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Schulpolitik im Spannungsfeld zwischen Reich und Ländern Das Scheitern der Schulreform in der Weimarer Republik | APuZ 42/1970 | bpb.de

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APuZ 42/1970 Schulpolitik im Spannungsfeld zwischen Reich und Ländern Das Scheitern der Schulreform in der Weimarer Republik

Schulpolitik im Spannungsfeld zwischen Reich und Ländern Das Scheitern der Schulreform in der Weimarer Republik

Christoph Fuhr

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I. Einführung

Bei den bildungspolitischen Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahrzehnte spielte in der Bundesrepublik das Bund/Länder-Verhältnis eine bedeutende Rolle. Dies legte es nahe, die Zusammenarbeit von Reich und Ländern auf dem Gebiet des Schulwesens in der Weimarer Republik zu untersuchen. Markiert doch die Reichsverfassung vom 11. August 1919 einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Bildungswesens: Zum ersten Male erhielt das Reich die Möglichkeit, im Wege der Grundsatzgesetzgebung das Schul-und Hochschulwesen zu ordnen. Darüber hinaus finden sich in der Verfassung differenzierte Bestimmungen — zumeist programmatischen Charakters —, in denen ein Grundriß des deutschen Schulwesens im Sinne eines organischen Aufbaus skizziert wurde. Zur Koordinierung der neuen Aufgaben des Reichs auf dem Gebiet des Bildungswesens war kurz zuvor im Reichsministerium des Innern die Kulturabteilung geschaffen worden. Reich und Ländern war es aufgegeben, das in der Verfassung verankerte Reformprogramm zu verwirklichen, was jedoch nur auf wenigen Teilbereichen gelang. Die geplante umfassende Reform scheiterte. Dies ist vor allem auf die gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen der Parteien im Blick auf die Schule zurückzuführen. Auch aus finanziellen Gründen verzichtete das Reich darauf, seine in der Verfassung vorgesehene Aufgabe wahrzunehmen und das Schulwesen sowie die Lehrerbildung zu ordnen. Die Initiative für Reformen fiel somit weithin den Ländern zu. Dies hatte zur Folge, daß das deutsche Bildungswesen am Ende der Weimarer Republik uneinheitlicher und unübersichtlicher war als zuvor. Schon 1927 hielt der preußische Kultusminister C. H. Becker die Zweiteilung der Kompetenzen — Grundsatzkompetenz beim Reich, alles übrige, insbesondere Verwaltung und Finanzierung, bei den Ländern — für vollkommen sinnwidrig. Die Konsequenz aus dem schulpolitischen Versagen der Republik war die im Zeichen der nationalsozialistischen Herrschaft 1934 vollzogene Errichtung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und die Übernahme der Schulhoheit durch das Reich. Nach der politischen und weltanschaulichen „Gleichschaltung" begann das Reich mit der organisatorischen Vereinheitlichung des Bildungswesens, die bis 1945 noch nicht abgeschlossen war.

Doch zurück zu 1918. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war die Grundstimmung weit verbreitet, es müsse im Reich des Geistes zurückgewonnen werden, was an äußerer Macht verloren ging. Man besann sich auf das Zeitalter der preußischen Reformen. So wurde aktuell, was nach Jena und Auerstedt zur Reform zunächst des preußischen Bildungswesens führte und von dort auf andere deutsche Staaten ausstrahlte. Den Weg für Reformen wies der Reichsschulgedanke, wie ihn seit 1848 liberale und später sozialdemokratische Kräfte vertreten hatten, nämlich die Forderung: das durch die Länderzuständigkeit zersplitterte Schulwesen durch Reichsgesetze (unter Aufsicht einer Reichsstelle) einheitlich zu ordnen. Im Rückgriff auf Fichtes Reden an die deutsche Nation sprach C. H. Becker, damals Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, von der Notwendigkeit einer neuen Erziehung. Sie sah er als wichtiges „Heilmittel der gegenwärtigen Krise" an, „wichtiger selbst als alle politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen . . . Am Willen zum Deutschtum muß die neue Erziehung einsetzen. Wir müssen ausgehen von dem Begriff einer großen deutschen Kulturnation. Ihr Wesen müssen wir ergründen, wenn wir zu dem so dringend nötigen Nationalbewußtsein kommen wollen .. . Mit diesem Ziel können sich alle Parteien und Weltanschauungen einverstanden erklären." Bald zeigte sich, daß der Begriff einer „großen deutschen Kulturnation" angesichts der pluralistischen Zielvorstellungen der Parteien keine tragfähige Grundlage für eine Schulreform war.

Wo von Zusammenarbeit von Reich und Ländern die Rede ist, muß daran erinnert werden, daß das Reich damals aus 18 Ländern (den bisherigen Bundesstaaten) bestand, deren Größe und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sehr unterschiedlich waren. Dazu kamen die divergierenden Parteienkonstellationen in den Ländern; in keinem Land war eine Partei für längere Zeit stark genug, die Regierungsverantwortung allein zu tragen, überall war man auf Koalitionen, d. h. auf Kompromisse angewiesen.

Von den 62 Millionen Einwohnern des Deutschen Reiches lebten drei Fünftel (= 38 Millionen) in Preußen. Ein weiteres Fünftel entfiel auf Bayern und Sachsen, das restliche Fünftel verteilte sich auf alle übrigen 15 Länder und Stadtstaaten. Dabei hatten die 5 kleinsten Länder zusammen mit einer halben Million weniger Einwohner als eine Großstadt wie Köln. Länder wie Lippe oder Anhalt hatten vergleichsweise die Größe eines preußischen Landkreises oder eines kleinen Regierungsbezirks, also unterer und mittlerer Verwaltungseinheiten. Alle diese Länder pflegten seit jeher ihre Traditionen bei der Entwicklung des Bildungswesens. So waren die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit der Unterrichtsverwaltungen mit dem Reich von Land zu Land verschieden. Konnten sich doch z. B. Zwergstaaten aus personellen und finanziellen Gründen keine größeren, mit differenzierter Sachkunde ausgestatteten obersten Verwaltungsstellen für das Schulwesen leisten. Auch lag die Schulverwaltung innerhalb der einzelnen Länder keineswegs einheitlich bei einem Ressort, etwa dem Kultusministerium. In Preußen unterstanden dem Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volks-bildung die Volksschulen, Mittleren und Höheren Schulen, Universitäten, Technischen Hochschulen, Pädagogischen Akademien und Künstlerischen Hochschulen. Das Ministerium für Handel und Gewerbe war für die Berufsschulen (abgesehen von landwirtschaftlichen Berufsschulen), Fachschulen, Handelshochschulen und Bergakademien zuständig. Dem Ministerium für Landwirtschaft oblag die Verwaltung der ländlichen Berufsschulen, landwirtschaftlichen Fachschulen und Hochschulen. Ähnlich waren die Kompetenzen in den übrigen Ländern verteilt. Das Reich hatte bei der Zusammenarbeit mit den Ländern nicht 18 Verhandlungspartner, sondern wesentlich mehr zu berücksichtigen, zumal die beteiligten Landes-ressorts innerhalb der Länder keinesfalls frei von Rivalitäten blieben.

Auf Seiten des Reichs gab es bis zum Sommer 1919 keine amtliche Stelle, die die Entwicklung des Bildungswesens in den Ländern beobachtete. So hatte auch keine Reichsbehörde damals einen Überblick über den Stand des Schulwesens in den Ländern. Besonders ausgeprägt war das Verhältnis Reich — Länder im Fall Preußens, Saßen sich doch in Berlin zwei große Zentralregierungen, die des Reichs und die Preußens, zum Teil nur wenige Schritte entfernt gegenüber. Dieser räumlichen Nähe entsprach, soweit sich sehen läßt, auf dem Gebiet des Schulwesens keine besonders enge Zusammenarbeit, Das Problem Reich/Preußen war auch der Kernpunkt der Debatten über eine Reichsreform. Bekanntlich hatte die Weimarer Verfassung die Reichsgewalt gegenüber den Ländern im Vergleich zu früher beträchtlich gestärkt. Dies galt nicht nur für den Bereich des Schulwesens. Besonders einschneidend erwies sich die Erzbergersche Finanzreform, durch die das Reich oberster Träger der Finanzhoheit wurde. Dies hatte erhebliche Rückwirkungen auf den finanziellen Spielraum der Länder und ihre Möglichkeiten, Schulreformen zu finanzieren. Die Verfassung machte erstmals den Reichstag und den Reichsrat, die Vertretung der Länder sowie deren für Bildungsfragen zuständigen Ausschüsse zu Faktoren in der Schulpolitik, So lange das Reich keine schulpolitischen Kompetenzen besaß, hatte der Reichstag schulpolitische Fragen nur selten aufgegriffen, Sie kamen in den Landtagen zur Sprache, in denen bis 1918 konservative Kräfte überwogen. In Preußen mit seinem Dreiklassen-Wahlrecht hatten bis 1918 die sozialdemokratischen und linksliberalen Kräfte keine Möglichkeit, ihre schulpolitischen Vorstellungen durchzusetzen, überhaupt hatte die obrigkeitsstaatliche kon1) stitutionelle Struktur der alten Bundesstaaten den Parteien bis 1918 nur einen begrenzten Einfluß auf das Schulwesen gestattet. Bekanntlich waren — sieht man von den Stadtstaaten ab — die Kultusminister nicht dem Parlament, sondern dem Landesherrn gegenüber verantwortlich. In welchem Maße der Landesherr mitunter selbst sich der Schulfragen annahm und seinen Einfluß geltend machte, zeigen die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Verwaltet durch eine qualifizierte Bürokratie, war das Schulwesen bis 1918 eine Art dynastischer pädagogischer Provinz, weithin abseits parlamentarischer Einflußnahmen. Damit war es nach der Revolution von 1918 vorbei. Das Schulwesen wurde in bisher unbekanntem Maße Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen. Der parteipolitische Stellenwert des Schulwesens nahm zu. Wir können hier die schulpolitischen Zielvorstellungen der Parteien, die eng mit ihren jeweiligen gesellschaftspolitischen Leitbildern Zusammenhängen, nicht eingehend schildern. Diese schulpolitischen Zielvorstellungen hatten sich überwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Auch die an der Wende von 1918 auf 1919 neu formierten Parteien griffen auf ältere Leitbilder zurück. Damals schlossen sich der linke Flügel der Nationalliberalen und die Fortschrittliche Volkspartei zur Deutschen Demokratischen Partei zusammen. Die Nationalliberale Partei setzte ihre Arbeit als Deutsche Volkspartei fort. Konservative Politiker gründeten zusammen mit christlichsozialen und deutschvölkischen Gruppen die Deutschnationale Volkspartei. Auf dem linken Flügel bildete sich aus der Unabhängigen Sozialdemokratie die Kommunistische Partei. Alle diese Parteien verstanden sich vornehmlich als Weltanschauungsparteien. Ihre Schulprogramme wiesen erhebliche Divergenzen ‘ auf. Schlagwortartig könnte man die Standpunkte so umschreiben: Während die sozialistischen Parteien — die SPD und USPD — für Weltlichkeit der Schule, d. h. für die Aufhebung der konfessionellen Volksschulen, und für die Einheitsschule eintraten, hielt das Zentrum und seine bayerische Schwesterpartei, die Bayerische Volkspartei, an der konfessionellen Gliederung des Volks-schulwesens fest und stand dem Einheitsgedanken kritisch, ja ablehnend gegenüber. Die Demokraten nahmen einen vermittelnden Standpunkt ein, bekannten sich grundsätzlich zur Einheitsschule und sahen in der Gemeinschaftsschule die beste Lösung des Volksschulproblems. Sie standen somit der Sozialdemokratie näher als dem Zentrum. Die Deutsche Volkspartei forderte die nationale Einheitsschule, worunter sie jedoch die Fortführung der dreigliedrigen Schulstruktur verstand. Im Volksschulwesen hielt sie sich sowohl für Gemeinschafts-wie für Bekenntnisschulen offen. Die Deutschnationale Volkspartei unterschied sich davon in der Betonung der Bekenntnis-schule, Führende Persönlichkeiten der evangelischen Kirchen setzten sich dafür im Rahmen dieser Partei ein. Die Kommunistische Partei kämpfte um die Verweltlichung des gesamten Schulwesens und einen einheitlichen Schulaufbau vom Kindergarten bis zur Hochschule, Zu ihren Hauptzielen zählte die Abschaffung jedes Religionsunterrichts, mindestens in der öffentlichen Schule, und die Beseitigung der Privatschulen. Sie knüpfte an ursprünglich sozialdemokratische Ziele an, nahm sich jedoch zunehmend sowjetische Reformen zum Vorbild. Im damaligen deutschen Schulwesen sah sie ein Machtinstrument in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Proletariats.

Bei diesen unterschiedlichen Zielvorstellungen mußte es schwer sein, die Schulreform in eine einheitliche Richtung zu lenken. Die Zeit, in der sich die drei Verfassungsparteien (SPD, Zentrum und DDP) auf der Grundlage der Weimarer Schulkompromisse über eine gemeinsame Schulpolitik verständigten, währte nur kurz. Diese Übereinstimmung kam unter dem Eindruck des verlorenen Krieges und der Revolutionswirren zustande, Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verschärften sich die Parteiengegensätze, besonders zwischen Zentrum einerseits und SPD und DDP andererseits. Dabei darf der Einfluß außerparlamentarischer Gruppen und Kräfte — der Kirchen, Universitäten, Lehrerverbände usw. — nicht unterschätzt werden. Die Kirchen, ursprünglich Träger des Schulwesens, bis 1918 im Volksschulwesen teilweise noch an der Schulaufsicht mitbeteiligt, führten in der Öffentlichkeit stark beachtete Kampagnen für den Religionsunterricht und die Bekenntnisschulen durch. Dem Zentrum kam dabei die 1911 gegründete „Organisation der Katholiken Deutschlands zur Verteidigung und Förderung der christlichen Schule und Erziehung" zu Hilfe (Kath. Schulorganisation). Auf evangelischer Seite nahm sich der junge Pfarrer Dr. Otto Dibelius, der spätere Bischof von Berlin und Brandenburg, im Oberkirchenrat der altpreußischen Union nachdrücklich der Schulfragen an. Unter den Lehrerverbänden hatte der Deutsche Lehrer-verein, die Organisation der Volksschullehrer, das stärkste Gewicht. In ihm waren liberale Kräfte führend. Zur Unterstützung des sozialdemokratischen Schulprogramms wurde im Dezember 1918 eine Vereinigung sozialdemokratischer Lehrer gegründet, die später als Arbeitsgemeinschaft fortgeführt wurde. Links davon gruppierte sich im Juni 1919 der Verband Sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen. Besondere Aktivität entwickelte der Bund Entschiedener Schulreformer unter Leitung Paul Oestreichs.

Wenn die Schulbestimmungen der Reichsverfassung weithin Programm blieben und von der Grundsatzkompetenz zur Gesetzgebung auf dem Gebiete des Schulwesens, abgesehen vom Grundschulgesetz und seinen Novellen, kein Gebrauch gemacht wurde, so dürfte dies mit der starken politischen Erosion Zusammenhängen, der die drei Weimarer Verfassungsparteien seit den Wahlen vom Juni 1920 ausgesetzt waren. Diese Wahlen brachten einen solchen Rückgang der sozialdemokratischen und der demokratischen Mandate, daß die Weimarer Koalition nicht mehr über eine tragfähige Mehrheit im Reichstag verfügen konnte. Seitdem blieben für die pro-demokratischen Parteien nur zwei Möglichkeiten, entweder die der Minderheitsregierung oder die der Koalition mit anti-demokratischen oder anti-republikanischen Parteien (der DNVP und DVP). Beide Wege wurden im Wechsel beschritten. In den zwölf Jahren von 1920 bis 1932 gab es während insgesamt acht Jahren Minderheitskabinette (und zwar elf).. Für viereinhalb Jahre kam es zur Bildung großer Koalitionen, in denen pro-und antidemokratische Parteien in Mehrheitskabinetten zusammenarbeiteten. Dabei trat entweder die DVP zu den drei Weimarer Koalitionsparteien hinzu oder das Zentrum tat sich mit der DVP und den Deutschnationalen zusammen. Waren Minderheitskabinette von Natur schwach, so waren die großen Koalitionen wegen fundamentaler Meinungsverschiedenheiten, jedenfalls auf schulpolitischem Gebiet, ebenfalls in ihrem Aktionsradius beschränkt. Für eine kontinuierliche Schulpolitik, die zielstrebig die Verfassungsbestimmungen zu verwirklichen trachtete, fehlten also seit 1920 parlamentarische Voraussetzungen. Instabilität der Regierungen bedeutete zugleich relativ schnellen Ministerwechsel. Während der vierzehn Jahre der Weimarer Republik amtierten 17 verschiedene Reichsminister des Innern. Die durchschnittliche Amtsdauer währte also nicht einmal ein Jahr. Von ihrem beruflichen Werdegang hatten die Reichsminister des Innern eine unterschiedliche Nähe zu Problemen der Schule, die in ihrem Ressort nur einen Teilbereich einnahmen. Am stärksten war sie wohl bei Ministern ausgeprägt, die zuvor Oberbürgermeister von Großstädten gewesen waren, wie bei Dr. Koch-Weser, dem früheren Oberbürgermeister Kassels, Dr. Jarres, dem langjährigen Oberbürgermeister Duisburgs, und Dr. Külz, dem ehemaligen Oberbürgermeister Dresdens. Mehrere Minister, z. B. die Sozialdemokraten Dr. Gradnauer, Dr. Köster und Sollmann sowie der Demokrat Dr. Oeser, kamen vom Journalismus. Gradnauer war vom März 1919 bis zum April 1920 Ministerpräsident des Landes Sachsen gewesen, kannte also die Schulprobleme auch aus der Sicht eines Landes und verfügte über eine reiche parlamentarische Erfahrung. Die deutschnationalen Reichsminister des Innern Schiele und von Keudell waren Guts-pächter bzw. Gutsbesitzer, der letztere auch zeitweilig Landrat. Freiherr von Gayl war Jurist und zuvor Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft.

Da die Anfangsphase der Republik für die Weichenstellung in der Schulpolitik des Reiches entscheidend war, kommt den bis 1922 amtierenden Ministern, vor allem Koch-Weser, Gradnauer, Köster und Oeser, besondere Bedeutung zu. Bis 1923 amtierten Innenminister, die der SPD oder derDDP angehörten. Der allgemeine Ruck nach rechts in der Kulturpolitik verbindet sich mit den Namen der drei deutschnationalen Innenminister Schiele (1925), von Keudell (1927/28) und von Gayl (1932). Der am längsten amtierende Innenminister war der Sozialdemokrat Severing (1928 bis 1930). Seine Amtszeit fiel jedoch in die Zeit der beginnenden Wirtschaftskrise. Zudem erlahmte die schulpolitische Initiative des Reichs nach dem Debakel des von Keudellschen Reichsvolksschulgesetzentwurfs. 1930/31 amtierte erstmals ein Mitglied des Zentrums als Innenminister: Dr. Wirth, der frühere Reichs-kanzler und Finanzminister mehrerer Kabinette. Wirth war als einziger Reichsminister des Innern von Haus aus Pädagoge. Zu den Schlüsselfiguren der Reichsschulpolitik zählte der Leiter der Kulturabteilung im Reichsministerium des Innern, Staatssekretär Heinrich Schulz (1919— 1927). Er war seit 1906 der führende Schultheoretiker der SPD, Geschäftsführer des „Zentralbildungsausschusses" und Leiter der Parteischule. Ursprünglich Volksschullehrer, war er lange Jahre Redakteur bei Parteizeitungen und seit 1912 Reichstagsabgeordneter. Schulz hatte sich von einem orthodoxen Sozialisten zu einem mehr pragmatischen Schulpolitiker entwickelt, was ihm auf der Linken den Ruf des Revisionisten und Abtrünnigen eintrug.

Auf der Länderseite waren die politischen Verhältnisse, sieht man von den Ereignissen des Jahres 1923 ab, stabiler. Die Kultusminister der Länder wechselten seltener als die Reichsminister des Innern. In der Regel amtierten die Kultusminister mehrere Jahre. Die unterschiedlichen politischen Schattierungen der Länder können hier nur angedeutet werden. Besonders stabil erwiesen sich die Verhältnisse in Preußen, wo unter Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun von 1920—-1932 (von zwei kurzen Unterbrechungen abgesehen) eine Regierung der drei Weimarer Koalitionsparteien amtierte. Die Bildungspolitik des größten Landes war von Haenisch (SPD) über Boelitz (DVP), Becker (parteilos) bis zu Grimme (SPD) durch eine hohe Kontinuität gekennzeichnet. Haenisch, ein ehemaliger Journalist, leitete (nach kurzer gemeinsamer Tätigkeit mit dem Unabhäng. Sozialdemokraten Adolph Hoffmann) als erster parlamentarischer Kultusminister Preußens die Schulreform von 1919 bis 1921 aus der revolutionären Phase heraus und bemühte sich, neue Wege in der Kulturpolitik zu beschreiten. Sein Nachfolger Boelitz war ein umfassend gebildeter Pädagoge mit langjähriger Auslandsschulerfahrung, der von 1921 bis 1925 die gegliederte Einheitsschule durch ein einheitliches Bildungsprinzip zu verwirklichen suchte. Der ihm nahestehende Ministerialrat Richert begann damals mit der Neuordnung des preußischen Höheren Schulwesens. Auch die Reform der Volksschullehrerbildung wurde in die Wege geleitet (Errichtung Pädagogischer Akademien). Von der Kontinuität in der Führungsspitze des preußischen Kultusministeriums zeugt es, daß C. H. Becker von 1919— 1930 zweimal Staatssekretär und zweimal Minister war. Sein Interessenschwerpunkt lag auf dem Hochschulwesen. Die Reform der Lehrerbildung hat er nachhaltig gefördert. Becker führte sein Amt. mit überragender Sachkunde, mit Verständnis für kulturelle Entwicklungen, wenn auch weniger mit bleibendem Erfolg. Arnold Brecht, einer der besten Kenner des politischen Lebens dieser Jahre, vergleicht Becker als geistigen Repräsentanten Deutschlands inmitten des Parteigetriebes mit Theodor Heuss und dessen Funktion als Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Vielfach wurde beklagt, daß der preußische Ministerpräsident Braun dem Drängen seiner Partei nachgab und Becker 1930 durch einen Sozialdemokraten ablöste, den aus dem Kreise der Entschiedenen Schulreformer kommenden Adolf Grimme. Die kurze Amtszeit bis zu Preußens Gleichschaltung durch Papen 1932 bot ihm kaum die Möglichkeit, seine hohe Befähigung für Reformen fruchtbar zu machen. Von den Kultusministern der außerpreußischen Länder sollen nur einige genannt werden, die bei der Zusammenarbeit von Reich und Ländern eine besondere Rolle spielten. Gerade in den Anfangsjahren der Republik begegnen wir mehreren namhaften Kultusministern, großenteils ehemaligen Pädagogen. So amtierte in Bayern der frühere pfälzische Volksschullehrer Johannes Hoffmann (MSP) zunächst als Kultusminister und behielt dieses Amt auch bei, als er nach der Ermordung Eisners Ministerpräsident seines Landes wurde. Ihm lag die Volksschulreform besonders nahe. Mit zahlreichen Initiativen suchte er das bayerische Schulwesen im Sinne der Reichsverfassung zu reformieren. Die baldige Ablösung durch den konservativen Kultusminister Dr. Matt (BVP), einem führenden bayerischen Schulverwaltungsfachmann, brachte die Reformen in Bayern ins Stocken. Besonders reformfreudig waren anfangs die Minister der Länder Sachsen, Thüringen und Hessen. Sicher waren Reformen in Mittel-staaten dieser Größenordnung leichter durchzuführen als in Preußen oder Bayern. In Sachsen und Thüringen amtierten ebenfalls Minister, die aus dem Volksschuldienst hervorgegangen waren: der Demokrat Seyfert (1919/20) in Sachsen und der Sozialdemokrat Greil in Thüringen. Mit Greils Namen verbindet sich der Versuch, in Thüringen unter einer SPD-USPD-Regierung die Einheitsschule zu verwirklichen. In Hessen begann der der DDP angehörende Präsident des Landesamtes für das Bildungswesen Strecker 1919/21 mit Bildungsreformen. Schließlich ist der badische Kultusminister Prof. Dr. W. Hellpach (DDP) zu nennen (1922— 1925, 1924 zugleich Staats-[=Minister-]präsident seines Landes).

Um den Überblick zu erleichtern, sollen im folgenden die Phasen der Zusammenarbeit von Reich und Ländern auf dem Gebiete des Schulwesens in der Weimarer Republik im Vorgriff skizziert werden: — Die Zeitspanne vom November 1918 bis zur Verabschiedung der Reichsveriassung im August 1919

In dieser Zeit waren die Länder wie bisher in der Gestaltung des Schulwesens autonom. Vor allem in den unter sozialistischem Einfluß stehenden Länderregierungen Preußens, Braunschweigs, Sachsens, Hamburgs und Bremens wurden in der ersten Zeit nach der Revolution Reformen mit dem Ziel der Trennung von Staat und Kirche eingeleitet. Dabei arbeiteten die Unterrichtsverwaltungen weder untereinander noch mit dem Reich zusammen. — Die Zusammenarbeit im Reichsschulausschuß 1919— 1923

Nach Verabschiedung der Reichsverfassung war die neu errichtete Kulturabteilung im Reichsministerium des Innern bemüht, das große schulreformerische Programm der Verfassung möglichst schnell in die Wirklichkeit, d. h. zunächst in schulgesetzliche Bestimmun-gen umzusetzen. Diese Phase steht unter dem Stichwort „Naherwartung", d. h., die politischen Kräfte, die die Verfassungsbestimmungen auf dem Gebiet von Schule und Bildung zu verantworten hatten, hofften, diese Bestimmungen in absehbarer Zeit verwirklichen zu können. Die Zusammenarbeit von Reich und Ländern begann im Oktober 1919 mit einer Konferenz der Kultusminister unter Leitung des Reichsministers des Innern in Berlin. Damals wurde der Reichsschulausschuß errichtet, in dem das Reichsministerium des Innern mit den Unterrichtsverwaltungen der Länder zusammenarbeitete. Dieser Ausschuß bereitete die Reichsschulgesetzentwürfe vor, von denen jedoch nur das Grundschulgesetz über die parlamentarischen Hürden kam. Die Reichsschulkonferenz im Juli 1920 führte alle interessierten Gruppen zu einer umfassenden Diskussion über die Schulreform zusammen. In den Jahren 1921 bis 1923 mit ihren steigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, den wachsenden innen-und außenpolitischen Belastungen und der sprunghaften Geldentwertung begannen die Bemühungen um eine Reichsschulpolitik zu stagnieren. Im Frühjahr 1923 stellte Bayern die Mitarbeit im Reichsschulausschuß ein, was zur Folge hatte, daß diese Form der Zusammenarbeit aufgegeben wurde. — Die Zusammenarbeit im Ausschuß für das Unterrichtswesen von 1924— 7933

Vom Frühjahr 1923 bis zum Herbst 1924 schlief die Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern fast völlig ein. Infolgedessen verstärkten die Länder ihre eigene Schulpolitik. Eine größere Zersplitterung im Höheren Schulwesen und in der Lehrerbildung zeichnete sich ab. Die Konferenz der Kultusminister der Länder mit dem Reichsminister des Innern im Oktober 1924 konstituierte den Ausschuß für das Unterrichtswesen, in dem nur die Vertreter der größeren Länder ständig vertreten waren. Ihm gelang eine Koordinierung auf Teilgebieten des Schulwesens durch Vereinbarungen. In den politisch relativ stabilen Jahren zwischen 1924 und 1929 gab das Reich die Initiative für eine einheitliche Bildungspolitik weithin aus der Hand. Zwei Versuche, ein Reichsvolksschulgesetz zu verabschieden, scheiterten. Nach 1929 wirkt die Wirtschaftskrise zunehmend auf die schulpolitische Entwicklung ein. Ab 1930 beginnt zunächst in Thüringen, dann in Braunschweig und Oldenburg mit der Übernahme des Kulturressorts durch Nationalsozialisten der Weg in die totalitäre Erziehung. 1933 greift der nationalsozialistische Reichsminister des Innern, Dr. Frick, nochmals auf den Ausschuß für das Unterrichtswesen zurück. Mit der Übernahme der Schulhoheit durch das Reich und der Errichtung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (1934) sind die Länder und ihre Unterrichtsverwaltungen keine gleichberechtigten Partner des Reichs mehr.

Mit dieser Skizze sind wir weit voraus geeilt. Wir wollen zunächst die Entwicklung des so-genannten Reichsschulgedankens verfolgen.

II. Die Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern — Die Entwicklung des sogenannten Reichsschulgedankens 1848— 1918

Fichte rühmt in seinen „Reden an die deutsche Nation" (1807) die deutsche Vielstaaterei als Quelle deutscher Bildung. Auch die von ihm geforderte Nationalerziehung sollte — in der damaligen Situation durchaus realistisch gedacht — im Wettstreit der Einzelstaaten verwirklicht werden. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Gedanke der National-erziehung mehr und mehr von der erstarkenden nationalen deutschen Einheitsbewegung aufgegriffen. Hinzu trat die Forderung, das durch die Zuständigkeit der Einzelstaaten verschiedenartig entwickelte Schulwesen zu vereinheitlichen. Nationalerziehung und Reichsschulgedanke wurden miteinander verknüpft. Die Frankfurter Nationalversammlung nahm in die Verfassung von 1849 im Rahmen der Grundrechte einen längeren Artikel über Wissenschaft und Unterricht auf. Eine unmittelbare Wirksamkeit blieb dieser Verfassung bekanntlich versagt. Bemerkenswert ist jedoch, daß zur Durchführung dieser Verfassungsbestimmungen damals zuerst die Forderung nach einem Reichsunterrichtsministerium erhoben wurde. Dieses Ministerium sollte Einheit in die deutsche Nationalerziehung bringen. Die Grundzüge des deutschen Volksschulwesens sollten in einem Reichsschulgesetz umrissen werden, dessen Durchführung den Landesregierungen überlassen bleiben sollte. Die weitere Entwicklung ging zunächst über diese Vorstellungen hinweg.

Weder in der Verfassung des Norddeutschen Bundes noch in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 wurde das Unterrichtswesen zu den Angelegenheiten gezählt, die der Beaufsichtigung des Reiches und seiner Gesetzgebung unterlagen. Wie bisher waren die Bundesstaaten für das Schulwesen zu-standig-—le poiitiscnen runrungsKrarte aes Reichs empfanden offensichtlich die bestehende Rechtsungleichheit im Schulwesen und die Mannigfaltigkeit der Bildungseinrichtungen nicht als Frage von so großer Tragweite, daß es einheitlicher Lösungen bedurfte. Noch im März 1917 betonte im Reichstag der Vertreter der Reichsregierung, als im Rahmen der Haushaltsdebatte Schulfragen zur Sprache kamen, „daß es in dem ganzen Aufbau des Deutschen Reichs und in der ganzen Organisation unseres Bundesstaates aufs tiefste historisch, wirtschaftlich, politisch, kulturell nach allen Richtungen hin begründet ist, daß das Schulwesen ein Essentiale . . .der einzelstaatlichen, bundesstaatlichen Landeshoheit ist" Auch mit Rücksicht auf die Landesherren dürfte man 1871 davon abgesehen haben, die Schulhoheit der Bundesstaaten anzutasten. Möglicherweise spielte eine verständliche Zurückhaltung im Blick auf die konfessionellen Verhältnisse eine Rolle, vor allem bei der noch engen Verflechtung von Kirche und Volksschule. Vielleicht schien es auch ein Wagnis, Schulfragen dem aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehenden Reichstag zur Entscheidung zu überlassen. Solange die Landtage nach Verfahren gewählt wurden, die den unteren sozialen Schichten eine entsprechende Repräsentanz verwehrte, schien damit eine überwiegend konservative Bildungspolitik in den Bundesstaaten, vor allem im Preußen des Dreiklassenwahlrechts, für absehbare Zeit gesichert. Das Reich verzichtete also auf eine eigene Schul-und Bildungspolitik.

Eine lose schultechnische Zusammenarbeit der Bundesstaaten bahnte sich an, als zuerst im Norddeutschen Bund, später im Deutschen Reich eine Bundes-(Reichs-) Schulkommission geschaffen wurde. Sie sollte hauptsächlich einheitliche Anforderungen bei der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen Militärdienst gewährleisten. Das militärische Interesse richtete sich allerdings auf einen sehr begrenzten Bereich des Schulwesens, auf das Berechtigungswesen. Dies erscheint charakteristisch für das Kaiserreich: Es waren militärische Aspekte, die eine gewisse Vereinheitlichung im Berechtigungswesen förderten. Der damalige Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, C. H. Becker, hielt es 1919 für bezeichnend, „daß die Verschmelzung der deutschen Stämme zum Einheits-olk ausschließlich dem Militär statt der Schu e und der Kulturpolitik überlassen wurde"

Im Zusammenhang mit der Arbeit der Reichsschulkommission fanden 1868, 1872 und 1913 Konferenzen der für das Höhere Schulwesen zuständigen leitenden Beamten der Bundesstaaten statt. Ais Ergepns dieser Lusammenarbeit ist vor allem die 1874 zuerst abgeschlossene Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse zu erwähnen. Weiter kam es zwischen den Bundesstaaten zu zahlreichen bilateralen Vereinbarungen über Einzelfragen, z. B. die Schulpflicht. Diese Bemühungen um eine übereinstimmende Bewertung der Schulabschlüsse, eine Angleichung der Schulpflicht usw. änderten jedoch wenig an der Tatsache, daß sich das Schulwesen im Deutschen Reich vielgestaltig entwickelte.

Wachsende Bedeutung gewann das Vorbild des größten Landes: Preußen. Seine Schulpolitik strahlte mehr und mehr auf die der übrigen Länder aus. Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900, die der Reform des Höheren Schulwesens galten, förderten ähnliche Bestrebungen in außerpreußischen Staaten. Im Bereich des Hochschulwesens sorgte die 1898 geschaffene Hochschulkonferenz, in der die Hochschulreferenten der Bundesstaaten zusammenarbeiteten, für Angleichungen. Diese multi-oder bilaterale Zusammenarbeit der Unterrichtsverwaltungen vollzog sich freiwillig — soweit sich sehen läßt —, ohne Druck der öffentlichen Meinung und weithin auch unbeachtet von ihr.

Der Gedanke eines Reichsschulgesetzes und eines Reichsunterrichtsministeriums wurde nach 1871 mehrfach von Lehrerkreisen zur Diskussion gestellt. Einen Versuch, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, unternahm 1874 der liberale Münchner Nationalökonom G. Flirth. Er forderte in einer mit zahlreichen Unterschriften versehenen Petition den Reichstag auf, statistische Erhebungen über den Stand des Schulwesens einzuleiten, die Bildungsziele zu umreißen, die jeder junge Reichsbürger erreichen müsse, und schließlich ein straffes Reichsschulgesetz sowie zu dessen Durchführung ein Reichsschul-Budget zu schaffen (wobei nicht an eine zentralistische Verwaltung, sondern an eine Mitwirkung der Bundesstaaten und der kommunalen Selbstverwaltung gedacht war). In der umfassenden Begründung seiner Petition bezog sich Hirth auf die Präambel der Reichsverfassung, wo die „Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes" als Ziel des Reiches proklamiert wurde. Beachtenswert sind die überraschend „modernen" Argumente, z. B.der Hinweis auf die Gefahren, welche ungebildete, der freiheitlichen Gesetzgebung nicht gewachsene Massen mit sich bringen, die das ganze Reich bedrohen können; das allgemeine direkte Wahlrecht könne auf die Dauer nur dann segenbringend wirken, wenn es von einem geistig mündigen Volke ausgeübt werde; die Wehrfähigkeit des Reiches hänge wesentlich von dem Bildungsgrad der Massen ab; das Reich könne nicht zuwarten, ob, wann und wie es den einzelnen Staaten oder Gemeinden beliebe, die Volksschulen auf einen den Kulturbedürfnissen der Gesamtheit entsprechenden Stand zu bringen; die Einheitlichkeit der wirtschaftlichen und politischen Interessen erfordere einen Finanz-ausgleich zugunsten der ärmeren und zurückgebliebenen Gegenden und Volkskreise des Reichs.

Schon vorher hatte Hirth in Veröffentlichungen im Blick auf die Volksbildung von einem „Reichskulturnotstand" gesprochen, einem „nationalen Krebsschaden", dessen „Heilung von Reichs wegen mindestens ebenso wichtig sei wie die Verhütung von Rinderpest" (deren Bekämpfung reichsgesetzlich geregelt wurde)

Der Reichstag war nicht gewillt, diesen Argumenten zu folgen. Möglicherweise ließ auch der Kulturkampf die Parteien vor einem politischen Engagement in Schulfragen zurückschrecken, Die Petition wurde auf Vorschlag der Petitionskommission zur Erörterung im Plenum für nicht geeignet erklärt, hauptsächlich aus einem formalen Grund: weil das Volksschulwesen nicht zur Kompetenz des Reichs, sondern der Einzelstaaten gehörte.

Hirths Petition blieb aber nicht ohne Widerhall. Kreise der Lehrerschaft nahmen den Plan von Hirth auf. Die elfte Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung in Breslau 1874 erklärte, „daß die einheitliche Entwicklung des deutschen Volkes es gebieterisch fordert, die Gesetzgebung über das Schulwesen im Deutschen Reiche dem Reichstage zu übertragen" Auch in späteren Jahren begegnet uns das Thema Reichsschulgesetzgebung auf Tagesordnungen der großen Versammlungen des Deutschen Lehrervereins. 35 Jahre bestand das Reich, ohne daß eine der großen Parteien den Gedanken des Reichsschulgesetzes aufgriff. Für die weitere Diskussion in der Öffentlichkeit bis hin zu den Beratungen der Nationalversammlung 1919 war es von entscheidender Bedeutung, daß sich die Sozialdemokratie als erste Partei 1906 auf ihrem Mannheimer Parteitag die (ursprünglich liberale) Idee eines Reichsschulgesetzes zu eigen machte. Heinrich Schulz entwickelte mit Clara Zetkin in Mannheim auf dem Boden des Erfurter Programms von 1891 ein umfassendes Schulprogramm der SPD mit der Grundthese: Einheitlichkeit des Aufbaus des Schulwesens vom Kindergarten bis zur Hochschule, Dieser Aufbau sollte in einem Reichsschulgesetz verankert werden. Die Schulfrage sollte, wie Schulz betonte, „aus den Dunkelkammern der einzelstaatlichen Parlamente, besonders aus der preußischen Hochburg des Junker-und Pfaffentums, in das hellere Licht und die freiere Atmosphäre des Reichstages" gehoben werden. Widerstand auf konservativer wie bürgerlicher Seite mußte vor allem die Forderung nach „Weltlichkeit des Schulwesens“ — also nach Entkonfessionalisierung des Volksschulwesens und Abschaffung des Religionsunterrichts — wecken. Heinrich Schulz, der später als Staatssekretär im Reichsministerium des Innern und Leiter der Kulturabteilung von 1919— 1927 die Schulpolitik des Reichs maßgebend mitgestaltete, veröffentlichte 1911 sein Buch „Die Schulreform der Sozialdemokratie", das für die schulpolitische Konzeption der SPD bis in die zwanziger Jahre bestimmend blieb. 1912 beantragte die Sozialdemokratische Fraktion im Reichstag die reichsgesetzliche Regelung des gesamten Schulwesens (Reichsschulgesetz) und den Ausbau der Reichsschulkommission zu einem selbständigen Reichsamt für das Schul-und Bildungswesen. Heinrich Schulz, damals Reichstagsabgeordneter, schloß seine Begründung mit den Worten: „Wir werden . . . nicht ruhen und nicht rasten, bis die Reichsverfassung auch in der Schulfrage sinngemäß durchgeführt ist, bis durch die Reichsschulgesetzgebung Deutschlands innere Einheit und Deutschlands Wehrhaftigkeit nach außen gesichert ist, wie es ohne solche Schulgesetzgebung nicht möglich wäre." Diesem Antrag blieb die Zustimmung des Reichstags versagt. Zentrum, Nationalliberale und Fortschrittler (Linksliberale) äußerten sich ablehnend. Vor allem das Zentrum sah im Schulwesen eine Sache der Einzelstaaten. Die Nationalliberalen bejahten grundsätzlich ein stärkeres Engagement des Reichs im Schulwesen, fürchteten aber, daß die Schaffung eines Reichsschulamtes zur allmählichen Übernahme des gesamten Schulwesens durch das Reich führen könne. 1913 wiederholte die SPD ihren Antrag in abgemilderter Form und forderte diesmal die Umwandlung der Reichsschulkommission in ein Reichsamt (Reichsschulbehörde). Auch dafür fand sich im Kencstdg Keine Ienrnelt. BemerKenswert ist, daß damals der Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner als Abgeordneter der Fortschrittlichen Volkspartei starke Bedenken gegen ein Reichsschulamt und eine Reichsschulgesetzgebung äußerte. Unter anderem fürchtete er, der nördlich der Mainlinie herrschende „Geist der absoluten Strammheit" könnte „der heilige Geist des Reichsschulamts" werden

Im Februar 1914 nahm der Reichstag mit den Stimmen der SPD eine von der Fortschrittlichen Volkspartei vorbereitete Resolution an, in der der Ausbau der Reichsschulkommission zu einem Reichsschulamt gewünscht wurde, „das, ohne legislatorische, administrative und disziplinare Befugnisse zu haben, zum Studium des ausländischen Schulwesens und als Anregungs-und Beratungsstelle des gesamten deutschen Schulwesens dient"

Eine solche Informations-und Beratungsstelle hatte 1903 bereits der spätere Frankfurter Stadtschulrat Dr. Julius Ziehen gefordert. 1908 hatte die Deutsche Lehrerversammlung in Dortmund diesen Plan aufgegriffen und unterstützt. 1910 befürwortete der Berliner Lehrer-verein die Gründung eines Reichsschulmuseums nach dem Vorbild ausländischer Staaten mit dem Sitz in Berlin. Bemühungen des preußischen Kultusministers, ein staatliches Schulmuseum zu errichten, scheiterten am preußischen Finanzminister. Schließlich fand man einen Ausweg und gründete eine Stiftung. Im März 1915 konnte der preußische Kultusminister von Trott zu Solz das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin eröffnen. Wenn auch der Wirkungskreis des Zentralinstituts zunächst nur auf Preußen begrenzt blieb, so war damit doch eine Beratungs-und Informationsstelle geschaffen, die schon einige Jahre später eine für das gesamte Reich fruchtbare Beratungs-und Informationstätigkeit ausübte.

Zu den innenpolitischen Rückwirkungen des Ersten Weltkrieges zählt eine gewisse Entspannung der schulpolitischen Gegensätze. In mehreren großen Sammelwerken wurde von Fachleuten die Frage erörtert, in welche Richtung die Schulreform nach dem Kriege gelenkt werden sollte. Schulpolitiker verschiedener Konvenienz, Wissenschaftler, Schulverwaltungsbeamte und Lehrer fanden sich im Deutschen Ausschuß für Erziehung und Unterricht zusammen und erörterten den „Aufstieg der Begabten". Die Diskussion um die nationale Einheitsschule hatte schon auf dem Pfingsi -kongreß des Deutschen Lehrervereins in Kiel 1914 einen Honepunkt erlebt, in einer Entschließung forderte der Kongreß „die organisch gegliederte nationale Einheitsschule, . . . in der jede Trennung nach sozialen und konfessionellen Rücksichten beseitigt ist"

Während des Krieges wurde in Fachkreisen erwogen, ob es möglich, zulässig oder wünschenswert sei, die scharfe Trennung im organisatorischen Aufbau des Schulwesens aufrecht zu erhalten. Unter dem Eindruck des Krieges wurden Lehrplanfragen, Fragen der sittlichen Erziehung, der staatsbürgerlichen Bildung, des Berufsschulwesens und der Lehrerbildung neu durchdacht. Im Hauptausschuß und im Plenum des Reichstages brachte Heinrich Schulz 1917 den Plan einer Reichsschulkonferenz zur Sprache, in der „nach Beendigung des Krieges Vertreter der staatlichen und gemeindlichen Schulverwaltung, der pädagogischen Theorie und Praxis und der Schulpolitik sowie andere geeignete Sachverständige" im Blick auf die Kriegserfahrung die Gesamtheit der pädagogischen, schulgesetzlichen und schulorganisatorischen Fragen erörtern und sich gutachtlich äußern sollten Eine entsprechende Resolution wurde im Hauptausschuß von den Sozialdemokraten, den Abgeordneten der Fortschrittspartei und der Nationalliberalen Partei unterstützt. Gegen die Resolution stimmten das Zentrum und die Konservativen. Hier kündigte sich eine schulpolitische Gruppierung an, der wir in der Weimarer Republik mehrfach begegnen werden. Zu erwähnen bleibt, daß der Gedanke eines Reichskultusministeriums bei der Jahrhundertfeier der preußischen Unterrichts-verwaltung 1917 kurz zur Sprache kam, aber sofort abgewiesen wurde mit dem Hinweis, daß ein Reichsamt in der Luft schweben würde, weil ihm weder eine Schule, noch eine Universität unterstellt wäre.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß im Kaiserreich die politischen Voraussetzungen für eine reichsgesetzliche Regelung des Schulwesens nicht gegeben waren.

III. Die Schulreformen der Länderregierungen 1918/19 und die Schulartikel der Reichsverfassung

Die Revolution Vom November 1918 setzte in den Ländern Kräfte frei, die bisher in der Schulpolitik keinen Einfluß hatten. Zum ersten-mal bot sich den beiden sozialistischen Parteien die Möglichkeit zu einer aktiven Schulpolitik. Dies gilt vornehmlich für die sozialistisch geführten oder beeinflußten Länder-regierungen Preußens, Bayerns, Sachsens und einiger Kleinstaaten. Es ist hier nicht möglich, ein umfassendes Bild dieser Reformbemühungen zu zeichnen. Wir müssen jedoch darauf eingehen, da die Entstehung der Verfassungsbestimmungen über das Bildungswesen, insbesondere die beiden Weimarer Schulkompromisse, nur auf dem Hintergrund des schulpolitischen Kampfes verständlich sind, der sich in den Ländern, vor allem in Preußen, in den ersten Monaten nach der Revolution abspielte. Dort hatte die neue Regierung am 13. November 1918 in ihrem Aufruf „An das Preußische Volk" den „Ausbau aller Bildungsinstitute, insbesondere der Volksschule, Schaffung der Einheitsschule, Befreiung der Schule von jeglicher kirchlichen Bevormundung, Trennung von Staat und Kirche" proklamiert Wenige Tage darauf veröffentlichte der Deutsche Lehrerverein sein Schulprogramm. Zu den Hauptforderungen zählten gleichfalls die Schaffung der Einheitsschule vom Kindergarten bis zur Hochschule und die Errichtung einer Obersten Reichsbehörde für das Schulund Bildungswesen, der ein aus Lehrern und Nichtlehrern zusammengesetzer Erziehungsrat zur Seite stehen sollte. Noch im November leiteten die preußischen „Doppelminister" Haenisch (MSP) und Hoffmann (USP) ihre kulturpolitische Offensive ein. Bald zeigten sich jedoch weitreichende Meinungsverschiedenheiten bei beiden gerade in taktischen Fragen. Während es Hoffmann um schnelle, grundlegende Reformen, vor allem im Verhältnis von Kirche und Schule, sowie um einen Wechsel der Führungskräfte des Ministeriums ging, setzte sich Haenisch für ein Verbleiben der erfahrenen Beamten ein und wollte wichtige Fragen der Schulreform in Zusammenarbeit mit der zu wählenden preußischen Landesversammlung lösen. Als besonders folgenreich im Blick auf die späteren Verfassungsberatungen in Weimar erwiesen sich zwei Erlasse: Am 27. November 1918 erging die von Hoffmann und Haenisch unterzeichnete Verfügung, mit der die geistliche Ortsschulaufsicht in Preußen aufgehoben wurde. Bis zum 31. Dezember 1918 sollte die Überleitung auf staatliche Kreisschulinspektionen abgeschlossen sein. Am 29. November 1918 folgte der von Haenisch unterzeichnete Erlaß über die Aufhebung des Religionszwanges in der Schule. Damit wurde das Schulgebet, wo es noch üblich war, aufgehoben. Die Lehrer wurden von der Verpflichtung befreit, Religionsunterricht zu erteilen. Den Schülern wurde der Besuch des Religionsunterrichts freigestellt.

Diese Maßnahmen deuteten daraufhin, daß die sozialistische preußische Regierung bemüht war, das sozialdemokratische Erfurter Programm von 1891 auf dem Verordnungswege zu verwirklichen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die erwähnten Verordnungen auch Forderungen aus den Reihen der bürgerlich-demokratisch orientierten Volksschullehrerschaft und ihrem Sprachrohr, dem Deutschen Lehrerverein, entgegenkamen. Auf katholischer und evangelischer Seite setzte gegen diese Verordnungen ein Sturm der Proteste ein. Der Angriff auf den Religionsunterricht und die Bekenntnisschulen wurde als ein Versuch zur Entchristlichung des Volkslebens allgemein verstanden. Die Separatistenbewegungen im Rheinland und in Oberschlesien bedienten sich geschickt der Losung „Euer Glaube ist in Gefahr". Gegen die neue Schulpolitik formierte sich schnell eine breite Abwehr, die besonders vom Zentrum getragen wurde. In der Zentrumspresse, in Massenversammlungen in Stadt und Land wurde die Notwendigkeit einer gemeinsamen katholischen und protestantischen Front gegen die sozialistische Schulpolitik betont. Die preußischen katholischen Bischöfe wandten sich am 20. Dezember 1918 in einem Hirtenbrief scharf gegen die Verordnungen. Unter dem Druck dieser Proteste nahm Haenisch Ende Dezember die Verordnung vom 29. November zurück. Die Verordnung über die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht vom 27. November 1918 wurde Mitte Februar 1919 außer Kraft gesetzt. Schon vorher, Anfang Januar, war Hoffmann mit den übrigen „Doppelministern" der Unabhängigen Sozialdemokraten zurückgetreten. Mit seinem Rücktritt war die revolutionäre Phase der sozialistischen Schulpolitik in Preußen beendet.

Haenisch amtierte allein weiter und übte auch in der am 25. März 1919 gewählten ersten* parlamentarischen Regierung Preußens das Amt des Kultusministers aus. Obschon die Wahl zur preußischen Landesversammlung den Sozialdemokraten und Demokraten eine ausreichende Mehrheit der Sitze gebracht hatte, wurde das Zentrum mit in die Regierungskoalition ausgenommen, u. a. um den bedrohlichen Separationsbestrebungen in Schlesien und im Rheinland zu begegnen. Die Beteiligung des Zentrums an der Regierung blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die kulturpolitischen Entscheidungen. So kam es in den ersten Monaten des Jahres 1919 in der preußischen Landesversammlung mehrfach zu schulpolitischen Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Sozialdemokratie und Zentrum (z. B. bei den Beratungen über die Gesetz-entwürfe zur Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht und zur Änderung der Zusammensetzung der Schuldeputation). Eine Schulpolitik, die gleichermaßen Sozialdemokratie, Liberale und Zentrum befriedigte, konnte es nicht geben.

Unterdessen wurde in Weimar über die Verfassungsentwürfe beraten. Wir können die Entstehung der Schulartikel der Reichsverfassung nur kurz schildern. Der Entwurf von Staatssekretär Dr. Preuß führte bei den der Gesetzgebung des Reichs unterliegenden Angelegenheiten auch die Schule auf (§ 4 Nr. 12). Darüber hinaus fand sich im Rahmen des § 20 die sehr allgemein gehaltene Bestimmung: „Der Unterricht soll allen Deutschen gleichmäßig nach Maßgabe der Befähigung zugänglich sein." Diese Zurückhaltung enttäuschte besonders den Deutschen Lehrerverein, dessen geschäftsführender Ausschuß sich am 16. Februar 1919 mit einer Eingabe an die Nationalversammlung wandte und darum bat, „bei der Gestaltung der Verfassung für das Deutsche Reich und beim Ausbau der Reichs-verwaltungsbehörden Bedacht darauf nehmen zu wollen, daß das Schul-und Bildungswesen im Gesamtstaat eine Regelung erfährt, die seiner Bedeutung für die Einheit des völkischen Fühlens und Wollens und damit für den Zusammenhalt des Reiches sowie für die Entwicklung der sittlichen und wirtschaftlichen Volkskraft entspricht"

Ausführlicher ging der dem Staatenausschuß vorgelegte erste Regierungsentwurf auf das Schulwesen ein, obschon auch er sich auf wenige Schulbestimmungen beschränkte, ohne jedoch eine Grundsatzkompetenz des Reichs vorzusehen. Diese Einschränkung ist auf den sehr energischen Widerspruch der süddeutschen Länder zurückzuführen, die das Bildungswesen weiterhin als typische Ländersache angesehen wissen wollten. Darüber hinaus stieß eine ins einzelne gehende reichs-rechtliche Regelung auf zahlreiche technische Schwierigkeiten. Machte sich doch bei den Vorarbeiten die starke Verschiedenheit des Landesrechts, das Fehlen einer Reichsstelle, die die Materie übersah und beherrschte, hemmend bemerkbar. Dazu kam eine in den Ländern unübersichtliche schulpolitische Lage. Verwirrend mußten auch die divergierenden schulpolitischen Forderungen der verschiedenen politischen und weltanschaulichen Gruppierungen wirken. Deshalb beschränkte sich der Regierungsentwurf auf einige Leitsätze des alten liberalen Schulprogramms, wobei man auf die preußische Verfassung von 1850 zurückgriff (Unentgeltlichkeit des Unterrichts in den öffentlichen Volksschulen, Jugend-und Volksbildung als öffentliche Aufgabe, einheitlicher Schulaufbau, staatliche Schulaufsicht). Bemerkenswert war der Versuch, die Einheitsschule in der Verfassung zu verankern, indem die gesamte Volksschule als Unterbau der Mittleren und Höheren Schulen vorgesehen wurde. Die übrigen schulpolitischen Streitfragen, wie konfessionelle Gliederung des Volksschulwesens, Religionsunterricht, Verhältnis von Kirche und Schule, Gestaltung der Lehrerbildung, wurden nicht erwähnt; sie sollten — wie bisher — der Regelung durch die Länder überlassen bleiben. Anfang März 1919 wurde der Regierungsentwurf dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung überwiesen. An dessen Beratungen wirkten Vertreter der Landesregierungen mit. Erstaunlicherweise war die Unterrichtsverwaltung des größten deutschen Landes, Preußen, nicht vertreten. Schnell zeigte sich, daß der Verfassungsausschuß die künftige Gestaltung der Schule eingehender in der Reichsverfassung behandelt sehen wollte. Entgegen immer wieder warnenden Stimmen von Vertretern der Reichsregierung und einzelner Länder wollten die Parlamentarier den Versuch einer zusammenhängenden Regelung des Schulwesens innerhalb der Verfassung wagen.

Hatten bislang sozialistische und liberale Schulpolitiker eine reichsrechtliche Regelung des Schulwesens gefordert, während Zentrum und Konservative diesen Bemühungen ablehnend gegenüberstanden, so kam es nunmehr zu einer überraschenden Wendung. Hervorgerufen durch die auseinanderstrebenden Initiativen einzelner Länder, vor allem durch die einschneidenden Reformmaßnahmen Preußens vom November 1919, setzten sich bei der zweiten Lesung im Verfassungsausschuß die Zentrumspartei und die Deutschnationale Volkspartei gegen die Linke für die Aufnahme einer Reihe von Bestimmungen in die Verfassung ein, die die Bekenntnisschulen, Privatschulen und den Religionsunterricht sichern sollten. Dabei konnten sich diese Parteien auf starke Strömungen in der Öffentlichkeit stützen. Neben unverminderten Initiativen aus katholischen Kreisen ist hier die Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses vom 13. März 1919 zu erwähnen, in der die evangelischen Landeskirchen die Aufrechterhaltung des christlichen Charakters der Volksschule forderten. Diese Petition wurde von mehr als vier Millionen wahlfähiger Bürger unterzeichnet und war die größte, die bis dahin ein deutsches Parlament erreicht hatte. In zähen Verhandlungen wurde im Verfassungsausschuß aus den wenigen Sätzen des Regierungsentwurfs ein ausgebautes System von Bestimmungen über Bildung und Schule gemacht. Stark beeinflußt wurden die Beratungen des Verfassungsausschusses über die Begründung einer kulturpolitischen Zuständigkeit des Reichs durch die Denkschrift des preußischen Staatssekretärs C. H. Becker Sie umriß am prägnantesten die Probleme der deutschen Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen Reich und Ländern (eine Feststellung, die nicht nur für das Jahr 1919, sondern auch teilweise für die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik noch berechtigt erscheint). Das Erstaunliche liegt vor allem darin, daß der höchste Beamte des Kultusministeriums des größten Landes für eine Reichskompetenz eintrat. Neben den Parlamentariern kam damit erstmals ein Mann der Praxis zu Wort, der nicht nur die Unterrichtsverwaltung des eigenen Landes kannte, sondern durch seine führende Mitarbeit in der Hochschulkonferenz auch Einblick in die Unterrichtsverwaltungen anderer deutscher Länder gewonnen hatte. Becker hatte seine Denkschrift auf Wunsch des Reichsministers des Innern Preuß verfaßt. Im folgenden seien die Grundzüge dieser Schrift skizziert.

Becker setzt sich mit dem Einspruch der süddeutschen Länder gegen die Übertragung kulturpolitischer Kompetenzen auf das Reich auseinander. Er bescheinigt den Ländern ein berechtigtes Kulturbewußtsein, das sich gegenüber dem kulturellen Unitarismus regt. Nähme man den Ländern auch noch die kulturelle Autonomie, so sänken sie völlig auf die Stufe kommunaler Bildungen herab. Bezeichnenderweise sei Preußen von Anfang an bereit gewesen, dem Reiche kulturpolitische Kompetenzen zuzugestehen. „Man denkt eben in Preußen, wie man in einem Großstaat denkt, und in Süddeutschland, den Verhältnissen entsprechend, mit kleinstaatlicher Einstellung." Becker verweist auf die Unzulänglichkeiten der bisherigen deutschen Kultur-politik. Bisher habe man eine wirkliche Kulturpolitik überhaupt nicht betrieben und betreiben können, weil das Reich keinerlei kulturpolitische Kompetenzen, keine Verankerung in der Kultur der deutschen Einzelstaaten besaß. Waren die Verhältnisse schon vor der Revolution reformbedürftig, so seien sie jetzt unhaltbar geworden. Bei seiner politischen und wirtschaftlichen Ausschaltung habe das deutsche Volk im Ringen der Völker nur noch seinen Ideengehalt als Einsatz. Träger der deutschen Kultur nach außen könne nur das Reich sein und nur auf kulturellem Gebiet sei Deutschland noch „wirklich souverän". Aus staatlichem Selbsterhaltungstrieb sei die Kompetenz des Reichs für die innere Kulturpolitik unentbehrlich, da die Hegemoniestellung Preußens nicht mehr existiere, auch wenn Preußen fortbestehe. „Träger der Reichseinheitsidee kann hinfort nur noch das Reich sein. In diesem einfachen Satz steckt eine ungeheure Aufgabe. Sie ist durch Reichseisenbahnen, gemeinsame Briefmarken und selbst durch die beste Wirtschaftspolitik nicht zu lösen, sondern nur durch eine nationale Kulturpolitik. Ihre Parole muß sein: . Erziehung der deutschen Stämme zur Nation'..." „Die Erziehung wird dabei nicht nur national sein, sondern im Interesse des gegenseitigen Verständnisses in einer gewissen Einheitlichkeit sich bewegen müssen. Sonst könnten sich die einzelnen Gliedstaaten, sei es im ultraradikalen, sei es im reaktionären Fahrwasser nicht zueinander, sondern auseinander entwikkeln." Dies könne nur durch eine begrenzte Reichsaufsicht verhindert werden. Keinesfalls dürfe sich das Reich auf den guten Willen kulturell-autonomer Staaten verlassen. „Die Dynastien sind zwar als Träger des Partikularismus verschwunden, aber die Bürokratien sind geblieben, und sie sind oft selbstsüchtiger als die Träger der Krone." Wer die Entwicklung der Folgezeit untersucht, wird diese Feststellungen weithin bestätigen müssen. Becker ist bemüht, die gebieterische Notwendigkeit einer nationalen Kulturpolitik mit der kulturellen Autonomie der Gliedstaaten zu vereinen. Als Lösung befürwortet er die verfassungsmäßig verankerte Berechtigung des tivbestimmungen zu erlassen, „Diese Normativbestimmungen müßten natürlich sehr sorgfältig erwogen werden und jedenfalls ist die gegenwärtige aufgeregte Zeit denkbar ungünstig, etwa ein Unterrichtsgesetz für das Reich zu entwerfen. Sie müßten jedenfalls so weitherzig sein, daß auch der Gliedstaat, ja der Selbstverwaltungskörper noch Spielraum zu Experimenten behält,"

Sehr bedeutsam ist, daß Becker für die nächsten Jahre und Jahrzehnte den Weg der Vereinheitlichung nicht durch gesetzgeberische Maßnahmen, sondern über Vereinbarungen sieht. Dabei beruft er sich auf die positiven Erfahrungen der Hochschulkonferenz. In gleicher Weise sollten die Referenten der Unterrichtsverwaltungen für das Volks-und Höhere Schulwesen unter Beteiligung des Reichs solche Vereinbarungen vorbereiten, wobei man dem Reich sogar den Vorsitz geben und dem Reichsministerium des Innern ein ständiges Büro angliedern könne. Um die Zusammenarbeit der Referenten mit der pädagogischen Öffentlichkeit zu sichern, könnten Reichsschulkonferenzen die Kommission beraten. „Auf diese Weise käme die Vereinheitlichung nicht durch bürokratische Maßnahmen, sondern durch den Sieg der Idee zur Verwirklichung . . . Und schließlich hat das Reich ein glänzendes Mittel, um ohne Zwang auch Widerspenstige bei der Stange zu halten, die finanzielle Beihilfe." Im Interesse der kulturellen Reichseinheit sei es nur zu begrüßen, wenn das Reich in Zukunft zum Finanzier der Gliedstaaten werde. So werde allmählich auch die kulturpolitische Führung auf das Reich übergehen. Zusammenfassend folgert Becker: „ 1. Daß das Reich in der Verfassung verankerte Kompetenzen braucht.

2. Daß die kulturpolitische Führung des Reiches nicht gleich beansprucht werden kann, aber im Laufe der Entwicklung unvermeidbar erscheint.

3. Auf schulpolitischem Gebiet kein gesetzgeberischer Zwang, sondern gütliche Vereinbarung mit dem Ziel einheitlicher, aber nicht schematischer Entwicklung (ständige Konferenzen)."

Sicher ist es mit auf diese Denkschrift zurückzuführen, daß sich im Verfassungsausschuß der Gedanke reichsrechtlicher Regelungen durchsetzte. Dabei war die Grundsatzkompetenz des Reichs als Korrektiv gegen eine zu befürchtende weitergehende Zersplitterung des Schulwesens in den Ländern gedacht. Ent„plötzliche Verquickung der Schulfrage mit der großen Politik" d. h. mit Fragen, die mit Schulfragen der Sache nach auch mittelbar nichts zu tun hatten. Mitte Juni beendete der Verfassungsausschuß seine Arbeiten. Kurz darauf trat die Demokratische Partei aus der Regierungskoalition aus, weil sie die politische Verantwortung für die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags nicht mit übernehmen zu können glaubte. Bei den Verhandlungen über die Bildung einer neuen Reichsregierung zwischen Sozialdemokratie und Zentrum kam es zu einer Initiative des Zentrumsabgeordneten Gröber beim Reichs-präsidenten Ebert. Gröber erklärte die Bereitschaft des Zentrums zur Mitübernahme der Regierungsverantwortung unter der Voraussetzung, daß sich die Schulfrage zufrieden-stellend lösen lasse. In internen Beratungen zwischen Sozialdemokraten und Zentrum wurde der sogenannte erste Weimarer Schulkompromiß ausgehandelt, der am 18. Juli 1919 in der Nationalversammlung bei der zweiten Lesung der Schulartikel angenommen wurde. Kern dieses Kompromisses war die Bestimmung, daß im Volksschulwesen Gemeinschaftsschule, Bekenntnisschule und weltliche Schule nebeneinander gleichberechtigt sein sollten. Die Entscheidung für eine der Schulformen sollte dem Willen der Erziehungsberechtigten überlassen bleiben. Näheres sollte ein Reichs-gesetz regeln. Bis zum Erlaß dieses Gesetzes sollte es bei den bestehenden Vorschriften bleiben (schon hier findet sich die später so bedeutsame Sperrvorschrift). Dadurch sollte ein selbständiges Vorgehen der Länder verhindert werden.

Zwischen der zweiten und dritten Lesung der Reichsverfassung kam es erneut zu Verhandlungen zwischen Zentrum und Sozialdemokratie, zu denen diesmal auch die Demokratische Partei hinzugezogen wurde. Sie führten zum zweiten Weimarer Schulkompromiß und zur endgültigen Fassung des Artikels 146 Abs, 2 der Reichsverfassung: Im Unterschied zum ersten Kompromiß, der die drei erwähnten Schulformen gleichstellte, wurde im zweiten Schulkompromiß die Gemeinschaftsschule, ohne daß sie ausdrücklich genannt wurde, als Regelschule verstanden; Bekenntnis-oder Weltanschauungsschulen sollten auf Antrag der Erziehungsberechtigten eingerichtet werden können, soweit hierdurch nicht ein geordneter Schulbetrieb beeinträchtigt würde. Näheres sollte in einem Reichsgesetz geregelt werden. Die Sperrvorschrift wurde als Artikel 174 in der Verfassung verankert, was für die Mehrheit der Länder eine zusätzliche Sicherung der Bekenntnisschulen bedeutete. Wir können die Verfassungsbestimmungen hier nur skizzieren. Die vor allem von der SPD und den Demokraten erstrebte Einheitlichkeit des Bildungswesens hatte sich nur zum Teil durchsetzen lassen. Besonders gravierend war die Verankerung der Kompetenz des Reichs zur Grundsatzgesetzgebung auf dem Gebiet des Schul-und Hochschulwesens in der Verfassung (Art. 10 Abs. 2). Weiter stellte die Reichsverfassung als obersten Grundsatz die Forderung auf, daß für die Bildung der Jugend durch öffentliche Anstalten zu sorgen sei, bei deren Einrichtung Reich, Länder und Gemeinden zusammenwirken sollten (Art. 143). Das gesamte Schulwesen wurde der Aufsicht des Staates unterstellt (Art. 144). Der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht sollte grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten 18. Lebensjahr dienen (Art. 145). Das öffentliche Schulwesen sollte organisch ausgestaltet werden (Art. 146), womit der Einheitsschulgedanke betont wurde. So sah die Verfassung die Einführung der für alle Kinder gemeinsamen Grundschule (Art. 146) und die einheitliche Regelung der Lehrerbildung vor (Art. 143). Im Sinne der Demokratisierung der weiterführenden Bildung sollten Reich, Länder und Gemeinden Erziehungsbeihilfen bereitstellen, um den Zugang Minderbemittelter zu den Mittleren und Höheren Schulen zu sichern (Art. 146). Eingehende Bestimmungen galten dem Privatschulwesen (Art. 147). Für alle Schulen wurden sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung und berufliche Tüchtigkeit „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung" als verpflichtende Bildungsziele genannt; Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht wurden zu Lehrfächern in den Schulen (Art. 148). Von großer Tragweite waren die Bestimmungen über den Religionsunterricht (Art. 149). Wir können hier auf all diese Verfassungsbestimmungen nicht näher eingehen. Zusammenfassend kann man sagen, den drei Verfassungsparteien war ein Ausgleich ihrer schulpolitischen Zielvorstellungen gelungen: Die Verfassung bot die Möglichkeit zu der von der SPD und DDP erstrebten Vereinheitlichung von Schule und Lehrerbildung. Das Zentrum hatte die Sicherung der Bekenntnisschulen, des Religionsunterrichts und der Privatschulen, die Sozialdemokratie u. a. die grundsätzliche Anerkennung der weltlichen Schule und des Arbeitsunterrichts erreicht. Kernpunkt des Schulkompromisses waren jedoch die erwähnten Bestimmungen über das geplante Gesetz, das die weltanschauliche Gliederung der Volksschule regeln sollte.

Heinrich Schulz hat die innenpolitische Bedeutung dieses Kompromisses sehr hoch veranschlagt und die Ansicht vertreten, daß durch ihn der drohende politische Zusammenbruch unmittelbar vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages abgewendet worden sei. Schon damals war die Meinung geteilt, ob dieser Kompromiß eine tragfähige Grundlage für eine reichsgesetzliche Neuordnung des Volksschulwesens bot. In der breiten Öffentlichkeit stieß der Kompromiß auf heftigen Widerspruch. Es kam zu Protestschritten des Deutschen Lehrervereins, des Verbandes sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen sowie des Bundes Entschiedener Schulreformer, in dessen Namen Paul Oestreich von einem „inneren Versailles" sprach Vertreter der USPD sahen im Kompromiß eine Verschacherung der Schule an das Zentrum und den sozialdemokratischen Bankrott in der Schulpolitik.

Die Unterrichtsverwaltungen der Länder waren an der entscheidenden Schlußphase der Verfassungsberatungen nicht beteiligt. Später bemerkte der preußische Staatssekretär C. H. Becker sarkastisch: „Was damals (in Weimar) nicht beteiligt war, war die Praxis." Die Kultusminister bedauerten den Mangel jeder Fühlungnahme und nahmen die Verfassungsbestimmungen über das Bildungswesen sehr kritisch auf. Namentlich der preußische Kultusminister Haenisch hielt den Kompromiß für ein nationales Unglück. Unmittelbar nach Verabschiedung der Reichsverfassung gab die Mehrzahl der Kultusminister der Länder eine sehr deutliche Erklärung ab, in der sie die Einschränkung des Einflusses der Länder beklagten. Das Schulwesen sei in Gefahr, einerseits durch das Reich weitgehend uniformiert, andererseits (durch das Elternrecht in den Gemenden) zersplittert zu werden. Die Schulartikel enthielten Bestimmungen, die für den größten Teil des Reichs undurchführbar seien. Für die sich daraus möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten lehnten die Kultusminister alle Verantwortung ab. Beachtenswert ist, daß sich hier die Kultusminister der SPD und der DDP gegen den von ihren Parteien mit beschlossenen Kompromiß wendeten. Bald sollte sich zeigen, daß die Kultusminister die Lage durchaus realistisch eingeschätzt hatten. politik zwischen Keich und Landern skizzieren, wollen wir die durch die Verfassungsbestimmungen gegebene Ausgangsposition zu umreißen versuchen. Die Kompetenzen zwischen Reich und Ländern verteilten sich auf dem Gebiete des Bildungswesens wie folgt: 1. Nach Artikel 10 Abs. 2 hatte das Reich das Recht zur Grundsatzgesetzgebung auf dem Gebiete des Schul-und des Hochschulwesens. Das Reich durfte sich auf diesen Gebieten grundsätzlich nur gesetzgeberisch betätigen und hatte kein Verordnungsrecht. Die Aufsicht des Reichs beschränkte sich auf die Ausführung der Reichsgesetze durch die Länder (Artikel 15 RV). Die Beaufsichtigung und die Verwaltung der Schulen blieben nach der Reichsverfassung Landessache. 2. Artikel 143 Abs. 1 RV bestimmte, daß Reich, Länder und Gemeinden bei der Bindung der Jugend zusammenwirken. Demnach sollte die verwaltungsmäßige Organisation des öffentlichen Schulwesens von diesen drei öffentlichen Körperschaften besorgt werden. Uber das Recht zur Grundsatzgesetzgebung hinaus erhielt damit das Reich eine gewisse Zuständigkeit auch auf dem Gebiet der Verwaltung des Schulwesens. 3. Reichsgesetzliche Regelungen waren für folgende Gebiete vorgesehen:

a) für die Lehrerbildung (Artikel 143 Abs. 2 RV) und b) für die Gliederung der öffentlichen Volksschulen (Artikel 146 Abs. 2 RV).

Gerade diese Bestimmungen über die Gliederung des öffentlichen Volksschulwesens waren so wenig präzise, daß — wie erwähnt — die Kultusminister von vornherein Komplikationen voraussahen.

IV. Beginn der Zusammenarbeit im Reichsschulausschuß (Herbst 1919 bis Frühjahr 1920)

Hatten die Kultusminister die Schulartikel der Reichsverfassung mit starken Vorbehalten zur Kenntnis genommen, so waren sie andererseits durchaus bereit, mit dem Reichsministerium des Innern zusammenzuarbeiten. Schon am 22723. August 1919 trafen sich in Stuttgart Vertreter der Kultusministerien von Bayern, Hessen und Württemberg und verständigten sich über gemeinsame Richtlinien für weitere Schritte der Schulreform auf der Grundlage der eben verabschiedeten Reichsverfassung. Mit der Existenz eines „Reichsschulamtes", worunter die Kulturabteilung des Reichsministeriums des Innern zu verstehen ist, hatten sie sich bereits abgefunden. Anfang September 1919 regte Staatssekretär Becker (Preußen) an, in einer Vorbesprechung der Unterrichtsverwaltungen die Marschroute auf dem Wege zur Reichsschulkonferenz abzustimmen. Die Beratungen, zu denen auch das Reichsministerium des Innern eingeladen wurde, sollten vom 11. bis 13. September in Würzburg stattfinden. Sie unterblieben, weil das Reichsministerium nicht nur die Einladung schroff ablehnte, sondern sich gegen die Abhaltung der Besprechung verwahrte und ankündigte, sich durch eine öffentliche Erklärung gegen sie wenden zu wollen, falls sie stattfände. Dieser Einspruch rief besonders bei den süddeutschen Kultusministern starke Verstimmung hervor, die sich bei der Hochschulkonferenz in Coburg vom 8. bis 10. September 1919 äußerte. Die dort anwesenden Kultusminister beschlossen, beim Reichspräsidenten Ebert Verwahrung gegen den Einspruch des Reichsministeriums des Innern einzulegen. Der württembergische Kultusminister Heymann (MSP) wurde beauftragt, ein Schreiben an den Reichspräsidenten zu entwerfen und die Zustimmung der übrigen Kultusminister einzuholen. Heymann äußerte sich in dem Entwurf besorgt, „daß infolge eines derartigen Verhältnisses unter den mit der gemeinsamen Aufgabe der Fortentwicklung unseres Schulwesens betrauten Stellen im Reich und in den Ländern sachliche kulturelle Interessen, die für die geistige und sittliche Wiederaufrichtung unseres Volkes von größter Bedeutung sind, in Gefahr kommen und Not leiden werden. Das mit den mannigfaltigsten Aufgaben belastete Reichsministerium des Innern, dem auf dem Gebiete des Schulwesens jede praktische Erfahrung fehlt, ist gar nicht in der Lage, die ihm obliegende Aufgabe, die Reichsschulgesetzgebung vorzubereiten, ohne Mitwirkung der Einzelstaaten zu erfüllen . . . Darum erscheint es im höchsten Maße bedenklich, wenn das Reichsministerium, das selbst über noch keinen ausreichenden fachmännischen Apparat verfügt, die ihm freudig angebotene Mitarbeit der fachmännischen Verwaltungen der Gliedstaaten in der geschilderten schroffen Weise zurückweist und jede Initia-tive dadurch lahmlegt," Der Entwurf dieses Schreibens fand nicht bei allen Kultusministern volle Zustimmung. So unterblieb seine Absendung an den Reichspräsidenten, zumal inzwischen, am 22. September 1919, der Reichsminister des Innern seinerseits die Initiative ergriff und alle Kultusminister zu einer Vorbesprechung der Reichsschulkonferenz nach Berlin einlud, nachdem er sich zuvor mit dem preußischen Kultusminister Haenisch verständigt hatte.

Mit diesem Schreiben wurde die Zusammenarbeit von Reich, Ländern und Gemeinden auf der Grundlage der Reichsverfassung eröffnet. Zugleich setzte das Reichsministerium des Innern die Unterrichtsverwaltungen gewissermaßen offiziell von der Einrichtung der Kultur-abteilung in Kenntnis und betonte, daß es den größten Wert auf ein enges und vertrauensvolles Zusammenarbeiten mit den Kultusministerien der Länder und den gemeindlichen Schulverwaltungen lege. Als Tagesordnung wurden zwei Punkte genannt: Einmal die Erörterung der Schulartikel der Reichsverfassung und zum anderen die Vorbereitung der Reichsschulkonferenz. Die Unterrichtsverwaltungen der Länder wurden gebeten, die Verfassungsbestimmungen zu benennen, für die baldige gesetzgeberische Maßnahmen für notwendig gehalten wurden.

Der preußische Kultusminister Haenisch hat sich dazu sehr eingehend geäußert. In einem Schreiben vom 9. Oktober 1919 umreißt er alle offenen Fragen aus preußischer Sicht und betont vor allem unter Hinweis auf Art. 143 RV, daß eine Verwirklichung der in der Reichsverfassung aufgestellten neuen Grundlinien für die Gestaltung des Schulwesens nur möglich ist, wenn das Reich sich mit bedeutenden Mitteln beteiligt. Sonst könne an eine Durchführung der Neuerungen der ReichsVerfassung in Preußen nicht gedacht werden. Der Umfang der Beteiligung des Reichs solle durch ein Reichsgesetz festgelegt werden. Als besonders dringlich werden Reichsgesetze für die Lehrer-bildung und die Gliederung der Volksschule genannt. In die gleiche Richtung wiesen Stellungnahmen der Unterrichtsverwaltungen Bayerns und Hamburgs.

Die Konferenz vom 20. bis 22. Oktober 1919 in Berlin ist die erste Zusammenkunft der Kultusminister der Länder des Deutschen Reichs überhaupt. Sie war zugleich die erste Begegnung zwischen den Kultusministern und dem Reichsministerium des Innern. Die Konferenz bewältigte in drei Tagen ein großes Programm. Dabei ging es vornehmlich um drei Komplexe: um die Vorbereitung der Reichsschulkonferenz, die Erörterung der Verfassungsbestimmungen und die Gründung des Reichsschulausschusses. Die Bedeutung dieser Konferenz lag vor allem in der Information über die gegensätzlichen Standpunkte. Noch überwiegt die Erwartung, daß die in der Verfassung vorgesehenen Reichsschulgesetze in absehbarer Zeit verabschiedet werden könnten.

Der Teilnehmerkreis war mit 117 Personen ungewöhnlich groß und heterogen; reichte er doch auf der Länderseite vom bayerischen Ministerpräsidenten Hoffmann (der in seiner Eigenschaft als Kultusminister zugegen war) bis zu Referenten aus den Unterrichtsverwaltungen. Bezeichnend für die damalige Situation ist, daß von den anwesenden Kultusministern sieben Sozialdemokraten und fünf Demokraten waren. Von seifen des Reichs nahm außer den Referenten der Kulturabteilung des Reichsministeriums des Innern auch ein Vertreter des Reichsfinanzministeriums teil.

Die Verhandlungen wurden vom Reichsminister des Innern, Koch-Weser (DDP), straff und überaus geschickt geleitet, zeitweilig auch von Staatssekretär Schulz. Neben den offiziellen Beratungen fanden drei interne Zusammenkünfte der Kultusminister der Länder unter Vorsitz von Schulz statt. Bei der Eröffnung der Konferenz erinnerte Koch-Weser daran, daß die Verfassung dem Reich eine erhebliche Erweiterung seiner Rechte brachte. Das Reich wolle diese Rechte, soweit sie die Schule betreffen, nicht dazu gebrauchen, alle Einzelheiten zu regeln. Nur für die Fragen, die unbedingt einheitlich geregelt werden müßten, sollten einheitliche Grundsätze aufgestellt werden, Der württembergische Kultusminister Heymann bedauerte den späten Zusammentritt dieser Konferenz: Zur Behebung der entstandenen Schwierigkeiten seien endlich Taten notwendig. So müßten sofort Grundsätze'für das vorgesehene Reichsvolksschulgesetz aufgestellt werden, ohne das die Länder keine Reformen durchführen könnten.

Bei der Aussprache über die Verfassungsartikel wurden die Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung voll deutlich. Nahezu alle Probleme, die in den folgenden Jahren noch und noch die Unterrichtsverwaltungen, das Reichsministerium des Innern, den Reichsschulausschuß (und später den Ausschuß für das Unterrichtswesen), den Reichsrat und den Reichstag beschäftigten, kamen hier bereits zur Sprache oder deuteten sich zumindest an. Ohne größere Schwierigkeiten einigte man sich über den Ka-talog der Fragen, die in dem „Kleinen Reichs-schulgesetz'1 möglichst schnell geregelt werden sollten: Ausführung des Artikels 146 Abs. 2 RV, Dauer und Gestaltung der Grundschule und — wenn möglich — die Grundlinien der Lehrerbildung, über die Lehrerbildungsfrage gab es eine Kontroverse zwischen Koch-Weser und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hoffmann. Koch-Weser wollte die Frage der Lehrerbildung später (im großen Reichsschulgesetz) geregelt sehen, Bayern drängte auf eine sofortige Regelung. Hoffmann, der vom braunschweigischen Kultusminister Ronneburg (DDP) unterstützt wurde, sah in der Neuregelung der Lehrerbildung den Kardinalpunkt der gesamten Schulreform, der nicht aufgeschoben werden könne. Schulz hatte bei der Beratung über die Schulartikel in der Nationalversammlung im Juli 1919 die Durchführung des Artikels 146 Abs. 2 für den Winter 1919/1920 in Aussicht gestellt. Koch-Weser hoffte, die Vorlage bis zum Januar 1920 einbringen zu können; würde jedoch die Lehrerbildung einbezogen, so sei zu befürchten, daß dann das kleine Reichsschulgesetz nicht mehr vor der Reichsschulkonferenz im Frühjahr 1920 fertig werde. Dies war, wie sich herausstellte, ein durchaus realistischer Standpunkt. Der badische Minister Hummel (DDP) befürchtete einen dilatorischen Einfluß der Reichsschulkonferenz auf die Gesetzgebung der Länder.

Von großer Bedeutung für die weitere Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern war der Beschluß, einen ständigen Ausschuß aus Vertretern der Länder zu bilden. Damit folgte die Konferenz einem Vorschlag von Staatssekretär Schulz, den der preußische Staatssekretär Becker sowie die Kultusminister Württembergs, Bayerns, Mecklenburg-Schwerins und Hessens mit Nachdruck begrüßten. (Der Gedanke eines solchen Ausschusses geht auf Becker zurück, der ihn zuerst in seiner Denkschrift über die kulturpolitischen Zuständigkeiten des Reiches äußerte.) Dieser Ausschuß, der alsbald den Namen Reichsschulausschuß erhielt, sollte eine feste Verbindung zwischen den Unterrichtsverwaltungen der Länder und dem Reichsministerium des Innern schaffen.

Mit dem Ergebnis der Konferenz war man beiderseits zufrieden. In seinen Schlußworten gab Reichsminister des Innern Koch-Weser der Hoffnung Ausdruck, daß die vertrauensvollen Beziehungen, die sich auf dieser Konferenz zeigten, auch weiterhin fortbestehen werden: „Das Reich beanspruche die Führung, aber keine blinde Gefolgschaft. Es wolle sich gern auf die Arbeit der Länder stützen. Es werde Zentralisation nur da erstrebt, wo sie wirklich geboten sei."

In diesem Sinne nahm der Reichsschulausschuß Ende November 1919 seine Arbeit auf. Intensiv berieten eine Woche lang mehrere Kultusminister, leitende Beamte aller Unterrichtsverwaltungen und die Referenten der Kulturabteilung des Reichsministeriums des Innern. Auch die kommunalen Spitzenverbände wirkten mit. Die Beratungen leitete zumeist Staatssekretär Schulz. Vor der Reichsschulkonferenz kam es am 24. /25. Februar 1920 zu einer zweiten Tagung des Reichsschulausschusses. Zunächst ging es um die Vorbereitung der Reichsschulkonferenz, über die man sich bei der ersten Tagung in den Grundzügen einigte. Hauptziel der Schulpolitik des Reichs in der Anfangsphase der Zusammenarbeit mit den Ländern war die Vorbereitung der Reichsschulgesetze, also des Grundschul-, des Volksschul-, des Lehrerbildungs-und des Berufsschulgesetzes. Politisch vorrangig waren die beiden erstgenannten Gesetze. Es zeugt vom Willen zur Zusammenarbeit von Reich und Ländern, daß sie sich gemeinsam im Reichsschulausschuß bemühten, Gesetzentwürfe vorzubereiten.

Sehr zügig verständigten sich beide Seiten über den Entwurf des Grundschulgesetzes. Seit Jahrzehnten wurde im Zusammenhang mit dem Gedanken der Einheitsschule eine allgemeine Grundschule gefordert. Dabei war die Vorstellung eines gemeinsamen Unterbaus kaum umstritten. Ohne größere Auseinandersetzungen war es bereits der Nationalversammlung gelungen, die Einrichtung der Grundschule in der Reichsverfassung zu verankern (Art. 146 Abs. 1). Offen war die Dauer der Grundschule geblieben; Länder und Reich einigten sich auf vier Jahre. Den Ländern mit einer größeren Zahl öffentlicher Vorschulen lag besonders an einer Regelung des Abbaus dieser Einrichtungen. Der Gesetzentwurf wurde Ende November 1919 im Reichsschulausschuß fertiggestellt. Im Februar 1920 wurde er im Reichsrat, Anfang März in der Nationalversammlung eingebracht und von dieser in dritter Lesung am 19. April 1920 gegen die Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei verabschiedet. Das Gesetz brachte die Festlegung der Dauer der Grundschule auf vier Jahre (§ 1). Weitere Bestimmungen regelten den Abbau der öffentlichen Vorschulen und Vorschulklassen, der spätestens zu Beginn des Schuljahres 1924/25 abgeschlossen sein sollte. Für private Vorschulen und Vorschulklassen konnte die völlige Auflösung bis zum Beginn des Schuljahres 1929/30 aufgeschoben werden (§ 2).

Die innere Gestaltung und die Lehrziele der Grundschule sowie die Durchführung des Gesetzes wurden in Richtlinien geregelt, die teils nach vorheriger Beratung mit dem preußischen Kultusministerium vom Reichsminister des Innern erlassen (Februar 1921), teils im Reichsschulausschuß abgestimmt wurden (April 1923).

Mit dem Grundschulgesetz war der erste entscheidende Schritt zur Demokratisierung des Bildungswesens getan. Das schnelle Zustande-kommen dieses Gesetzes ist mit auf die gründliche Vorbereitung des Entwurfs im Reichsschulausschuß und die Mitarbeit der Länder zurückzutühren. Im Reichsrat warf Preußen zwar die Frage auf, ob und in welchem Umfang sich das Reich an den Kosten der Reform beteiligen werde, doch klammerte man die Kostenfrage schließlich aus. Auch dies erwies sich als Vorteil für die schnelle Verabschiedung des Gesetzes, führte aber in den folgenden Jahren mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen Preußen und dem Reich. Auf die Grundschulnovellen von 1925 und 1927 kommen wir später zu sprechen.

Die Beratungen über Lehrerbildungs-und Be* rulsschulfragen, vor allem über das zu erlassende Reichsvolksschulgesetz kamen vor der Reichsschulkonferenz 1920 nicht mehr zum Abschluß. Dies lag nicht am Mangel an gutem Willen auf Seiten der Länder, sondern vor allem an der Schwierigkeit der Materie. Das ursprüngliche Ziel der Reichsregierung, das Reichsvolksschulgesetz bis zum Winter 1919/20 in der Nationalversammlung einzubringen, ließ sich nicht verwirklichen.

Daneben erörterte der Reichsschulausschuß einige politisch mehr zweitrangige Fragen, so die Auflösung der Reichsschulkommission und den Wegfall der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst. Damit kam das Problem des Berechtigungswesens erstmals auf die Tagesordnung, das bis zum Ende der Weimarer Republik die Unterrichtsverwaltungen und das Reichsministerium des Innern ständig beschäftigen sollte. Auch die Frage der Rechtschreibereform — ein heute noch aktuelles Thema — stand schon damals zur Debatte.

Sieht man vom Reichsgrundschulgesetz ab, so war es nicht gelungen, die zentralen Fragen der Schulreform, vornehmlich die Gliederung des Volksschulwesens und die Lehrerbildung, wie ursprünglich beabsichtigt, noch vor der Reichsschulkonferenz zu regeln.

V. Die Reichsschulkonferenz 1920

Die Reichsschulkonferenz vom 11. bis 19. Juni 1920 dürfte mit mehr als 600 Teilnehmern die bis dahin größte Konferenz pädagogischer Sachverständiger auf deutschem Boden gewesen sein. Eduard Spranger, einer der Berichterstatter zum Thema Lehrerbildung, nannte sie später eine „achttätige Massen-schlacht"

Wie schon der Name sagt, handelt es sich um eine Veranstaltung des Reichs; doch arbeiteten Reich und Länder — insbesondere das preußische Kultusministerium und das Reichs-ministerium des Innern — bei der Vorbereitung, Durchführung und bei dem Versuch der Aufarbeitung der Ergebnisse der Reichsschulkonferenz eng zusammen.

Der Gedanke der Reichsschulkonferenz entstand während des Ersten Weltkrieges. Auf Initiative des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Heinrich Schulz, des späteren Staatssekretärs, empfahl im Frühjahr 1917 die Sozialdemokratische Partei im Reichstag die Einberufung einer Reichsschulkonferenz durch den Reichskanzler nach Beendigung des Krieges. Der Hauptausschuß des Reichstages nahm eine entsprechende sozialdemokratische Resolution an. Das Plenum lehnte jedoch diesen Antrag ab.

Nach der Revolution regte am 1. Dezember 1918 die preußische Regierung auf Antrag des preußischen Kultusministeriums beim Reichs-ministerium des Innern die Einberufung einer Schulkonferenz an. Dies wandte sich daraufhin am 4. Januar 1919 an die Länder und informierte sie von der Absicht, 1919 eine Reichsschulkonferenz einzuberufen. Hervorzuheben ist, daß sich noch vor Zusammentreten der Verfassunggebenden Nationalversammlung und vor einer verfassungsmäßig verankerten Zuständigkeit des Reichs auf dem Gebiet des Bildungswesens Preußen und das Reich gemeinsam um die Vorbereitung einer Schulkonferenz bemühten.

Das Schreiben von Anfang Januar 1919, mit dem das Reichsministerium des Innern von den Ländern Vorschläge über Umfang und Art der Fragen sowie den Teilnehmerkreis erbat, war sehr vorsichtig abgefaßt. Das Reichsministerium betonte, es liege ihm fern, „eine schroffe und unorganische Vereinheitlichung des deutschen Bildungswesens ins Auge zu fassen". Damit sei aber durchaus die Überzeugung vereinbar, „daß gerade die gegenwärtige gefährdete Stellung Deutschlands unter den führenden Kulturnationen unbedingt zu einer einheitlicheren nationalen Kulturpolitik drängt, vor allem aber, daß ein stärkeres Maß von organisatorischer Vereinheitlichung und damit Vereinfachung schon unter den Gesichtspunkten der Ökonomie der Kräfte und der Geldmittel als gebieterische Forderung der jetzigen Lage erscheint“

Die Länder äußerten sich positiv. Der ursprüngliche Plan des Reichsministeriums, die Konferenz im Anschluß an die Verhandlungen der Verfassunggebenden Nationalversammlung einzuberufen, ließ sich wegen der zeitraubenden Vorbereitungen nicht verwirklichen. Im Oktober 1919 sah Staatssekretär Schulz sehr realistisch, daß in psychologischer Hinsicht der eigentliche Moment für die Reichsschulkonferenz bereits verstrichen war. Schulz hielt es aber für unmöglich, vollkommen auf sie zu verzichten.

Die Konferenz sollte — taktisch gesehen — in der Anfangsphase der Reichsschulpolitik die Funktion haben, in einer Generaldiskussion aller führenden deutschen Pädagogen Klarheit über die Weiterentwicklung des gesamten Bildungswesens zu gewinnen oder, wie sich der preußische Kultusminister Haenisch ausdrückte, Ordnung „in das wild gärende Chaos der Reformpläne" zu bringen Die Erwartungen, die das Reichsministerium des Innern und die Unterrichtsverwaltungen der Länder mit der Reichsschulkonferenz verbanden, waren unterschiedlich. Staatssekretär Schulz meinte, daß die Beschlüsse der Reichsschulkonferenz gewissermaßen das Urmaterial für die künftige Reichsschulgesetzgebung bilden sollten. Wie hochgespannt die Erwartungen selbst erfahrener Pädagogen und Schulverwaltungsfachleute waren, zeigt die Vorstellung des Hamburger Schulrats Dr. Umlauf, die Reichsschulkonferenz müsse auch Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Nüchterner schätzte der preußische Staatssekretär Becker die zü erwartenden Ergebnisse ein: Die Beschlüsse der Reichsschulkonferenz könnten nur konsultative, keine staatsrechtliche Bedeutung haben.

Die Konferenz wurde von Reich und Ländern, unter Mitwirkung von Vertretern der Gemeinden, sorgfältig vorbereitet. Mit dem bereits erwähnten Rundschreiben vom 22. September 1919 lud der Reichsminister des Innern die Landesregierungen zu einer Vorbesprechung ein. Diese fand — wie berichtet — als Konferenz der Kultusminister der Länder vom 20. bis 22. Oktober 1919 im Reichsministerium des Innern in Berlin statt. Die von Preußen und dem Reich gemeinsam vorgelegten Leitsätze für die Reichsschulkonferenz wurden eingehend diskutiert. Die Tendenz dieser Leitsätze wird durch die Worte charakterisiert, mit denen sie der bekannte Reformpädagoge Geheimrat Reinhardt vom preußischen Kultusministerium der Konferenz erläuterte: „Es liege ihnen das Bildungsideal der neuen Zeit zugrunde. Das Arbeitsprinzip habe in den Mittelpunkt allen Unterrichts zu treten. Die Berufsbildung müsse mit in die Schule ausgenommen und mit dem einstigen Ideal der allgemeinen Bildung verschmolzen werden. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung seien an die Stelle einer zu starken Betonung der Autorität zu setzen. Das deutsche Wesen verlange einen differenzierten Aufbau der Schule; aber dieser müßte zusammengehalten werden durch die gleiche grundsätzliche Haltung gegenüber dem Unterricht. Die Erziehung zum deutschen Charakter, nicht zum allgemein menschlichen, stehe voran; nur so würden wir zur inneren Einheit unseres Volkstums gelangen. Alle Kinder des Volkes müßten Gelegenheit haben, das zu werden, wozu sie taugten. Auch die Lehrer müssen die Schulen mitverwalten. Die Frage der kollegialen Schulleitung sei aufs engste mit dem Wesen und dem Gesamtplan unserer neuen Schule verknüpft."

Die auf April 1920 anberaumte Konferenz mußte infolge des Kapp-Putsches vertagt werden. So fand sie erst nach den Reichstagswahlen in der Zeit vom 11. bis 19. Juni 1920 im Reichstag statt. Diese Wahlen brachten starke Verluste für die Sozialdemokraten und die Deutschen Demokraten — die beiden Parteien, die vor allem seit der Revolution die Schulreform vorangetrieben hatten. Das Wahlergebnis dürfte nicht ohne Rückwirkungen auf die Atmosphäre der Reichsschulkonferenz geblieben sein.

Bei der Reichsschulkonferenz handelte es sich nicht um eine wissenschaftliche Fachtagung. Viele Teilnehmer waren Interessenvertreter von Vereinen und Verbänden. Die Zahl der Delegierten von Reich und Ländern — also der Vertreter der Verwaltungen — betrug etwa ein Viertel der 600 Teilnehmer. 229 Personen vertraten 95 pädagogische Standesverbände, Berufsvereinigungen usw. Die restlichen Teilnehmer entfielen auf Jugendverbände, bildungspolitische, religiöse, kirchliche und weltanschauliche Vereinigungen. Alle Schularten waren vertreten. Die politischen Parteien wurden als solche nicht berücksichtigt.

Die mitunter heißen Debatten zu Themen wie Einheitsschule, 4-oder 6jährige Grundschule, technische Vereinheitlichung des Schulwesens, Lehrerbildung und Arbeitsunterricht — um nur die wichtigsten zu nennen — können hier nicht geschildert werden. Die hochpolitische Frage der konfessionellen Gliederung der Volksschule wurde bei der Konferenz mit Absicht ausgeklammert. Die Zusammenarbeit von Reich und Ländern stand insbesondere bei den Tagesordnungspunkten: „Technische Vereinheitlichung des Schulwesens im Reiche" und „Verwaltung des öffentlichen Schulwesens" zur Debatte. Jeweils drei Berichterstatter legten zu diesen beiden Tagesordnungspunkten Leitsätze und Berichte vor. Sie schilderten die historische Entwicklung und machten Vorschläge für eine Neuregelung. Darüber wurde im 13. und 14. Ausschuß sowie im Plenum beraten. Die von diesen beiden Ausschüssen erarbeiteten Leitsätze bewegen sich im Rahmen der Verfassungsbestimmungen, betonen jedoch den Gedanken der Reichseinheit im Schulwesen. Einschränkend heißt es allerdings: „In den Ländern bewährte Einrichtungen sind, soweit es mit der Einheitlichkeit irgendwie verträglich ist, zu schonen." Ein solcher Satz erinnert an das Orakel in Delphi.

Die Leitsätze des 14. Ausschusses enthalten einen Katalog der reichsgesetzlich und reichs-einheitlich zu regelnden Gebiete (Lehrerbildung; Mindestmaß des Schulzieles, der Schulart; Durchlässigkeit zwischen den Schularten mit dem Ziel: Verwirklichung der Einheitsschule; einheitlicher Schuljahrsbeginn; einheitliche Bezeichnungen; gegenseitige Anerkennung der Lehramtszeugnisse; einheitliche Schulstatistik). Diese Maßnahmen sollten durch ein „selbständiges Reichsschulamt" vorbereitet werden, zu dem die Kulturabteilung im Reichsministerium des Innern ausgebaut werden sollte. Dem Reichsschulamt sollte ein ständiger Reichsschulrat (Reichsschulbeirat) an die Seite gestellt werden. Mit diesen Vorschlägen setzte sich die Konzeption des Deutschen Lehrervereins durch. Realistisch war der Vorschlag, auf den Gebieten, die in absehbarer Zeit durch eine Rahmengesetzgebung nicht geordnet werden könnten, den Weg der gegenseitigen Annäherung durch freie Verständigung zu suchen. Die Verantwortung des Reichs, einen Teil der Kosten des Schulwesens zu tragen, hob der 14. Ausschuß in seinen Leitsätzen besonders hervor; und zwar sollte sich das Reich an den Schulunterhaltungskosten der Länder mit Reichszuschüssen beteiligen.

Bei aller Absicherung der Mitwirkung der Länder in der Schulverwaltung sind in den eben skizzierten Leitsätzen die Grundtöne eines verstärkten unitarischen (zentralistischen) Schulsystems unüberhörbar. Es hat an Gegenstimmen und Warnungen auf der Reichsschulkonferenz nicht gefehlt. Zwei bayerische Stimmen seien hier zitiert. So wandte sich z. B. Kerschensteiner gegen Zentralismus und Uniformierung mit den Worten „Man kann die . . . historisch gewordenen Bildungsorganisationen nicht in Scherben schlagen und nun auf dem Trümmerfeld ein völlig neues, aus Ideen gewebtes Bildungswesen errichten." Kerschensteiner schlug vor, zunächst den Weg des Versuchs zu gehen und regte an, daß die künftige Reichsschulgesetzgebung das Schulwesen nicht in enge Fesseln legen, sondern ihm soweit als möglich Gestaltungsfreiheit geben und den Weg für Versuche freimachen sollte. In eine ähnliche Richtung weist die Feststellung des Nürnberger Stadtschulrats Weiß: „Nichts könnte weite Volksteile dem Einheitsgedanken mehr entfremden als der Versuch, etwa von Berlin aus Kunst-und Wissenschaftspflege kommandieren zu wollen. Ein Land, das Zentralpunkte kulturellen Lebens wie München, Dresden, Stuttgart, Hamburg, Köln, Nürnberg usw. besitzt, das in jedem einzelnen Gliedstaat ein eigenartiges, hochentwickeltes Schul-und Bildungswesen hat entstehen sehen, kann und darf nicht nach französischer Methode auf kulturellem Gebiet verwaltet werden. Das Reichsschulamt . . . hat vielmehr die Aufgabe, unser Schul-und Bildungswesen innerlich und äußerlich grundsätzlich so zu vereinheitlichen, daß landsmannschaftliche Ausprägung der Bildungsarbeit auch weiter ermöglicht ist."

Auf die Frage nach dem politischen Ertrag der Reichsschulkonferenz läßt sich schwer eine präzise Antwort geben. Für die weitere Zusammenarbeit von Reich und Ländern war sie auf mehreren Gebieten richtungweisend. Dies gilt besonders für den Entwurf eines Reichsberufsschulgesetzes und in eingeschränkterem Maße auch für den Entwurf eines Reichslehrerbildungsgesetzes. Auch zwei vom Reichsschulausschuß verabschiedete Entschließungen über* Staatsbürgerkunde sowie über Schule und Heimat basieren auf Vorarbeiten der Reichsschulkonferenz. Das gleiche gilt für die Vereinbarung über die Einführung des Arbeitsunterrichts in den Schulen. Dennoch ist die Feststellung Schorbs zutreffend, daß es der Konferenz nicht gelang, eine Grundlage für ein anschließendes Schulerneuerungs-und -Vereinheitlichungswerk des Reichs zu schaffen Ein durchgreifender Reformprozeß kam — sieht man von der kurzlebigen Thüringer Einheitsschule ab — in keinem Land durch sie in Gang oder wurde durch sie beschleunigt. Die Konferenz machte allseits deutlich, daß ein einheitliches deutsches Schulwesen auf dem Wege über eine Sachverständigentagung nicht erreichbar war.

Herman Nohl schrieb 1926: „Wer auf der Reichsschulkonferenz war . . ., der weiß, daß unsere pädagogischen Bewegungen von außen angesehen genau so zerrissen und widerspruchsvoll sind, wie unser übriges soziales und geistiges Leben. Auch hier stehen die Vertreter der einzelnen Richtungen nebeneinander wie auf dem Jahrmarkt die Drehorgeln, jeder schreit so laut wie möglich sein Lied. . . . Die Folge der Reichsschulkonferenz war denn auch ein tiefes Mißbehagen. Weil hinter dieser Menge kein gemeinsames Ideal sichtbar wurde, das ihre Verhandlungen leitete, ist sie klanglos verschwunden." Was blieb, ist ein mehr als tausend Seiten umfassender amtlicher Bericht, der die Vielfalt der pädagogischen Richtungen zu Beginn des dritten Jahrzehnts in Deutschland dokumentiert. Seine Lektüre läßt erkennen, wie stark eine konservative Grund-stimmung sich selbst in dieser „Reformzeit" Gehör zu verschaffen wußte (und wie bescheiden die pädagogischen und schulorganisatorischen Fortschritte in der Bundesrepublik bis heute seit 1920 sind).

Der Reichsschulausschuß beschäftigte sich in seiner 3. Tagung (Oktober 1920) mit den Ergebnissen der Reichsschulkonferenz. Staatssekretär Schulz führte aus, die Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, deren Plenum keine Beschlüsse faßte, sollten von Fall zu Fall gewertet werden, wenn die Reichs-oder Landes-gesetzgebung an die Regelung irgendeiner Schulmaterie herangehe. Nach Auffassung von Schulz sollten solche Aufgaben, die — wie z. B. die Regelung des einheitlichen Beginns des Schuljahres und des Berechtigungswesens — in ihrer Durchführung kaum finanzielle Folgen haben, in erster Linie vom Reichsministerium des Innern berücksichtigt werden.

Der württembergische Vertreter Dr. Löffler vermißte einen Stufenplan, wie und in welcher Reihenfolge die Ergebnisse und Beratungen der Reichsschulkonferenz im Laufe der nächsten Monate oder Jahre ausgewertet werden sollten. Dabei handele es sich durchaus nicht immer um gesetzliche Regelungen. Dort, wo keine gesetzliche Regelung in Betracht komme, sollten Vereinbarungen getroffen werden, weil ein selbständiges Vorgehen der Länder zu einer Verworrenheit des Schulwesens führe, die größer würde als je zuvor. Dieser Gefahr müsse mit aller Entschiedenheit begegnet werden. In ähnliche Richtung ging ein Fünfpunkte-Katalog der Hamburger Oberschulbehörde. In seiner Antwort betonte Staatssekretär Schulz:

„Auf dem Gebiete der Schulgesetzgebung hat das Reich seinerseits nicht gedrängt; vielmehr sind wir der Ansicht, daß der Anstoß zu gesetzgeberischen Maßnahmen im allgemeinen von den Ländern aufgrund eines sich aus der Praxis ergebenden Bedürfnisses auszugehen haben wird. Von besonderer Bedeutung werden hierbei die Verhandlungen des Reichsschulausschusses sein, die uns die Möglichkeit geben, in ständiger Fühlung mit den Unterrichtsverwaltungen zu bleiben. Wenn wir mit Vereinbarungen auskommen können ..., so sind wir durchaus einverstanden. Allerdings müssen dann die hier gemeinsam ausgearbeiteten und angenommenen Vereinbarungen auch bindende Kraft für die Länder haben; es darf nicht ein Land über die hier gefaßten Beschlüsse hinausgehen. . . . Selbstverständlich werden wir auch unsererseits zu prüfen haben, ob nicht von Reichs wegen ein Anlaß gegeben ist, auf dem einen oder anderen Gebiete gesetzgeberisch oder in anderer Weise vorzugehen."

Auch im Reichstag wurde damals der Wunsch nach einer Übersicht über die schulgesetzlichen Pläne des Reichsministeriums des Innern laut.

VI. Die Fortsetzung der Zusammenarbeit im Reichsschulausschuß 1920— 1923 und ihr Scheitern

Bis zum Herbst 1920 waren die gemeinsamen Vorarbeiten von Reich und Ländern an den Reichsschulgesetzentwürfen — dem Volksschul-, dem Lehrerbildungs-und dem Berufs-schulgesetz — weithin abgeschlossen. Von den Entwürfen wurde nur das Volksschulgesetz als Regierungsvorlage im Reichsrat und Reichstag eingebracht. Es kam zu langwierigen Verhandlungen im Bildungsausschuß des Reichstags. Eine Verständigung der Parteien ließ sich nicht erzielen. Zwischen Reich und Ländern war vor allem die Frage offen, wer die Kosten für die Durchführung des Gesetzes zu tragen habe. Die Regierungsvorlage hatte dieses Problem ausgeklammert. Der Reichsrat hingegen bestand darauf, daß zwei Drittel der Kosten den Ländern vom Reich erstattet werden sollten.

Auch über die Entwürfe eines Lehrerbildungsgesetzes und Berufsschulgesetzes wurde zwischen 1921 und 1923 mehrfach im Reichskabinett beraten. Das Reich wäre aufgrund von § 52 des Landessteuergesetzes von 1920 verpflichtet gewesen, sich an den Kosten der Reformen zu beteiligen. Da sich die Finanzlage des Reichs im Zuge der Inflation ständig verschlechterte, erhob der Reichsfinanzminister stets gegen die Gesetzentwürfe Einspruch und setzte sich gegen den Reichsminister des Innern durch. Zwischen 1920 und 1923 zeigte sich immer deutlicher, daß das ganze von Reich und Ländern gemeinsam vorbereitete Reformwerk, das die Verfassungsbestimmungen im Volksschulwesen, in der Lehrerbildung und im Berufsschulwesen schrittweise verwirklichen sollte, ins Stocken geriet. Damit gab das Reich die Führungsrolle preis, die ihm in der Bildungspolitik durch die Verfassung aufgetragen wurde.

Der Reichsschulausschuß bewältigte in seinen letzten vier Sitzungen vom Herbst 1920 bis zum Frühjahr 1923 ein umfangreiches Arbeitsprogramm Dabei lag der Schwerpunkt mehr auf schultechnischem Gebiet, z. B. Fragen wie: einheitliche Bezeichnung der Schulen, Klassen und Lehrer; Ferienordnung; Schuljahrbeginn; Erziehungsbeihilfen. Im Vordergrund stand die Bemühung um Richtlinien für die innere Gestaltung der Grundschule, die Neuordnung der Mittelstufe des allgemeinbildenden Schulwesens und seiner Abschlüsse sowie die Reform der Höheren Schule.

Anfang des Jahres 1921 kam es zu einem Schriftwechsel zwischen dem württembergisehen Kultusminister von Hieber (DDP), der zugleich Ministerpräsident seines Landes war, und dem Reichsminister des Innern, Koch-Weser, über die wichtigsten Fragen der Schulreform. Württemberg drängte auf eine baldige Regelung, sei es durch Reichsgesetz, sei es durch Vereinbarung der Länder, damit die Schulreform wirklich in Gang komme. Besonders dringlich sei eine Regelung der Lehrer-bildung, des Berufsschulwesens, der Schultypen und Zielforderungen der Höheren Schulen, der Stellung der Mittelschulen und die Schaffung einer Mittleren Reife. Koch-Weser betonte in seiner Antwort, das Reich habe sich bemüht, die Frage der Schulreform nach ihrer Dringlichkeit planmäßig zu bearbeiten. Die begrenzte Verwirklichung der Pläne sei in erster Linie auf die finanziellen Schwierigkeiten zurückzuführen. Das Reichsministerium des Innern teile die Auffassung Württembergs, daß sich die gesetzlichen Maßnahmen des Reichs darauf beschränken sollten, Grundsätze aufzustellen. Schon wegen der verschiedenartigen Verhältnisse sei eine weitgehende Bewegungsfreiheit der Länder notwendig. Auch das Reichsministerium des Innern hielt den Abschluß von Vereinbarungen unter Mithilfe des Reichsschulausschusses für außerordentlich erwünscht. Dieser Weg der Vereinbarungen ist bis 1923 nur mit begrenztem Erfolg beschritten worden.

Immerhin kamen Vereinbarungen über die einheitliche Festlegung des Schuljahrbeginns auf das Frühjahr, die Dauer der Schulferien, die Einführung des Arbeitsunterrichts sowie Richtlinien über die Zielbestimmung und innere Gestaltung der Grundschule zustande. Besondere Bedeutung kommt der Vereinbarung über Schulversuche mit Aufbauschulen zu. Hier waren vor allem auch Bedenken der Hochschulseite zu überwinden. Die Zustimmung Bayerns zur Aufbauschule war jedoch nicht zu gewinnen. Mehrfach wurde der Antrag Hamburgs erörtert, die Dauer der Höheren Schule auf 8 Jahre festzulegen, d. h. die Gesamtschulzeit, die sich vor allem in Norddeutschland durch die Einführung der Grundschule für Gymnasiasten erhöht hatte (vorher in der Regel 3 + 9, jetzt 4 + 9 Jahre), um ein Jahr zu kürzen. Die Neufassung der Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse der Höheren Schulen ermöglichte eine freiere Gestaltung der Oberstufe, die in den Grundzügen den Bestimmungen der Saarbrücker Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz von 1960 vorgreift. Die Bemühungen des Reichs um eine Neuordnung des Höheren Schulwesens wurden in einer Denkschrift zusammengefaßt, die am 5. Januar 1923 vom Reichsminister des Innern dem Reichstag vorgelegt wurde. Auffällig ist, daß Fragen des beruflichen Schulwesens — abgesehen von dem Entwurf eines Reichsberufsschulgesetzes — im Reichsschulausschuß kaum zur Sprache kamen.

Alle diese Vereinbarungen bemühten sich um eine begrenzte Vereinheitlichung auf Teilgebieten des Schulwesens. Die Weiterarbeit des Reichsschulausschusses hing vor allem davon ab, ob und in welchem Maße es der Reichs-regierung gelang, die Reichsschulgesetzentwürfe über die parlamentarischen Hürden zu bringen. Dies ist bekanntlich nicht geglückt, was sich zugleich nachteilig auf die Stellung des Reichsschulausschusses auswirkte.

Die Beendigung der Arbeit des Reichsschulausschusses mit der 6. Sitzung im Februar 1923 geht auf eine bayerische Initiative zurück. Bayern entsandte zu dieser Tagung keine Vertreter, da zum gleichen Zeitpunkt die Haushaltsberatungen im bayerischen Landtag stattfanden. Diesen Anlaß benutzte der bayerische Kultusminister Matt (BVP) und äußerte sich kritisch zur bisherigen Arbeit des Reichsschulausschusses. Matt schlug vor, von Reichs wegen nur dann die der Zuständigkeit der Länder vorbehaltenen Unterrichtsangelegenheiten im Reichsschulausschuß aufzugreifen, wenn die Länder an einer gemeinsamen Regelung interessiert seien.

Zu diesem bayerischen Schritt nahmen der preußische, hessische und württembergische Kultusminister Stellung. Sie schlossen sich den kritischen Erwägungen weithin an, befürworteten jedoch den Fortbestand des Ausschusses. Dennoch schlief für die Dauer von anderthalb Jahren die Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern auf dem Gebiete des Schulwesens nahezu ein. Sicher spielte die Verschlechterung der Finanzlage und damit die Aussichtslosigkeit von Reformen eine nicht unerhebliche Rolle. Anfang 1924 erklärte sich das Reich grundsätzlich bereit, das Bildungswesen den Ländern zu überlassen. So heißt es in § 42 der dritten Steuernotverordnung vom 14. Februar 1924, daß „die Aufgaben . . .des Schulund Bildungswesens . . .den Ländern nach Maßgabe näherer reichsrechtlicher Vorschriften zu selbständiger Regelung und Erfüllung überlassen werden" Dies war vor allem ein Erfolg der Bemühungen der Länder-Finanz-verwaltungen, die sich mehrfach nachdrücklich gegen jedwede Betätigung des Reichs auf schulpolitischem Gebiet aussprachen, sofern nicht das Reich zugleich die Kosten übernähme.

Damit fiel die schulpolitische Initiative den Ländern zu. Schon vorher hatten einzelne Länder kurz-oder langfristig mit der Vorbereitung von Reformen begonnen, die sich auf Teilgebiete oder das gesamte öffentliche Schulwesen erstreckten. Dafür zwei Beispiele: Das thüringische Einheitsschulgesetz vom 24. Februar 1922 und die Reform der preußischen Höheren Schulen, die mit dem Namen Richert verbunden ist.

Das 1920 aus sieben Kleinstaaten gebildete Land Thüringen wies als Folgeerscheinung der Kleinstaaterei eine bunte Vielgestaltigkeit im Schulwesen auf. Die sozialistische Landesregierung schritt mit dem Einheitsschulgesetz vom 24. Februar 1922 zu einer Neuordnung, bei der zum erstenmal in einem deutschen Land die vertikale Gliederung durch eine mehr horizontale Stufung abgelöst wurde. An die 4jährige Grundschule sollten künftig nur zwei Schularten anschließen: die Deutsche Oberschule und die Real-Unterschule (Kl. 5— 7). Die humanistischen Gymnasien sollten beseitigt, die Zahl der Fremdsprachen eingeschränkt werden; eine stärkere Differenzierung war erst ab Klasse 8 vorgesehen. Als die Neuwahlen Anfang des Jahres 1924 den rechtsstehenden Parteien eine Mehrheit im thüringischen Landtag brachten, wurde diese Reform weitgehend rückgängig gemacht.

Die von dem preußischen Ministerialrat Hans Richert als Referenten für das Höhere Schulwesen eingeleiteten Reformen können hier nicht eingehend geschildert werden. Richert wollte die Idee der nationalen Bildungseinheit über eine Neugestaltung der Bildungsziele und -Inhalte, weniger durch organisatorische Reformen verwirklichen. Die Bildungseinheit der verschiedenen Typen der Höheren Schulen sollte durch eine Betonung des national-deutschen Bildungsguts vor allem in den kulturkundlichen Kernfächern (Deutsch, Geschichte, Religion, Erdkunde, Staatsbürgerkunde) gesichert werden. Darüber hinaus sollte sich das altsprachliche Gymnasium dem Kulturbereich der Antike, das neusprachliche Realgymnasium einem modernen Europäismus (d. h. einer Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur) und die Oberrealschule der Mathematik und den Naturwissenschaften widmen. Den drei herkömmlichen Schultypen trat die Deutsche Oberschule zur Seite, über deren Konzeption auch im Reichsschulausschuß mehrfach verhandelt worden war. Die Deutsche Oberschule schloß in Preußen entweder an die 4. Klasse oder als Aufbauschule an die 7. Klasse der Volksschule an und führte zur Hochschulreife. Preußen hatte die Unterrichtsverwaltungen der übrigen Länder bei der Vorbereitung der Reform weder zu Rate gezogen noch informiert, wozu es auf Grund der Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reife-zeugnisse verpflichtet gewesen wäre. Dies ist recht bezeichnend für die nicht immer glückliche Hand der preußischen Unterrichtsverwaltung bei der Zusammenarbeit mit den Kultusministerien der übrigen Länder.

VII. Die Konferenz der Kultusminister vom 7. Oktober 1924 und die Zusammenarbeit im Ausschuß für Unterrichtswesen (1924— 1933)

Im Reichsministerium des Innern verfolgte man die Entwicklung mit Besorgnis. Man sah die Gefahr einer wachsenden Zersplitterung des deutschen Höheren Schulwesens. Im Reichstag wurden Anträge eingebracht, gewisse Grundlagen des Höheren Schulwesens reichsrechtlich festzulegen. Schon damals beklagten sich Reichsbehörden und Beamte, daß jeder Ortswechsel wegen der unterschiedlichen Bildungssysteme zu Schulschwierigkeiten der Kinder führe. Auch Wirtschaftskreise äußerten Bedenken gegen die wachsende Mannigfaltigkeit der Bildungswege. Diese Entwicklung veranlaßte den Reichsminister des Innern, Dr. Jarres, im August 1924, die Kultusminister der Länder zu einer Aussprache über die Gesamt-lage des deutschen Schulwesens einzuladen. Im Einladungsschreiben unterstrich Jarres die Notwendigkeit, „aus allgemeinen nationalen Gründen eine gewisse äußere und innere Einheitlichkeit der deutschen höheren Bildung aufrechtzuerhalten. Wenn diese Notwendigkeit stets als eine Bedingung der Festigung der inneren Grundlagen des Reichs empfunden worden ist, so dürfte sie unter den heutigen Umständen um so nachdrücklicher .. . ins Auge gefaßt werden müssen." Als weitere Verhandlungspunkte schlug Jarres Fragen der Mittleren Reife, der Lehrerbildung, des Privat-schulwesens und des Reichsvolksschulgesetzes vor.

Die Reaktion in den Ländern war unterschiedlich. Bayern stand der Konferenz zurückhaltend gegenüber, gab einem schriftlichen Meinungsaustausch den Vorzug und erinnerte an die in der dritten Steuernotverordnung festgelegte „eigene Zuständigkeit der Länder zur Regelung ihres höheren Schulwesens" Im übrigen zeigte sich Bayern überzeugt, daß die Länderverwaltungen bei ihren Schulreformen stets Rücksicht auf die Schulorganisation der anderen deutschen Länder nähmen, was — wie wir sahen — keineswegs befriedigend geschah. Hamburg hingegen begrüßte den Plan der Konferenz aufs lebhafteste und wünschte eine Koordination des Reichsministeriums des Innern in grundsätzlichen Fragen der Schul-politik. Wenn diese wegfiele, wäre Hamburg ganz dem guten Willen Preußens ausgeliefert. Auf preußische Initiative kam es zu einer Vorbesprechung der Minister der größeren Länder. Preußens Ziel war es, zusammen mit Bayern, Baden, Württemberg, Hessen, Sachsen und Thüringen eine gemeinsame Linie zu finden, da die Interessen dieser Länder gegenüber denen der kleineren Staaten nicht recht zur Geltung kämen und diese sich . ihrerseits stärker an die Reichsregierung anlehnten.

Die Konferenz der Kultusminister fand am 7. Oktober 1924 in Berlin statt. Reichsminister Jarres leitete die Besprechungen, denen zeitweilig auch Reichskanzler Marx (Zentrum) beiwohnte. Die Kultusminister aller Länder, ausgenommen von Bayern, Württemberg und Hessen, waren der Einladung gefolgt. Diese drei Länder waren durch leitende Beamte vertreten. Jarres skizzierte einleitend die schulpolitische Lage aus der Sicht des Reiches. Die Weimarer Verfassung erlege der Reichsregierung ein hohes Maß von Verantwortlichkeit für die Einheitlichkeit des deutschen Bildungswesens auf. Doch werde das Reich von seinem Recht zur kulturpolitischen Grundsatzgesetzgebung keinen willkürlichen Gebrauch machen. Solange die Länder selber die notwendige Einheitlichkeit wahrten, „werde dieses Recht nur wie ein Damokles-Schwert über dem Bildungswesen der Länder schweben, ohne auf sie herunterzufallen." Auf dem Gebiet des Höheren Schulwesens habe die Reichsregierung zunächst davon abgesehen, ihr Recht zur Grundsatzgesetzgebung zu gebrauchen und an die bestehende Tradition der Vereinbarungen angeknüpft. Das Reich setze aber voraus, daß ihm bei Abschluß und Durchführung von Vereinbarungen ein Einfluß zugestanden werde, der seiner Verantwortlichkeit für die Einheitlichkeit des deutschen Schulwesens entspreche. Dabei verwies Jarres ausdrücklich auf die thüringische Einheitsschule und die preußische Reform der Höheren Schulen, die die Gefahr einer für die Einheit des Reichs sehr bedenklichen Zersplitterung des Höheren Schulwesens klar zeigten. Die Wahrung der Einheit des Bildungswesens hielt die Reichsregierung in folgenden Bereichen für unerläßlich: Dauer und horizontale Gliederung der Schule, Typen mit Hauptfächern, Bildungsziele und Prüfungswesen, Mittlere Reife, Lehrerbildung und Privatschulwesen. Zum Zweck der Verständigung zwischen Reich und Unterrichtsverwaltungen schlug die Reichsregierung vor, einen Ausschuß zu bilden, in dem die großen Länder ständig, die mittleren und kleineren kollektiv und wechselnd vertreten sein sollten. Ein solcher Ausschuß mit einer begrenzten Teilnehmerzahl dürfte besser arbeitsfähig als der Reichsschulausschuß sein.

Nach einer eingehenden Aussprache billigten die Minister folgende Entschließung: „Die Konferenz hält zur Wahrung der notwendigen Einheitlichkeit des deutschen Schulwesens und zur Vermeidung gesetzgeberischer Maßnahmen des Reichs die Einsetzung eines sechs-bis achtköpfigen Ausschusses der Unterrichtsverwaltungen der Länder unter Vorsitz des Reichs-ministeriums des Innern für notwendig ..."

Das Ergebnis dieser Konferenz markiert einen Kurswechsel in der Bildungspolitik des Reichs. Die Einheitlichkeit im Schulwesen sollte künftig nicht durch Reichsgesetze, sondern durch Vereinbarungen der Unterrichtsverwaltungen unter Mitwirkung des Reichsministeriums des Innern gesichert werden. Ausgenommen von dieser Absprache blieb ausdrücklich das Problem der Gliederung der öffentlichen Volksschule, das die Reichsregierung in den folgenden Jahren mehrfach gesetzlich zu lösen versuchte.

Am 21. /22. November 1924 nahm der Ausschuß für das Unterrichtswesen mit einer Sitzung in Berlin seine Arbeit auf. Im Unterschied zum Reichsschulausschuß vollzog sich seine Arbeit von Anfang an auf der Grundlage einer Satzung und Geschäftsordnung. In ihm hatten nur die Unterrichtsverwaltungen von Preußen, Bayern und Sachsen je einen ständigen Sitz. Die Vertretung der übrigen Länder war kollektiv geregelt, und zwar erhielten je einen Vertreter: a) Württemberg, Baden, Hessen;

b) Thüringen, Anhalt, Braunschweig;

c) Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Lippe-Detmold, Schaum-burg-Lippe; d) die drei Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck.

Der Ausschuß war in neun Sitzungen bis zum Ende der Weimarer Republik auf zahlreichen Gebieten des Schulwesens koordinierend tätig. Daneben fanden noch eine Reihe von Sonder-tagungen statt. Mehr als 20 Vereinbarungen — allerdings sehr unterschiedlichen Gewichts — konnten abgeschlossen werden.

Obwohl laut Satzung solche Angelegenheiten, die im Wege der Grundsatzgesetzgebung geregelt werden sollten, zuvor im Ausschuß für das Unterrichtswesen zu erörtern waren, ist dieser dennoch nicht an der Vorbereitung von Gesetzen beteiligt worden. Dafür waren verschiedene Gründe maßgebend. Die beiden Grundschulnovellen von 1925 und 1927 gingen auf Initiativen aus dem Reichstag zurück; die Länder nahmen dazu im Reichsrat Stellung. Der Reichsvolksschulgesetzentwurf von 1925 wurde vom Reichsministerium des Innern in einer Sondersitzung zur Diskussion gestellt, bei der alle Unterrichtsverwaltungen vertreten waren. Da der Entwurf durch eine Indiskretion in der Öffentlichkeit bekannt wurde, ist der von Keudellsche Entwurf 1927 aus Geheimhaltungsgründen nicht mit den Ländern abgesprochen, sondern gleich im Reichsrat eingebracht worden. Die Entwürfe eines Lehrerbildungsgesetzes, Berufsschulgesetzes und Vorschulentschädigungsgesetzes standen mehr informatorisch im Ausschuß für das Unterrichtswesen zur Debatte.

Zwischen 1920 und 1925 kam es in der Öffentlichkeit immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen um die Grundschule. Die Gegner der Grundschule sammelten sich vor allem in der DNVP und der DVP. Beide Grundschulnovellen kamen auf Initiative bürgerlicher Parteien zustande, stark bekämpft von SPD und KPD. Sie modifizierten das Grundschulgesetz in zweifacher Hinsicht. Die Novelle von 1925 gestattete es, daß im Einzelfall besonders befähigte Schüler schon nach dreijährigem Grundschulbesuch auf weiterführende Schulen übergehen konnten. Darauf hatten die süddeutschen Kultusministerien schon 1921 gedrängt. Preußen hatte sich dem widersetzt.

Auch diesmal erreichte es die preußische Unterrichtsverwaltung, daß die weitergehenden Initiativgesetzentwürfe der DNVP und der DVP abgemildert wurden. Die Durchführung der Novelle wurde durch eine vom Ausschuß für das Unterrichtswesen vorbereitete Vereinbarung geregelt. Der Ausschuß suchte auch den Abbau der privaten Vorschulen einheitlich zu ordnen. Die auf Initiative der DVP und des Zentrums verabschiedete Novelle von 1927 durchkreuzte diese Bemühungen. Sie machte den Abbau oder die Auflösung privater Vor’ schulen von der reichsgesetzlichen Regelung der Entschädigung abhängig, zu der es in der Weimarer Republik nicht kam. Erwähnt sei hier, daß 1925 bei der Erörterung der Grundschulnovelle im Reichstag auch der Aufbau des Bildungswesens und die Verkürzung der Dauer der Höheren Schulen von 9 auf 8 Jahre debattiert wurden.

Der Ausschuß für das Unterrichtswesen war um eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Reich und Ländern bemüht. Seine Beratungen spiegeln die schulpolitische Entwicklung nicht nur im allgemeinbildenden, sondern auch im beruflichen Schulwesen. Die Mehrzahl der vom Ausschuß vorbereiteten Vereinbarungen gilt den Höheren Schulen. So wurde die Deutsche Oberschule 1925 versuchsweise zugelassen. Bayern schloß sich allerdings dieser Vereinbarung nicht an. Die Vereinbarung vom 24. Januar 1928 brachte zum erstenmal die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse von Privatschulen. Die Neufassung der Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse vom 25. März 1931 faßte die einschlägigen Vereinbarungen der zwanziger Jahre zusammen. Sie regelte dieses Gebiet so eingehend, daß sie in Form eines mehrfach veränderten Beschlusses der Kultusministerkonferenz in der Bundesrepublik bis heute fortwirkt.

Ab 1928 wurde die Vereinheitlichung der sozialpädagogischen Bildungsgänge für Mädchen (Frauenfachschule, Wohlfahrtspflegerinnen-, Kindergärtnerinnen-, Hortnerinnen-und Jugendleiterinnen-Ausbildung) durch Vereinbarungen in die Wege geleitet.

Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise gewannen Grundsatzfragen des Berechtigungswesens neues Gewicht. Kam es doch damals zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Eingliederung von Absolventen der Mittleren und Höheren Schulen sowie der Hochschulen. Erst 1931 gelang eine Vereinbarung über die Mittlere Reife, die u. a. die bildungspolitische Absicht verfolgte, den steigenden Andrang zu den Höheren Schulen auf Mittelschulen und Fach-schulen umzulenken.

Ende 1929 veröffentlichte Ministerialrätin Gertrud Bäumer aus der Kulturabteilung im Auftrag des Reichsministeriums des Innern eine Denkschrift über „Schulaufbau, Berufsauslese, Berechtigungswesen" — der, soweit sich sehen läßt, erste Ansatz einer quantitativen Analyse der damaligen schulpolitischen Lage. Gertrud Bäumer kam zu dem Ergebnis, daß die Grundlagen für eine klare Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Bildungswesen und Volkswirtschaft durchaus unzulänglich waren. Weder die Berufs-noch die Arbeitsmarkt-und die Schulstatistik ermöglichten eine sichere Schätzung des vorhandenen Bedarfs und die Vorsorge für diesen Bedarf durch die verschiedenen Zweige des Bildungswesens.

Mit durch diese Denkschrift veranlaßt, berief Reichsminister des Innern Dr. Wirth eine Sachverständigenkonferenz ein, die am 2. Juli 1930 stattfand und nach Möglichkeiten der Abhilfe suchte, Vorgeschlagen wurde vor allem eine Verbesserung der „Auslese" — das hieß nichts anderes als deren Verschärfung — und eine Neuregelung des Übergangs in die Höheren Schulen. Der Schwerpunkt der Bildungspolitik sollte auf den Mittelbau des Bildungswesens (Aufbauzüge der Volksschule, Berufs-und Fachschule) verlagert werden. Ziel war eine „Entlastung der Höheren Schulen von unerwünschtem Schülerballast. Die Demokratisierung des Bildungswesens, die seit 1920 gefördert worden war, sollte unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise eingeschränkt werden. Aus der heutigen Perspektive muten diese Versuche der Steuerung der Weiterentwicklung des Bildungswesens dilletantisch an. Die tieferen sozialen, wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Zusammenhänge scheinen nicht voll analysiert worden zu sein. Andererseits war sich die Reichsregierung der politischen Bedeutung dieser Entwicklung durchaus bewußt. Davon zeugen die folgenden Ausführungen des Reichsministers des Innern, Dr, Wirth, bei der erwähnten Konferenz: „Das Heranwachsen eines geistigen Proletariats, d. h. einer im Wirtschaftsleben voraussichtlich nicht verwertbaren Zahl von höher gebildeten jungen Menschen, bedeute auch eine außerordentliche Gefahr für den Staat, die sich schon heute in der Radikilisierung gerade dieser Jugend zeige. Der innerste Grund dieser Radikalisierung sei in einer gewissen Verzweiflung zu suchen, die sich dieser jungen Leute angesichts ihrer eigenen Zukunft bemächtige. Maßnahmen, um durch richtige Auslese diese im Staatsinteresse gefährliche Fehlentwicklung abzulenken, seien dringend erforderlich und unaufschiebbar. Eine dieser Maßnahmen sei die Vereinbarung über die Mittlere Reife." Dieser Ausweg kennzeich-net die Hilfslosigkeit von Reich und Ländern: Mit einer neuen Berechtigung, der Mittleren Reife, hoffte man die Expansion der Höheren Schulen und Hochschulen zu steuern. Zwischen 1926 und 1931 verdoppelte sich die Abiturientenzahl (von 20 683 auf 40 227). Dies erfüllte die Unterrichtsverwaltungen mit tiefer Sorge. Wie prekär die Lage war, zeigen die Beratungen des Ausschusses für das Unterrichtswesen über die Einschränkung des Zugangs zu den Hochschulen im November 1931, Im Januar 1932 beriet eine Sachverständigenkonferenz unter Vorsitz des Reichs-ministers des Innern Groener erneut über Berufshilfemaßnahmen für Abiturienten. Dabei kamen auch Lösungsversuche wie Werk-jahr und Freiwilliger Arbeitsdienst zur Sprache, Einig war man sich, daß eine große Zahl von Abiturienten statt zum Hochschulstudium in sogenannte praktische Berufe geführt werden sollte. Wenige Tage vor der nationalsozialistischen Machtergreifung drängte Reichsminister des Innern Bracht die Landesregierungen nochmals zur Verschärfung der „Auslese". Das berüchtigte Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25, April 1933, bisher als ein typisches Produkt nationalsozialistischer Schulpolitik angesehen, kündigt sich also schon in der Endphase der Weimarer Republik an.

Ein besonderes Problem war die sich seit Mitte der zwanziger Jahre immer mehr verschärfende sogenannte „Junglehrer-Not", die öfters vom Reichtag aufgegriffen wurde. Schon vor Beginn der Wirtschaftskrise wartete allein in Preußen die ungewöhnlich hohe Zahl von 29 000 Lehrern auf Anstellung. Für eine Schulreform großen Stils (Herabsetzung der Klassenfrequenzen etc,) hätten damals also genügend Lehrer zur Verfügung gestanden. Die relativ bescheidenen Ansätze einer Akademisierung der Volksschullehrerbildung müssen auf dem Hintergrund dieses ungewöhnlich großen Lehrerüberschusses gesehen werden (während heute die Reform der Lehrerbildung mit durch den Lehrermangel herausgefordert wird). Auch das Thema Parteipolitik und Schule kam mehrfach im Ausschuß für das Unterrichtswesen zur Sprache. Anlaß bot eine wachsende kommunistische und nationalsozialistische Agitation in den Schulen. 'Bei der Eröffnung der 8. Sitzung des Ausschusses (Januar 1931) beklagte Reichsminister des Innern, Dr. Wirth, die zunehmende Politisierung der Jugend. Der Ausschuß für das Unterrichtswesen sprach sich in einer Entschließung dafür aus, jede Parteipolitik von der Schule fernzuhalten, die parteipolitische Betätigung der Schüler in der Schule zu unterbinden und zu verhindern, daß Schüler in der Schule einer parteipolitischen Beeinflussung ausgesetzt werden. Die praktische Wirkung dieser Entschließung dürfte nur sehr begrenzt gewesen sein. Denn ein Jahr später beschäftigte sich eine Konferenz der Kultusminister unter dem Vorsitz von Reichsminister des Innern, Groener, erneut mit der Frage der Entpolitisierung der Schule. Soweit festgestellt werden konnte, war dies die letzte Zusammenkunft der Kultusminister mit einem Reichsminister des Innern vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Der Ausschuß für das Unterrichtswesen tagte 1932 nicht.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich der Ausschuß als ein Organ der Zusammenarbeit von Reich und Ländern im großen ganzen bewährte. Die Zusammenarbeit vollzog sich im allgemeinen spannungsfrei. Wenn auch mit einem gewissen Erfolg auf Teilgebieten des Schulwesens durch Vereinbarungen eine Annäherung der Entwicklungen der Länder erreicht wurde, so muß doch festgestellt werden, daß das deutsche Schulwesen und die Lehrerbildung am Ende der Weimarer Republik uneinheitlicher waren als bei ihrem Beginn. Die in der Verfassung geforderte Neu-gliederung des öffentlichen Volksschulwesens sowie die Neuordnung der Lehrerbildung kamen nicht zustande. Noch immer gab es private Vorschulen (wenn auch in sehr begrenzter Zahl), noch immer dauerte die Volksschule in Bayern und großen Teilen Württembergs nur 7 Jahre. Auch die Berufsschulpflicht war sehr unterschiedlich geregelt. Im Höheren Schulwesen hatte sich die Zahl der Schultypen durch die an sich positiv zu wertende Einführung von Aufbauschulen und Deutschen Oberschulen weiter erhöht. So gab es in Preußen 15 Formen neunklassiger Höherer Jungen-und neun Arten von Aufbauschulen. In den außer-preußischen Ländern bestanden 25 verschieden Typen von Jungen-und 19 Arten von Mädchenschulen. Sicher kann man den Ausschuß für das Unterrichtswesen nicht für diese Zersplitterung verantwortlich machen. Sie ergab sich zwangsläufig daraus, daß das Reich seit 1924 die Verantwortung für das Bildungswesen nahezu völlig den Ländern überlassen hatte. Der Ausschuß für das Unterrichtswesen mit seinen sporadischen Zusammenkünften konnte nur ein schwacher Ersatz für eine zielstrebige Reichsschulpolitik sein.

VIII. Auf dem Wege zur totalitären Erziehung

Acht Tage nach der „Gleichschaltung" Preußens durch Papen, am 20. Juli 1932, richtete der deutschnationale Reichsminister des Innern, Freiherr von Gayl, ein Schreiben an die Kultusminister der Länder über die Grundsätze der Jugenderziehung. Dieses Schreiben, das der Presse übergeben und von der Sozialdemokratie als Anschlag auf den Schulfortschritt, als „Schulreaktion" gebrandmarkt wurde, ist bezeichnend für die Staatsideologie dieser Reichsregierung. Die Erziehung zu Volk und Staat wird als vornehmste Aufgabe der Schule proklamiert. Diese Aufgabe soll sich abseits von der „parteipolitischen Beeinflussung und Abhängigkeit" vollziehen, in einem gewissermaßen neutralen Raum, ausgefüllt mit der sich preußisch verstehenden Vorstellung vom Staat. Die Sicherung der christlichen Bekenntnisschulen wird besonders betont. Zugleich werden jedoch Ziele genannt, die der späteren nationalsozialistischen Schulpolitik vorgreifen: Erziehung zum Dienst, zur Verantwortung und zur Opferfähigkeit.

Was bei einer nationalsozialistischen Schulpolitik zu erwarten war, kündigte sich spätestens deutlich Ja 1930 an. Seit Mitte -nuar 1930 amtierte erstmals ein Nationalsozialist als Kultusminister, Dr. Wilhelm Frick (der spätere Reichsminister des Innern), in Thüringen. Auf die Vorgänge vom Januar 1930 in Thüringen, die fast wie eine Generalprobe zur Machtergreifung drei Jahre später erscheinen, können wir hier nicht eingehen. Frick verwaltete neben dem Volksbildungs-auch das Innenressort. In dieser Schlüsselfunktion unterstanden ihm das gesamte Bildungswesen, die Polizei und das Personalwesen. Hitler beauftragte Frick, die „Nationalisierung des gesamten Schulwesens" einzuleiten. Was darunter zu verstehen war, umschrieb Hitler wie folgt: „Wir werden in Thüringen nunmehr das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten stellen. Wir werden ebensosehr den Lehrkörper von den marxistisch-demokratischen Erscheinungen säubern, wie umgekehrt den Lehrplan unseren nationalsozialistischen Tendenzen und Gedanken anpassen." Dies mußte zu Kollisionen mit dem Reichsministerium des Innern führen. Dafür zwei Beispiele: Schon nach einigen Wochen kam es zu einer Kontroverse zwischen dem Reichsminister des Innern, Severing, und Frick wegen der Amtsenthebung eines Weimarer Gymnasialdirektors. Bald darauf geriet Frick im sogenannten Thüringer Schulgebetsstreit mit der Reichsverfassung in Konflikt. Ohne vorherige Abstimmung mit den Kirchen hatte Frick in einem Erlaß Schulgebete bekanntgegeben, die sich ganz im Sinne der nationalsozialistischen „Weltanschauung" gegen „art-und volks-fremde Kräfte" wandten und Wendungen wie diese enthielten; „Drum mach uns frei von Betrug und Verrat, mache uns stark zu befreiender Tat" — Wendungen, die, wie Frick im Thüringer Landtag zugab, sich gegen Juden und Sozialdemokraten richteten. Severings Amtsnachfolger, Dr. Wirth, hielt die „Gebete"

für untragbar, besonders im Blick auf Artikel 148 Abs. 2 der Reichsverfassung, nach dem beim Unterricht in öffentlichen Schulen darauf Bedacht zu nehmen war, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt wurden. Als wiederholte Einsprüche des Reichsministers des Innern beim thüringischen Kultusministerium erfolglos blieben, rief das Reich den Staatsgerichtshof an, der am 11. Juni 1930 entschied, daß die Mehrzahl der vorgeschlagenen Schulgebete nicht mit dem erwähnten Verfassungsartikel vereinbar seien. Noch also konnte sich das Reich gegen eine derartige nationalsozialistische in den Indoktrination Schulen eines Landes durchsetzen.

Vor 1933 gelang es den Nationalsozialisten außer in Thüringen nur in Braunschweig (ab Oktober 1930), Oldenburg (ab Juni 1932) und Mecklenburg-Schwerin (ab Juli 1932), den Kultusminister zu stellen und damit Einfluß auf die Schule zu gewinnen. Dies änderte sich binnen weniger Monate nach der Machtergreifung. Und als der nunmehrige Reichsminister des Innern, Frick, Anfang Mai 1933 erstmals die Kultusminister der Länder in Berlin versammelte und vor ihnen das Programm der nationalsozialistischen Schulpolitik entwikkelte, hatte er es wohl ausschließlich mit Parteigenossen zu tun, was auch den Ton seiner Rede prägte. Frick steckt die Ziele der künftigen Bildungspolitik ab Die bis in die Vorkriegszeit reichende „kulturpolitische Fehlentwicklung" soll beseitigt und die „Form unserer Kulturorganisation mit der wirklichen Lage und den Bedürfnissen von Volk und Staat in Übereinstimmung" gebracht werden. Ziel ist die Festigung der Macht und die Bekämpfung „staatsgefährlicher Gruppen unter der Schuljugend", insbesondere der Kommunisten. Die schulpolitischen Bestimmungen der Reichsverfassung ermöglichten nach Frick keine geeignete Ordnung des deutschen Schulwesens, da in „ihnen die vergangenen Vorstellungen vom Sinn der Erziehung und von der Aufgabe der Schulen niedergelegt sind". Zur Begründung konnte Frick auf den Partikularismus verweisen, der eine „Buntscheckigkeit im deutschen Schulaufbau mit verschuldet hat, die zum Gespött des Volkes geworden ist". Die „unbrauchbaren Verfassungsbestimmungen" sollen allerdings nicht ausdrücklich außer Kraft gesetzt werden. Die nationalsozialistische Schulreform sollte mit einer Neugestaltung des gesamten Unterrichts im Sinne nationalsozialistischer Bildungsziele begonnen werden. Die Reform von Organisation und Struktur des Schulwesens sollte zwar vorbereitet werden, hatte aber offensichtlich zweitrangige Bedeutung. Frick äußerte sich u. a. zum Unterricht in Deutsch, Biologie, Leibesübungen etc. Hier bewegt sich Frick völlig in den Bahnen von Hitlers Erziehungsvorstellungen (Beseitigung liberaler individualistischer Bildungsvorstellungen, Erziehung zur Wehrhaftigkeit, Einführung der Rassenkunde etc.). Bei den organisatorischen Reformen sei „keineswegs an Uniformität des Bildungswesens oder an zentralistische Anordnungen des Reichs" gedacht (was durch die weitere Entwicklung widerlegt werden sollte). Die Vorbereitung der Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Programms — sowohl in ideologischer wie schultechnischer Hinsicht — wurden dem Ausschuß für das Unterrichtswesen übertragen, der Ende Mai 1933 nach anderthalbjähriger Pause zu seiner 10. Sitzung zusammentrat. Sonderausschüsse arbeiteten ein halbes Jahr an Vorschlägen für eine Neugestaltung des Schulaufbaus. Bei der 11. (und letzten) Tagung des Ausschusses für das Unterrichtswesen, Mitte November 1933, ließ sich eine volle Einigung der Ländervertreter nicht erreichen. Schnell hatte sich gezeigt, daß die Vereinheitlichung eines so großen Sozialkörpers wie des Schulwesens ein langwieriger Prozeß war, als zunächst angenommen wurde. Da die politische „Gleichschaltung" des Schulwesens inzwischen weithin erreicht war konnte man sich mit der schultechnischen Vereinheitlichung Zeit lassen.

Hier sei in aller Kürze die verwaltungsund schultechnische Entwicklung der nächsten Jahre skizziert, die sich im Rahmen der Zentralisierung der gesamten Verwaltung mitvollzog. Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Reichs vom 31. Januar 1934 verloren die Länder ihre Hoheitsrechte. Damit wurde die durch die Weimarer Reichsverfassung geschaffene Struktur einschneidend geändert. Träger der Schulhoheit wurde somit das Reich (damit erlosch auch die Aufgabe des Ausschusses für das Unterrichtswesen). Durch Verordnung wurde den Ländern die Wahrnehmung der Hoheitsrechte im Auftrage und Namen des Reichs nur insoweit übertragen, als das Reich nicht von seinen Rechten Gebrauch machte. Nunmehr war das Reich nicht mehr darauf beschränkt, lediglich Grundsätze für das Bildungswesen aufzustellen, sondern konnte selbst umfassende und ins einzelne gehende Anordnungen treffen. Diese Aufgabe oblag dem am 1. Mai 1934 geschaffenen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, dem auch die Kulturabteilung des Reichsministeriums des Innern eingegliedert wurde. Das neugeschaffene Ministerium wurde in Personalunion vom preußischen Kultusminister Rust übernommen. Mit dem 1. Januar 1935 wurde die Vereinigung der beiden Ministerien (Real-union) eingeleitet. Dem Reichsministerium waren die Unterrichtsverwaltungen der Länder teils nachgeordnet, teils unmittelbar unterstellt. Erst jetzt begann eine umfassende schultechnische Vereinheitlichung. Stichwortartig sei an die drastische Reduzierung der Schultypen der Höheren Schulen, die Vereinheitlichung der Schulpflicht (Reichsschulpflichtgesetz vom 6. Juli 1938) und die Neuordnung des beruflichen und technischen Schulwesens erinnert. Es bedürfte einer besonderen Untersuchung, um das bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft erreichte Maß an Einheitlichkeit im Schulwesen festzustellen. Wir konnten in dieser Skizze nur andeuten, wie politische Gleichschaltung und schultechnische Zentralisierung aufeinander bezogen sind, wenn sie sich auch in einer zeitlichen Phasenverschiebung vollzogen.

Die von der Weimarer Verfassung beabsichtigte Balance zwischen Reich und Ländern, der Versuch, unitarische und föderalistische Strukturen miteinander zu vereinen, wurde durch einen Zentralismus abgelöst, der Freiheitsträume für schulpolitische Entscheidungen nicht mehr gestattete. Zentralisierung und Durchsetzung der totalitären nationalsoziali -stischen Vorstellungen von Erziehung sollten dem gleichen Ziel dienen, der dauernden Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft.

IX. Schlußbetrachtung

Die Untersuchung der Zusammenarbeit von Reich und Ländern im Reichsschulausschuß und im Ausschuß für das Unterrichtswesen gab uns Aufschluß über Grundfragen der Schulpolitik in der Weimarer Republik. Auf die verschiedenen Phasen der Zusammenarbeit und die Schwerpunkte der schulpolitischen Auseinandersetzungen brauchen wir nicht nochmals einzugehen. Deutlich wurde, daß das schulpolitische Spannungsverhältnis zwischen Reich und Ländern erst auf dem Hintergrund des Reichsschulgedankens voll verständlich wird. Die 1848 zuerst erhobene Forderung nach einem Reichsschulgesetz und einem Reichsunterrichtsministerium begann sich nach dem Zusammenbruch von 1918 durchzusetzen.

Uber die in der Weimarer Verfassung vorgesehene Kompetenz des Reichs zur Grundsatzgesetzgebung in Schul-und Hochschulangelegenheiten hinaus lief die Entwicklung auf die Schulhoheit des Reiches und jene Union zwischen dem preußischen Kultusministerium und den für Schulfragen zuständigen Reichsstellen zu, wie sie C. H. Becker 1932 vorgeschlagen hatte. Dieser bestechend konsequente Vorgang wurde durch den krisenhaften Verlauf der Schulpolitik der Weimarer Republik besonders beschleunigt.

Entgegen den Erwartungen von 1919 gelang es dem Reich nicht, ein nationales Erziehungsideal zur Geltung zu bringen. Die Schulbestimmungen der Reichsverfassung, die als „Mittel des geistigen Wiederaufbaus und der inneren Gesundung Deutschlands" gedacht waren, blieben großenteils auf dem Papier, obschon sich die Reichsregierung noch 1924 der Bedeutung eines „einheitlich aufgebauten, von einheitlichem Geiste erfüllten Bildungswesens für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Kraft der Nation" bewußt war. Ergebnis der an pädagogischen Ideen und Schulversuchen so reichen zwanziger Jahre war letzten Endes eine wachsende Zersplitterung in Schule und Lehrerbildung — eine Entwicklung, die es den Nationalsozialisten erleichterte, die von ihnen eingeleitete ideologische Gleichschaltung und die schulorganisatorische Vereinheitlichung zu begründen.

Die Faktoren, auf die der krisenhafte Verlauf der Schulpolitik in der Weimarer Republik mit zurückgeführt werden muß, sind: 1. Das Mißlingen eines Ausgleichs der schulpolitischen Zielvorstellungen der drei Verfassungsparteien auf der Grundlage der Verfassungsbestimmungen. Schon bald nach Verabschiedung der Verfassung traten die alten Gegensätze zwischen dem Zentrum, der Sozialdemokratie und den Demokraten erneut voll hervor. 2. Die Problematik der Kompetenz des Reichs zur Grundsatzgesetzgebung in Schul-und Hochschulfragen: Wie weitreichend sollten die „Grundsätze" sein und wo begann und wie breit war der Spielraum für Einzel-regelungen durch die Länder? 3. Die ungeklärte Frage der Finanzierung der Reformen: Bei allen Reichsschulgesetzentwürfen spielte — jeweils mit unterschiedlichem Gewicht — die Frage eine Rolle, nrer die Kosten der Reformen zu tragen habe.

Dieses Problem blieb bis zum Ende der Republik ungelöst.

Die Bündelung dieser Krisenfaktoren führte dazu, daß von einer konsequenten, planmäßigen Reichsschulpolitik, die die Verfassungsbestimmungen schrittweise verwirklichte, seit 1920 keine Rede mehr sein konnte. Die unter Patronage des Reichs eingeleitete Zusammenarbeit der Kultusministerien der Länder bot nur einen schwachen Ersatz für eine Reichsschulpolitik. Vereinbarungen der Länder konnten nur bedingt Grundsatzgesetze ersetzen. Zentrale Fragen wurden ausgeklammert. So brachte die Zusammenarbeit der Länder zwar gewisse Angleichungen auf Teilbereichen des Schulwesens. Die in der Verfassung vorgesehene Schulreform ließ sich aber auf diesem Wege nicht durchführen.

Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, von hier aus einen Ausblick auf die Jahre nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands zu wagen. Unbestritten ist wohl, daß nach der Katastrophe von 1945 in Ost wie West versucht wurde, schulpolitische Erfahrungen und Konzeptionen der Weimarer Republik für den Wiederaufbau fruchtbar zu machen. Hier drängt sich eine Frage aus der Perspektive der weiteren Entwicklung des Schulwesens in der Bundesrepublik auf: War man sich damals, als man sich im Westen schulpolitische Lösungen der Weimarer Republik zum Vorbild nahm, bewußt, daß und woran diese Schulpolitik gescheitert war?

Fussnoten

Fußnoten

  1. C. H. Becker: Eine Forderung an die neue Erziehung. In: Pädagogisches Zentralblatt. Hrsg, vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin H. 1 (1919/20). Siehe auch Erich Wende: C, H. Becker. Mensch und Politiker. Stuttgart 1959, S. 164 f. Zur Problematik des Begriffes „Kulturnation“ siehe: F. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, München — Berlin 1908, S. 5f.; zum Problem der Nationalerziehung siehe besonders H. Richert: Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule. Tübingen 1920.

  2. Heinrich Schulz: Der Weg zum Reichsschulgesetz. Leipzig 1920, S. 137.

  3. C. H. Becker: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches. Leipzig 1919, S. 3.

  4. Otto Schmidt: Die Frage der Reichsschulgesetzgebung. Berlin, Leipzig 1907, S. 23.

  5. A. a. O. S. 29 f.

  6. Heinrich Schulz, a. a. O. S. 44 f.

  7. A. a. O. S. 69.

  8. A. a. O. S. 85. Kerschensteiner wollte lediglich einen aus Fachleuten zusammengesetzten Erziehungsrat als Träger einer nationalen Schulpolitik. Dieser Erziehungsrat sollte weder mit legislatorischer noch administrativer und disziplinarer Gewalt ausgerüstet sein. G. Kerschensteiner: Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend (1901), 9. Auflage Erfurt 1928, S. 86 f.

  9. Heinrich Schulz, a. a. O. S. 91.

  10. Das einführende, viel beachtete Referat hatte Kerschensteiner gehalten. August Grünweller: Nationale Einheitsschule oder Deutsche National-schule? Elberfeld 1916, S. 8 und 12 f.

  11. Heinrich Schulz, a. a. O. S. 122 f.

  12. Gerd Hohendorf: Die Schulpolitik der deutschen Arbeiterklasse in der Novemberrevolution 1918. In: Pädagogik 13 (1958) S. 786; Hermann Giesecke: Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preußen und im Reich 1918/19. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), S. 163.

  13. Walter Lande: Die Schule in der Reichsverfassung. Ein Kommentar. Berlin 1929, S. 28 f.

  14. Hermann Rosin: Das Schulkompromiß. Berlin 1920, S. 5 f.

  15. Erich Wende, a. a. O. S. 83.

  16. C. H. Becker, a. a. O. S. 10.

  17. A. a. O. S. 17.

  18. A. a. O. S. 18.

  19. A. a. O. S. 18.

  20. A. a. O. S. 31.

  21. A. a. O. S. 32.

  22. A. a. O. S. 34.

  23. Walter Lande, a. a. O. S. 39.

  24. H. Giesecke, a. a. O. S. 174.

  25. Niederschrift über die 3. Tagung des Reichsschulausschusses (27. — 30. Oktober 1920) S. 17.

  26. Hauptstaatsarchiv München, Allgemeines Staatsarchiv. MK 14906, Schreiben des Württembergischen Ministeriums des Kirchen-und Schulwesens vom 11. 9. 1919 Nr. 9376.

  27. Staatsarchiv Hamburg. Akten der Oberschulbehörde. Vorgang 114 b, Bd. I. Niederschrift über die Vorbesprechung zur Reichsschulkonferenz vom 20. — 22. Oktober 1919, S. 28.

  28. Aloys Fischer: Leben und Werk, München 1950 Bd. I, S. 219.

  29. Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Amtlicher Bericht, erstattet vom Reichsministerium des Innern. Leipzig 1921, S. Hf.

  30. Konrad Haenisch: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik. Stuttgart 1921, S. 59.

  31. Vgl. Anmerkung 27.

  32. Die Reichsschulkonferenz 1920, S. 845.

  33. A. a. O. S. 455.

  34. A. a. O. S. 352.

  35. Alfons Otto Schorb, Volker Fritzsche: Schulerneuerung in der Demokratie. Stuttgart 1966, S. 33.

  36. Herman Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt/Main 1949, S. 21.

  37. Niederschrift über die 3. Tagung des Reichsschulausschusses vom 27. — 30. Oktober 1920, S. 25.

  38. Reichsgesetzblatt 1924 I S 74 f

  39. Staatsarchiv Hamburg, Akten der Oberschulbehörde, Vorgang 624 b, Bd. I, Schreiben des Reichs-ministers des Innern vom 6. August 1924 Nr. III 5542.

  40. A. a. O., Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 4. 9. 1924, VIII 30369.

  41. Christoph Führ: Zur Schulpolitik der Weimarer Republik Weinheim 1970, Dokument IV 5.

  42. Staatsarchiv Hamburg. Akten der Oberschulbehörde. Vorgang 651 a Bd. I. Niederschrift über die Konferenz v. 2. 7. 1930 S. 8.

  43. F. Dickmann: Die Regierungsbildung in Thüringen als Modell der Machtergreifung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), S. 463.

  44. Der Hergang ist ausführlich geschildert in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. RGZ Bd. 129, Anhang S. 9.

  45. Christoph Führ, a. a. O. Dokument IV 10.

  46. Rolf Eilers: Die nationalsozialistische Schulpolitik. Köln, Opladen 1963, S. 66 f.

Weitere Inhalte

Christoph Führ, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt am Main; geb. 1931; Studium in Tübingen, Wien und Hamburg; 1957 Promotion in neuerer Geschichte; 1957— 1965 Referent des Sekretariats der Kultusministerkonferenz beim Vorsitzenden des Schul-und Auslandsschulausschusses der KMK. Veröffentlichungen: Das K. u. K. Armeeoberkommando und die Innenpolitik in Österreich 1914— 1917, Graz — Wien — Köln 1968; Schulversuche 1965/66, Teil I: Gesamtdarstellung, Teil II: 50 Strukturberichte, Weinheim 1967, 2. Ausl. 1968; zusammen mit Walter Schultze: Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1966, 2. Ausl. 1967; eingeleitet, herausgegeben und bearbeitet unter Mitwirkung von Gisela Ulrich: Zur Bildungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1969.