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Kultur und auswärtige Kulturpolitik -Versuch einer Neubestimmung | APuZ 32-33/1970 | bpb.de

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APuZ 32-33/1970 Mitbestimmung und Kommunikation Eine Analyse der Diskussionen um die „innere Pressefreiheit" Schule und Demokratie Der Beitrag Alexander S. Neills zur Verwirklichung einer freien, antiautoritären Erziehung Kultur und auswärtige Kulturpolitik -Versuch einer Neubestimmung

Kultur und auswärtige Kulturpolitik -Versuch einer Neubestimmung

Christian Graf von Krockow

/ 20 Minuten zu lesen

Was der Laie und Außenseiter assoziiert, wenn er von auswärtiger Kulturpolitik hört, dürfte etwa mit den folgenden Stichworten zu umschreiben sein: Die Berliner Philharmoniker unter Karajan in Tokio, die Hamburger Staatsoper in New York, Günter Grass in Tel Aviv und Schuhplattler am Kilimandscharo. Vielleicht auch noch: Alexander von Humboldt-Schule in Mexico-City. Und natürlich: Goethe-Institute an den erwarteten und manchmal an den unerwartetsten Orten. Bei innerer Kultur-politik fällt einem der Kulturdezernent ein, dessen Stolz, Sorge und Hauptetatposten das Stadttheater ist, alimentiert von sozialdemokratischen Stadträten, die, geradewegs Nachfahren von Erbprinzen und Großherzögen, sich nicht lumpen lassen möchten, auch wenn sie selbst das Stadttheater kaum besuchen und die Besucher sie kaum wählen. Mithin erscheint Kulturpolitik als eine seltsam schillernde Angelegenheit: ernst, beinahe heilig — und eben deshalb auch ein wenig lächerlich, unabdingbar und nicht sehr wichtig.

Dieses „Image", dieses Verständnis oder Mißverständnis dürfte nicht leicht sich verändern lassen, es sei denn mit der Sache selbst, um die es geht. Denn im Hintergrund steht der eigentümliche deutsche Begriff von Kultur als Alternative oder als Gegenpol zum Begriff des Politischen, mit dem er im Begriff der Kultur-politik so leichthin wie spannungsreich verkuppelt wird. Vielleicht hat niemand der Polarität so klar Ausdruck verliehen wie Thomas Mann, wenn er einst schrieb: „Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene , Obrigkeitsstaat'die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. — Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. . Nach solcher Gegenüberstellung wären also Kultur und Kultiviertheit denkbar, ja sind sie geradezu vor-auszusetzen in einem prinzipiell unpolitischen Bereich, in einer Innerlichkeit, die sich erfüllt mit „Seele", mit Kunst und — ganz besonders — mit Musik: ein Thema, dem gerade Thomas Mann immer wieder nachgegangen ist, zuletzt kritisch etwa im „Doktor Faustus". Aber eine auf den Bereich des Politisch-Gesellschaftlichen bezogene Kultur und Kultiviertheit ist schwerlich denkbar; sie erscheint als Widerspruch in sich selbst. Das geflügelte Wort „Politik verdirbt den Charakter" erschien übrigens zuerst 1881 in dem Verlags-prospekt einer neuen Zeitschrift, die den Titel trug: „Blatt für die Gebildeten aller Stände — eine Zeitung für Nichtpolitiker". — Es ist gleichwohl unverkennbar, daß eben in der Polarisierung und wechselseitigen Negation Politik und Kultur eine Beziehung haben. Thomas Mann macht das in seinen Sätzen deutlich, und er hat — seinerzeit durchaus apologetisch gemeint — für diese Beziehung die knappste, die treffende Formel gefunden: machtgeschützte Innerlichkeit.

Das deutsche Syndrom, dem die Formel Ausdruck verleiht, kommt nicht von ungefähr und von weither. Es wird bereits im 18. Jahrhundert spürbar, in einer Zeit, in der das bürgerliche Bewußtsein sich neu entwickelt nach seiner Katastrophe im Zeitalter der Religionskämpfe, besonders des Dreißigjährigen Krieges. Die realen Machtverhältnisse aber und die wirtschaftliche Rückständigkeit lassen es — anders als zum Beispiel in Frankreich — nicht zu, daß das bürgerliche Bewußtsein unmittelbar praktisch wird, das heißt, sich mit konkurrierendem oder gar revolutionierendem politisch-gesellschaftlichen Machtanspruch gegen den Absolutismus und gegen höfische wie aristokratische Vorherrschaft wendet. Konkurrenz oder sogar Überlegenheit, die Selbstbewußtsein verleiht, jedenfalls Minderwertigkeitsgefühle kompensiert, ist vielmehr nur erreichbar im „rein Geistigen", im Bereich einer Bildung, die als innere Kultur und Kultiviertheit sich absetzt von „bloßer" Zivilisation, welche, wie man nunmehr meint, im Äußeren, Äußerlichen steckenbleibt. „Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips", so der Titel einer tiefgreifenden Untersuchung von Hans Weil, das in Klassik und Neuhumanismus rasch seinen Höhepunkt erreicht und, obwohl zunehmend akademisiert, im ganzen 19. Jahrhundert von der Musikkultur bis zum Glanz der Universitäten weithin ausstrahlt: dieses Bildungsprinzip ist in seiner ganzen Anlage und Eigenart, in seinen Stärken wie Schwächen nur zu verstehen aus der angedeuteten Ausgangslage, die überdies trotz so vieler geschichtlicher Wechselfälle nie wirklich überwunden, sondern immer neu verfestigt wurde, mit dem Resultat, daß das bürgerliche Selbst-bewußtsein in Deutschland sich eben entweder in die Burg seiner machtgeschützten Innerlichkeit zurückzieht oder aber, wenn es sich doch einmal der politisch-gesellschaftlichen Sphäre zuwendet, unter dem Erlebnis des eigenen Ungenügens alsbald zusammenzubrechen droht, beziehungsweise erstarrt, unter wechselnden Vorzeichen, in einer Art Wiederholungszwang des Selbsthasses, wovon wir ja in diesen Jahren eine neue Variante gerade im Bereich der Bildungselite zu spüren bekommen.

Moralisierung und Nationalisierung

Zum Begriff der Kultur ist in dem eben ganz grob umrissenen Zusammenhang wohl noch dreierlei anzumerken:

1. Der Begriff der Kultur, ursprünglich durchaus handfest und praktisch gemeint — wie es heute noch zum Beispiel im Begriff der Forstkulturen oder des „Kultivators" nicht etwa als eines beamteten Kulturwahrers, sondern eines Ackergeräts anklingt — wird moralisiert. So etwa bei Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784): „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivi-lisierung aus. So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erforderlich ist. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend."

Hier sind schon alle Stichworte des deutschen Syndroms beisammen, gleichsam nur darauf wartend, in mindere Hände zu fallen und zu giftigen Waffen, buchstäblich zu Schlag-Worten zu entarten. Dabei ist die Frontstellung zunächst einmal sehr verständlich: Die moralisierende Verinnerlichung des Kulturbegriffs, polemisch gegen bloß gesellschaftliche Artigkeit, Anständigkeit, Ehrliebe einer Zivilisation gewandt, die so als Schein und schimmerndes Elend entlarvt wird, dies alles mit der Wendung gegen den Machtstaat, — das ist nun einmal die Waffe, die wahrscheinlich einzig mögliche, des sozial und machtmäßig Unterlegenen, also des deutschen Bürgertums im Kampf gegen die höfisch-aristokratische Welt und gegen den Absolutismus. Insofern steckt in der polemischen Wendung ja auch, bei Kant zumal ganz unverkennbar, ein freiheitlich-fortschrittliches Moment. Die mindestens im Keim für die Zukunft angelegte Gefahr liegt jedoch darin, daß die Moralisierung des Kulturbegriffs, diese Gesinnungsethik, die mit Absolutheiten von Gut und Böse hantiert, zum Aufbau von Freund-Feind-Klischees verführt, die, sobald sie einmal vom Apolitischen ins Politische sich wenden, zu fatal aggressiven wie destruktiven und radikal inhumanen Wirkungen kommen können: Wer jeweils „anders" ist, wird als Inbegriff des Bösen gebrandmarkt und im Namen des Guten mit schatten-losem Gewissen, in „idealistischer" Selbstlosigkeit, verfolgt. 2. Die anfängliche soziale Frontstellung wird wenig später umgebogen in die nationale. Dies geschieht vor allem im Zuge der napoleonischen Eroberung und im Zeitalter der Brefreiungskriege und ist zunächst wieder sehr verständlich: Es gilt die Eigen-Art deutscher Kultur zu verteidigen gegen die westlich-französische Überlagerung. Aber indem man sich gegen die westliche Zivilisation, gegen Frankreich und in diesem gegen die Ideen von 1789 wendet, schnürt sich das Bürgertum gerade von den freiheitlich-fortschrittlichen Momenten ab, die eigentlich seine ureigene Sache ist. Aus dem Kampf um nationale Einheit und Freiheit wird so untergründig ein Kampf zwischen Einheit und Freiheit, eine wechselseitige Blokkierung und Schwächung, die eigentlich schon das Scheitern der bürgerlichen Bewegung vorwegnimmt, beziehungsweise ihre nur zu rasche und fast widerstandslose Selbstauslösung, das Einschwenken ins Syndrom machtgeschützter Innerlichkeit, als die ersehnte nationale Einheit vom siegreichen Obrigkeitsstaat durchgesetzt wird.

Zugleich vollzieht sich im Zeichen der scheinbar un-, ja antipolitischen „Kulturnation", die sich gegen die westlichen Nationen und ihren Zivilisationsbegriff absetzt, eine Selbsteinengung, ja Einkapselung des deutschen Geistes, die dann in geheimer Unsicherheit nur um so vertrackter in Überheblichkeit verfällt. Ein „Literat", der in aller Welt, außer in Deutschland, als einer der größten deutschen Dichter verehrt wird, Heinrich Heine, hat es so eindringlich warnend wie vergeblich formuliert: „Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben." — Aber wer so spricht, gilt hierzulande schwerlich als Patriot, auch nicht als Weltbürger, sondern als wurzelloser oder gar „artfremder" Intellektueller.

Die politische Bedeutung des Vorgangs wurde dann mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und mit seinen Folgen dramatisch sichtbar. Die „Ideen von 1914" wurden ausdrücklich gegen die von 1789 ausgespielt, die Eigen-Art deutscher Kultur gegen den Ansturm westlicher Zivilisation polemisch herausgestellt. Die eingangs zitierten Sätze Thomas Manns sind dafür lediglich ein — vergleichsweise vornehmer und zurückhaltender — Ausdruck. Nur ganz wenige — wie etwa Hugo Preuss und etwas später Ernst Troeltsch — haben damals dem Kulturchauvinismus differenzierende Besinnung entgegenzusetzen versucht. Vergeblich; der geschichtliche Weg führte weiter in die barbarische Naturalisierung des Kulturbegriffs im Nationalsozialismus.

Merkmale politischer Kultur

3. Es ist eine offene Frage, ob und wieweit die Katastrophe des Dritten Reiches zu einer Änderung geführt hat. Zwar ist der auf den Kulturbegriff gebaute Chauvinismus erschüttert und diskreditiert worden; ihn weiter zu vertreten, gilt nun zumindest als unseriös. Was aber ist an seine Stelle getreten? Ein bloßes Vakuum wäre jedenfalls wenig beruhigend; es könnte unversehens implodieren.

Vor allem: Ist der Graben zwischen kultureller und politisch-gesellschaftlicher Sphäre und jene deutsche Schizophrenie, die er hervorbrachte — von Troeltsch, der von den Höss und Adolf Eichmann noch nichts wissen konnte, bereits im Ersten Weltkrieg mit Erschrek-ken registriert — wirklich überwunden? Wäre es, positiv gewendet, zum Beispiel möglich, von einer politisch-gesellschaftlichen Kultiviertheit in Deutschland zu sprechen, und wie ließe sie sich benennen, konturieren? Bei solchen Fragen dürfte die Verlegenheit deutlich werden, die zur Rückfrage drängt: Was kann der Begriff politisch-gesellschaftlicher Kultur und Kultiviertheit überhaupt meinen?

Ganz formal ausgedrückt müßte damit wohl ein gewisser „set", ein Satz von „Spielregeln", gemeint sein, dem gewissermaßen als Spitze eines Eisbergs Verfassungsgrundsätze Ausdruck geben mögen, der aber viel weiter und tiefer, auch unausdrücklicher in die Alltäglichkeit eingesenkt ist, eben als ein Insgesamt der Regeln für menschliches Verhalten und Zusammenleben, die zwar wie das Moralische sich von selbst verstehen sollten, aber gerade nicht „moralisch" sind in jenem Sinne der Innerlichkeit, des subjektiv aufs inhaltlich Gute, Wahre, Gerechte gerichteten guten Willens, sondern in einem Sinne der praktischen Verkehrsregelung, die das humane Miteinander auch und gerade dann ermöglicht, wenn um unterschiedliche, ja gegensätzliche Anschauungen und Interessen gefochten wird. Daß es eine so verstandene, mit der Sicherheit und Selbstverständlichkeit ihres Geltens nicht zuletzt am Schutze mißliebiger Minderheiten sich ausweisende politisch-gesellschaftliche Kultur und Kultiviertheit bei uns nicht oder allenfalls in Ansätzen gibt, soll im folgenden durch drei Hinweise veranschaulicht werden. a) Ralf Dahrendorf hat einmal plastisch vom „Kartell der Angst" deutscher Führungseliten gesprochen — ein Kartell, das stets die Gefahr der Erstarrung im gerade Bestehenden mit sich führt und rationale, Veränderungen bewirkende Konfliktaustragung verhindert, zumindest sehr erschwert. Die Angst dürfte indessen keineswegs auf Führungseliten beschränkt sein, wofür bereits zeugt, daß im Zeichen der Angst vor Veränderungen — „Keine Experimente!" — so lange und erfolgreich Gefolgschaft zu gewinnen war und weithin noch immer zu gewinnen ist. Worauf aber beruht diese Angst, wenn nicht darauf, daß es eben keine verläßlichen Spielregeln der Konfliktaustragung gibt, so daß jeder Konflikt elementare Gefährdung signalisiert: Es könnten moralisierend-totalisierende Freund-Feind-Klischees entstehen, die erst im übertragenen, dann auch im buchstäblichen Sinne tödlich sind. Die naheliegende, psychologisch nur allzu plausible Alternative ist es in solcher Situation, alle auf Veränderungen drängenden Konflikte in kartellisierter Angst vor dem vulkanischen Ausbruch zu unterdrücken oder auf Außenseiter abzulenken. Kritische Außenseiter und Minderheiten werden damit entweder zu resignierter Anpassung oder ihrerseits zu einer regelverachtenden Gewalttätigkeit gedrängt, der am Ende nur noch die Gewalt zu begegnen vermag: ein fataler Zirkel.

b) Der Herzog von Wellington soll einmal gesagt haben, die Schlacht von Waterloo sei auf den Spielfeldern von Eton gewonnen worden. Dieser Satz dürfte noch bedeutsamer werden, wenn man ihn nicht auf eine glorreiche Schlacht, sondern auf die Entwicklung der britischen Demokratie bezieht, auf den schwierigen und konfliktreichen, schließlich aber doch bruchlos bewältigten Weg von der aristokratischen Oligarchie in die moderne sozialstaatliche Demokratie. Dabei darf man nicht überhören, daß von den Spielfeldern statt von Klassen-zimmern oder Studierstuben die Rede ist. Denn auf den Spielfeldern erlernt man zwar nicht diese oder jene Wissensinhalte, wohl aber, im unmittelbaren, praktischen Vollzug, Spielregeln, ohne die der simulierte Konflikt des sportlichen Spiels gar nicht ausgetragen werden könnte. Diese Spieltraditionen der alten Public Schools werden auch demokratisiert in den angelsächsischen Schulen fortgesetzt, die nicht zufällig Ganztagsschulen sind. Zum Vergleich: Die herkömmliche deutsche Vormittags-Wortschule läßt für das Erlernen von Spielregeln des Mit-und Gegeneinander sehr wenig Raum, jedenfalls jenseits des autoritär-disziplinären Minimums: Seid ruhig! Schreibt nicht ab! Sagt nicht vor! Prügelt euch nicht auf dem Pausenhof! Daß man aus dem Laster des Vorsagens und Abschreibens die Tugenden des Arbeitens in Gruppen machen könnte, scheint weithin noch unbekannt zu sein. Charakteristischerweise fehlt bei uns auch jene für die angelsächsische Schule und Universität so typische Institution der Debating Society, des hoch formalisierten Debattierklubs, in dem die Spielregeln des argumentierenden Duells erlernt werden. Und nicht minder charakteristisch ist es, wie schwer es in unserem Lande der „echten Anliegen" fällt, etwa engagierten jungen Leuten die grundlegende Bedeutung dieser Institution für die politische Kultur Großbritanniens zu verdeutlichen: „Da werden doch Witze gerissen!", meinte jüngst ein studentischer Kritiker, und damit war die Sache für ihn erledigt. Nun mag es sich in der Tat um Trivialitäten handeln, um lauter Schein und schimmerndes Elend, mit Kant zu reden, zumal dann, wenn es um nichts geringeres geht als darum, eine endgültig heile Welt sei es wiederherzustellen, sei es neu zu gewinnen. Aber vielleicht hat es eben politische Kultur mit solchen Trivialitäten zu tun; vielleicht könnte man deshalb etwa aus der Art, wie Regeln im Straßenverkehr auch ohne Polizistenauge in den verschiedenen Ländern beachtet oder nicht beachtet werden, mehr über die politische Substanz dieser Länder erfahren, als aus manchem Buch über Verfassungsprinzipien und Meinungsumfragen über ihre Bekanntheit. Sehr britisch, auch mit der gehörigen Selbstironie, sagt es Aldous Huxley: „Ein Denken in Begriffen von Grundprinzipien bringt ein Tun mit Maschinengewehren mit sich. Eine Regierung mit einem umfassenden Plan für die Verbesserung der menschlichen Gesellschaft ist eine Regierung, die die Folter anwendet. Per contra, wenn man nie Grundprinzipien bedenkt und keinen Plan hat, sondern Situationen behandelt, wie sie entstehen, eine nach der anderen, kann man sich unbewaffnete Polizisten, Redefreiheit und Habeascorpus-Akte leisten". Daß die Reformen in England nicht aus philosophischen Prinzipien abgeleitet werden, sondern aus praktischen Erfordernissen, hat ihnen bereits Hegel angekreidet. c) Es ist eigentlich merkwürdig, daß es in Deutschland keinen gesamtgesellschaftlich repräsentativen Roman gegeben hat, vielmehr von Raabe und Fontane bis Thomas Mann und Günter Grass immer nur Romane, die in einem partiellen, eng umgrenzten Milieu wurzeln; offenbar nur bei Strafe des Intensitätsund Anschaulichkeitsverlustes läßt sich, wie man noch bei Grass sieht, dieser sozio-geographische Partialrahmen überschreiten. Entsprechend gibt es, noch trivialer, einen markanten Mangel an guten, international konkurrenzfähigen deutschen Kriminalromanen. Woran liegt das? Wahrscheinlich hängt es mit dem Mangel an deutscher Gesellschaftskultur zusammen, also mit dem Fehlen eines national verbindlichen, durchgehend bekannten und anerkannten Systems von Umgangs-, Status-und Rollenspielregeln. Zum Vergleich: Ein Lord ist ein Lord und ein Butler ist ein Butler, da weiß jeder, woran er ist. Um so größer wird dann die Überraschung, wenn der Butler sich als verkleideter Lord und der Lord sich als Gauner oder gar als Genie erweist.

Kulturpolitik im gesellschaftlichen Kontext

Die kritische Analyse des deutschen Kultur-begriffs in seinem geschichtlichen Kontext beantwortet natürlich noch nicht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen zeitgemäßer Kulturpolitik. Ohnehin wäre es eine Anmaßung, Rezepte liefern zu wollen. Aber einiges läßt sich vielleicht doch aus den vorangestellten Überlegungen ableiten.

Zunächst sollte deutlich sein, daß der Export von Kulturerzeugnissen im herkömmlichen Sinne, von der Philharmonie bis zu den Schuhplattlern, ein fragwürdiges Unternehmen ist, zumal wenn diese Erzeugnisse eben nichts oder kaum mehr etwas von dem ursprünglichen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang vermitteln, dem sie entstammen. Damit wird selbstverständlich nichts gegen den internationalen Kulturaustausch gesagt, dem Hilfestellung zu leisten gut und nützlich bleibt, sofern er nicht ohnehin schon kommerziell sich verselbständigt hat. Aber politisch bedeutsam dürfte das kaum sein, sondern eher ein Alibi für den Mangel an Kulturpolitik.

Sofern es im übrigen um internationale Ansehenspflege der Nation geht, dürfte man wahrscheinlich mit einer gut dotierten Werbeagentur am besten fahren. Schließlich sollte man überdenken, ob nicht Erscheinungen, an die man gewöhnlich gar nicht oder eher mit Unbehagen denkt, unerwartete Werbewirksamkeit entfalten. Rudi Dutschke zum Beispiel, in der Zeit bis zum Attentat, hat vermutlich für das deutsche Ansehen bei der Jugend vieler Länder — und nicht unbedingt nur bei der Jugend — sehr viel bedeutet, nämlich — mißverständlich oder nicht, gleichviel — als Signal dafür, daß die Bundesrepublik keineswegs nur der alte Obrigkeits-Untertanenstaat emsigen Gehorsams ist, als der er so weithin in herrschenden Klischees erschien. Nun läßt sich ein Mann wie Dutschke natürlich kaum für eine Werbereise vermittels der Goethe-Institute einspannen; das Beispiel soll lediglich demonstrieren, daß die Dinge gerade dort wirklich interessant zu werden beginnen, wo ein politisch-gesellschaftlicher Zusammenhang spürbar wird, wobei die Tatsache, daß es sich um Kritisches handelt, keineswegs negativ wirken muß — unter Umständen ganz im Gegenteil.

„Don't be defensive!" — offen und selbst-kritisch zu sein, dürfte jedenfalls eine weitaus bessere Werbeeinstellung abgeben als die gegenteilige Haltung.

Was die Sprache angeht, so bleibt ihre Vermittlung gewiß nützlich, ja unerläßlich für diejenigen, die einmal in Deutschland lernen und studieren wollen. Im übrigen allerdings dürfte jeder Versuch, eine Weltmachtstellung der deutschen Sprache zu verteidigen oder neu zu erringen, so überholt sein, wie entsprechende Versuche im machtpolitischen Sinne es sind. Dieses Rennen ist, soweit sich irgend absehen läßt, für das Englische gelaufen. Wenn sogar in der Sowjetunion, trotz Karl Marx und der DDR, der Deutsch-zugunsten des Englischunterrichts an Boden verliert, mag das bitter sein, aber hier oder anderswo sich der Entwicklung entgegenstemmen wollen, hieße einer Don-Quichotterie anheimfallen. Und was die Sprache als ein aus dem praktischen Kontext losgelöstes „Kulturgut" angeht, so dürften ähnliche Vorbehalte anzumelden sein wie bereits gegen Exportoffensiven mit anderen Kultur-gütern. Bleibt also nur die Resignation, das Eingeständnis, daß Kulturpolitik bloße Prestigepolitik ist und Muster ohne Wert feilbietet? Das zu behaupten wäre zumindest voreilig, voreilig auch — oder sogar gerade — unter der doppelten Voraussetzung, daß einerseits Poli-tik es stets mit nüchtern und wechselseitig zu kalkulierenden Anschauungen und Interessen zu tun hat und daß andererseits Kultur Bedeutung gewinnt in praktischen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Es gibt doch heute einen besonderen Bereich, der politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich zentrale Bedeutung gewonnen hat und diese Bedeutung in der Zukunft noch unmißverständlicher demonstrieren dürfte. Das ist das Erziehungs-, Bildungs-und Forschungswesen im weitesten Sinne, vom Kindergarten — übrigens als deutsches Wort, wenn auch leider nicht als deutsche Realität ein Welt-Export-schlager — bis zur Universität und zur Berufs-und Erwachsenenbildung. Bildung und Forschung gewinnen erstrangige politisch-wirt-schaftliche Bedeutung, weil von ihrer Leistungsfähigkeit immer klarer und direkter das Bestehen der Nationen im internationalen Wettbewerb abhängt. Das Bildungswesen ge-winnt erstrangige politisch-gesellschaftliche Bedeutung, weil seine Gestaltung, etwa hinsichtlich der Frage, wieweit es Chancengleichheit und Entfaltungsmöglichkeiten für alle gewährleistet, mehr und mehr als elementares Problem der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit erscheint und damit zugleich als Problem der Tragfähigkeit, der Legitimationsgrundlage jedes politisch-gesellschaftlichen Systems. Die Gesellschaften der Zukunft werden, wie uns die Experten versichern, lebenslange Lerngesellschaften sein müssen — und die Zukunft hat längst begonnen: Die Lebenserwartung eines Kindes, das heute eingeschult wird, reicht bis in die Mitte des kommenden Jahrhunderts, also weit über das vielberufene Jahr 2000 hinaus.

Nun befindet sich bekanntlich unser Bildungswesen heute in einer schweren Krise. Tief-greifende Strukturveränderungen sind angesichts der neuartigen Anforderungen unumgänglich; immer neue Planungsgremien entstehen, Pläne werden geboren und wieder verworfen, und weithin herrschen Verwirrung und Ratlosigkeit. Die Strukturprobleme betreffen institutionelle Regelungen, Organisationsfragen ebenso wie die Lehrund Lerninhalte und die Methoden ihrer Vermittlung. Dieser Sachverhalt mag es als zweifelhaft erscheinen lassen, ob sich aus deutschen Bildungseinrichtungen und -. Inhalten Exportprodukte gewinnen lassen. Aber vielleicht ist das bereits wieder eine traditionalistische, eine unangemessene Problemstellung.

Zunächst einmal stellt sich doch die Frage, ob man nicht manches oder gar Wesentliches importieren und mit Lösungen, die anderswo gefunden, oder mit Einsichten in Fehler, die gemacht und aufgedeckt wurden, erheblichen Aufwand an Zeit, Energie und Finanzmitteln einsparen könnte. Nicht zufällig gewinnt in der Bildungsforschung der internationaleVer-gleich ein immer größeres Gewicht; die entwickelte Industriegesellschaft schafft überall prinzipiell ähnlich gelagerte Ärgernisse und Lösungsmöglichkeiten. Sollte hier nicht womöglich ein dringender Aufgabenbereich der Kulturpolitik liegen, bei der sich dann übrigens deren auswärtige Aspekte mit den inneren unauflöslich verflechten würden? Wie etwa die Geschichte des modernen Japan demonstriert, kann es eine höchst erfolgreiche Strategie sein, sozusagen in alle Himmelsrichtungen Kundschafter auszusenden, um zu erforschen, was, in Anpassung sodann natürlich an die eigenen Bedingungen, zu übernehmen sich lohnt.

Der Sachverhalt soll mit zwei Beispielen veranschaulicht werden, die beide alles andere als imposant sind, aber eben deshalb vielleicht zeigen, worum es geht oder gehen sollte. Die Beispiele ließen sich gewiß leicht vervielfältigen und schließlich zu einem Insgesamt von nüchtern interessenbestimmter Kulturpolitik zusammenfügen.

1. Seit zehn Jahren organisiert das Frankfurter Studienbüro für Politische Bildung regelmäßig im Halbjahresabstand Studienreisen deutscher Pädagogen, Hochschullehrer, Schulverwaltungsbeamter usw. in die Vereinigten Staaten, zunächst mit dem Ziel, Anregungen für die Praxis politischer Bildungsarbeit zu gewinnen, dann immer mehr auch in Ausweitung auf die Untersuchung von Strukturproblemen des Bildungswesens insgesamt. Das Gesamtprojekt wurde wesentlich angeregt vom American Jewish Committee; die Finanzierung erfolgte zunächst durch die Ford-und New World Foundation und dann vor allem durch das Auswärtige Amt unter zeitweiliger Mitwirkung der Stiftung Volkswagenwerk und der Thyssenstiftung.

Nichts ist vollkommen, und gewiß hat es auch bei diesem Unternehmen Schwierigkeiten, Mißverständnisse, Mißgriffe gegeben. Insgesamt aber handelt es sich fast um einen Musterfall von erfolgreicher, fruchtbarer Kulturpolitik bei begrenztem Mitteleinsatz; die amerikanischen Erfahrungen der Stipendiaten haben eine Fülle praktischer Initiativen ausgelöst. Dabei sollte ein Nebenprodukt nicht unerwähnt bleiben: der Abbau von Vorurteilen, der sich statt der sonst häufigen bloßen Auswechselung von Klischees gerade dann einstellt, wenn man sich engagiert mit einem konkreten Sachbereich beschäftigt. An diesem Punkt zeigt sich dann übrigens auch, daß man es entgegen dem oberflächlichen Eindruck keineswegs mit einem Einbahnstraßen-Verhältnis zu tun hat; die „German Educators" haben vielfach bei ihren intensiven Kontakten mit Schlüsselpersonen des amerikanischen Bildungswesens Interesse und ein differenzier-teres Verständnis für die deutschen Verhältnisse wecken können. Es zeigt sich an diesem Beispiel erneut, daß es keineswegs der schlechteste Weg der Sympathiewerbung ist, wenn man als Fragender und Lernender in ein fremdes Land kommt. 2. Bekanntlich wird bei uns derzeit diskutiert, ob nicht das herkömmliche Schulwesen in Richtung auf ein Gesamt-und Ganztagsschulsystem umkonstruiert werden sollte. Einschlägige Erfahrungen sind freilich Mangelware, und so werden zunächst einmal Modellversuche gemacht oder geplant. Nun läßt es die Diskussion oft so erscheinen, als gehe es um einen Sprung in eiskaltes Wasser, um die Erforschung und Erprobung von völlig Unbekanntem. Aber in manchen Ländern der Welt gibt es seit langem Gesamt-und Ganztagsschulsysteme; andere Länder sind im Übergang zu solchen Systemen bereits weit fortgeschritten. Man könnte also aus den Erfahrungen — und ebenso aus den Fehlern — der anderen lernen. Natürlich gibt es Berichte. Aber vom Bericht bis zur unmittelbaren Erfahrung und Anschauung bleibt stets noch eine tiefe Kluft. Deshalb wäre es dringend zu wünschen, daß etwa dem vorgesehenen Leiter eines Gesamt-oder Ganztagsschulmodells, möglichst auch noch Mitgliedern seines Kollegiums, durch eine Auslands-Studienreise die notwendige Erfahrung und Anschauung vermittelt würde. Wo solche Vermittlung unterbleibt — und das ist leider eher die Regel als die Ausnahme —, drohen unweigerlich große Schwierigkeiten, ja kann der Erfolg des Projektes überhaupt in Frage gestellt werden.

Organisations-und Orientierungsprobleme

Dies sind, wie gesagt, nur zwei unscheinbare Beispiele, die fast beliebig vermehrt werden könnten. Im Bereich der Wissenschaft denke man, um nur eines zu nennen, etwa an die Friedensforschung, deren Aufbau in Deutschland gerade erst beginnt. Würde man nun auswärtige Kulturpolitik zumindest mit einem neuen Schwerpunkt im Sinne des systematischen Erfahrungsaustausches von Bildungsund Forschungsproblemen konzipieren, so dürften allerdings zunächst und vor allem die Schwierigkeiten sichtbar werden, die sich stellen. Einmal wäre es erforderlich, daß — jedenfalls in vielen, für den Erfahrungsaustausch wichtigen Ländern — der herkömmliche Kulturattache wenn nicht ersetzt, dann doch ergänzt würde durch den Bildungs-und Forschungsattache, der durch entsprechende Vorbildung mit den Fragen, um die es geht, vertraut ist, so daß er gezielt und erfolgreich die notwendigen Problemanalysen ebenso betreiben kann wie die Vermittlung personeller Kontakte. Die Realisierung eines solchen Vorschlags kostet leider Geld, wie fast alles auf der Welt. Aber man sollte bedenken, daß wahrscheinlich auf längere Sicht durch die gezielte Erfahrungsver-

mittlung noch viel mehr Geld eingespart werden könnte, und der Vorschlag sollte eigentlich auch nicht revolutionär sein, sofern man in Rechnung stellt, daß heute die Stapelläufe neuer Universitäten oder Schulsysteme für die Selbstbehauptung der Nationen etwa den Stellenwert haben, den einst die Stapelläufe von Schlachtschiffen einnahmen — und daß also für den Bildungs-und Forschungsattache nicht zu teuer sein sollte, was dem Militärattache billig war oder noch ist.

Ungleich größer dürfte ohnehin eine andere Schwierigkeit sein: Bereits zwischen Bund und Ländern ergeben sich ja ständig Reibungsverluste als Folge mangelhafter Koordination in der Bildungsund Forschungspolitik. Das gilt selbst dann noch, wenn man die Bildungspolitik der Länder als ein produktives Konkurrenzverhältnis wesentlich positiver beurteilt, als es gemeinhin in der Öffentlichkeit der Fall ist. Die Schwierigkeiten dürften jedoch noch erheblich wachsen, von Verfassungsfragen bis herab zu den Alltagsärgernissen, wenn es im Sinne von Bildungsund Forschungsfragen um die Koordinierung von innerer und auswärtiger Kulturpolitik ginge. Die Arbeit von Attaches etwa würde ziel-und nutzlos bleiben, wenn sie nicht einerseits von den heimischen Problemen her inspiriert würde und wenn anderer-B seits alle Berichte nur dazu verdammt wären, in den Aktenschränken von Kultusministerien und anderen Behörden Staub anzusetzen. Oder um zu einem der Beispiele zurückzukehren: Wie fruchtbar immer die vom Auswärtigen Amt finanzierten Studienreisen der „German Educators" nach Amerika sein mögen, ihnen droht das organisatorische Fundament verloren zu gehen, weil dessen materielle Sicherstellung nicht in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt.

Eine weitere Schwierigkeit gilt es in Rückerinnerung an den überkommenden deutschen Kulturbegriff noch zu bedenken: Dieser Kulturbegriff betont ja, wie der auf ihn gegründete der Kulturnation, die Besonderheit, die Eigen-Art, welche als historisch individuelle bewahrt, verteidigt werden soll gegen alle Versuche der „Überfremdung", gegen die angeblich einebnenden Tendenzen, die polemisch mit dem Begriff der „Zivilisation" verbunden werden. Man mag das für fragwürdig und für antiquiert halten. Doch in Gesprächen zumal mit Vertretern der älteren Generation muß man immer wieder feststellen, wie sehr die Idee der Kulturnation und ihrer unauswechselbaren Bildungsprinzipien noch nachwirkt; etwa von den Amerikanern etwas lernen oder gar übernehmen zu wollen, von den Russen nicht zu reden, ruft erregte Abscheu hervor, fast als handle es sich um Landesverrat. Aber auch bei der jungen Generation scheinen sich trotz allem zur Schau gestellten Internationalismus die alten Klischees oft hinterrücks zu reproduzieren; wenn man zum Beispiel von amerikanischen Vorbildern spricht, darf man die ständig zu wiederholende Absicherung keinesfalls vergessen, daß die Amerikaner schlecht seien zu den Negern und den Vietnamesen. Und da die jungen Leute es gelernt haben, in Totalitäten zu denken, kann eigentlich, wo es solche Schlechtigkeiten gibt, überhaupt nichts gut sein.

Summiert man alle Schwierigkeiten, so liegt Resignation nahe. Aber sie sollte so wenig erlaubt sein wie leichtfertiger Optimismus. Kulturpolitik ist zu wichtig geworden, als daß man sie noch allein und je stückweise den Kultusministern, Kulturdezernenten und Kulturattaches überlassen dürfte — oder den Philharmonikern und Schuhplattlern. Kulturpolitik, soll sie nicht vollends veralten und provinziell werden, fordert den Versuch einer Neuorientierung, die Grenzüberschreitung in jedem Sinne, schlechthin als Notwendigkeit.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christian Graf von Krockow, Professor, Dr. phil., geboren 1927 in Ostpommern, 1961 Prof. f. Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Göttingen, 1965 Univ. Saarbrücken, 1968/69 Univ. Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Die Entscheidung — eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; Soziologie des Friedens — drei Untersuchungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh 1962; SozialWissenschaften, Lehrerbildung und Schule — Plädoyer für eine neue Bildungskonzeption, Opladen 1969.