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über die Unruhe in der jungen Generation | APuZ 22/1969 | bpb.de

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APuZ 22/1969 über die Unruhe in der jungen Generation Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit Deutschland, die Westmächte und das Kolonialproblem Ein Beitrag über Hitlers Außenpolitik vom Ende der Münchener Konferenz bis zum „Griff nach Prag"

über die Unruhe in der jungen Generation

Walter Jaide

Zuerst als Vortrag gehalten auf der Delegiertentagung des Landesjugendringes Nordrhein-Westfalen, Februar 1969.

Dem Hörerkreis entsprechend behandelt der Vortrag die Frage: Wird die von Teilen der Studenten und höheren Schüler seit 1965 vorgebrachte Opposition nur auf diese als eine schichtspezifische Bewegung beschränkt bleiben? Oder hat „die" Opposition — mit welchem Kontext und Stellenwert auch immer — bestimmte „Disharmonien“ unserer Gesellschaft zur Sprache gebracht, die viel weitere Kreise der jungen Menschen angehen, ob sie es bereits zur Kenntnis nehmen oder nicht?

Damit stellt sich die weitere Frage, ob und wann diese Kreise der Jugend das „tua res agitur" bewußt erfassen werden (oder bereits erfaßt haben), und wie sie ä la longue mit der Opposition der Studenten und Schüler bzw. mit bestimmten Gruppen unter ihnen aktiv kooperieren werden.

Porträt einer Generation

Jürgen Weber: Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit............................. S. 14 Klaus Hildebrand: Deutschland, die Westmächte und das Kolonialproblem ........................................ S. 23

Trotz der Angleichung in Kleidung und Gehaben unter den jungen Menschen heute darf man die Aufgliederung der Jugend auf unterschiedliche Sozialgruppen nicht außer acht lassen. Diese Unterschiede lassen sich in knapper Form folgendermaßen darstellen:

Die Zahl der 14— 20jährigen in der Bundesrepublik beträgt ca. 5, 3 Millionen, die Zahl der 21— 25jährigen etwa 3, 3 Millionen, die der älteren Menschen über 60 Jahre ca. 10, 8 Millionen. Ein Drittel eines Jahrgangs erreicht praktisch nicht das Ziel der acht-oder neunklassigen Volksschule. 6 °/o etwa besuchen Sonderschulen. Ein gutes Drittel durchläuft Volks-und Berufsschulen ohne Schwierigkeiten.

Von den männlichen Volksschulabsolventen nehmen etwa 8 °/o, von den weiblichen etwa 20 °/o nicht an einer vollständigen, im traditionellen Sinne als Lehre qualifizierten Berufsausbildung teil.

Ein knappes Drittel — im Zuge sehr langsamer Zunahme seit 1945 — absolviert heute auf direktem oder indirektem Wege eine weiterführende Schul-oder Fachschul-oder Hochschulausbildung (von ihren Vätern hat nur ein Viertel an einer weiterführenden Bildung teilnehmen können).

Je ein Drittel der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen wohnt in Dörfern und Flecken, in kleinen und mittleren Städten oder in Großstädten.

Beide Eltern leben noch, und zwar in ehelicher Gemeinschaft bei ca. 75 °/o.

Vater bzw. Mutter oder beide sind verstorben bei ca. 20 °/o. Die Eltern sind geschieden oder getrennt bei etwa 5 °/o.

Etwa 10% der heute 20jährigen sind schon selbst verheiratet. Fast alle wollen heiraten und zwei Kinder haben: Junge und Mädchen. Ein Fünftel der Jugendlichen ist ohne Geschwister ausgewachsen, ein Drittel als Zweit-kinder, der Rest mit mehreren Geschwistern zusammen, darunter ein Zehntel in kinderreichen Familien. 51% sind evangelisch, 44% katholisch, 5% nennen keine Konfession.

Die monatlichen Einkünfte schwanken je nach Ausbildung, Geschlecht und Lebensalter von 40 bis 500 DM und mehr; das wöchentliche Taschengeld, je nach dem, ob man die Füße noch unter Mutters Tisch setzen kann, von 5 bis 50 DM oder mehr.

Dementsprechend schwankt auch die wochen-tägliche Freizeit (nach Geschlecht und häus3 licher Mithilfe) zwischen zwei und acht Stunden. Die Jugendlichen rauchen täglich 0 bis 20 Zigaretten. Die meisten wünschen sich ein Auto — und sind einstweilen Radfahrer.

Aus ihrem Einkommen gehen jährlich ca. 12 Mrd. DM kaufend zu Markte. Mitglieder in Jugendorganisationen (zum kleinen Teil in mehreren) sind etwa 40 °/o. Die Jungen sind es häufiger als die Mädchen, die älteren häufiger in Verbänden als in Vereinen, von den Studenten etwa 25 %.

Von allen sind etwa 3— 4 °/o in politischen Gruppen und ebenso viele in karitativen; von den Studenten ebenso viele in schlagenden Verbindungen.

Etwa 60% sind weder in Verbänden noch in Vereinen organisiert.

An den Veranstaltungen des „Offenen Raumes" nehmen etwa 20 % teil.

An keinerlei Fortbildungskursen nehmen etwa 75 % teil (besonders selten die Volks-und Berufsschüler). Etwa 5 % leiden unter körperlichen Behinderungen oder Krankheiten.

Etwa 60 % stammen sozial aus der unteren Mittel-oder oberen Unterschicht, die übrigen aus höherem oder minderem sozialen Milieu.

Hinter diesen einfachen Zahlen stecken recht beachtliche Ungleichheiten für Lebensstart und Lebenschancen unserer jungen Menschen. Aus ihnen dürften auch beachtliche Unterschiede in ihrer Bewußtseinsbildung erwachsen, so daß diese Generation kein einheitliches, universelles Bild abgibt und sich nur schwer untereinander solidarisieren kann.

Dabei ist zu fragen, wie sich ein solches Bild vielfältiger Ungleichheiten ausnimmt gegenüber der Situation der Jugend in anderen Ländern — sei es in benachbarten Industrienationen, sei es in Ländern des Ostblocks oder in Entwicklungsländern. Ferner ist zu fragen, in welcher Bewegung sich diese Ungleichheiten befinden: in Richtung auf soziale und kulturelle Integration und Nivellierung oder auf Differenzierung und Desintegration.

Wegen dieser Vielfalt von Ungleichheiten gibt es nicht bzw. kann es gar nicht geben eine einhellige Jugendideologie (was die Jugend sein solle und könne) und auch keinen einheitlichen Jugendraum, in dem die Jugend auf ihr Leben wartet, sich vorbereitet und anpaßt oder auch opponiert und neue Konzeptionen entwickelt und einen universellen Generationskonflikt vom Zaune bricht.

Im Rahmen solcher nationalen und internationalen Ungleichheiten gibt es seit etwa 1965 in aller Welt, von Minoritäten ausgehen, eine Jugendopposition gegen — um es in einem Satz vorwegzunehmen — verkrustete ideologische, institutionelle, ökonomische Fassaden vor nicht eingehaltenen (Reform-) Versprechen der Erwachsenengesellschaft in West und Ost und Süd!

Es wäre nicht nötig gewesen, sich durch diese Jugendopposition überraschen zu lassen. Man hätte in der Bundesrepublik um die Jahre 1955/56 Indikatoren für teilweisen Einstellungswechsel zwischen der eigentlichen Nachkriegsgeneration, wie sie Helmut Schelsky geschildert hat, und einer in höherem Maße aufgeschlossenen, anteilnehmenden, kritischen Jugend zur Kenntnis nehmen und nach wiederum zehn Jahren — also etwa um 1965 — einen neuen Dominanzwechsel in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugend erwarten können, wenn man sich nicht so gern an die unglückseligen Universalklischees wie „angepaßt, entideologisiert, pragmatisch, privatistisch, indifferent" geklammert hätte, sondern die Mannigfalt tiefgehender Unterschiede der Anteilnahme und Meinungsbildung schon zu Beginn der sechziger Jahre samt ihren Konsequenzen in Rechnung gestellt hätte. „Man hätte" unter den (von Habermas 1961 und Jaide 1963) sogenannten Engagierten diejenigen genauer ins Auge fassen können, die bereits damals in ihren Organisationen überansprucht oder entmachtet oder enttäuscht oder aus ihnen hinausgeworfen oder sonst in ihren Reformideen frustriert wurden und in denen sich allmählich eine Extremisierung ihrer Ansichten und Widerstand gegen das bestehende System entwickelte.

Man hätte auch aus dem Munde der damaligen Skeptiker schon fast alle Themen und Positionen der heutigen Kritik und Opposition und die Stimmungsmusik tiefen Mißtrauens vernehmen und immerhin erwarten können, daß sie — bzw. einige von ihnen — aus ihrem damaligen Resignations-Schmollwinkel heraus eines Tages zu Aktion und Protest übergehen würden. Auch hätte man von den sogenannten Interessierten, die unter passivem Wohlverhalten so fair, objektiv, vielseitig zu diskutieren wußten, vermuten können, daß sie sich (bzw. ein Teil von ihnen) mit Protestaktionen und Protestparolen solidarisieren würden, wenn es nicht mehr anders ginge. Genügend Informationen, genügend politisch-moralische Resonanz dafür schien bei ihnen längst bereitzustehen.

Vielleicht hätte man sogar damals schon voraussehen können, daß ein Teil dieses Protestes auf den Bahnen einer rationalen, realistischen, kooperativen Reform verlaufen konnte, wogegen andere Gruppen die Bahn einer doktrinären und zugleich irrationalen, systemkontraformen Rebellion einschlagen würden — wobei nicht vergessen sei, daß derart verschiedene Ausprägungen der Jugendopposition zu einem großen Teil bewirkt oder provoziert wurden von süffisantem, indolentem, mediokrem Verhalten der Erwachsenengesellschaft gegenüber den Anfängen des Protestes und seinen sorgfältigen Dokumentationen und Diskussionen. Auch unter den heutigen Studenten solidarisiert sich (noch) ein größerer Teil (ca. 40 °/o) mit den mehr pragmatischen Reformen und ein kleinerer (ca. 5 °/o) mit den extremen Radikalen.

Bedingungen der Unruhe

Die Bedingungen der Unruhe in der jungen Generation möchte ich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen: 1. Die von der Erwachsenengeneration nicht eingehaltenen Versprechen, 2.der Mangel an Zukunftskonzeptionen, 3. die zu geringe Repräsentation der jungen Menschen in unserer Gesellschaft.

Unter den nicht eingehaltenen Versprechen verstehe ich: a) die Verwirklichung einer genuinen Demokratie, b) die Verwirklichung eines freiheitlichen, ideologischen Pluralismus, c) die Verwirklichung der sozialen Chancen-gleichheit für alle.

Mit der Einforderung dieser drei Ziele stellt die Opposition bzw.'ein Teil der Opposition — wenn ich sie recht verstehe — keine neuartigen, neu erfundenen, utopischen, extremen Programme auf, sondern beansprucht nur die Erfüllung von Zusagen, die von der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen u. a. im Grundgesetz proklamiert worden sind.

Sie nimmt darin nur die Verantwortlichen bei ihrem Wort und beklagt, daß derart gute und unstrittige Prinzipien und Leitideen unserer demokratischen Gesellschaft nicht hinreichend ernst genommen, ihre Verwirklichung verschleppt, verzögert oder verwässert worden ist. Sie kann damit auf lange Sicht auf Solidarisierung solcher Kreise der Jugend rechnen, die schon stets einen sehr wachen, kritischen Sinn für die reelle Entsprechung von Konzeption und Praxis, von Anspruch und Wirklichkeit, von Sonntagsrede und Lobby-Nahkampf entwickelt haben und die seit langem danach fragen, wie es mit der tatsächlichen Verwirklichung der in unserer Gesellschaft gültigen Konzeption bestellt ist: Wieweit leben wir wirklich in einer pluralistischen Gesellschaft oder in einer solchen, in der unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedlichem Machtpotential den Ton für alle und zum eigenen Vorteil anzugeben versuchen?

Wird das sicher schwierige Repräsentationsprinzip in den modernen westlichen Demokratien so ausgestaltet und praktiziert, wie es optimal denkbar ist, und tatsächlich so intensiv und unverdrossen und opferbereit gelebt, wie es dieser Programmsatz verlangen kann?

Ist wirklich die soziale Chancengleichheit für alle jungen Menschen — abgesehen von ihrer familiären und sozialen Herkunft — schon verwirklicht? Oder wie sehr wird an solchen Prinzipien vorbei oder sogar ihnen entgegen Politik gemacht?

Wir sollten es den jungen Menschen zugute halten, daß sie hierbei rigoros nach der Entsprechung von Prinzip und Wirklichkeit fragen oder allenfalls undurchführbare Programmpositionen zu revidieren bereit sind. Allerdings will auch dieser merkwürdige Spielraum zwischen Konzept und Realisierung, die Notwendigkeit zu Kompromissen, Abstrichen oder Revisionen, mit ihnen gemeinsam durchdacht und nicht einfach durch routinierte Pragmatik überspielt werden. Daß dabei auch die erfahrenen Experten der Sachbereiche und die Funktionäre der Macht zu Worte kommen müssen, ist selbstverständlich.

Im folgenden möchte ich mich als Beispiel auf den Punkt 1 c) beschränken:

Verwirklichung der sozialen Chancengleichheit Ohne Frage ist das ein großartiges Menschheitsanliegen: Jedes Kind, jeder junge Mensch solle ungehindert durch seine familiäre und soziale Herkunft die gleiche Chance zu seiner beruflichen und menschlichen Entfaltung haben. Und sicherlich ist dieses Ziel nicht formalistisch und mit der Goldwaage zu erreichen oder zu kontrollieren. Sicher steckt darin etwas von produktiver Utopie. Aber heute scheint in der Bundesrepublik gegenüber der formalen und juristischen Gleichstellung aller nicht hinreichend ihre reale und kulturelle Gleichstellung verwirklicht zu sein. Eine nachweisbare Ungleichheit bzw. Unvollkommenheit der Chancen betrifft dabei etwa 75 °/o der jungen Generation, die zumeist aus der unteren Mittelschicht und den Unterschichten stammen und zum größeren Teil nur eine Primarschulbildung genossen haben.

Bei einem Teil der Ungelernten degeneriert diese Ungleichheit zu einer sozialen und kulturellen Exmittierung.

Die Tatsachen, an denen dieses ablesbar ist, sind weithin bekannt, so daß ich mich hier auf eine stichwortartige Erinnerung beschränken darf: 1. Die ökonomische Situation der Elternfamilie (Einkommen, Wohnung, Wohngegend, Kulturgüter, Luxusgüter, Berufstätigkeit der Mütter) bildet nach wie vor ein Hindernis für die menschliche Entfaltung und insbesondere für Schul-und Berufslaufbahn des jungen Menschen. Die ökonomische Situation erschwert die Finanzierung von Schulbesuch und Berufsausbildung einschließlich der Sekundär-kosten wie Kleidung, Nachhilfeunterricht usw. sowie einer entsprechend förderlichen Freizeit.

Erschwerend kommt die Familiengröße hinzu — zwar für alle Schichten ähnlich, jedoch für die unteren stärker —, derzufolge die Kinder mit vielen Geschwistern objektiv eine geringere Bildungschance haben (insbesondere die Mädchen) als die übrigen. Die soziale Lage der Elternfamilie (Berufe von Vater, Mutter, Geschwistern, Sozialprestige, Wohngegend) bedingt die Bevorzugung eingeengter Verkehrskreise, erschwert die Kontakte zu Institutionen und Autoritäten (Schule, Lehrer, Betriebsleiter) und senkt das Anspruchsniveau der Schulziele und Ausbildungsziele für die eigenen Kinder und mindert die Dauerhaftigkeit solcher Zielsetzungen.

Familienprovinzialismus, Furcht vor Entfremdung der Kinder und „Sozialisierungsdefizit", wie sie aus der sozialen Lage dieser Eltern erwachsen, bedingen offenbar besondeis in der Bundesrepublik eine relativ geringe Mobilität und geringen Aufstiegswillen innerhalb der Sozialschichten — zumindest bis dato. Die sogenannte Sozialisationsschwäche des erfolglosen Unterschichtvaters 2) bedarf hier besonderer Erwähnung. 3. Das Kulturniveau (Schulbildung, Ausbildungsstand, Kulturteilhabe, Organisationszugehörigkeit) der Eltern begrenzt und erschwert ebenfalls die Entfaltung der Kinder: durch ihr Vorleben und ihre Erziehungspraktiken können sie den Kindern in geringerem Maße als Mittelschicht-und Oberschichteltern eine weltoffene, selbstsichere Flexibilität bzw. eine straffe, optimistische Kontinuität der Lebens-planung und -praxis vermitteln, die zu Erfolg und Aufstieg sowie zu einer allseitigen Entfaltung in unserer heutigen Gesellschaft notwendig sind.

Wegen ihrer eigenen geringen Anteilnahme an der Kultur und dem öffentlichen Leben, ihrer geringen Beziehung zum Buch, zur Kunst, zur Politik, zur Natur usw. können sie den Kindern weniger positive Impulse zur Freizeit-und Lebensgestaltung vermitteln. Sie können ihnen beim Übergang auf weiterführende Schulen oder höhere Berufsausbildungswege auch wenig direkt helfen (Schularbeiten) oder eigene Lern-und Leistungsinteressen ihren Kindern erziehend vermitteln. 4. Ein wesentliches Hindernis ist offenbar auch die Sprache, das heißt der Sprachstil, der unterschiedlich in den verschiedenen Sozial-schichten und ihren Familien anzutreffen ist. Das Unterschichtenkind in unserer Gesellschaft hat allein durch den ihm vertrauten Sprach-brauch seiner Eltern erhöhte Schwierigkeiten bereits in der Volksschule, erst recht auf weiterführenden, anspruchsvolleren Schul-und Ausbildungswegen.

Alle diese hier stichwortartig erwähnten Lebensbehinderungen sind offenbar als Bedingungen für eine sehr ungleiche, „ungerechte" Besetzung der verschiedenen Schul-und Berufslaufbahnen durch die verschiedenen sozialen Schichten anzusehen (relativer Schulbesuch). Es werden heute immer noch Kinder mit offenbar hinreichender Begabung auch für weiterführende Schulen dennoch durch ihre Eltern aus den erwähnten Gründen nicht auf diese geschickt, womit die Kinder wesentliches an schulischer, beruflicher und persönlicher Entfaltungsmöglichkeit einbüßen, ohne sich dagegen wehren zu können.

Sicherlich müßte man alle diese Bedingungen oder Bedingungsbereiche im einzelnen sehr viel genauer analysieren, als das bislang gelungen ist. Man müßte auch sehr viel genauer ihr unterschiedliches Gewicht und die ablesbaren Entwicklungstrends ermessen können, und man müßte auch mehr darüber wissen, wie es dennoch einem Teil dieser jungen Menschen gelingt, die Hindernisse ihrer Herkunft abzuwerfen.

Ferner sei keineswegs geleugnet — selbst wenn das im Augenblick nicht modern ist und als Psychologismus abgetan wird —, daß auch sehr solide moderne Untersucher den Zusammenhang zwischen der Befähigung der Kinder und der Befähigung der Eltern festgestellt und im Sinne von Vererbung interpretiert haben. Und man würde alles, was wir sonst über Vererbung z. B. auch im Tierreich wissen, über den Haufen werfen oder aus ideologischer Voreingenommenheit unter den Tisch wischen, wenn man nicht auch Lebensbehinderung durch Vererbung in Ansatz bringen würde. Der Zusammenhang, der auf Giund vieler Untersuchungen zwischen Intelligenzquotient und sozialer Herkunft besteht, will gerechter Weise zu einem Teil als biogen und zum anderen als soziogen veranschlagt werden. Das würde das Ziel der Chancengleichheit keineswegs außer Kraft setzen und die Bemühungen um seine Realisierung keineswegs lähmen, sondern höchstens in eine genauere Konfrontierung mit allen möglichen Faktoren der Wirklichkeit bringen, unter denen man eben auch den Beitrag der Vererbung nicht völlig übersehen kann.

Das gilt übrigens nicht nur für die Intelligenz, sondern auch für andere wichtige Persönlichkeitseigenschaften wie psychophysischer Belastbarkeit, Konditionierungsfähigkeit u. a., die ebenfalls mit Schul-und Berufserfolg in unserer Gesellschaft Zusammenhängen.

Und schließlich sollte man nicht außer acht lassen, daß das Individuum vermutlich auch einen gewissen Spielraum spontaner Initiative und eigenen Manövrierens besitzt, mit dessen Hilfe es zu einem gewissen Teil Schmied seines Schicksals werden kann und nicht nur Geschöpf seiner Lebensumstände in seinem sozialen System bleiben muß (z. B. ungünstige Familien-und Bildungsbedingungen durch gute Vitalität und hohe Intelligenz und optimistische Kontaktfähigkeit ausgleichen kann).

Es wäre jedenfalls ideologische Kurzsichtigkeit, wenn man solche Möglichkeiten von vornherein ausschließen würde.

Aber auch diesem Prinzip individueller Spontaneität gegenüber muß man gerechterweise in Anschlag bringen, daß ein solcher Entfaltungs-, Auswahl-, Manövrier-und Kompensationsspielraum für Kinder und Jugendliche von Gruppe zu Gruppe und Individuum zu Individuum sehr verschieden groß ist:

So ließe sich gleichsam am oberen Ende ein relativ weiter Freiheitsspielraum — trotz ungünstiger Sozialverhältnisse — für solche Individuen denken, denen eine gute Vitalität, hohe Intelligenz, Persönlichkeitszüge wie beweglich, ausgreifend, unternehmungslustig, ausdauernd zu eigen sind und die unter dem Einfluß stimulierender Leitideen mobilisiert werden.

Und es ließe sich am anderen Pol ein sehr enger und kaum noch zu erkennender Manövrierspielraum für solche jungen Menschen denken, die über geringe Spannkraft, ungenügende Gesundheit, mangelhafte Intelligenz verfügen und Persönlichkeitsmerkmale zu eigen haben wie labil, reizbar, unsicher, verkrochen, unausgeglichen, unbeständig, intolerant, und die keinerlei Berührung durch Gedanken und Ideen erfahren, die einen jungen Menschen aufwecken und vorantreiben könnten. Kurz: Wie man auch das Bedingungsgefüge sozialer Chancenungleichheit wissenschaftlich errechnen und klären mag, das Menschenrecht der sozialen Chancengleichheit und Gerechtigkeit ist für die jungen Menschen unserer Gesellschaft noch nicht hinreichend realisiert und der vielbeschrieene Freiheitsspielraum In ihrem Leben ist sehr ungleich weit oder eng. Das unsagbar mannigfache Gewebe sozialer Behinderungen und Benachteiligungen wird wohl immer noch — selbst im Zuge allmählicher Reformbemühungen — unterschätzt. Und die Gefahr ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß solche Ungleichheiten fortbestehen oder sich sogar noch vertiefen im Zuge der Spezialisierung und Segmentierung gesellschaftlicher Aufgaben und der damit verbundenen Qualifikations-und Selektionsmechanismen. Deshalb bedarf es eines großen, entschiedenen, beschleunigten Aufwandes an Ideen, Reformen und Finanzprioritäten und auch der Bereitwilligkeit der bislang Privilegierten, um das Versprechen des Grundgesetzes zu erfüllen. Wir sollten es der Opposition innerhalb der jungen Generation hoch anrechnen, daß sie uns in dieser Frage ans Portepee gefaßt hat und nötigen will, Verhältnisse zu schaffen und Hilfen zu geben, so daß wir allen Kindern unserer Staatsgesellschaft ohne Scham ins Auge blicken können.

Um diesen Gedanken ein wenig in dichterischer Überhöhung mit einem Wort von Thomas Wulfe abzuschließen: „Jedem seine Chance, jedem gleich welcher Herkunft seine strahlende goldene Chance. Jedem das Recht zu leben, zu arbeiten, er selbst zu werden, was er Kraft seines Menschentums und seines Weitblickes zu werden vermag."

Wissen wir eigentlich, was es bedeutet, als junger Mensch heute durch die erfahrene Bildung und Ausbildung ausgeschlossen zu werden von Lebensweite, Weltoffenheit, Zukunftswissen — und eingeschlossen zu bleiben in einer Kaste derer, die geistig ja doch „nicht mitkommen"?!

„Konservativismus" der Unterschichten?

Ich habe dieses Thema so ausdrücklich — wenn auch im gebotenen Rahmen knapp und wahrscheinlich nicht ohne Gelegenheit zu Mißverständnissen — behandelt, um klarzumachen, daß zwar Schranken zwischen den Lebenswegen junger Menschen niedergelegt, daß diese Wege jedoch noch nicht auf gleiches Niveau gehoben worden sind. Damit möchte ich der Hauptfrage zusteuern:

Wird der Protest von seifen eines Teiles der Studenten und Schüler auf diese ihre Schicht und deren Lebensprobleme beschränkt bleiben (Scheuch u. a.) — als ein Stück ideologischer Generationenkonflikt, in dem die Söhne und Töchter — übersättigt, enttäuscht, ungerecht — gegen ihre Eltern zu Felde ziehen? Wird er sich darin totlaufen und von den übrigen Schichten zurückgewiesen werden?

Oder sind die Vorkämpfer des Protestes zu einem Teil doch die (surrealistischen) Schrittmacher für Opposition und Reformwillen viel weiterer Kreise der Jugend bzw.der jungen Erwachsenen, ja der Erwachsenengeneration?

Wenn man die Alternative noch mehr zuschärft, kann man fragen: Lebt dieser Protest aus der Angst um soziale Gefährdung und Abstieg von Teilen der studentischen Jugend (des gebildeten Bürgertums), aus einer verängstigten Defensive, die umschlägt in Oligarchen Terror, elitäre Intoleranz und orthodoxen Doktrinarismus (linker Faschismus [Habermas], Fach-idioten des Protests [Dahrendorf]) und ihre Wurzeln hat in der Fehlplanung ihrer Studien-und Berufspläne und der zwangsläufigen Entleerung und Entmachtung der angestrebten Berufspositionen? Daher der Zug zum radikalen Umsturz, zum Alles-oder-Nichts im Alleingang, zu längst überholten Global-(Vor-) Urteilen über die Schwierigkeiten unserer Gesellschaft, zu einer monologischen Sektensprache — was fraglos auf Gegenwehr der übrigen Gesellschaft stoßen muß?

Oder sind — im Gegenteil — die protestierenden Studenten doch die Wortführer für einen objektiven, die Gesamtgesellschaft betreffenden Sachzwang zur Veränderung von Bildung, Ausbildung und Demokratie? Machen sie fraglose Mängel bewußt — wie ich einen davon angedeutet habe —, an deren Beseitigung gearbeitet werden muß, wie und mit wem immer das schnellstens möglich und fruchtbar ist?

Es würde für die zweite dieser Alternativen sprechen, wenn der Protest im Zuge von Hochschul-und Bildungsreform entschieden das Problem der sozialen Chancengleichheit anpackte — freilich in rationaler, praktikabler, kooperativer Weise — und wenn die realiter darin bislang Benachteiligten oder Unterprivilegierten zum Bewußtsein ihrer eigenen Lage, ihrer eigenen Interessen und ihrer Aufgaben kommen und sich mit den Wortführern solidarisieren würden.

Gerade das aber ist zur Zeit (noch) sehr problematisch — allerdings aufgrund von Bedingungen, die man nicht einfach den Protestierenden und ihrem Stil aufs Konto setzen darf:

Die werktätige Jugend zeigt in ihrer Meinungsbildung nach den vorliegenden Befragungen eher ein merkwürdig konservatives, kleinbürgerliches Bild als ein progressives oder gar revolutionäres. Wenn man z. B. die jüngste Untersuchung von Wildenmann heranzieht, so kann man nicht in Abrede stellen, daß die Anteilnahme der „Jugend allgemein" an politischen Fragen gegenüber den Studenten erheblich geringer, vorsichtiger, inaktiver ist. Die Meinungen auf seifen der „Jugend allgemein" (wiederum im Gegensatz zu den Studenten) zeigen häufiger Züge von Undifferenziertheit, Konservativismus, Intoleranz, Nationalismus, ja Rassismus, Autokratismus, eines gewissen Optimismus im Inneren und Pessimismus gegenüber dem Ausland sowie auch einen Hang zu einer historisierenden reaktionären Kontinuität unter Einschluß selbst der Nazizeit, während bei denselben Fragen die Studenten sehr viel differenzierter und dabei viel weniger autokratisch oder doktrinär oder national votieren.

Die werktätige Jugend — nach Ausweis dieser und ähnlicher Befragungen — scheint mehr zu moralisieren als zu politisieren und dabei gewissen politischen Schnulzen auf den Leim zu gehen wie: Ruhe und Ordnung — Einigkeit und Stärke — Stabilität auf dem Status quo. Sie denkt dabei offenbar in einem politischen Harmoniemodell, während ein viel größerer Teil der Studenten im Rahmen eines Konflikt-modells politisch zu denken begonnen hat.

Natürlich könnte man gegen diese Feststellungen einwenden, daß die dankenswerte Mitteilung einer erfreulich rasch erfolgten Auswertung manches offen läßt und wahrscheinlich erst demnächst zur weiteren Interpretation der Daten bedingungsanalytische Fragen klären wird:

Was alles steht in Zusammenhang mit einer derart undifferenzierten, passiven, traditionellen Meinungsbildung? Bildungsmängel in allen ihren Varianten — frühe und starke Absorbierung durch Berufsausbildung und Geld-erwerb (und dadurch bedingt zu wenig Kontakte innerhalb der eigenen Altersklasse und zu wenig Abstand von den Erwachsenen) —, Scheu vor der Überkomplizierung und unglaubwürdigen Fraktionierung politischer Informationen, die zum Teil nur der Machterhaltung dienen — mangelhaftes Interesse insbesondere von Seiten der Mädchen in diesen Schichten —, und eine aus Jahrhunderten her wirksame politische Entmutigung und Entfremdung, Resignation und Angst, auf Grund derer man eben nicht mutig und problembewußt und aktuell ist (und weshalb die Jugendlichen dieser Schichten eventuell einer anderen Untersuchungsmethodik bedürfen, wonach sie sich jedoch noch schwieriger mit den übrigen vergleichen ließen).

Andererseits mag die erfragte Meinungskonstellation auch Zusammenhängen mit einer gewissen Saturiertheit des sozialen Mittel-und Unterbaus unserer Gesellschaft, genauer gesagt, einer Mischung von ökonomischer Saturiertheit und geistiger Unzufriedenheit und Unsicherheit, die eher in bürgerliche oder faschistoide Meinungen ausufert und weniger in sozialistische, wofür im übrigen ja auch Walter Ulbricht sorgt. Infolge jahrelanger stummer Indifferenz oder weicher Parteinahme fühlen sich viele (vielleicht die Hälfte) der jungen Menschen plötzlich überstrapaziert durch harte Kontroversen und Aktionen.

Kurzum: Wenn die werktätige Jugend heute noch nicht in nennenswertem Maße spürbar mit den protestierenden Gruppen der Studenten solidarisiert, so liegt das m. E. weniger am Stil der studentischen Opposition oder an einer etwa auf sie beschränkten Problematik ihrer Anliegen, sondern eher an einer sozial-geschichtlich bedingten Unterschiedlichkeit der Anteilnahme und Meinungsbildung, die im Zuge einer sozialen und kulturellen Polarisation oder gar Desintegration die verschiedenen Teile der gegenwärtigen Jugend bislang noch wenig zueinander finden ließ.

Wenn deshalb einige Studentengruppen meinen, sie könnten nicht auf die Bewußtseinserneuerung der übrigen warten, sondern müßten allein zur Aktion schreiten, so sollten sie den Unwillen oder die Gegenwirkung, die sie damit hervorrufen, nicht unterschätzen.

Die hier besonders angesprochenen Jugendfunktionäre können es aus ihrem täglichen Umgang mit der werktätigen Jugend wahrscheinlich besser wissen, inwiefern ich mit meiner These Recht habe, wieweit — zwar nicht die 10— 20 % jugendlichen Ungelernten, aber doch — jene übrigen ca. 70 % „Nichtstudenten" (d. h. Abiturienten ohne Studium, Fachschüler, Berufsfachschüler, Praktikanten mit Realschulabschluß, Volksschulabsolventen mit Facharbeiterbrief oder Gesellenprüfung, also der Nachwuchs für die vielfältig und aussichtsreich gestuften und gefächerten mittelqualifizierten Berufe, zu denen der Anmarsch zum Teil recht schwierig und erschwert ist) zur Opposition übergehen werden. Ich möchte vermuten, daß auch für jene die Frage der sozialen und kulturellen Chancenungleichheit soviel sachliches Problemgewicht und soviel Zeitdruck in sich hat, daß sie zum Brückenschlag zwischen den kritischen und den bislang noch unkritischen Teilen der Jugend führen kann, wenn beide Teile diesen Brückenschlag wollen und vernünftig praktizieren und wenn die Jugendverbände dabei ihre Aufgabe erfüllen! Vielleicht merken dann die Studenten, wo den Werktätigen wirklich der Schuh drückt, und vielleicht merken die Werktätigen, wieviel vom Leben ihnen vorenthalten wird.

Selbstverständlich gilt dies (objektiver Rückstand der Sachbelange) auch für die Fragen des D& mokratiedefizits und des unechten Pluralismus. Auch davon werden die werktätigen jungen Erwachsenen genauso betroffen wie die Studenten — es dürfte ihnen nur weniger unmittelbar zum Bewußtsein kommen. Auch die Universitätsreform, die Beispiel für viele Mängel und Anlaß des Protestes war, liegt den jungen Menschen zu fern, wenn sie sie auch zum Teil (wie ca. ein Drittel der Gesamtbevölkerung) für wünschenswert halten. Man könnte allerdings auch — kontrovers zum Voranstehenden — fragen: ob sich eine Annäherung zwischen Studenten und werktätiger Jugend auf einer ganz anderen Bahn vollzieht, nämlich der einer gemeinsam empfundenen, wenn auch ungleich ausgesprochenen, kritischen Distanz gegenüber dem Erwachsenen-dasein, der Erwachsenengesellschaft, der industriellen Leistungsgesellschaft überhaupt. Eine solche Entfremdung jedoch — falls sie bestünde — würde die Bildungsreform gründlich umfunktionieren, und zwar vom Ziel der sozialen Gerechtigkeit und Freiheit in einer Leistungsgesellschaft weg und hin zum Ziel einer humanitären Idylle oder einer sozioökonomischen Balkanisierung.

Zukunftsperspektiven

Solche Probleme — wie die der sozialen Chancengleichheit und der Solidarisierung innerhalb der jungen Generation — lassen sich nicht ohne Vorausschau in die Zukunft erörtern oder lösen, das heißt nicht ohne Wissenschaft von der Zukunft, die Trends aufzeigt und fortschreibt und damit vor Gefahren warnen oder Möglichkeiten fruchtbar machen kann, und darüber hinaus auch Programme zur Veränderung und Erneuerung unseres Lebens entwerfen, durchkalkulieren und zur Wahl und Entscheidung stellen kann — evtl, im Zusammenhang einer konzeptionsreichen, wertbestimmten Zukunftsphilosophie.

Dergleichen Zukunftswissenschaft ist in der Bundesrepublik zwar in verschiedenen Instituten und Vereinigungen in Arbeit, jedoch im ganzen relativ verzögert und zersplittert und in vorerst kleinem Maßstab und ohne großen Einfluß.

Und sie ist noch viel weniger in das Bewußtsein der Bevölkerung — auch der Jugend, selbst der Studenten — eingedrungen und beeinflußt kaum ihre politische Anteilnahme, Information und Meinungsbildung, obwohl sie zu der so dringlichen Rationalisierung der Argumentation beitragen könnte.

Denn wahrscheinlich würden einige der bekannten Meinungspositionen (der doktrinär Extremen oder auch der pragmatisch Maßvollen) utopisch werden oder überflüssig oder veralten, wenn man mehr über die Zukunft wüßte. Das dürfte die politische Diskussion versachlichen und klären — nicht zum Zwecke der Verharmlosung, sondern einer redlichen Effektivität.

In einer zur Zeit laufenden europäischen Vergleichsstudie über die Vorstellungen von jungen Erwachsenen von der Zukunft bis zum Jahre 2000 arbeitet die Bundesrepublik (noch) nicht mit. In einer eigenen Untersuchung über „Leitbilder junger Menschen" ist mir der Mangel an Zukunftsvisionen, an vernünftigen Vorstellungen über unsere künftige Welt, ja sogar der Mangel an Interesse dafür ausgefallen — ein Mangel, den ich für viel beklagenswerter halte als etwa den Mangel an Vorbildern im traditionellen Sinne. Im Dunkel der Unwissenheit und Ungewißheit über die Zukunft, ja der Diffamierung von Zukunftskalkulationen als unmöglich, irreal, manipulativ oder ungläubig gedeihen politische und soziale Fehlrechnungen, Irrationalismen und Doktrinen oder planloser Pragmatismus in den Tag hinein oder einfach politische Apathie.

In einem solchen Dunkel entstehen Unbehagen und Mißtrauen gegenüber den sich praktisch von Jahr zu Jahr vollziehenden einschneidenden Veränderungen und gegenüber den Mächten bzw.den etablierten Mächtigen, die sie ins Werk setzen — vielleicht ohne legitimen Auftrag, vielleicht nur zum eigenen Nutzen. Denn man kann Zukunft verheimlichen und vorenthalten und okkupieren, bevor die Betroffenen es ahnen.

Auch darin ist dies eine abhängige Generation; sie ist abhängig von Trends, die sie selbst nicht auswählt oder mitbestimmt, ja nicht einmal kennt.

Demgegenüber ist demokratische futurologische Offenheit zu fordern! Denn es wäre ein Stück civic culture, wenn man endlich junge Menschen zur Mitverantwortung und Mitentscheidung aufforderte, damit sie derartige Trends verstehen und mit den immer wieder neu zu stellenden Entscheidungsfragen über die Ziele und Aufgaben unserer Gesellschaft und deren Prioritäten konfrontieren lernen.

Was man der Jugend darüber bislang an Informationen anbietet, ist — verglichen mit dem riesigen Aufwand an Krimi, Sex, Mode, Reisen für Teens und Twens in einem süßen Leben — recht kümmerlich.

Es wäre ein großer Fortschritt, wenn Zukunftsprognosen und Zukunftsprogramme unter jugendgesellschaftlicher Verantwortung differenziert und modifiziert würden: z. B. unter dem Postulat, den jüngen Menschen einen möglichst großen Freiheits-und Entfaltungsspielraum zu belassen für ihre persönliche Entwicklung und für die von ihnen zu wählende Spannung zwischen Eingliederung in die Gesellschaft und Reformwillen!

Um es an einem Beispiel aus der Welt der Arbeit klarzumachen: Der junge Mensch unserer Gesellschaft hat einen legitimen — ebenfalls bisher wenig erfüllten — Anspruch darauf, bei der Wahl und Planung seiner Schulund Berufslaufbahn Genaueres zu erfahren:

Nicht nur über den künftigen Menschenbedarf in den verschiedenen Berufsgruppen und ihren unterschiedlichen Etagen, die kommenden Frei-setzungen, Umlagerungen und Berufswechsel; nicht nur über die Wandlungen in der Tätigkeitsstruktur der Berufsgruppen und Berufe und damit in ihren (höheren) Anforderungen und ihrer Anziehungskraft; nicht nur über die modifizierten Verantwortungen und Arbeitstugenden, die man künftig in ihnen benötigen wird.

Er sollte auch etwas erfahren über die Erfordernisse und Möglichkeiten der Mitbestimmung im Betrieb, und erst recht über den Spielraum an persönlicher Anteilnahme und Entfaltung am Arbeitsplatz, im Betrieb, im Arbeitsleben überhaupt — und damit zusammenhängend in allen übrigen Lebensanliegen. Kurz: als was für ein (junger) Mensch werde ich dank, trotz, infolge der Veränderungen in Technik, Wirtschaft und Arbeit leben können: als Termite, als Fachidiot, als verantwortlicher Mitarbeiter, als mitentscheidender Arbeitsbürger oder als Befehlsempfänger der APO? Oder besser ins Aktive gewendet: Wir wollen die vieldeutigen Möglichkeiten im Arbeitsleben derart absehen und gestalten — und zwar offenkundig, demokratisch, rational —, damit eine Konzeption modernen Arbeitsbürgertums und allseitig entfalteten Lebens für möglichst viele Wirklichkeit wird.

In Anbetracht der Fortentwicklung der Arbeitswelt muß auch die Frage der Arbeitnehmer-Mitbestimmung gesehen werden, das heißt doch wohl weniger als längst gegebene Partnerschaft zur Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen und innerbetrieblichen Veränderungen, sondern vielmehr als Mitarbeit und Mitbestimmung in den schicksals-schweren Fragen um die Veränderungen unserer Arbeitswelt und damit unseres ganzen Lebens. Diese Veränderungen können nicht allein den Kapitalseignern, auch nicht allein den Betriebsleitern, den Experten, den Berufs-politikern, den Gewerkschaftsfunktionären überlassen werden, sondern bedürfen der Mitarbeit und des demokratischen, ja des plebiszitären Konsensus aller Werktätigen.

Aus einer solchen Prognostik müssen natürlich auch Folgerungen für Erziehung, Bildung und Ausbildung gezogen werden. Solche Folgerungen können nicht allein lauten: zahlreichere und spezialisiertere Kenntnisse zu erwerben und Regeln und Techniken besser zu beherrschen, sondern ebenso oder stärker noch die Bereitschaft zu wecken und die Kunst zu vermitteln, wie man lernt, wie man immer weiter lernt, wie man mit anderen gemeinsam lernt und arbeitet — sowie die Verantwortung vor den Millionen = Werten, die bei manchem Handgriff auf dem Spiele stehen.

Man könnte Notwendigkeit und Problematik und Konsequenzenreichtum von Zukunftsprognosen auch an anderen Bereichen darstellen: am Nachrichten-und Informationswesen, am Verkehrswesen, an der Wohnungs-, Städte-und Landesplanung und anderem mehr.

Die Spannungen in unserer Welt sähen anders aus, wenn man mehr über die Zukunft wüßte und dieses Wissen publizierte; wir würden uns vernünftiger und fruchtbarer damit auseinandersetzen können.

Keineswegs handelt es sich dabei nur um wissenschaftstheoretische oder -methodologische oder -ökonomische Fragen, wie man dergleichen Zukunftswissen beschafft, sondern auch um Fragen der politischen Macht, des politischen Stiles, der politischen Flumanität, in welchem Ausmaß, mit welchem Einfluß und in welcher Offenheit derartige Zukunftswissenschaft betrieben und publiziert und wieweit plurale Entscheidungsmöglichkeiten allen Beteiligten vorgerechnet werden sollen.

Aus der Perspektive der Jugend gesehen heißt das: nicht nur Zukunftsvorausschau in die eigene Einstellungsbildung einbeziehen, sondern auch Konzeptionen und Programme entwickeln, unter denen solches Zukunftswissen benutzt werden soll.

Wir sollten uns nicht aus dem anderen Teil Deutschlands vorwerfen lassen, Zukunftswissenschaft sei bei uns wegen unseres Systems und der darin bestehenden Interessenkonkurrenz nicht möglich und nicht anwendbar. Im Gegenteil gehört im Grunde auch die uns viel zu wenig bewußte Geschichte der sozialistischen Experimente seit 1918 ins Konzept einer Zukunftswissenschaft.

Erst vor einer solchen Art von Zukunftsprognostik und Zukunftsprogrammierung und Zukunftsphilosophie ließe sich die Frage dieser Untersuchung einer vernünftigen Lösung näherführen: Anpassung oder Opposition oder Rebellion?

Erst wenn man weiß, was sich abspielen wird, was sich abspielen soll und wieweit man selbst dabei mitspielen kann, wird man sich zu entscheiden wissen. Frühere Generationen waren überaus abhängig vom Gestern, die heutige ist abhängig vom Morgen oder besser: Während es gerade gelingt, das Gestern abzuschütteln und zu durchschauen, gilt es vor dem Morgen auf der Hut zu sein, das Morgen mit in die eigene Hand zu bekommen.

Freilich: Angst vor der Zukunft, vor Veränderungen ist in Deutschland stets ein gutes Wahlpropagandamittel gewesen — vielleicht darf sie deshalb nicht abgeschafft werden. Vielleicht erklärt der Mangel an rationalen Zukunftsperspektiven auch zum Teil das Rätsel des time lag: daß die Opposition dort besonders hochschlägt, wo bereits Reformen intendiert und vollzogen werden, daß das Problem der sozialen Chancenungleichheit erst dort und zu einer Zeit mobilisiert, wo bereits neue Lösungen versucht werden. Aber dieses Problem hat sicher viele divergente Wurzeln.

Ich fasse zusammen mit Hilfe eines persönlichen Einerseits-Andererseits und ziele damit auf Kontakt, Verständnis, Kooperation zwischen der Jugend in der Bundesrepublik und den protestierenden Studenten (was eine Antwort auf die erste Eingangsfrage impliziert — eine Antwort auf die zweite allerdings offenläßt): 1. Bei allen Vorbehalten gegen Ideologie, Praxis und Tenor der APO läßt sich nicht leugnen, daß sie dringliche Probleme herausgestellt hat, deren Sachgehalt und Reform-bedürftigkeit uns alle betrifft und ins Engagement nehmen sollte.

Andererseits lassen sich diese Mängel m. E. rational, effektiv — nicht ohne Konzept, aber ohne Doktrin — lösen, ohne eine für moderne Industriestaaten antiquierte Pathetik und Radikalität und Umständlichkeit von „Revolution". Dabei bleibt m. E. die Sorge um „Perpetuierung des Systems" unbegründet, denn jedes System wird durch entsprechend kluge, permanente Reformen im ganzen verändert; wie auch die Sorge vor Unsicherheit und Unstabilität unbegründet ist, denn jedes System bleibt nur dank Veränderungen stabil. 2. Bei allen Vorbehalten gegen die jüngsten Eskalationen läßt sich die Wichtigkeit und Dringlichkeit (durch Verschleppung gesteigerte, angeheizte Dringlichkeit) der zur Entscheidung stehenden Probleme nicht leugnen. Die 10-bis 25jährigen werden m. E. unzulänglicher bedient als die übrigen Altersklassen der Bevölkerung. Das ist abzulesen an der Geschichte der Bildungsreform, der Berufsausbildung (Berufsausbildungsgesetz!), an der Ausstattung und Besetzung der Erziehungsberufe und dem viel zu geringen geistigen und finanziellen Aufwand dafür bis heute. Andererseits sollten aus den begonnenen Reformarbeiten mit Hilfe aller Beteiligten ohne affektierte Zwischenspiele, radikale Über-schraubungen oder reaktionäre Schwerfälligkeiten vernünftige, sachgerechte, zukunftsbezogene (Zwischen-) Lösungen erbracht und anerkannt werden. Die Selbstgefälligkeit eines perfektionistischen Alles-oder-Nichts führt in der modernen Welt nicht weiter. An der Reaktion auf gute Zwischenergebnisse kann man die vielbeschrieene Unruhe bzw. die Unruhigen messen und wägen. 3. Ohne Frage brauchen wir eine angemessen differenzierte Demokratisierung innerhalb jeglicher Institution und Organisation, das heißt gestaffelte Mitsprache und Mitbestimmung für dazu bereite junge Menschen — von Schule und Betrieb angefangen. Um das Risiko der Zumutung reeller Mitverantwortung kommt man nicht herum. Das gilt auch für die (erst) Lernenden: Schüler, Lehrlinge, Studenten; denn sie gehen eine erwartungsvolle Funktionsgemeinschaft mit Lehrinstitutionen und Lehrenden ein, sie sind die am ärgsten darin Betroffenen. Wieviel Lehrende wurden jemals „wegen schlechten Unterrichts" zur Verantwortung gezogen?!

Die Forderung nach Mitbestimmung für junge Menschen (Wahlalter mit 18 Jahren) ist auch wegen des „Überhanges" älterer Menschen in den industriellen Staatsgesellschaften, die ihren großen Einfluß wahrscheinlich im Sinne von Restauration und Immobilität in die Waagschale werfen können, gerechtfertigt. Was nützt dem jungen Menschen heute seine geistige und personale Emanzipation, solange seine Welt wie nie zuvor von solchen Massen alter, nicht mehr oder kaum noch in über-persönlicher Verantwortung stehender Menschen mitbestimmt wird?! Daß freilich auch jene ihre der Mitbestimmung und Fürsorge bedürfenden Lebensprobleme haben, ist aus der Altersforschung bekannt und anzuerkennen. Sie sollen keineswegs als Antipoden der jungen Menschen „exmittiert" werden. Aber es sei nicht vergessen:

Auf ca. 8, 6 Millionen junger Menschen zwischen 14 und 25 Jahren kommen ca. 10, 8 Millionen alter Menschen ab 60 Jahren.

Andererseits kann ich mir Mitbestimmung schlecht vorstellen mit Hilfe von Starauftritten bei den Massenmedien, durch undemokratischen Terror oder endlose Machtkämpfe kleiner Gruppen, die sich selbst bevollmächtigen, weil sie sich im Besitz der wahren Lehre wähnen.

Kooperation gelingt besser ohne Freund-Feind-Affekte, ohne Zunftkleidung, sondern durch faires, verläßliches, nüchternes Miteinander, wobei es sogar natürlich und gepflegt zugehen darf.

Selbst falls die erwünschte Bewußtseinsbildung erst durch direkte Aktion zu wecken oder entfalten wäre, so könnte es auch sachbezogene, unterkühlte Aktivität sein und nicht die Klamotte eines deutschen Nachholbedarfes an verspäteter Revolution.

Die Aufgaben der Jugendringe ist demnach: die Rebellen nicht allein und nicht sich selbst zu überlassen (ob sie das wollen oder nicht), die gemäßigten Opponenten mit den aufgeschlossenen Werktätigen auf der Plattform der Sachfragen (der Versprechen des Grundgesetzes) zusammenzubringen und damit effektive Reform zu fördern, die Ahnungslosen aufzuschließen und aufzuklären dafür oder darüber, was eigentlich geschieht, — um mit allen Mitteln Auseinanderklaffen, Verketzerung, Widerwillen, Teilnahmslosigkeit zu verhindern — kurz: geistige Desorientierung und Desintegration innerhalb ein und derselben deutschen Jugendgenerationl

Selten genug in der Geschichte ergibt sich für die Jugend die Chance zu Einfluß und Neugestaltung. Sicherlich ist sie heute gegeben.

Aber die junge Generation kann diese nutzen oder auch vertun, kann sich verspielen und einigeln oder rechtzeitig in Verantwortung für alle und in Kooperation mit den Gutwilligen die Weichen für die Zukunft stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Jaide, Eine neue Generation? München 1961; ders., Das Verhältnis der Jugend zur Politik, Neuwied 1963; ders., Leitbilder heutiger Jugendlicher, Neuwied 1968.

  2. F. Neidhaidt, Schichtspezifische Vater-und Mutterfunktionen im Sozialisationsprozeß, in: Soziale Welt XVI, 4/1965.

  3. Rudolf Wildemann und Max Kaase, Die Unruhige Generation (Privatdruck), Lehrstuhl für politische Wissenschaft, Universität Mannheim 1968.

Weitere Inhalte

Walter Jaide, Dr. phil., Professor für Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Hannover, geb. 10. Mai 1911 in Berlin, betreibt empirische Jugendforschung. Veröffentlichungen u. a.: Die junge Arbeiterin (Mitherausgeber) 1958; Die Berufswahl, 1961; Eine neue Generation, 1961; Das Verhältnis der Jugend zur Politik, 1963; Junge Arbeiterinnen, 1969.