Aufgaben auch das Erkennen und Bewußtmachen der Bedingungen gehört, denen ein erfolgreiches Erziehen und Bilden auf diesem heiklen Fachgebiet nun einmal unterworfen ist. Gemeint sind wiederum jene Bedingungen und Faktoren, von denen oben einige aus einer Veröffentlichung eines pädagogisch-psychologischen Fachgremiums zitiert worden sind.

Von diesen Vorbedingungen verdienen jene eine besondere Beachtung, die man als „mitgebrachte subjektive Komponenten" des einzelnen bezeichnen könnte, also Vorprägungen aus Früherziehung und anderen Einflüssen; denn von ihnen aus lassen sich manche „typischen" Reaktionen und Denkweisen der Jugendlichen und Heranwachsenden auf politische Bildungsbemühungen und andere Erlebnisse hin leichter verstehen. Bemüht man sich jedoch lediglich um das Ausrüsten der Schüler mit Infor-mationen und „Einsichten", mit „Problembewußtsein" und Kritikbereitschaft, mit der Erkenntnis des eigenen Standortes in der Gesellschaft, das Einsichtigmachen der freiheitlich-demokratischen Grundwerte und um das Einüben von politischem Handeln nach demokratischen Spielregeln — dies alles gemäß der Aufgabenliste —, dann muß man immer noch damit rechnen, daß das Ganze nur oberflächlich bleibt, nur „angelernt" wird; Angelerntes aber ist, sobald neue, andersartige Erfahrungen oder Suggestionen auf einen einwirken, jederzeit leicht abschüttelbar. Das trifft viel weniger wahrscheinlich zu, wenn das Ich des Schülers erreicht worden ist — derart, daß er sich aus eigener Gewissensüberzeugung dazu getrieben fühlt, sich mit dem ganzen menschlichen und sozialen Wesensgehalt des demokratischen Prinzips zu identifizieren und gegen Verführung zu wehren. Dieser Erfolg ist nicht durch „Ausrüsten" und durch „Einüben" allein gewährleistet — ihn zu erreichen ist viel schwieriger als jeder andere Unterrichtseffekt und auch nicht zu vergleichen mit Unterrichts stoffen, die sich examinieren, sich abfragei lassen. Die Chancen dafür aber lassen sich be trächtlich erhöhen, wenn es der Gemeinschafts kundelehrer aufgrund spezieller psychologi scher Vorbildung versteht, auch auf die wesentlichsten subjektiven Komponenten de« politischen Denkens, Fühlens, Urteilens, voi allem: Wertens und Handelns sachverständig einzugehen und die Schüler anzuleiten, sich unter diesen Gesichtspunkten auch selbst unter die kritische Lupe zu nehmen. Die „subjektiven Komponenten" pflegen im Reifungsalter bereits mehr oder weniger verfestigt zu sein — artikulierte „Vorurteile" stellen nur deren Objektivation dar. Man weiß ja inzwischen, daß diesen im allgemeinen nicht durch Argumente oder durch Gegenerfahrungen allein beizukommen ist; erst die Aufdeckung ihrer Genese — durch selbstkritische Rückverfolgung ihrer Entstehungskomponenten — liefert Chancen zu ihrer Auflösung

Noch gezieltere Vor-Ausbildung der Politiklehrer

Hier drohen dem politischen Pädagogen offensichtlich zusätzliche Ausbildungselemente. Man wird daher zugeben müssen, daß die hier skizzierte Methodenverbesserung zunächst nur in beschränktem Umfange durchführbar sein wird. Manchem Lehrer wird es nicht leicht fallen, innerhalb des Politikunterrichts auch noch angewandte Psychologie sowohl selbst zu praktizieren als auch — wenigstens zum Teil — als nützliche Allgemeinerkenntnis weiterzuvermitteln. Aber gegenüber einem Nichts wäre schon das Wenige ein Mehr — vielleicht gerade genug, um eine Wende zum Besseren in der Methodenfrage und der Ausbildung einzuleiten. Demgegenüber würde dann das „test" bare Quantum an Wissensstoff an die zweite Rangstelle der „Wichtigkeiten" gerückt.

Ob das Diskutieren in der Klasse über aktuelle hochpolitische und umstrittene Probleme (Beispiel: Vietnam) geeignet ist, abgewogen-kritisches Urteilen zu üben, ist fraglich, gewiß aber dürfte eine psychologisch-sachverständige Anleitung zu selbstkritischem Denken von hohem politischen Bildungswert sein. Mit Fremdkritik ist ohnehin jeder rasch bei der Hand, einerlei ob er etwas von der „Sache" versteht oder nicht, aber zur selbstkritischen Reflektion bedarf es immer erst eines kräftigen Anstoßes von außen — und man muß es erst lernen. Man lernt, von wie vielen inneren und äußeren, manchmal Zufallsbedingungen das eigene Denken, Fühlen und Werten abhängig ist, und es entsteht dann das, was man ein „gesundes Mißtrauen gegenüber sich selbst" nennen kann. Damit aber wird der Weg zum eigenen Ich, zum eigenen Gewissen freigelegt — man kämpft sich frei von mehr oder weniger " illegitimen" Fremdeinflüssen, darunter auch fragwürdigen „Dressaten", und sucht nach dem „Eigenen", dem „selbst" zu Verantwortenden. Erst dann hat man das Recht, von „Selbstverantwortung" zu sprechen. Der Politikunterricht dürfte der geeignetste Ort sein, um zu dieser Persönlichkeitsreifung hinzuführen. Nötig ist freilich, daß die zuständigen Lehrer sich mit den wichtigsten Erkenntnissen der Einstellungs-und Motivationspsychologie im Bereich der politischen und der Jugendpsychologie vertraut machen.

In der Bundestagsdebatte klangen die hierhin gehörigen Sonderprobleme nur ganz vereinzelt, nur indirekt und zaghaft an. Ein wenig beim Abgeordneten Martin, wenn er sich über die „Politik als Leistung" verbreitete, bei der Abgeordneten Frau Heuser, wenn sie auf die Einflüsse aus dem Elternhaus verwies, beim Abgeordneten Rastert, der die „Unmündigkeit aus Bequemlichkeit, sich auch selbst in Frage zu stellen", anprangerte, schon etwas direkter beim Abgeordneten Matthöter, wenn er „eine Analyse des Selbst-und Wirklichkeitsverständnisses und der Verarbeitung eigener Erlebnisse" für wünschenswert hielt, aber auch bei Bundesinnenminister Benda, wenn er forderte, man müsse beim Ni. chterreichen der Bildungsziele „natürlich nach den Ursachen tragen“ und wenn es in Punkt im Abschnitt III der Regierungsantwort (vorletzter Absatz) heißt: „In welcher Form in Zukunft das Interesse, sich politisch zu bilden, und die Bereitschatt, die demokratische Grundordnung unseres Staates zu bejahen, noch wirksamer geweckt werden können, wird vom Ergebnis sozialwissenschaftlicher Untersuchungen abhängen, welche die Bundeszentrale angeregt oder in Auftrag gegeben hat." 11)

Dieses wurde zwar im Hinblick auf Erwachsene gesagt, gilt aber genau so für Schüler. Erst wenn der einzelne sich nicht nur zur Demokratie als Staatsform verbal bekennt, brav Spielregeln befolgt (oder seinem geistigen Ehrgeiz dadurch Genüge tun möchte, daß er versucht, sie intellektuell-ideologisch zu übertrumpfen), sondern sich mit einer demokratischen Lebensform aus überzeugter Grundeinstellung heraus, weil es ihm aus menschlich-sozialen Motiven etwas Persönlich-Selbstverständliches geworden ist, identifiziert, kann von „Demokratiebewußtsein" — und dies möglicherweise als Erfolg einer politischen Erziehungsbemühung — gesprochen werden, während die intellektuelle Ausrüstung und die periphere Einübung (s. o.!) demgegenüber nur die (allerdings auch sehr wichtige) Rolle eines notwendigen „Zubehörs", eines Instrumentariums spielen. Nur und immer wieder auf hängengebliebenes Wissen über Institutionelles, Sozialstrukturelles und Zeitgeschichtliches hin eine „Erfolgskontrolle" der politischen Bildungsarbeit stützen zu wollen, enthält immer das Risiko gewagter Schlußfolgerungen.

Den wichtigen Punkt „Identifikation" berühren die Empfehlungen der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung (s. o.) in Zf. 1 d, wo es heißt: . . bewußte Identifizierung mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie und Entwicklung der Fähigkeit zu entsprechendem politischen Handeln ..."

Emotionales — „Nationales" — Rationales

Mit dem Worte „Identifikation" kommt auch das Emotionale zu seinem Recht, es schließt auch das „Nationale" mit neuem Bedeutungsgehalt mit ein; das nationale Selbstbewußtsein, auf das zu verzichten ja von niemandem gefordert wird (wie von einigen behauptet), gilt nun dem freiheitlichen Rechtsprinzip des eigenen souveränen Volkes; die Würde des Menschen (Art. 1 GG) konstituiert dann auch automatisch die Würde des Volkes, der Nation, ohne zu einem Ethnozentrismus ausarten zu können. In dieser Beziehung könnte man sich das Nationalgefühl der Amerikaner zum Vorbild nehmen. Worauf sind denn die Amerikaner so stolz, wenn sie, obwohl aus zahllosen „Nationen" herstammend, sich so betont als freie Mitbürger der Vereinigten Staaten von Amerika bezeichnen, so selbstbewußt ihre Fahne zeigen, auf die Liberty-Statue im New Yorker Hafen und auf ihre verbürgten demokratischen Bürgerrechte so emphatisch hinweisen? Offenbar soll ein jeder verstehen, Freiheitsbewußtsein und Menschenwürde, zum höchsten Staats-und Gesellschaftsprinzip erhoben, das sei das spezifisch „Amerikanische", darin zeige sich ihr „Nationalcharakter".

Erst mit dem Begriff „Identifikation" klingt auch der Kern der Persönlichkeit an, das Ich, das ja schließlich das entscheidende Wort bei allem politischen Mitdenken, Urteilen, Tun und Mitverantworten mitzusprechen hat. Von der Problematik, wie dieses Ich pädagogisch-psychologisch erreicht und zu selbstverantwortlicher, „eigenbewußter" (s. o.) Aktivität „erweckt" und zu Selbstentfaltung gebracht werden kann, von dem erfolgversprechenden didaktischen Weg zu dieser bewußten „Identifizierung mit dem Prinzip der freiheitlichen Demokratie" (s. o.) ist in allen bisherigen Diskussionen noch kaum die Rede gewesen, obwohl dies doch das Kernproblem katexochen der gesamten politischen Pädagogik ist. Vielleicht liegt das daran, daß es ein sehr schwieriges Problem ist, zu welchem ein Fach zu Rate gezogen werden müßte, vor dem sich mancher noch grault, weil Psychologie für ihn etwas Indiskretes an sich hat. Psychologie befaßt sich ja mit Motivationen, mit Selbstbeanspruchungen des Gewissens, mit Willensfaktoren, mit Trieben, Frustrationen und Verdrängungen, auch mit (horribile dictu) „ Charakter" entwicklungen, wobei dann Komplexe wie Selbstzuversicht bzw. Mutlosigkeit, Antriebsschwäche, Gehemmtheiten, Ängste, Überkompensationen, Aggressivitäten, Insuffizienzen, Anfälligkeiten, mitunter auch Labilitäten und Neurosen zur Sprache kommen könnten, wenn auch — für unsere Zwecke — immer nur typologisch; sie befaßt sich eben mit dem Insgesamt der entwicklungsrelevanten Faktoren, um die Entstehung von persönlichen Grundeinstellungen und die inneren und äußeren Bedingungen der eigentlichen Persönlichkeitsreifung zureichend aufhellen zu können.

Ohne wissenschaftliche Diagnose keine zuverlässige Therapie

Wenn man ausdrücklich und mit Recht Ursachenforschung fordert, wie Bundesminister Benda das tat, dann kann man nicht an der Vornahme von wissenschaftlichen Diagnosen vorbeigehen. Wer Ursachenforschung auf dem Gebiet der politischen Pädagogik bzw. ihrer partiellen Mißerfolge fordert, der kommt um Motivationsforschung nicht herum. Gewiß, solche Motivationsanalysen sind methodisch nicht einfach, aber die moderne Psychologie verfügt heute über bewährte Methoden, übrigens würden die Ergebnisse — als Nebenertrag — wahrscheinlich auch mit dazu beitragen, innere und äußere Ursachen für die allgemeine, protestgeneigte Unruhe unter den Heranwachsenden aufzuhellen.

Wenn von notwendigen „Handreichungen" die Rede ist (Kapitel III, Ziffer 7 der Regierungsantwort), wo es heißt, diese „sollten es jedem Lehrer ermöglichen, seinen Schülern den Zugang zu politischen Problemen zu vermitteln", so sollte man die allerwichtigste Handreichung nicht vergessen — die nämlich, die dem Schüler hilft, sich von eigenen Vorgeformtheiten, Befangenheiten, Abhängigkeiten, Anstekkungsverführungen in selbstkritischer Reflektion möglichst frei zu machen, bevor er sich für befugt hält, endgültige, konsequenzenreiche Urteile über Außendinge und andere Menschen zu fällen. Sachverständige Erziehung zu Selbstkritik und zu einem Höchstmaß von Objektivität sollte, weil integrierender Bestandteil jeder politischen Bildungsarbeit, die nicht Propaganda sein will, nicht länger vernachlässigt werden.

Die Diskussion um die politische Bildungsarbeit konzentriert sich jetzt mehr und mehr in Richtung auf die schwierige Problematik des Didaktischen und Methodischen. Mit dem „Tryand-error-System", fußend auf praktischen Erfahrungen und guten Einfällen, kam man allmählich ein Stück weiter, aber — wie man sieht (Abg. Huys: „Alle Patentrezepte haben weitgehend versagt") — längst nicht weit genug. Jetzt aber müßte endlich die hauptzuständige Hilfswissenschaft der politischen Pädagogik, die Psychologie, ihren Beitrag zum Erfolg leisten. Sie könnte den Lehrern wertvolle Handreichungen anbieten. Diese könnten sich überdies an den notwendigen Spezialuntersuchungen forschend beteiligen, was für sie selbst schon eine fühlbare Praxishilfe bedeuten könnte.

Aus zuverlässigen politischen Diagnosen lassen sich überall und stets praktisch-wertvolle Folgerungen ziehen, sei es auf dem Gebiet der Werbung, der Therapie oder auch der Pädagogik Anfang der zwanziger Jahre, zu einer Zeit, als „Gemeinschaftspädagogik" aktuell war, konnte psychologische Diagnostik aufzeigen, welche Rolle Minderwertigkeitsgefühle und mangelnde „Wirgefühle" bei der Einordnung in die Gesellschaft spielten, und der Adlerschüler Fritz Künkel verstand es, aus diesen Einsichten praktisch-pädagogische Schlußfolgerungen zu ziehen, die weithin beachtet worden sind und sogar im Ausland Verbreitung fanden. Manche Einsicht aus jener Zeit ließe sich — mutatis mutandis — auch für unsere heutige Problematik noch verwerten Wir hätten allerdings heute dazu einige tieferlotende Fall-Untersuchungen, also jene auf die Einstellungsursprünge, Motivationsstrukturen und Außeneinflüsse zielenden, von denen oben die Rede war, jenen älteren Erkenntnissen hinzuzufügen, abgesehen davon, daß das „Gemeinschafts" -Ideal inzwischen eine recht zwiespältige Bedeutung erfahren hat.

Es kommt also nun wesentlich mit darauf an, die Fachpsychologie für gezielte Diagnosen heranzuziehen, vor allem solche Fachvertreter, die sich bereits eingehender mit der Politischen Psychologie in Verbindung mit der Pädagogischen Psychologie, der Motivationsforschung und der Sozialpsychologie befaßt haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sitzungsbericht über die Bundestagsdebatte vom 15. November 1968, in: Das Parlament v. 30. Nov. 1968, S. 6.

  2. Entnommen aus Band 4 der Reihe „Politische Psychologie": Politische Erziehung als psychologisches Problem, Frankfurt/M. 1966, S. 184.

  3. Ebenda, S. 186/187.

  4. Das Parlament v. 30. November 1968, S. 12.

  5. Das Parlament v. 30. November 1968, S. 4.

  6. Ebenda, S. 1.

  7. Stuttgart 1963.

  8. Sie lauten: Die politische Biidungsarbeit „hat — möglichst objektive Informationen über Faktoren und Funktionszusammenhänge politischer Prozesse zu geben;

  9. Mehr hierüber in Band 3 der Schriftenreihe „Politische Psychologie": Vorurteile, ihre Erforschung und ihre Bekämpfung, Frankfurt/M. 1964.

  10. Das Parlament v. 30. November 1968, S. 5.

  11. Hervorhebung durch Kursivsatz vom Verfasser.

  12. Das Parlament v. 30. November 1968, S. 6

  13. Hierzu die folgenden Veröffentlichungen des Verfassers: Zur Diskussion um die politische Bildungsarbeit. Die Rolle der Einstellungs-und Motivations-Psychologie, Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1968; Politische Bildung — Kunde oder Methode, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung Nr. 5/1966; Von der Bedeutung psychologischer Erkenntnisse für Politik und politische Bildung, in: Schule und Psychologie Nr. 2/1965; Ein Lede in den Bemühungen um politische Bildung, in: Die deutsche Schule Nr. 12/1962; Hat die politische Bildungsarbeit versagt?, in: Vorgänge Nr. 7/1967; Vom Widerstand der Seele, in: Geist und Tat, Nr. 3/1961.

  14. Hierauf verwies noch kürzlich Wolfgang Metzger, Münster, in einer Sendereihe des Deutschland-funks über Psychologie und Pädagogik.

Weitere Inhalte

Walter Jacobsen, Dr. phil., Oberregierungsrat a. D., Psychologe, früher Referent in der Bundeszentrale für politische Bildung, geboren 1895 in Altona/Elbe, 1937 nach Schweden emigriert, wo er ein Institut für praktische Psychologie und Berufswahlfragen mitgründete und wissenschaftlich leitete.