Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zwanzig Jahre Grundgesetz -Probleme des Verfassungswandels | APuZ 21/1969 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 21/1969 Zwanzig Jahre Grundgesetz -Probleme des Verfassungswandels EWG und Deutscher Zollverein -Ein Vergleich

Zwanzig Jahre Grundgesetz -Probleme des Verfassungswandels

Paul-Ludwig Weinacht

I. Ein neues Grundgesetz

Rolf Hellmut Foerster: EWG und Deutscher Zollverein — Ein Vergleich...................................... S. 17

Verfassungen sind Rechtsregeln, nach denen ein Volk sein Zusammenleben einrichtet. Sie bestimmen die Ämter, die Verteilung der Geschäfte auf die Ämter, die Art, wie man ein Amt erwirbt und wann man es verliert. Sie geben für den politischen Prozeß äußerste Grenzpunkte an, über die er nicht hinaustreiben darf, und versuchen, in der Vielfalt gesellschaftlicher Initiativen Einheit entstehen zu lassen. In solchen Regeln und mit ihrer Hilfe soll sich — wie im Fall des Grundgesetzes — Demokratie verwirklichen, soll Freiheit herrschen und Gleichheit garantiert sein.

Verfassungen können, gemessen an ihrem Zweck, gut oder schlecht gemacht sein. Man erkennt ihre Qualität oft schon an ihrer Dauer: Es gibt Verfassungen, die wie Schuhe verschleißen, und andere, die Generationen überdauern. 20 Jahre, nachdem das Grundgesetz verabschiedet worden und in Kraft getreten ist, mehren sich die Stimmen, die eine Überprüfung verlangen, die Änderungen und Ergänzungen wichtiger Teile („zerschlissener" Stellen) fordern. Beispielsweise solle der Bund neue Kompetenzen erhalten zu Lasten der Länder, etwa auf dem Gebiet des Schulund Hochschulwesens, der Haushalts-und Finanzplanung; das Steueraufkommen solle zugunsten einer aufgabengerechten Verteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu geregelt werden; das Volk solle größere Rechte erhalten: etwa bei der Kandidatenaufstellung zu den Wahlen (im Stil der amerikanischen primaries), bei der Gesetzesinitiative und beim Sachentscheid, auch bei der Wahl des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers solle es direkt beteiligt werden. Man fordert eine Re-gierungsbzw. Kabinetts-, Parlaments-und Beamtenreform, eine Justizreform, eine verfassungsrechtlich verankerte Wahlrechts-reform. Die Stellung der Verbände solle in der Verfassung deutlicher geregelt werden, die liberalen Grundrechte sollten ausdrücklich durch soziale Grundrechte, etwa durch ein „Bürgerrecht auf Bildung" (R. Dahrendorf) erweitert werden u. v. a. Damit das Ganze nicht ein Flickteppich von Einzelreformen werde, gibt es den weitergehenden Vorschlag, einen Verfassungskonvent einzuberufen und das Grundgesetz einer Totalrevision zu unterwerfen. So wollen es prominente Mitglieder der FDP, so will es Theodor Eschenburg, so will es der CDU-Abgeordnete Dichgans.

Demgegenüber erklärte der Abgeordnete Schmitt-Vockenhausen (SPD) vor dem Deutschen Bundestag am 21. März dieses Jahres: „Ich muß doch einmal eine Lanze für das Grundgesetz des Jahres 1949 brechen. Mit diesem Grundgesetz hat das deutsche Volk eine Verfassung erhalten, an der man nicht ohne Grund herumexperimentieren soll. Es ist die beste und demokratischste Verfassung, die dieses Land je hatte. . . . Wir sollten uns in den Grundfragen der Verfassung nicht einem modischen Aktivismus anschließen. Die demokratische Ordnung unseres Staates, die wir uns mit dem Grundgesetz gegeben haben, sollte nicht durch wenig fundierte und verschwommene . Reformideen'in Frage gestellt werden."

Der Befürworter und Verteidiger unserer Verfassungsordnung hat etwas übertrieben: denn das Grundgesetz ist nicht mehr das des Jahres 1949, sondern es wurde immer wieder ergänzt, verändert und angepaßt. Und noch in dieser Legislaturperiode soll es durch ein 20. Änderungsgesetz novelliert werden. Man denke ferner daran, daß die laufende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Bestimmungen des Grundgesetzes interpretiert und konkretisiert, inzwischen mehr als 20 Bände füllt und daß auch der Gesetzgeber immer wieder materielles Verfassungsrecht geschaffen hat, etwa das Parteiengesetz vom 24. Juli 1967 oder das — freilich umstrittene — Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968.

Trotzdem ist es auch heute nicht abwegig, vom „Grundgesetz des Jahres 1949" zu sprechen; denn es trägt in seinen wesentlichen Zügen, in Aufbau und Gliederung, in seiner Sprache und im teilweise nachwirkenden Verständnis seiner Schöpfer die Spuren jener Zeit: am auffälligsten vielleicht in seiner vielberufenen „Vorläufigkeit", in seiner Selbsteinschätzung als Provisorium, die dazu geführt hat, daß es sich selbst den ehrenhaften und dauerhaften Namen einer „Verfassung" vorenthielt und schlicht „Grundgesetz" nannte.

Von diesem ursprünglichen Grundgesetz wollen wir ausgehen und die Kräfte suchen, aus denen es Gestalt gewann; aber nicht, weil wir in ihm das „eigentliche Grundgesetz" vermuteten, sondern weil wir den Ausgangspunkt jener Entwicklung fixieren wollen, die sich seither ereignet hat.

II. Zur Konzeption des Grundgesetzes von 1949

Man rechnet das Grundgesetz den „negativen Verfassungen" zu (J. C. Friedrich), weil es nicht aus einer positiven Begeisterung für eine schönere Zukunft, sondern aus dem negativen Abscheu vor einer schlimmen Vergangenheit entstand. Es ist mehr Reaktion als politischer Schöpfungsakt — und hierin ein genuines Produkt der Nachkriegszeit. Hans Buchheim charakterisiert einen markanten Zug dieser Epoche, wenn er feststellt, den Ausgebombten, den Vertriebenen und aus dem gewohnten Leben Gerissenen sei nicht nach Veränderung zumute gewesen, nicht danach, zu neuen Ufern vorzustoßen, sondern nach Wiederherstellung des normalen Lebens: „Jeder, der es erlebt hat, wird sich erinnern, daß das Wort , wieder'das Schlüsselwort der Nachkriegszeit war: vom Wiederaufbau bis zum ersten Konzert, das wieder stattfand. Es folgten wieder freie Wahlen, wieder normale Verkehrsverhältnisse, wieder Reisemöglichkeiten ins Ausland, wieder Mustermessen usw. Und da die nationalsozialistische Revolution so umfassend alles negiert hatte, stand alles, was vorher gewesen war, in gutem Licht und schien begehrenswert."

In diesem der Restauration förderlichen Klima richtete sich die Bundesrepublik ein. Ihre Verfassung war alles andere als ein Vehikel sozialer Revolution und war auch nicht auf lange Sicht berechnet. Der Gedanke einer zwanzigjährigen Dauer hätte die Väter des Grundgesetzes eher erschreckt; sie wollten nurmehr eine „Übergangszeit" überbrücken, die kurz zu halten ihr ausdrücklicher Wunsch und Wille war (vgl. Präambel des Grundgesetzes).

Während dieser Übergangszeit hatte das Grundgesetz die Aufgabe, eine den Deutschen zugestandene Teilordnung zu begründen, innerhalb eines noch zu erlassenden Besatzungsstatuts, mit dem die alliierten Oberbefehlshaber ihre übergeordneten („vorbehaltenen") Ansprüche und Rechte regeln wollten. Materien wie die Notstandsvorsorge oder deutsche Streitkräfte oder gar deren atomare -Ausrüstung hätten den damaligen politischen Horizont und den tatsächlichen Kompetenzenrahmen deutscher Stellen überschritten. Sie wurden deshalb ins Grundgesetz nur spärlich oder überhaupt nicht ausgenommen.

Der vorläufige Charakter des Grundgesetzes erklärt auch, warum in anderen Fragen, die einer Regelung durchaus fähig und bedürftig waren, von einer Festlegung abgesehen wurde: etwa in der Frage der „Wirtschaftsdemokratie" oder in der Frage der sozialen Grundrechte oder der Frage der „großen Lebensordnungen". Der Abgeordnete Heuss meinte dazu im Parlamentarischen Rat, es sei „leichtfertig" und „hoffärtig", in der gegenwärtigen „undurchsichtigen Situation" Aussagen über „sozialwirtschaftliche Strukturen der kommenden Zeit" zu versuchen. Und Carlo Schmid verteidigte die Beschränkung des Grundrechtskatalogs auf die individuellen Gewährleistungen damit, daß er erklärte: für die Normierung einer künftigen „Lebensform" und „Sozialordnung" bräuchten wir nicht nur das Votum der in Bonn anwesenden Delegierten, sondern auch „das Wort unserer Brüder m Osten". Freilich spielte auch der Gedanke eine Rolle, daß diese sozialpolitischen Fragen lie Debatten auf unabsehbare Zeit verschleppt rnd einen „großen Kompromiß" unmöglich jemacht hätten. So wurden diese und eine Reihe weiterer Fragen ausgeklammert und lern künftigen Bundesgesetzgeber überlassen.

Nicht überall legten sich die Abgeordneten des arlamentarischen Rates solche Beschränkung auf: das anfängliche Bemühen, nur ein Organisationsstatut zu erarbeiten, wurde von der Eigendynamik der Beratungen überrollt — das 3G wurde immer voluminöser und perfekter, ois es auf 146 Artikel angeschwollen war. Dabei wurde eine Tendenz spürbar, die deutschen Verfassungen seit dem 19. Jahrhundert eigen ist, nämlich: daß sie die gesellschaftlichen Interessen und Kräfte von Gewicht registrieren und nach Art eines Grundbuchs eintragen Bei der Weimarer Verfassung hatte man dies die „Verankerung von Interessen" genannt (O. Kirchheimer). Im Bonner Grund-gesetz kam es nicht zu einem ähnlich weitläufigen System von Verankerungen, da der Interessen-Pluralismus durch Verbote und Li-lenzen der Besatzungsmächte noch stark ein-geschränkt war — beispielsweise waren überregionale Flüchtlingsvereinigungen verboten, lie „belasteten Verbände" der Unternehmer and der Bauern aufgelöst. Einen Platz in der Verfassung sicherten sich dagegen die Kirchen, die Gewerkschaften und die unscheinbar, aber wirkungsvoll agierende Gruppe der Berufsbeamten und Richter

Die Interessenten, die am meisten zu verlieren hatten, dafür aber mächtige Fürsprecher besaßen, waren die deutschen Länderchefs. Selbst von der unmittelbaren Vertretung ihrer Wünsche ausgeschlossen, bedienten sie sich geschickt der alliierten Gouverneure, die ihrerseits das Sicherheitsverlangen ihrer Regierungen in der Rolle der pressure group deutscher Ministerpräsidenten befriedigen konnten. Das innerdeutsche Ringen zwischen Unitaristen and Föderalisten endete jedenfalls nur darum so glimpflich für die Föderalisten, weil die Alliierten zweimal zu ihren Gunsten intervenierten.

Am Ende kam es doch zum Ausgleich der Interessen, und das Grundgesetz wurde von allen maßgeblichen Gruppen der Gesellschaft und von allen großen Parteien angenommen. 53 Ja-Stimmen bei nur 12 Nein-Stimmen — das war am 8. Mai 1949 die Entscheidung im Parlamentarischen Rat. Der „große Kompromiß" hatte sich auf folgender Bahn entwickelt: Wiederanknüpfung an die ältere Verfassungstradition, insbesondere die Weimarer Reichsverfassung, bei ausgiebiger Korrektur ihrer Fehler und Schwächen und energischer Distanzierung gegenüber dem NS-Regime. Wieder-anknüpfung — Korrektur — Distanz: in diesem Dreischritt gewann das Grundgesetz seine Gestalt.

Doch schon zu Beginn der fünfziger Jahre entstanden neue Bedingungen: schrittweise Erweiterung des Spielraums deutscher Politik, mächtig ansteigende Wirtschaftskonjunktur und schließlich, bei unverrückbar festgehaltener Westorientierung und Integrationspolitik, die Rückgewinnung der vollen Souveränität. Unter diesen Bedingungen nahm das Grundgesetz — ganz abgesehen von den großen förmlichen Verfassungsergänzungen der Jahre 1956 (Wehrverfassung) und 1968 (Notstandsverfassung) — festere Züge an und wandelte sein Gesicht. Für die einen wandelte sich alles zum Schlimmen: Das Grundgesetz „an sich" war gut, aber die politische und rechtliche Wirklichkeit fiel von ihm ab. Für die anderen, die solche Wandlung betrieben hatten und sie gut und nützlich fanden, blieb das Grundgesetz nicht stehen, sondern wandelte sich mit — manchen freilich nicht rasch genug, und sie fanden das Grundgesetz schließlich „antiquiert"

Worauf es uns ankommt, wenn wir im folgenden einige dieser Entwicklungstendenzen andeuten, ist weder das Votum gegen die böse „Verfassungswirklichkeit", die revolutioniert werden müsse — denn angeblich könne erst dann das Grundgesetz „verwirklicht" werden —, noch ist es das Votum gegen ein „antiquiertes Grundgesetz", das eine Totalrevision brauche — denn angeblich könne erst dann die Wirklichkeit bewältigt und die Zukunft gemeistert werden —, sondern es ist der Versuch, den Verfassungswandel als jene Form der Veränderung zu sehen, die Verfassung und Wirklichkeit zugleich ergreift. Die Beispiele, an denen wir dies zeigen wollen, ist das Konzept des „Rechtsstaats", der „parlamentarischen Demokratie" und des „Bundesstaats".

III. Wandlungen des „Rechtsstaates"

Tragendes Gerüst der Bundesrepublik ist nach dem Willen des Verfassungsgebers ein System der Rechtserzeugung und der RechtsWahrung: der Rechtsstaat. Er hatte mit seinen Instrumenten der Gewaltenteilung, des Gesetzesvorbehalts der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert das Pathos des bürgerlichen Fortschritts in sich ausgenommen und wurde nach dem allgemeinen Niedergang der Rechtskultur im Nationalsozialismus zum Anker der neuen deutschen Staatlichkeit. Ja, man kann sagen, daß der Rechtsstaat, solange die Bundesrepublik noch kein genuines Selbstverständnis zu entwickeln genötigt war und sich darauf beschränken durfte, vor dem dunklen Hintergrund des Dritten Reiches und der Sowjetzone eine helle Kulisse zu bilden, daß der Rechtsstaat solange ihre politische und moralische Substanz war.

Im Vergleich zu den älteren Formen des Rechtsstaats brachte das Grundgesetz in drei Punkten eine Neuerung: es eröffnete den Rechtsweg gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt, die in die Rechte des einzelnen eingriffen, auch und gerade in seine Grundrechte (Art. 19 GG in Verbindung mit BVerfG-Gesetz § 90); es band die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht", also nicht nur an das, was formell gesetzlich ist (Art. 20. 3 GG); und es verpflichtet die Staatsgewalt, Rechtsverletzungen nicht nur zu unterlassen (Art. 1. 3 GG) oder nachträglich wiedergutzumachen (Art 19. 4), sondern bereits vorbeugend zu verhüten (Sozialstaatsklausel der Art. 20 und 28 GG). Mit diesen und anderen Regelungen sollte der formelle Rechtsstaat in vollem Umfang wiederhergestellt und zum materiellen und sozialen Rechtsstaat ergänzt und vervollkommnet werden.

Im Vordergrund stand also die Rechtsbindung des Staats und die Rechtssicherung des einzelnen. Das Erfordernis der Integration gesellschaftlicher Kräfte — etwa durch Formulierung bestimmter Solidaritätspflichten — und das Erfordernis optimaler Funktionstüchtigkeit staatlicher Organe sollten bewußt zurücktreten hinter Sicherheitsvorkehrungen gegen den Mißbrauch staatlicher Gewalt.

Einige der Probleme, die der so definierte Rechtsstaat in der Bundesrepublik antraf, die ihm durch das Grundgesetz mit auf den Weg gegeben waren und die ihm nachträglich durch die politische Entwicklung erwuchsen, sollen in Frageform angedeutet werden: — Wenn ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz wegen vorhandener Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit vom obersten Gericht kassiert werden konnte — bedeutete das nicht die Gefahr einer Lähmung? Und das zu einer Zeit, wo zur Bewältigung der Kriegsfolgen, zur Sicherung der Existenzen und zur Hilfe für den Neubeginn eine umfangreiche Leistungsverwaltung aufgebaut werden mußte und ein zugehöriges gesetzgeberisches Werk ungeahnten Ausmaßes erforderlich war? — Würde es gelingen, die Gesellschaft der Bundesrepublik, die durch das System des totalen nationalsozialistischen Staats hindurchgegangen war, an der Aufspürung und Verfolgung von Nazi-Verbrechern zu interessieren und die erforderlichen Prozesse zügig abzuwickeln? — Wäre der Richterstand den vielen neuen Aufgaben gewachsen? Hätte er die Köpfe, die im obersten Gericht die Verfassung auslegen und politischen Streitigkeiten schlichten könnten, ohne die Politik zu „justizialisieren" und ohne die Justiz zu „politisieren"? — Was bedeutete es für ein parlamentarisches Regierungssystem, wenn die klassische Lehre von der Gewaltenteilung verfassungsmäßig verankert wurde? Beziehungsweise: Wie mußte diese Lehre verstanden werden, wenn sie in einem parlamentarischen Regierungssystem einen Sinn haben sollte? — Was bedeutete es für den Abwehrcharakter von Grundrechten, wenn der Staat weniger Eingriffs-als Leistungsverwaltung übte? Welcher Gebrauch würde von ihrer Klagbarkeit gemacht, wenn die Grenzen der Grundrechte in der Verfassung nicht deutlich markiert waren? — Und was schließlich bedeutete es für die Bewältigung umgreifender, überregionaler, verschiedene Ressorts betreffende Aufgaben, wenn die zugehörigen Kompetenzen auf verschiedene Organe aufgeteilt sind und die Verfassung keine Möglichkeit vorsieht, diese Organe zu koordinieren?

Die Fragen ließen sich fortsetzen.

Sicher fällt bei einigen auf, daß sie vor den Stand der heutigen Problematik zurückgehen, daß sie also durch die politische und Verfassungswirklichkeit bereits beantwortet und „vom Tisch" sind — bei einigen steht die Antwort noch aus. [m Fall der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 ind 3 GG) dauert die Auseinandersetzung noch an, obwohl die Verfassungswirklichkeit das Problem bereits klar beantwortet hat. Die ältere Auffassung, es handle sich um die Dreiteilung Montesquieus, nämlich um die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, spielte deshalb eine so große Rolle, weil der Richterstand seine Autonomie durch diese Lehre besonders gesichert sah. Und noch heute wird Montesquieu innerhalb der Exekutive von den beamteten Staatssekretären zitiert, die in ihm eine letztes Bollwerk gegen die Kompetenzerweiterung der parlamentarischen Staatssekretäre sehen.

Indes: die Unabhängigkeit der Richter ist im Grundgesetz verbürgt, auch ohne daß Montesquieu zum Zeugen aufgerufen werden muß. Wie sollte aber Exekutive und Legislative streng geschieden sein, wo Regierung und Parlamentsmehrheit noch der gleichen Partei bzw. Parteienkoalition angehören und eine solche Identität vom parlamentarischen Regierungssystem geradezu gefordert ist? Die der Balance und Kontrolle dienenden Funktionen werden hier von anderen Mächten viel wirkungsvoller ausgeübt: von oppositionellen Parteien und Fraktionen, von der Presse, von den Ländern, von der Bundesbank und überhaupt von den organisierten Interessen der Gesellschaft.

Eines der Probleme, auf die die Antwort noch aussteht, ist die Bewährung des Rechtsstaats im Fall der NS-Prozesse. Wir müssen dabei weniger an die aktuelle Frage der Verjährung bzw. ihrer Aufhebung denken, als etwa daran, daß es zehn Jahre gedauert hat, bis die Ludwigsburger Koordinierungssstelle für die Sammlung belastenden Materials eingerichtet worden ist — zehn Jahre, nachdem die Auf-deckung der NS-Verbrechen und ihre Aburteilung durch deutsche Stellen möglich geworden war. Mit Recht sagt O.. Kirchheimer, daß die schleppende Behandlung dieses Problems durch die Verwaltung und Justiz und die Verhängung auffallend milder Strafen zwar nicht beweise, daß die Bundesrepublik kein Rechtsstaat sei, aber doch soviel beweise, daß die Verwirklichung des Rechtsstaates „heikel und mühevoll ist und daß eine bloße Aufzählung der verfügbaren Rechtsmittel und Gerichte (und man müßte heute ergänzen: der Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord) nicht genügt, um die Idee des Rechtsstaates plausibel und glaubwürdig zu machen"

Ebenfalls nicht vom Tisch ist auch das Problem eines zutreffenden Grundrechtsverständnisses — trotz einer nunmehr 17jährigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Rechtsbereich. Dies zeigt sich etwa an der Tendenz, die Grundrechte als schlechthin unantastbar zu verstehen, nicht etwa als begrenzbar und genau umgrenzt, was sie tatsächlich sind. Vielfach werden sie auch nicht im ganzen der Verfassungsordnung verstanden, sondern man versucht, sie gegen das Verfassungssystem auszuspielen. Man sagt etwa, dieses System sei nicht mehr das ursprüngliche, sondern ein jüngeres, verdorbenes, schlecht gewordenes. Man müsse es gegen seine Verderber in Schutz nehmen. Mit Wolfgang Abendroth zu sprechen: Das „Grundgesetz dieses Staatsfragments wurde dann dadurch, daß nach dem Deutschland-Vertrag und der Eingliederung in die Westeuropäische Union und in die NATO die Bundeswehr geschaffen wurde, umgewandelt in eine Verfassungsordnung eines selbständigen, souveränen Staates. Und das ist mit anderen Worten die Verfassungsordnung eines Staates, der möglicherweise in einen Krieg verwickelt werden kann. Das ist ein Problem, mit dem das ursprüngliche Grundgesetz nichts zu tun hatte und . . . auch nichts zu tun haben wollte"

Die seit der „Konsolidierungsphase" der Bundesrepublik eingetretenen Entwicklungen stellen — so sieht es die Gruppe um Abendroth, Kogon, H. Ridder u. a. — eine „Bedrohung des Grundrechtssystems" dar — insbesondere die Notstandsverfassung des Jahres 1968. Das Grundgesetz wird also fixiert auf den vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Ersten Abschnitt: die Grundrechte; alles Spätere, alles Weitere ist gleichgültig oder von Übel. Die so tabuisierten Grundrechte erhalten nun die Funktion von Fluchtburgen und Ausfallstellungen: Mit ihrer Hilfe soll die heutige Ordnung der Bundesrepublik liquidiert („verflüssigt") und in jene Unbestimmtheit der vierziger Jahre zurückgebracht werden, in der alle politischen und sozialen Möglichkeiten noch gleich weit entfernt zu liegen schienen. Man denke nur, daß im Jahr 1947 aus dem Schoß der CDU das Ahlener Wirtschaftsprogramm hervorgehen konnte!

Angesichts der Konfliktsituation in der heutigen demokratischen Öffentlichkeit gerät der Rechtsstaat in die wohl schwierigste Prüfung seit seiner Wiedererrichtung. Soweit er der öffentlichen Ordnung diene, stütze er, so ist die Behauptung, das herrschende System und müsse bekämpft werden — die Stoßrichtung der Antijustizkampagne geht denn auch gegen die sogenannte Klassenjustiz. Soweit der Rechtsstaat jedoch Mittel bereithält zur Abwehr öffentlicher Gewalt, bedient man sich ihrer ohne Scheu: denn auch so zwinge man das System zu einem Eigentor. (Etwa, wenn es — wie in München — gelingt, durch eine einstweilige Verfügung die vom Kultusministerium veranlaßte Schließung der Kunstakademie rückgängig zu machen.)

Eine Bereinigung der hinter all diesen Erscheinungen schwelenden Krise kann nur mit den Mitteln der Politik und durch eine gewaltige Anstrengung der Gesellschaft erfolgen. Die Gerichte wären überfordert, würde man sie — etwa im Hinblick auf die Ausschreitungen von Ostern letzten Jahres — zu Verteidigern der öffentlichen Ordnung bestellen. Mit Recht bemerkte W. Weber einmal, die Autorität des deutschen Richtertums sei schlicht und „nicht sehr robust". Es müsse im Schatten der politischen Daseinsbehauptung verbleiben und sei eine Gewalt, die sich an Dynamik und Stoßkraft mit den anderen Gewalten im Staat nicht messen könne

Diese im Jahr 1959 mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht geschriebene Bemerkung hat heute für den Bereich der Strafrechtspflege eine unerwartete Aktualität gewonnen. Die freiheitliche und demokratische Ordnung, die bisher von der dritten Gewalt kontrolliert und gesichert war (vgl. Verbot der SRP und KPD), muß wieder zu dem werden, was sie eigentlich ist: nicht Schutzobjekt, sondern schützende Bedingung dafür, daß die dritte Gewalt ihren Dienst am gemeinen Wohl in Unabhängigkeit und Gerechtigkeit üben kann. Diese Voraussetzungen herzustellen, ist aber nicht Sache der Gerichte, sondern Sache der politischen Kräfte dieses Landes — die Reform des Strafgesetzbuchs reicht nicht aus.

Ein letztes Problem soll noch genannt werden, das im Rechtsstaat erst später aufgetaucht ist:

die Angemessenheit rechtsstaatlicher Methoden und Instrumente für die „Planung", d. h.

für jene Strategie, die gesellschaftliche Prozesse in Richtung auf wissenschaftlich definierte künftige Möglichkeiten (possible futurs)

zu steuern sucht. Als im Jahr 1964 die Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer die Frage nach der Natur der staatlichen „Pläne" stellte — etwa des „Grünen Plans" oder des „Großen Hessenplans" —, ergab sich eine Verlegenheit: Ein Plan dieser Art war weder Gesetz noch Einzelverfügung, am ehesten etwas im Bereich des Ermessens — und so bestimmte man ihn als „Koordinierung von Ermessensakten" Indes: Planung entzieht sich der Eingliederung in das traditionelle Instrumentarium des Rechtsstaats, ihre hoheitliche Natur weicht der orientierenden und stimulierenden Aufgabe: der Plan ist ein strategisches Instrument, das gesellschaftliche und öffentliche Interessen koordinieren soll. Für die Erarbeitung des Plans treten an die Stelle der Mini-sterialbürokratie personell flexiblere Planungsstäbe, die nicht an hierarchische Ordnung, Ressortabgrenzungen und Kompetenzen-verteilung gebunden sind und die nach Beendigung ihres Projekts auseinandergehen.

Die rechtlichen Probleme, die sich aus dem Institut der „Planung" ergeben, sind noch keineswegs alle bekannt, geschweige zufrieden-stellend gelöst. Es scheint, als werde der Rechtsstaat im Zeichen der Planung eine Metamorphose erleben und als werde das Grundgesetz auf die Dauer nicht umhin kommen, den hier genannten neuen Erscheinungen eine flexible und praktikable Regelung zu geben

IV. Wandlungen der „parlamentarischen Demokratie"

In die rechtsstaatliche Struktur hat der Verfassungsgeber die demokratische Struktur hineingewoben. Die Demokratie des Bonner Grundgesetzes steht unter dem Richterspruch. Trotz Artikel 20, wo es heißt: „Alle Gewalt geht vom Volke aus", ist nicht das Volk der Souverän, sondern die Verfassung. Denn wichtige Artikel des Grundgesetzes dürfen nicht verändert, Freiheitsgarantien in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden (Art. 19 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG). Hinzu kommt, daß Vereinigungen und Parteien, die am demokratischen Prozeß teilnehmen wollen, auf die „freiheitlich-demokratische Ordnung" (Art. 21 Abs. 2 GG) verpflichtet sind und im Fall einer Überschreitung der höchstrichterlich gezogenen Linie mit einem Verbot zu rechnen haben.

Das Grundgesetz hat die Demokratie nicht nur unter das Recht gestellt und insoweit zur „streitbaren Demokratie" gemacht, sondern auch der direkten Ausübung durch das Volk entzogen. Im Unterschied zur Weimarer Verfassung gibt es keine direkten Präsidenten-wahlen mehr, kein Plebiszit (mit Ausnahme des Art. 29 GG). Die Stelle des Volkes wird von den Bundestagsabgeordneten eingenommen und an die Stelle freier Bürgerinitiativen — in der Art kommunaler freier Wählervereinigungen — sind die großen Parteien getreten. Man hat das die „Mediatisierung des Volkes" genannt (W. Weber), und man hat die Frage gestellt: „Was muß das für ein Mensch sein, dem man diese Menschenrechte zuspricht und dem man so wenig politische Urteilsreife zutraut?"

Nun, der Vorrang der Verfassung vor der Demokratie und der Vorrang der Stellvertreter vor dem Volk ist der Versuch der Väter des Grundgesetzes, aus Weimar die Lehren zu ziehen, es besser zu machen. Noch waren in ihnen die Bilder einer fanatisierten und aufgewühlten Masse lebendig, wie sie — am Ende der Weimarer Republik und unter dem Einfluß der NS-Propaganda — in Erscheinung trat. Und unmittelbar vor den Augen der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates stand die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die nach zwei Weltkriegen, zwei Inflationen und zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft nach wenig anderem als nach einer gesicherten privaten Existenz strebte. Es schien weder gerechtfertigt noch notwendig, diese Gesellschaft zu politischen Stellungnahmen außerhalb der Wahlen aufzurufen und unmittelbar am politischen Prozeß zu beteiligen.

Obwohl die Rufe nach plebiszitärer Demokratie inzwischen lauter geworden sind, gibt es noch immer wenig Anlaß, an der Entscheidung des GG zu rütteln. Nicht deshalb, weil die Gesellschaft es nicht verdient hätte, mehr Rechte zu bekommen, sondern weil sie gar nicht in der Lage wäre, diese Rechte angemessen auszuüben. Denn es hat sich inzwischen herausgestellt, daß sogar das Parlament von dem politischen Entscheidungsprozeß auf weiten Strecken überfordert ist.

Die für diese Entwicklung ursächlichen Tendenzen liegen nicht in der Politik selbst, sondern in der technisch-industriellen Entwicklung, in demographischen Faktoren und in der Unfähigkeit immer weiterer Bereiche der Gesellschaft, sich unter den gewandelten Bedingungen selbst zu behaupten. Der Staat sah sich zunehmend zu Interventionen, zur Lenkung und planenden Gestaltung genötigt — Staats-tätigkeiten, die wir bereits bei der Wandlung des Rechtsstaates beobachtet haben. Sie führten zu einem doppelten Ergebnis: Eine ungeheure Steigerung der exekutiven Tätigkeiten ließ den Staat zum „etat actis" werden (de Jouvenel); die Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft verloren ihre Distanz zum Staat und verschmolzen zunehmend mit ihm — an die Stelle der älteren Ordnungen des Staats und der Gesellschaft trat ein sie überwölbender „Funktionalismus" das Sozialstaatssystem.

Unter den Bedingungen des modernen Sozialstaatssystems sind im politischen Prozeß erhebliche Verwerfungen eingetreten, denn das Grundgesetz geht ja von der Gegenüberstellung einer staatlichen und einer gesellschaftlichen Sphäre aus und von der Vertretung der gesellschaftlichen Sphäre im Parlament. Es ist klar, daß heute im Gesetzgebungsverfahren denjenigen Organen das entscheidende Gewicht zukommen muß, die den politisch-gesellschaftlichen Integrationsprozeß leisten und zugleich den immer komplizierter werdenden Materien sachlich gewachsen sind; rechtliche Kompetenz allein genügt nicht mehr. Im Verhältnis von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung verzeichnete zunächst der Bundesrat einen vom Verfassungsgeber gar nicht gewollten oder erwarteten Bedeutungszuwachs: nicht aus politischen Gründen, sondern allein kraft seiner sachlichen Kompetenz in Verwaltungsfragen; bekanntlich ist er das Sprachrohr und die Sammelstelle der Landes-bürokratien. Des weiteren stieg die Bedeutung der Bundesregierung, die in ihren Ministerien über hinreichend Sachverstand verfügt, auch schwierige Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und die enge Kontakte mit den Spitzen der Interessenverbände hat, Reaktionen abtastet, Wünsche entgegennimmt und das Klima pflegt.

Die Bedeutung der Lobby liegt übrigens nicht zuletzt darin, daß sie Experten besitzt, die in besonders komplizierten Materien den Verwaltungen praktikable und treffsichere Formulierungshilfen geben können, ohne die ein Gesetz nur allzu leicht danebengriffe.

Der Leidtragende dieser Entwicklung ist das Parlament. Helmut Schmidt (SPD) hat die Lage der Abgeordneten einmal so umschrieben: Sie seien „völlig in der Hand der Ministerial-beamten. Wenn es sich um loyale Beamte handelt, dann ist die Sache gut. (Was gilt erst von interessierten Verbandsexperten!) Aber ich möchte doch einmal klarmachen, daß man heutzutage als sogenannte Gesetzgeber, als Legislative, in so hochgualifizierten und differenzierten Materien wie es hier (nämlich im Verkehrsausschuß) der Fall ist, einfach aufgeschmissen ist ohne die Verwaltung" (Bundestagsprotokoll vom 23. 5. 1955). Während die Gesetzgebungsgewalt ihrer Substanz nach mehr und mehr in die Verwaltung, z. T. in die Verbandsspitzen abwandert, bleibt der eigentlichen „Legislative" wenig mehr als das formale Legalisierungsrecht — dies freilich als ihr Monopol.

Eine weitere Auswirkung oder „Verwerfungserscheinung" des genannten Sozialstaatssystems ist der Funktionsverlust der Opposition. Weithin sichtbares Zeichen hierfür war das Godesberger Programm der SPD von 1959. Dieses Programm, mit dem die Partei scheinbar einen taktischen Zug auf dem Schachbrett des Wahlkampfes machte, bedeutete in Wirklichkeit ihre fällige Neueinstellung zu einem Staat, der sich ebenso an die Gesellschaft wie diese an ihn assimiliert hatte. In dieser Assimilation waren viele soziale Probleme lösbar geworden, ohne daß sich dabei die Lage der konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen verschlechterte. Das nahm den alten Streitpunkten die Schärfe. Es kam nicht mehr darauf an, ob bestimmte Probleme gelöst werden sollten, sondern in welcher Reihenfolge sie gelöst werden sollten. Willy Brandt zog daraus die Konsequenzen für die Neubestimmung der Opposition. Bis dahin versuchte sie — etwa noch unter Kurt Schumacher — eine Alternativ-Politik zur Regierung. Brandt erklärte nun: „In einer gesunden, sich fortentwickeln-den Demokratie ist es nichts Ungewöhnliches, sondern dort ist es das Normale, daß die Parteien auf einer Reihe von Gebieten ähnliche, sogar inhaltsgleiche Forderungen vertreten. Die Frage der Prioritäten, der Rangordnung der zu lösenden Aufgaben, der Methoden und Akzente, das wird immer mehr zum Inhalt der politischen Meinungsbildung." Mag man diese Entwicklung als „Verfall der Opposition" beklagen (O. Kirchheimer) oder sie als Ende der ideologischen Parteienpolitik begrüßen (bekanntlich hat die SPD 1959 ihren marxistischen Grundlagen abgeschworen), sicher ist, daß es sich um einen Vorgang handelt, der aufs engste mit dem System des Sozial-staats zusammenhängt. Opposition wird innerhalb des Systems mehr und mehr zur „Positionsvariante" (Forsthoff), zu dem, was Willy Brandt „Akzente" genannt hat. Es war kein weiter Schritt von anderen Akzenten in der Regierungspolitik zur Großen Koalition. In Bundestagswahlen geht es seither mehr um die Ablösung der Mannschaft als um die Ablösung ihres Programms. Minister Schiller hat zusätzlich für eine Ablösung des Vokabulars gesorgt: Seine „konzertierte Aktion" wurde von einem spöttischen Beobachter als Erhards „formierte Gesellschaft" erkannt — nämlich als deren „Vertonung"

Indessen: Das System verträgt kaum anderes als Positionsvarianten, denn es ist ungemein Verletzlich, durchrationalisiert und ausgeglilichen, und eine ruckartige Änderung des Kurses hätte unabsehbare Folgen. Um ein Beispiel zu geben: Man weiß heute, daß im Jahr 1975 eine doppelt so hohe Summe an Steuermitteln für Bildungsaufgaben vorhanden sein muß als im Jahr 1965, wenn die erforderlichen Reformen des Bildungssystems durchgeführt werden sollen. Gleichzeitig steigen in den siebziger Jahren aber auch die Leistungen für die Sozialversicherung steil an, da dann die geburten-starken Jahrgänge der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Arbeitsprozeß aus-scheiden. Zur gleichen Zeit muß die Wirtschaft längere Zeit warten, bis die junge Generation in die Produktion nachrückt, da eine Verlängerung der Schulpflicht bzw.der beruflichen Bildung wahrscheinlich ist.

So steht denn die Demokratie in der Bundesrepublik nicht nur unter der Verfassung und unter dem Repräsentativzwang, sie steht auch — was vom Grundgesetz keineswegs bedacht oder gar verhindert werden konnte — unter dem Zwang des modernen Sozialstaatssystems. Der Spielraum für die Parteien ist eng geworden, die Funktionen des Parlaments schwinden, und der Spielraum für den Bürger wird ebenfalls immer enger. Die Zukunft der Demokratie wird darin zu sehen sein, daß sich ein gewandeltes demokratisches Bewußtsein mit den genannten Grenzen abfindet und dahin gelangt, die politische Willensbildung auf den sich abzeichnenden wissenschaftlich-technologischen Entscheidungsrahmen zu verpflichten. Dann freilich werden die Bürger die Veränderungen des sozialen und wirtschaftlichen Systems nicht mehr zwanghaft erdulden, sondern werden sie zu einem wachsenden Teil mitgestalten können — man denke etwa an eine stärkere Versachlichung und Politisierung des Wahlkampfs, an verstärkte Einführung öffentlicher Hearings im Parlament, an wirtschaftliche Mitbestimmung u. a. Das Grundgesetz steht solchen Möglichkeiten offen, eine Ergänzung und Änderung braucht es hierfür nicht. Aber es braucht Reformen über Reformen: des Parlaments, der Parteien und Verbände, des Bildungswesens, der Kommuni kationsmittel — um nur einige zu nennen.

V. Wandlungen des „Bundesstaats"

Die dritte große Ordnungsfigur des Grundgesetzes neben Rechtsstaat und Demokratie ist der Bundesstaat. Das Verhältnis, in dem er zu den beiden anderen Ordnungen steht, ist nicht leicht zu bestimmen; denn es gibt eine Auffassung, wonach die kontinentale Demokratie keine Binnengliederungen (corps intermedi-airs) dulde, vielmehr zur republique une et indivisible hinführe. Nicht umsonst sei die Weimarer Republik unitarischer gewesen als das Kaiserreich. So wären denn der Bundesstaat und die Demokratie Gegensätze? Problematisch erscheint auch das Verhältnis von Bundesstaat und sozialem Rechtsstaat: Einerseits verstärkt der Bundesstaat die rechtsstaatliche Gewaltentrennung, indem er staatliche Gewalt nicht nur auf den Schultern des Zentralstaats, sondern auch auf den Schultern der Gliedstaaten deponiert; andererseits gefährdet er eben dadurch die Wahrung dessen, was Artikel 72 die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" nennt. Nicht umsonst forderten die um den Sozialstaat bemühten Kräfte (SPD, KPD, Gewerkschaften) bei den Beratungen des Grundgesetzes eine möglichst starke Bundes-gewalt.

Die hier aufgeworfenen Probleme waren mehreren Lösungen zugänglich; die Verfassungsentwicklung mußte die entscheidende Antwort geben.

Die Beziehungen der drei genannten Ordnungen waren abhängig von der eigentlich föderalistischen Beziehung im Bundesstaat: dem Verhältnis von Bund und Ländern. Das Grundgesetz sah eine Ordnung vor, die Elemente der Sonderung und der Verbindung kunstvoll mischte. Einerseits sollten Bund und Länder durch Querverbindungen in die Lage versetzt sein, bestimmte Staatsaufgaben durch ineinandergreifende Zusammenarbeit zu bewältigen; andererseits sollte sichergestellt sein, daß Bund, Länder und Gemeinden über je eigene Steuerquellen verfügten, damit sie die ihnen verfassungsmäßig zugewiesenen Aufgaben unabhängig voneinander erfüllen konnten. Dieser Punkt galt als die Probe auf das Exempel des Nachkriegsföderalismus: „Wenn man den deutschen Ländern die Finanzhoheit nimmt, entkleidet man sie in Wirklichkeit des Charakters von Staaten und macht sie zu abhängigen Kostgängern der Bundesverwaltung.". Neben eigenen Steuerquellen und-einer vom Bund unabhängigen Haushaltswirtschaft sollten auf die Länder alle Kompetenzen entfallen, die vom Grundgesetz nicht namentlich dem Bund zugewiesen wurden. Eine weitere Zügelung der Zentralgewalt war es, daß nur die Aufgaben des Artikels 73 in „ausschließlicher" Bundeszuständigkeit lagen; die viel größere Zahl der in Artikel 74 und 75 aufgeführten Aufgaben konnten vom Bund nur unter ganz bestimmten Bedingungen wahrgenommen werden —• sei es, um Landeszuständigkeiten zu kassieren („konkurrierende Gesetzgebung", Art. 74), sei es, um ihr einen Rahmen vorzuschreiben (Art. 75). Dieser abgestuften Bundes-zuständigkeit entsprach eine abgestufte und sehr mäßige Mitwirkungsbefugnis der Länder bei der Bundespolitik. Das föderative Organ „Bundesrat" war keineswegs eine echte zweite Kammer neben dem Bundestag: es hatte in der Regel nur ein aufschiebendes, vom Bundestag jederzeit überstimmbares Einspruchsrecht. Nur bei verfassungsändernden Gesetzen und Gesetzen, die in die Verwaltungshoheit der Länder eingriffen (Art. 84 und 85), bestand ein absolutes Einspruchsrecht.

Das anfängliche Bild, das der Bundesstaat des Grundgesetzes bot, war in kurzen Zügen dieses: eng begrenzte Zuständigkeiten des Bundes — geringe Mitwirkungsrechte der Länder an der Bundespolitik (schwacher Bundesrat). Das verknüpfende Element, die Verwaltung, lag in der Hand der Länder. Da der Bund auf die Landesverwaltungen angewiesen war, war vorauszusehen, daß die Entwicklung des Bund-Länder-Verhältnisses ihre Motorik aus diesem verknüpfenden Element heraus erhalten würde. Hier mußte sich entscheiden, ob der Bund durch die Länder lahmgelegt oder die Länder durch den Bund umgangen würden; hier mußte sich entscheiden, ob und in welcher Form das vom Grundgesetz vorausgesetzte System der Zusammenarbeit Wirklichkeit würde.

Für die Entwicklung des föderalistischen Verhältnisse war es nicht gleichgültig, was für Länder es waren, die vom Grundgesetz mit so erheblichen Zuständigkeiten ausgestattet wurden und die für sich in Anspruch nahmen, den Charakter von „Staaten" zu haben. Es waren in der Mehrzahl Neugründungen, Gebilde, die der Willkür der jeweiligen Besatzungsmächte ihr Dasein verdankten. Nur Bayern und die Hansestädte hatten eine historische Legitimation. Im Südwesten schien die Wiederherstellung der alten Länder Baden, Württemberg und Hohenzollern möglich, und die Altbadener stimmten mit Überzeugung in den Chor der bayerischen und hanseatischen Föderalisten ein. Im Jahr 1951, als der altbadischen Bewegung unter Führung des (süd-) ba-dischen Staatspräsidenten Wohleb der Abstimmungssieg durch ein listenreiches Auszähl-Verfahren vorenthalten wurde und das

Bundesland Baden-Württemberg entstand, schien es, als sei jetzt ein erster Schritt getan auf dem Weg der Neugliederung des Bundesgebietes nach rein rationalen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Tatsächlich fordert Artikel 29 die Konstituierung von Ländern, die nach wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit und sozialer Ausgeglichenheit gegliedert, groß und leistungsfähig wären. Aber weit gefehlt: der Status quo der Ländergrenzen blieb — mit Ausnahme der nach Artikel 118 durchgeführten, rechtlich zweifelhaften Neugliederung im Südwesten — bis heute unangetastet. Man hat daraus gefolgert, der Föderalismus der Bundesrepublik sei weitgehend „fiktiv" (W. Weber). Und wirklich ist es merkwürdig zu sehen, daß die Länder Kompetenzen erhielten, die auf Länder neuen Typs im Sinne des Art. 29 zugeschnitten waren, in Wirklichkeit aber den bestehenden und seither nicht veränderten Ländern zugute kamen, und daß diesen Ländern ein Maß an Staatlichkeit bestätigt wurde, das nur für historisch legitimierte Länder verständlich war.

Aus dieser Tatsache resultieren eine Reihe von Schwierigkeiten und Mißverständnissen, die den Bundesstaat des Grundgesetzes belasten mußten. Die Länder verteidigten beispielsweise ihre Ansprüche gegen den Bund großenteils mit den traditionellen föderalistischen Argumenten, obwohl sie entsprechende Traditionen gar nicht aufweisen konnten, die Argumentation also im leeren Raum schwebte. Ein rationales, funktionelles Bundesstaats-Verständnis aber hätte die Auflösung der Länder nahegelegt und ihre Neugliederung im Sinne des Artikels 29 erfordert.

Man hat sich durch ein von der Verfassung verordnetes Provisorium über die Klippe des Artikels 29 hinweggeholfen — durch ein Super-system des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs, der die mangelnde Entsprechung von Staatsaufgaben und Steuerquellen herstellen sollte: In den letzten Jahren wanderten jährlich 40 Milliarden Mark auf diese Weise zwischen Bund, Ländern und Gemeinden hin und her Dies war ein Provisorium, das 20 Jahre dauerte, und geeignet war, die Frage der Neugliederung der Länder zugunsten einer Reform der Finanzverfassung hintanzustellen. Im übrigen stellte sich mehr und mehr heraus, daß einige der den Ländern zugewiesenen Aufgaben selbst dann nicht auto-nom erfüllbar wären, wenn sie in der Hand der großen und leistungsfähigen Länder des Artikels 29 lägen.

Mittel und Wege, auf denen die Länder die aus ihrer regionalen Begrenztheit und Besonderheit resultierenden Schwächen ausgleichen würden, waren — vom Finanzausgleich abgesehen — im Grundgesetz nicht angegeben. Auch hier blieb es der Entwicklung vorbehalten, ob und in welcher Form selbständige Länder zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden würden. Am Anfang jedenfalls stand die eifersüchtige Wahrung der „staatlichen Eigen-persönlichkeit" der Länder im Vordergrund, und zwar sowohl gegenüber dem Bund und seinen zentralisierenden Tendenzen als auch — so im Südwesten oder im Norden — gegen Tendenzen zur Vereinigung historischer (Stadt-) Staaten in größeren neuen Bundesländern.

Funktion und Wesen der bundesstaatlichen Struktur der Bundesrepublik entwickelten und klärten sich im Zusammenhang mit jenen Tendenzen, die wir bei der Behandlung des Sozialstaatssystems ins Auge gefaßt haben. Es zeigte sich nämlich, daß der traditionalistische, konservative, in einer angestammten „Heimat" verwurzelte Föderalismus der ersten Nachkriegsjahre durch die großen Bevölkerungsschübe aus dem Osten und die hohe Mobilität und Fluktuation der Erwerbsbevölkerung ausgehöhlt wurde. Eines der Anzeichen war etwa das Ausscheiden der altföderalistischen Bayern-Partei aus dem Bundestag. Die gar nicht vorhandene oder schwindende historische Legitimationsbasis der Länder und ihrer Kompetenzen war konfrontiert mit einer gewaltigen Zunahme der Staatstätigkeiten des Bundes. Der Bund beschränkte sich nämlich nicht auf seine ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten, sondern ging mehr und mehr dazu über, die konkurrierende Gesetzgebung an sich zu ziehen. Die von vielen Bürgern lebhaft begrüßte Rechtfertigungsformel war: Verantwortung für die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" im Bundesgebiet. Die Zuständigkeiten der Länder wurden damit immer stärker beschnitten — ein sinnfälliges Exempel liefern das umfangreiche Bundesgesetzblatt und die schmalen Sammlungen der Landesgesetze.

Auch auf dem Gebiet der Verwaltung, das ein Kernstück der Länderaufgaben war und sein sollte, verschoben sich die Gewichte: Der Bund schuf durch eine extensive Auslegung des Artikels 87 eine wachsende Zahl von Oberverwaltungen und für die Verwendung von Haushaltsmitteln ein weites Feld „indirekter Verwaltungsführung" (A. Köttgen). Hinzu kam ein ständig zunehmender direkter Einfluß auf die Landesverwaltungen, da der Bund dazu überging, die Einrichtungen der Behörden und Verwaltungsverfahren zugleich mit dem Gesetzesinhalt zu regeln. Spätestens seit der Mitte der fünfziger Jahre war der Prozeß der Zentralisierung und Unitarisierung in vollem Gange.

Der Freiburger Staatsrechtler K. Hesse hat angesichts dieser Entwicklung dem Bundesstaat des Grundgesetzes eine neue Deutung zu geben versucht: „Der unitarische Bundesstaat" (1962). An die Stelle des älteren föderalistischen Prinzips sei das unitarische getreten: „Aus der Zuordnung einer Mehrzahl von Gliedstaaten in ihrer mannigfaltigen Individualität ist mehr und mehr eine Zuordnung gesamtstaatlicher Kräfte, namentlich der im engeren Sinne politischen und administrativen Kräfte geworden." „Beweisstück" der neuen Bundesstaatlichkeit war ihm die veränderte Funktion des Bundesrates: Er war aus einem Organ bedingter Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren des Bundes zu einem vollgültigen, dem Bundestag fast gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan geworden. Was die Länder auf ihrer Ebene verloren hatten, schienen sie auf der Ebene des Bundes wiederzugewinnen. Der Weg, der dazu führte, war folgender: Der Bund griff in die Verwaltungshoheit der Länder ein, mußte es sich jedoch gefallen lassen, daß — gemäß Artikel 84 — solche Eingriffe zustimmungspflichtig waren; der Bundesrat seinerseits dehnte seine Zustimmungsberechtigung auf den Gesetzesinhalt aus (nicht nur auf die formalen Verfahrens-und Organisationsfragen) und gewann so einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Gesetze des Bundes. Heute können zwei Drittel aller Gesetze, die den Bundesrat passieren, ohne dessen Zustimmung nicht verabschiedet werden. Freilich kommt hier weniger das „föderalistische" Element zu Wort als eine (gesamt-) staatliche Funktion: die Verwaltung, die nach dem Willen des Verfassungsgebers in der Hand der Länder verbleiben sollte.

Die Auswirkungen der Unitarisierung des „föderalistischen" Verhältnisses auf die Ordnungen des Rechtsstaats und der Demokratie waren nicht zu übersehen: Da die staatliche* Gewalt, soweit sie bei den Ländern lag, erst dort zu Geltung gelangte, wo sie auf die Ebene des Bundes hinaufgehoben werden konnte, nämlich im Bundesrat, reduzierte sich die horizontale und vertikale Gewaltenteilung auf die horizontale. Die gestiegene Bedeutung des Bundesrates ging, wenn man so will, zu Lasten der Länderparlamente: denn nicht sie, sondern die Landesregierungen instruieren und entsenden ja die Mitglieder des Bundes-rates. Der Funktionsverlust der Landtage dämpfte auch die günstigen demokratischen Auswirkungen des Bundesstaats, die im ganzen allerdings bestehenblieben: Minderheitenschutz (etwa der dänischen Minderheit im Landtag von Schleswig-Holstein), Vervielfältigung der Chancen für die Ausübung von Regierungsverantwortung (die SPD schlug während der langen Kanzlerschaft Adenauers in den Ländern ihre Regierungsquartiere auf; da sie dort Verantwortung trug, auch in den „roten Rathäusern" der Großstädte, kam es zu keiner Verdrossenheit am „CDU-Staat"!), Auflockerung der Gliederung von Parteien und Verbänden durch ein größeres Eigenleben und eine stärkere Eigenverantwortung der Landes-verbände (man denke nur an die Landesgruppe der CSU in der Bundespartei!) und schließlich die größere Ortsnähe parlamentarischer und Verwaltungsentscheidungen.

Begünstigt durch das Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 12 der Entscheidungen, S. 205 ff.) hat sich ein bestimmtes Verfahrenselement des Bundesstaats kräftig entwickelt und nimmt seit geraumer Zeit die Aufmerksamkeit der Politiker und Staatsrechtler in Anspruch: die Kooperation zwischen Bund und Ländern und die Selbstkoordinierung der Länder Die „unitarische" Phase der Bundesstaatsentwicklung scheint damit von einer neuen „kooperativen" abgelöst zu werden: staatliche Initiativen wandern nicht mehr so rasch auf die Ebene des Bundes, sondern entfalten sich mehr und mehr auf der „dritten Ebene" der Länder und des Gesamtstaats. Und Bund und Länder verkehren außer über Bundesorgane (Bundesrat) nun zunehmend auf dem Weg über Staatsverträge, Verwaltungs-und Regierungsabkommen. Der Bundesstaat beginnt sich damit wieder zu beleben. War die ratio essendi und Legitimation des „föderalistischen" Bundesstaats die Schonung historischer Gegebenheiten und traditionaler Ansprüche, war es bei der Phase des „unitarischen" Bundesstaats die Zuordnung „gesamtstaatlicher Kräfte", so ist es heute — in der sich abzeichnenden Phase des „kooperativen" Bundesstaats — die Zuordnung regionaler Kräfte, Interessen und Zuständigkeiten. Das Verfahrensmuster, das sich herauszubilden im Begriff ist, darf nicht am reibungslosen Durchgriff gemessen werden, der den Zentralstaat kennzeichnet; es verträgt sich auch nicht mit dem auf Wahrung und Verteidigung von Kompetenzen und Reservaten bedachten älteren Föderalismus; vielmehr handelt es sich um ein „System des Zusammenwirkens staatlicher Einheiten" (U. Scheuner), das den verfassungsmäßig verteilten Kompetenzen zwar Rechnung trägt, für die koordinierte und kooperative Form ihrer Ausübung aber neue, von der Verfassung keineswegs vorbedachte Wege geht.

Um ein Beispiel zu geben, das die ältere und jüngere Form der Zusammenarbeit zeigt und das die Gründe des Verfassungswandels erkennen läßt: Noch im Jahr 1948, ein Jahr vor Verabschiedung des Grundgesetzes, wurde die Kultusministerkonferenz (KMK) gegründet, die den Auftrag hat, in Fragen von überregionaler Bedeutung zwischen den deutschen Ländern eine gemeinsame Plattform herzustellen. Beschlüsse der KMK müssen einstimmig zustande kommen, binden aber nur den Kultusminister selbst. Falls Beschlüsse in die Zuständigkeit der Landtage fallen, müssen sie von den Landtagen noch einmal beraten und — evtl, leicht verändert — beschlossen werden. Sie können auch abgelehnt werden. Der Bund ist — da ohne Kompetenz im Schulwesen — an der Koordinierungsarbeit der KMK nicht beteiligt.

Seitdem die Schulpolitik aus der engen Beziehung zu konfessionellen Interessen heraustrat und als Teil der Infrastruktur einer industriellen Gesellschaft begriffen wurde (qualifizierte Berufe setzen höhere Schulbildung voraus, die Zahl der Lehrer hält sich stets in den Grenzen der Abiturientenzahlen usw.), trat der Bund auf den Plan: denn in seiner Verantwortung liegen Wirtschaftsund Sozialordnung. 1954 kam es zu der ersten Bund-Länder-Verein-barung in Kulturfragen, nämlich zum Abkommen über ein beratendes Expertengremium für Fragen der Schulreform („Deutscher Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen"). Es wurde 1965/66 durch den Deutschen Bildungsrat abgelöst, an dem immerhin eine aus Vertretern des Bundes und der Länder gebildete „Regierungskommission" beteiligt ist — freilich ohne Stimmrecht. (Hierin unterscheiden sich Bildungsrat und Wissenschaftsrat; in letzterem ist die — auch vom Bund beschickte — „Verwaltungskommission" stimmberechtigt, da es in Wissenschaftsfragen eine verfassungsmäßige Bundeskompetenz gibt.)

In jüngster Zeit — noch bevor der Bildungsrat seine Empfehlungen zu einem Strukturplan des deutschen Bildungswesens vorgelegt hat — wird nun der Ruf nach einer Bundeskompetenz für die Bildungsplanung, ja sogar nach einem Bundeskultusministerium laut. Diese Forderung übersieht ganz offenbar, daß bereits heute ein in Deutschland noch nie dagewesenes Maß an Gemeinsamkeiten in Schulfragen vorhanden ist, daß aber gleichzeitig Freiheit des Experiments und des Wettbewerbs herrscht, wie sie in einem zentralen Planungsstaat nie möglich wäre. Die Vielfalt der Initiativen begünstigt Schulversuche und Reform-programme, deren Ergebnisse von den übrigen Ländern mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. Man sollte die aufgelockerte Schulverwaltung nicht leichtfertig aufs Spiel setzen — freilich stünde einem verfassungsrechtlich verankerten Mitspracherecht des Bundes nichts im Wege. Denn auf die Weise könnte der Deutsche Bildungsrat die gleiche Organisationsform wie der Wissenschaftsrat erhalten, ja man könnte beide Gremien zu einem einheitlichen großen Rat zusammenlegen.

Nach einer 20jährigen Dauer ist das Provisorium des Finanzausgleichs jetzt im Begriff, einer Reform zu weichen. Die Haushaltsreform ist bereits zum Ende gekommen. Problematisch bleiben jedoch die vom Bund vorgeschlagenen „Gemeinschaftsaufgaben" (von denen vorläufig drei ins Grundgesetz eingehen dürften), da von ihnen eine erhebliche Beschränkung regionaler Entscheidungsfreiheit ausgehen wird.

Man hätte die Entwicklung und das Wesen des heutigen Bundesstaats sicher mißverstanden, wenn man annehmen wollte, Kooperation oder „Gemeinschaftsaufgabe" hieße: Hierarchisierung der Zuständigkeiten vom Bund als Entscheidungszentrum zu den Ländern als Erfüllungsgehilfen. Die Große Anfrage des Bundestagsabgeordneten Dr. Lenz und Genossen vom 27. Juni 1968 scheint in diese Richtung zu weisen. Sie will unter dem Stichwort „Weiterentwicklung des föderativen Systems" im Grunde eine Rückbildung zu einem „unitarischen System". Hier sollte klar erkannt werden, daß eine generelle Zentralisierung von Kompetenzen kein Ersatz ist für moderne und adäquate Wege, Sachprobleme befriedigend zu lösen. In seinem Rechtsgutachten zu der genannten Anfrage stellt P. Lerche lapidar fest: „Von den Sachproblemen sollte jedenfalls nicht auf die Kompetenzfragen -ausgewichen werden."

Die Zukunft des Bundesstaats im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung dürfte darin liegen, daß er — gegen das Mißverständnis des „reibungslosen Durchgriffs" gesichert und unabhängig von möglichen traditionalen und konservativen Gewährleistungen — als Verfahrensordnung begriffen wird, die die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organisation durch das Zusammenwirken regionaler Einheiten (der Kompetenz und der demokratischen Legitimation nach) gewährleistet und sichert; die Gebietsbezogenheit verstärkt ihre Effektivität durch größere Lebensnähe, ermöglicht Wettbewerb und Experiment und verhilft dazu, ein den widerstrebenden Interessen und der Komplexität der Sachprobleme angemessenes Verfahren für differenzierte Lösungen zu finden. Änderungen der Verfassung sind daher nur insoweit erforderlich, als die Verbindung staatlicher Instanzen zu wirkungsvollen kooperativen Einheiten verfassungsmäßig abgedeckt sein muß. Man sollte eher zuwenig als zuviel regeln, um Anpassungsvorgänge nicht zu behindern und das Grundgesetz nicht starr werden zu lassen. Um hier das rechte Maß zu finden, bedarf es der Einsicht in Wesen und Funktion der neuen Bundesstaatlichkeit, die sich in der „Verfassungswirklichkeit" entwickelt hat: Es ist nicht mehr der . unitarische Bundesstaat", von dem die Große Anfrage noch ausgeht, sondern es ist der hier skizzierte kooperative, genauer: polyzentrisch zusammenwirkende Bundesstaat.

VI. Bewährung durch Wandel

Welches Fazit läßt sich abschließend mit aller gebotenen Vorsicht aus unseren Betrachtungen ziehen? Ist das Grundgesetz antiquiert? Und wie steht es mit der Forderung nach Total-revision?

Im Bereich des Rechtsstaats wären es nur einige Regelungen, die ins Grundgesetz ausgenommen werden müßten, um die Metamorphose vom älteren Verwaltungsstaat zum jüngeren Planungsstaat vollends möglich zu machen; im übrigen konzentriert sich dieser Wandel auf einen Sektor staatlicher Tätigkeiten, er betrifft nicht den ganzen Rechtsstaat. Im Bereich der parlamentarischen Demokratie wurden Veränderungen und Verwerfungen sichtbar, denen auch eine förmliche Veränderung der Verfassung wenig anhaben könnte. Die bereits in Gang gekommene Veränderung des Bundesstaats in seine dritte, nämlich kooperative Phase, verlangt nur wenige Ergänzungen, etwa ein Mitspracherecht des Bundes in der Bildungsplanung, daneben freilich die erfolgreiche Beendigung der Finanzreform. Das Institut der Gemeinschaftsaufgaben sollte sehr sorgfältig geprüft werden, bevor es in größerem Umfang als in dem gegenwärtig sichtbaren ins Grundgesetz ausgenommen wird. Gewiß, wir haben uns bei unserer Anlayse auf ausgewählte Bereiche beschränkt. Aber es hat den Anschein, daß der Ruf nach Änderung des Grundgesetzes gern dann ertönt, wenn die Konkurrenz um die politische oder gesellschaftliche Macht nicht von der Stelle kommt und man kurzen Prozeß machen will. Welcher Irrtum! Ein Konsensus, der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zu finden ist, kann auch über Verfassungsänderungen nicht erschlichen werden. Es gäbe noch ein zweites Motiv: Man möchte die Effizienz und Funktionstauglichkeit der Verfassung im Blick auf die Aufgaben einer technischen Zukunft vergrößern. Auch hier sind Zweifel am Platz. Warum sollte das Grundgesetz so starr sein, daß es in 20 Jahren schon verbraucht ist — wo beispielsweise die Verfassung der USA bald 200 Jahre in Geltung steht und kein Mensch an ihre Abschaffung und Ersetzung denkt?

Die Bewährungsprobe, die das Grundgesetz in den 20 Jahren seines Bestehens abgelegt hat, besteht nicht zuletzt darin, daß trotz seiner vielberufenen „Rigidität" (H. Krüger, F. Klein) sich Gewicht und Funktion vieler seiner Regelungen gegenüber dem Stand von 1949 verändert haben, ohne daß die Identität verloren-gegangen wäre. Der Wandel läßt sich vergleichen mit dem Wandel der CDU Adenauers und Karl Arnolds zu der Kiesingers, mit dem Wandel der SPD Kurt Schumachers zu der Brandts und Schillers und mit dem Wandel der FDP ohne Pünktchen zu der mit Pünktchen. Damit verbindet sich kein Werturteil, sondern es ist die Feststellung einer Tatsache.

Eine Tatsache ist es auch, daß das Provisorium „Grundgesetz" zu einer dauerhaften und vollgültigen Verfassung geworden ist und daß kein Grund mehr besteht, die Selbstauslösung der Bundesrepublik und ihres Grundgesetzes im Namen einer illusorischen und gefährlichen Wiedervereinigungspolitik zu betreiben. Wenn der Abgeordnete Schmitt-Vockenhausen in seiner anfangs zitierten Rede recht hat, und ich neige dazu, ihm recht zu geben, daß das Grundgesetz die beste und demokratischste Verfassung ist, die dieses Land je hatte, dann sollten wir es in Einzelfragen zwar behutsam ändern, als ganzes jedoch nicht aufs Spiel setzen. Die Aufgaben, die in den nächsten Jahren zu lösen sind, können mit diesem Grundgesetz gelöst werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Buchheim, Aktuelle Krisenpunkte des deutschen Nationalbewußtseins, Mainz 1967, S. 52.

  2. Vgl. W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Tübingen 1968.

  3. Vgl. P. H. Merkt, Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1965.

  4. Vgl.den Titel eines Buches von P. Lindemann: Das antiquierte Grundgesetz (1968).

  5. O. Kirchheimer, über den Rechtsstaat, in: Politische Herrschaft, ed. suhrkamp, S. 140.

  6. In: Der totale Notstandsstaat, Frankfurt/M. 1965, S. 14.

  7. W. Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung, Göttingen 1957, S. 42.

  8. Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, Nr. 18, S. 122 ff.

  9. Zum rechtlichen Aspekt der Planung: J. H. Kaiser (ed.), Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, 4 Bände, Baden 1965 ff.

  10. M. Draht in: Faktoren der Machtbildung (Schriften des Inst. f. pol. Wiss., Bd. 2), 1952, S. 125.

  11. E. Forsthoff, Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, in: Merkur 241, S. 413.

  12. In: Plädoyer für die Zukunft, Frankfurt 1961, S. 20.

  13. P. Mikat, in: Die Zeit, 3. 3. 1967.

  14. Leo Wohleb, Rundfunkansprache im Südwest-funk am 24. Dezember 1948, abgedruckt in: Humanist und Politiker: Leo Wohleb (Gedenkschrift), ed. H. Maier und P. -L. Weinacht, Heidelberg 1969, S. 189.

  15. Vgl. Der Spiegel, 3. Februar 1969, S. 29.

  16. K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 32.

  17. Vgl.den Bericht von H Liebrecht über eine Tagung in Loccum (1967). Zur Rechtfertigung des Föderalismus heute und zu den Grenzen zulässiger Länderkooperation, DVBL, Jg. 84, 3, S. 97 ff.

  18. P. Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, ed. Bayerische Staatskanzlei, München 1968, S. 50.

Weitere Inhalte

Paul-Ludwig Weinacht, Dr. phil., Assess. d. L., geb. 28. Mai 1938 in Freiburg im Breisgau; von 1965 bis 1968 Geschäftsführer der Senatskommission für das Auslands-und Ausländerstudium an der Universität München, seit 1968 Assistent beim Deutschen Bildungsrat und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München, z. Z. Lehrauftrag an der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: „Staat", Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 2), Berlin 1968; Humanist und Politiker: Leo Wohleb (Gedenkschrift), hrsg. zusammen mit Hans Maier, Heidelberg 1969; „Staatsbürger" — Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, in: Der Staat, 1969/1, S. 41— 63.