Wer heute die „Zwischenbilanz der Gesamthodischul-Diskussion" zieht, sieht sich vor drei Schwierigkeiten: dem Informationsreichtum einer in den letzten Jahren zunehmend intensivierten Diskussion um die Hochschulreform; der Tatsache, daß die „Gesamthochschule" noch ein programmatisches Ziel ist und das Stadium der Modellplanung kaum verlassen hat; und schließlich dem Problem einer distanzierten (und dennoch nur vorläufigen) Einordnung der Vorgänge und Tendenzen. In diesem Versuch soll zunächst skizziert werden, was man den „bildungspolitischen Aufbruch der sechziger Jahre" nennen könnte, dann die Geschichte der westdeutschen Universität nach dem Zweiten Weltkrieg, schließlich die Genesis der Gesamthochschule. Daran schließt sich die Erörterung einiger Probleme an. Zahlreiche offene Fragen — wie die künftige Struktur des Lehrkörpers, die Rolle der Forschung und die quantitativen Dimensionen der Gesamt-hochschule — werden nicht angesprochen.
I. Der bildungspolitische Aufbruch der sechziger Jahre
Abbildung 2
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Spätestens seit Georg Pichts Kassandrarufen von der „deutschen Bildungskatastrophe" ist Bildungspolitik ein allgemein diskutiertes Thema. Picht war der erste, der in publizistisch wirksamer Form die Planungsmängel und Disproportionen des westdeutschen Bildungswesens ins öffentliche Bewußtsein rückte. Seine Thesen fanden erhebliche Resonanz vor allem die Forderung nach einer sofortigen energischen Steigerung der Abiturienten-quote. Schulentwicklungspläne wurden aufgestellt staatliche Instanzen und private Organisationen warben mit gezielten Aktionen für den Besuch weiterführender Schulen. Das Ziel war die Erschließung von „Begabungsreserven" vor allem bei den unteren Sozialschichten. Zwei Beispiele: die Freiburger Studentenschaft sprach im Rahmen der Aktion „Student aufs Land" 1965/66 in nahezu 500 Informationsvorträgen rund 24 000 Personen im ländlichen Gebiet Südwestdeutschlands an. Im selben Zeitraum führte die „Aktion Gemeinsinn" eine sorgfältig vorbereitete Bildungskampagne durch, die sich in erster Lnie an die Eltern der schulpflichtigen Kinder mittlerer Sozialschichten wandte. So wurde z. B. die Broschüre „Lernt Eure Schulen besser kennen" in weit über 100 000 Exemplaren verteilt. Dem gleichen Ziel dienten eine gestaffelte Plakatwerbung, Anzeigen in Tageszeitungen, Hinweise in Rundfunk und Fernsehen
Mit dem Interesse für die Bildungspolitik gerieten auch Bildungssystem und Bildungsprozeß stärker in den Blickpunkt. Die Bildungsfor-schung diagnostizierte die Beziehung zwischen „Bildungsprozessen" und ihren sozialen Determinanten, den — sozio-ökonomischen Faktoren (z. B. Beruf und Einkommensverhältnisse der Eltern) — institutioneilen Faktoren (z. B. die formale Organisation des Bildungssystems; Lehrpläne; Zeitpunkt und Struktur von Prüfungen)
— sozio-ökologischen Faktoren (z. B. die Informationsdistanz bestimmter Sozialgruppen; die verkehrsgeographische Situation, d. h. Lage des Wohnorts und örtliches „Bildungs" -Angebot)
— sozio-kulturellen Faktoren (z. B. das Sozialklima der Familie; das Bildungsniveau der Eltern; Konfession; Geschlecht; die affektive Distanz der Eltern zur „höheren Bildung"; das Selbstverständnis der Lehrer, ihre Vorurteile und Attitüden).
Helge Pross hat die Relevanz sozialer Daten an einem Extrembeispiel deutlich gemacht: „In der Situation der Arbeitertöchter kumulieren sich . . . alle Widerstände gegen die theoretische Bildung, die in der Bundesrepublik überhaupt bestehen. Wohnt das Mädchen überdies noch auf dem Land, gar in Bayern oder Rheinland-Pfalz, und gehört es einer katholischen Familie an, so grenzt es ans Wunderbare, wenn es zum Abitur gelangt. Völlig unabhängig von der Begabung ist sein Bildungsweg von vornherein durch die Geschlechts-und Schichtzugehörigkeit determiniert." Damit zeigte sich, daß von der vielberufenen (oder doch unterstellten) Bildungsunwilligkeit unterer Sozialschichten nur in Einzelfällen die Rede sein kann, daß vielmehr der Mangel an Selbstvertrauen, die Unterschätzung des Leistungsvermögens der Kinder und die Furcht vor der Blamage für das Bildungsverhalten ausschlaggebend sind — daß also eher vom Nicht-Wagen als vom Nicht-Wollen gesprochen werden muß Hand in Hand mit diesen Einsichten ging die endgültige Revision des Begabungsbegriffs, deren gesellschafts-und sozialpolitische Bedeutung kaum zu überschätzen ist: „Begabung" erscheint nicht mehr primär als genetisch fixiertes (und damit konstantes) Datum, sondern zum guten Teil als sozial vermittelte (und damit veränderbare) Größe Daß die Bildungsforscher mit dieser Einsicht keineswegs offene Türen einrannten, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß etwa noch 1959 der Hauptsprecher des Philolo. gen-Verbandes, Karl Valentin Müller, auf der 12. Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Niedersachsen „mit aller Entschiedenheit und mit dem Recht einer sicher gegründeten Naturwissenschaft" erklärte, „die Herren Soziologen werden sich daran gewöhnen müssen, daß Begabung eine biologische Kategorie ist“, daß Begabung „unabdingbar auf Erbanlagen beruht" Vom Schrifttum zur Begabungsforschung ist vor allem das Gutachten des Deutschen Bildungsrats zu nennen, in dem Psychologen, Soziologen und Pädagogen einen dynamischen Begabungsbegriff explizieren. Begabung wird als eine innerhalb bestimmter Grenzen beeinflußbare Disposition verstanden, als ein „Potential, das ohne angemessene Impulse und Anforderungen verkümmern, umgekehrt aber durch pädagogisch positive Anregungen und Aufgaben, durch Vermittlung von Erfolgserlebnissen und Stiftung von Interessen verstärkt werden kann“ Begabung ist nicht nur Voraussetzung des Lernens, sondern auch dessen Ergebnis. Begabung ist dem Bildungssystem also nur bedingt vorgegeben; seine Aufgabe ist es vielmehr, den Schüler „zu begaben". Zweierlei markiert damit den bildungspolitischen Aufbruch der sechziger Jahre: der Hinweis auf die Funktionsmängel des Bildungssystems und die Ergebnisse der Bildungsforschung, die auf ideologische und soziale Barrieren und eklatanten Ungerechtigkeiten im Bildungsprozeß aufmerksam machten. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung muß die Diskussion über die Gesamthochschule gesehen werden.
II. Die westdeutsche Universität seit 1945
Abbildung 3
Inhalt
Inhalt
Die „Krise der deutschen Universität", seit 1966/67 in aller Munde, war seit 1945 Thema unzähliger Tagungen, Denkschriften, Gutachten, konkreter Empfehlungen und kulturkritischer Essays Betrachtet man die hochschul-
politische Reformliteratur, „so gibt es eigentlich nichts an der deutschen Universität, was nicht reformiert werden sollte" Doch trotz aller Kritik galt den Reformern der berühmte Satz des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker aus den Anfängen der Weimarer Republik: „Der Kern unserer Universitäten ist gesund" — ein Satz, den eines der bekanntesten Nachkriegsgutachten, das im Auftrage der britischen Militärregierung 1948 erstellte „Blaue Gutachten", aufnahm Befreit vom Kuratel des Nationalsozialismus, griff die Universität auf die Tradition der Zeit vor 1933 mit ihrer Orientierung an der Universitätsidee Wilhelm von Humboldts zurück. In seiner berühmten Schrift „über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin" schrieb Humboldt 1809: „Da diese Anstalten ihren Zweck ... nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreis vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, ... so muß die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und ab-sichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. Es ist ferner eine Eigentümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, daß sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu tun hat und lernt. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen.“ In Humboldts „höheren wissenschaftlichen Anstalten“ tritt die Aufgabe der (berufsbezogenen) Lehre hinter die Suche nach der Wahrheit in der Forschung zurück; innerhalb der Universität dominiert die Philosophische Fakultät.
Ein entscheidendes und für das Selbstverständnis der deutschen Universität auch nach 1945 kennzeichnendes Merkmal ist eben dieser Gegensatz von „praktischer Tüchtigkeit“ und der „Universitätsidee". Die Fachhochschule mit ihrer Erziehung zur „unmittelbaren praktischen Nützlichkeit“ ist das Gegenbild dieser Universität: „Die Idee einer wissenschaftlichen Hochschule als Berufsausbildungsstätte stellt ... das dauerhafte Gegenbild der deutschen Universität dar." Diese „Idee“ wurde bald durch die sozial-und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung in Frage gestellt
Im Zusammenhang mit der Industrialisierung traten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts neben die Universitäten die Technischen Hochschulen (in der Regel durch Privilegierung bestehender Real-und Gewerbeschulen und polytechnischer Anstalten) und eine Reihe von Spezialhochschulen (Bergakademien, Tierärztliche Hochschulen u. ä.). Die Studiengänge dieser Institutionen waren auf die spätere Berufs-tätigkeit ihrer Absolventen ausgerichtet; von da aus wurde die Bezeichnung „Hochschule" geradezu zum Ausdruck des Unterschieds gegenüber der Universität. In der Folgezeit gewannen eine Reihe von Spezialhochschulen und die Technischen Hochschulen allmählich denselben Status und dieselben Privilegien wie die Universität; eine Reihe weiterer Einrichtungen wurden zu Hochschulen erklärt — so die Musik-, Kunst-und Sporthochschulen —, ohne daß sie den Status der Universitäten und Technischen Hochschulen erhielten.
Damit war eine neue Differenzierung im Hochschulsektor eingeleitet: die Unterscheidung zwischen „wissenschaftlichen" und sonstigen Hochschulen 19). Wie fließend die Grenzen sind, zeigt das Beispiel der Pädagogischen Hochschulen. Mit dem Rückgriff auf die spezifisch deutsche Universitätsidee nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Differenzierung im Hochschulbereich ignoriert.
Im Rückblick auf die Entwicklung seit 1945 lassen sich heute sehr vereinfacht drei Abschnitte unterscheiden die Phase der Restauration und der Konsolidierung des Universitätsbetriebes; die Phase des Ausbaus und teilweisen Neubaus, die bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre reichte; schließlich die jüngste Entwicklung, die auf die strukturelle Reorganisation des Tertiärbereichs zielt. 1. Die erste Phase: Restauration und Konsolidierung Unmittelbar nach der Kapitulation begannen die Universitäten mit ihrem Wiederaufbau. Schon im Wintersemester 1945/46 wurden regelmäßige Vorlesungen an verschiedenenHochschulen gehalten. Die Bedingungen des Neuanfangs waren allerdings denkbar schlecht: 60 % des Baubestandes von 1939 war zerstört, der Lehrkörper durch den Nationalsozialismus, durch Krieg und Entnazifizierung erheblich dezimiert. So wurde die praktische Arbeit dieser Phase, ähnlich wie beim Aufbau der Städte, vom „Wiederaufbau-Denken" bestimmt. Wie man mit der Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes die Hoffnung auf eine Erneuerung im Sinne Humboldts verband so griff man organisatorisch auf die von der nationalsozialistischen Kulturpolitik zerschlagene überlieferte Hochschulverfassung zurück. Damit wurde eine Universitätsverfassung restituiert, die auf dem Dualismus von staatlicher und hochschulautonomer akademischer Verwaltung beruht. Rektor, Senat und Fakultäten — die Selbstverwaltungsorgane — wurden wieder in ihre Rechte eingesetzt. Der staatliche Verwaltungsanspruch hinsichtlich der Wirtschafts-und Personalangelegenheiten blieb hingegen gewahrt Strukturelle Reformen, etwa der Selbstverwaltung, wie sie vor allem die amerikanische Reeducation-Politik anstrebte, kamen nicht zum Zuge. So stieß der Vorschlag, einen Aufsichtsrat ähnlich dem der US-Universitäten einzurichten, der „zwischen Universität, den staatlichen Dienststellen und der allgemeinen Öffentlichkeit, die er repräsentiert, vermittelt“ auf den Widerstand der deutschen Professoren, die dieses Konzept mit dem aus der deutschen Hochschultradition begründeten Argument ablehnten, „that the mission of the university is to serve truth and truth alone, and that any outside interference or control would prevent them from achieving such a purpose“ Trotz der Marburger Hochschulgespräche und der Schwalbacher Richtlinien in der US-Zone und trotz des „Blauen Gutachtens" der britischen Militärregierung kam es nicht zu Hochschulreformen. Es zeigte die Resignation der Amerikaner vor dieser Aufgabe, als 1949 am Ende der Militärregierung folgendes Resümee gezogen wurde: „Buth on the whole, the Military Government period closed with the university reform a matter of future accomplishment." 2. Zweite Phase: Ausbau statt Neubau Mitte der fünfziger Jahre setzte die Phase des verstärkten Ausbaus der Hochschulen ein. Ging es zunächst darum, „zu retten, wieder-aufzubauen und wiederherzustellen", wie der Wissenschaftsrat 1960 feststellte so rückten in der Folgezeit angesichts der steigenden Studentenzahlen zunächst Fragen der Studienreform und der Kapazitätserweiterung in den Vordergrund. 1955 studierten an den Wissenschaftlichen Hochschulen 130 000 Studenten; 1960 waren es bereits 206 000 Diese Entwicklung führte zu einer Reihe von Vorschlägen, die auf die Bewältigung des Massen-problems und auf die Wahrung der „Universitätsidee" zielten: die wissenschaftlichen, Forschung und Lehre — jedenfalls dem Anspruch nach — verbindenden Hochschulen sollten durch ausbildungsintensive Einrichtungen entlastet werden.
So stellte der damalige Ministerialrat im Bundesinnenministerium, Karl Friedrich Scheide-mann, die Frage, ob „alle Studenten wirklich studieren müssen oder etwa ihre Ausbildung für den Beruf an Fachschulen erhalten sollen, die den Hochschulen zugeordnet werden müßten" In die gleiche Richtung ging der Flügge-Plan. Um die meist nur noch-fiktive Einheit von Forschung und Lehre wiederherzustellen, solle man die durchschnittlich Begabten auf ein Schulsystem verweisen und nur noch eine Elite von etwa 10 0/0 der Gesamtstudentenschaft in die Forschung einführen" Diese Vorschläge wurden vom Wissenschaftsrat abgelehnt, auch solche, die „Studienhochschulen" im Sinne der französischen Grandes Ecoles oder die horizontale Funktionsteilung der Universität (Grund-und Hauptstudium) im Auge hatten. Sie liefen, so der Wissenschaftsrat, darauf hinaus, entweder die Hochschulen als „esoterische Einrichtungen zu isolieren" oder sie in ihrem Unterbau zu „bloßen Ausbildungsstätten zu denaturieren" oder — beim System der „Studienhochschulen" — die Universitäten auf den zweiten Platz zu verweisen Der Wissenschaftsrat selbst verzichtete auf die Empfehlung organisatorischer Maßnahmen zur Bewältigung des Massenproblems, „um den Organen der akademischen Selbstverwaltung nicht vorzugreifen" Statt dessen richtung von zusätzlichen Professuren, durch die richtung von zusätzlichen Professuren durch die Verstärkung des personellen Mittelbaus und durch die Gründung neuer Hochschulen zu begegnen Faktisch meinte dies: Ausbau statt Neubau. Damit setzte der Wissenschaftsrat seine Politik fort, die er 1960 in seinen „Empfehlungen" eingeschlagen hatte, in denen er für den räumlichen, personellen und materiellen Ausbau und erst an zweiter Stelle für den Neubau von Universitäten plädierte. Wilhelm Hennis hat überzeugend nachgewiesen, daß die Alternative „Ausbau statt Neubau" nicht erst durch die Ausbauempfehlungen von 1960 entschieden wurde, sondern daß diese Entscheidung nur die Nachkriegspolitik der „Westdeutschen Rektorenkonferenz“ (WRK) ratifizierte, die sich als „Politik der Besitzstandswahrung" charakterisierte. So warnte die Rektorenkonferenz etwa „vor einer Inflation auf dem Gebiet des eigentlichen Hochschulwesens" (1951) und nahm ein Jahr später „mit großer Besorgnis zur Kenntnis, daß die Promotionsmöglichkeiten in einzelnen Ländern der Bundesrepublik vermehrt werden sollen" Der Widerstand gegen die Politik des Neubaus und das Plädoyer für die Beschränkung des Habilitationsrechts entsprang, so Hennis, der standespolitisch motivierten „Tendenz, innerhalb der Universitäten unter allen Umständen au pair zu bleiben"
Diese Politik erwies sich als ebenso einflußreich wie verhängnisvoll. Die Zahl der Universitäten und Technischen Hochschulen wurde im Vergleich zum Anstieg der Studentenzahlen (1960: 206 000; 1968: 288 000) nur ungenügend erhöht, nähmlich von 31(1960) auf 39(1968)
3. Dritte Phase: Umbau statt Ausbau — der Weg zur Gesamthochschule Pichts Warnung vor der „Bildungskatastrophe" hatte zunächst nur auf die Mängel im Sekundarbereich aufmerksam gemacht; die hochschulischen Folgeprobleme der expansiven Bildungspolitik gerieten zunächst nicht ins Blickfeld. Das bildungspolitische Reformklima führte zum raschen Aufschwung der Abiturientenzahlen: von 47 848 im Jahre 1965 auf 73 264 im Jahre 1968
Neben dem rapiden Zuwachs an Studienanfängern verschärften zusätzliche Faktoren das Massenproblem der Hochschulen, nämlich
— die Erhöhung der Mindeststudiendauer: in den fünfziger Jahren wurde für einzelne stark besetzte Studienrichtungen wie Humanmedizin, Rechtswissenschaft, Volks, und Betriebswirtschaftslehre und Philologie die Mindeststudiendauer erhöht;
— die Erhöhung der Studiendauer effektiven aufgrund mangelnder Studienberatung, der Disparität zwischen Studierenden und Dozenten etc., ferner der Vermehrung des Wissenstoffs und damit der Prüfungsanforderungen; — Strukturverschiebungen innerhalb der Gesamtzahl der Studierenden von kürzeren Studiengängen zu Studienrichtungen längerer Dauer;
— die Zunahme der Verweildauer an Hoch-
schulen: zwischen 1959 und 1965 stieg die mittlere Studiendauer erfolgreicher Absolventen von etwa 9 (männliche Studierende)
bzw. 10 (weibliche Studierende) auf knapp 12 (männliche Studierende) bzw. 10, 5 (weibliche Studierende) Semester. Erhöht wird diese generelle Verweildauer ferner dadurch, daß die Studierenden, die ohne Examen die Hochschule verlassen, die Aufgabe des Studiums sehr oft. in die höheren Semester verlegen (die durchschnittliche Erfolgsquote liegt zwischen 60 und 61 % bei den Studenten und zwischen 54 und 57 % bei den Studentinnen mit allerdings beträchtlichen Unterschieden des Studienerfolgs in den einzelnen Studienrichtungen).
Diese Faktoren führten zusammen mit der Expansion des Sekundarbereichs zur hoffnungslosen Überfüllung der Hochschulen. Die zunehmende Verengung der Hochschulkapazitä-ten erwies sich als das eigentliche (oder doch handgreiflichste) Politikum in der Hochschulreformdiskussion, die spätestens mit den Studentenunruhen zum Tagesgespräch wurde; Politikum deshalb, weil in erheblichem Umfang die Anwendung des Numerus clausus als Instrument der Zulassungsbeschränkung notwendig wurde Damit sah sich die Bildungspolitik mit der drängenden Aufgabe konfrontiert, die . positive Bildungskatastrophe'in den Griff zu bekommen. Hier setzte sich erstaunlich rasch die Einsicht durch, daß dies die strukturelle Reorganisation des Tertiärbereichs in Richtung von Hochschulverbundsystemen notwendig macht. a) Der , Dahrendori‘-Plan Das erste Konzept eines solchen Verbundsystems legte im Juli 1967 der „Arbeitskreis Hochschulgesamtplan" des Kultusministeriums von Baden-Württemberg unter dem Vorsitz Ralf Dahrendorfs vor. Das entscheidende Motiv für die Erarbeitung des Hochschulgesamtplans war die Bewältigung des „Massenproblems": in Baden-Württemberg als dem hochschulreichsten Land der Bundesrepublik hatten sich die Abiturientenzahlen innerhalb von zehn Jahren nahezu verdoppelt, nämlich von 26 800 im Wintersemester 1956/57 auf beinahe 50 000 im WS 1966/67 Ziel des Plans war es, „die großen Zahlen von Studien-anfängern ... in überschaubarer Zeit zu sinnvollen Abschlüssen" zu führen
Der „Dahrendorf" -Plan der „differenzierten Gesamthochschule" faßt Wissenschaftliche Hochschulen, Pädagogische und Kunsthochschulen, Studienseminare, Ingenieurschulen und Höhere Fachschulen in einem Verbund zusammen. Er bietet unterschiedliche Studiengänge an, nämlich berufsorientierte Kurzstudiengänge (3 Jahre) und wissenschaftsorientierte Langstudiengänge (4 Jahre), an die für einen begrenzten Teil der Absolventen ein for-
schungsbezogenes Aufbaustudium anschließen kann. Diese Kurzstudiengänge werden einmal im sogenannten „allgemeinen Hochschulbereich", den bisherigen „wissenschaftlichen Hochsch 000 im WS 1966/67 43). Ziel des Plans war es, „die großen Zahlen von Studien-anfängern ... in überschaubarer Zeit zu sinnvollen Abschlüssen" zu führen 44).
Der „Dahrendorf" -Plan der „differenzierten Gesamthochschule" faßt Wissenschaftliche Hochschulen, Pädagogische und Kunsthochschulen, Studienseminare, Ingenieurschulen und Höhere Fachschulen in einem Verbund zusammen. Er bietet unterschiedliche Studiengänge an, nämlich berufsorientierte Kurzstudiengänge (3 Jahre) und wissenschaftsorientierte Langstudiengänge (4 Jahre), an die für einen begrenzten Teil der Absolventen ein for-
schungsbezogenes Aufbaustudium anschließen kann. Diese Kurzstudiengänge werden einmal im sogenannten „allgemeinen Hochschulbereich", den bisherigen „wissenschaftlichen Hochschulen", angeboten und sollen hier mehr theorieorientiert sein, zum anderen im „Fach-hochschulbereich", wo sie stärker praxisbezogen sind. Damit geht der Vorschlag der Kommission von zwei Überlegungen aus: zum einen wird der Rang (und damit das Prestige) der nichtwissenschaftlichen Hochschule angehoben (Hoffnung: viel mehr Abiturienten als bisher werden vom Universitätsstudium absehen und Fachhochschulen besuchen); zum anderen wird innerhalb der bisherigen Universitäten durch das Angebot der Kurzstudien — bis zum Bakkalaureat — die Durchlauffrist verringert (Hoffnung: Studenten und Abnehmergruppen werden zu einem größeren Teil — , ä) Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg: Emp-etwa 55 % — mit diesem Kurzstudium zufrieden sein). b) Das Problem der Fachhochschulen Der Hochschulgesamtplan Baden-Württembergs sah die Einbeziehung geeigneter Höherer Fachschulen 45) als Fachhochschulen in den Hochschulbereich vor. Eingangsvoraussetzung sollte das Abitur sein 46). Eine andere Konzeption für die Zukunft der Höheren Fachschulen, die zunächst von den übrigen Bundesländern (mit Ausnahme Berlins) bevorzugt wurde, sah die Umwandlung der Fachschulen in Akademien vor; die Fachschulen sollten in ihrer Ausbildungsfunktion neben die Hochschulen treten, dabei aber ihre Stellung gegenüber den Hochschulen behalten.
Ein wesentlicher Aspekt der Fach(hoch) schul-Diskussion betraf die Entlastung Wissenschaftlicher Hochschulen. Bereits in seinen ersten „Empfehlungen" von 1960 hatte der Wissenschaftsrat die Gründung einer Reihe Höherer Fachschulen gefordert 47) und 1962 dafür plädiert, „solche mittleren Ausbildungsgänge und ihre Abschlußdiplome so auszugestalten, daß sie sinnvolle und sozial attraktive Berufsmöglichkeiten bieten" 48). Die Entscheidung — Akademie oder Fachhochschule? — brachte neben dem Drängen der Studierenden und ihrer Lehrer die Entwicklung im EWG-Bereich 49): die graduierten Ingenieure der Höheren Fach-schulen sollten in der EWG Technikern gleichgesetzt und ihnen die selbständige Niederlassung verwehrt werden. Dies gab den Ausschlag: die Entscheidung der Ministerpräsidenten vom 31. Oktober 1968 ordnete die Ingenieurschulen etc.dem Hochschulbereich zu 50); das Akademie-Konzept wurde fallengelassen. Die neuen Fachhochschulen wurden als „eigenständige Einrichtungen des Bildungswesens im Hochschulbereich" bezeichnet; die volle Fach-aufsicht behielten sich die Kultusbehörden allerdings vor.
Mit der Entscheidung für die Fachhochschule war die formelle Voraussetzung für die Ein-beziehung dieser Einrichtungen in ein Hoch, schulgesamtsystem gegeben; die praktischen Fragen — etwa das Qualifikationsgefälle zwischen den Hochschulen, das heute die Fachhochschulen zu den neuralgischen Punkten der praktischen Diskussion macht — wurden allerdings nicht beantwortet.
III. Die Gesamthochschule als bildungspolitische Grundentscheidung
Im Bundesbericht Forschung II (1967) ging die Regierung der Großen Koalition davon aus, daß 1970 etwa 280 000 Studenten an den westdeutschen Wissenschaftlichen Hochschulen immatrikuliert sein würden; für 1980 wurde mit einer Verdoppelung dieser Zahl gerechnet Da es nicht möglich sein würde, selbst bei Forcierung des Hochschulneubaus die Kapazitäten auch nur annähernd zu verdoppeln, die Drosselung der „Bildungsexpansion" aber vermieden werden sollte, schlug die Regierung vor, die Wissenschaftlichen Hochschulen von ihren Ausbildungsaufgaben zu entlasten: „Eine mögliche Lösung besteht darin, daß (etwa im Rahmen von Gesamthochschulen) neben die Ausbildungsgänge, die vorwiegend auf die Gewinnung wissenschaftlichen Nachwuchses gerichtet sind, andere treten, die eine spezialisierte Ausbildung zu nichtwissenschaftlichen Berufen und eine erweiterte Allgemeinbildung vermitteln. In Wirtschaft und Verwaltung besteht ein wachsender Bedarf an vielseitig verwendbaren jungen Hochschulabsolventen, die in der Lage sind, sich die für ihre Arbeit erforderlichen Spezialkenntnisse am Arbeitsplatz rasch an-zueignen." Und weiter: „Durch diese Art der Ausbildung kann zudem eine erhebliche Senkung der Ausbildungskosten erreicht werden: An Fachhochschulen, wo die Studenten rascher zum Abschluß geführt werden, weniger Studenten das Studium ohne Examen abbrechen und keine kostspielige Forschung betrieben wird, kostet ein Absolvent die öffentliche Hand nur etwa den fünften Teil dessen, was der Absolvent einer Wissenschaftlichen Hochschule kostet. Die wachsende Studentenzahl und die Bedürfnisse von Staat und Wirtschaft werden es notwendig machen, daß ein immer größerer Teil der Studenten derartige Ausbildungsgänge durchläuft." „Gesamthochschule“ meint hier ein Hoch-schulverbundsystem, in dem ausbildungsintensive Fachhochschulen die Universitäten entlasten; es wird dabei primär unter kostensparendem Effekt gesehen. Die Gesamthochschule erscheint als Antwort auf die quantitativen Folgeprobleme der aktiven Bildungspolitik, nicht auf die pädagogischen und gesellschaftspolitischen Fragen der Hochschule. Wenn auch das Konzept des damaligen Wissenschaftsministers Stoltenberg auf Widerstand stieß schnell „erhebliche neue Aus-bildungskapazitäten in Fachhochschulen“ zu schaffen, da nur so „bis 1975 ein größerer Teil der Absolventen weiterführender Schulen den Zugang zu einer qualifizierten Ausbildung neben den Wissenschaftlichen Hochschulen finden" könne zeichnete sich doch ein deutlicher Konsens für Gesamthochschulsysteme ab. Der „Bildungsbericht '70“: „Die Aufteilung des tertiären Bereichs in formal getrennte und hierarchisch geordnete Institutionen wird weitgehend abgelehnt und statt dessen ein Verbund aller Einrichtungen des Hochschulbe-reichs, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichen Stufen, angestrebt." Dieser Konsens muß den überra-sehen, der sich an die zähe und langwierige Debatte über die künftige Organisation des Sekundarbereichs erinnert. Er mag ihn sich, wie dies kürzlich ein Kritiker der Integrierten Gesamthochschule (IGH) tat, damit erklären, daß er die Gesamthochschule (GHS) mit einer leeren Projektionswand vergleicht, „auf die von Projektionsständen verschiedenster Richtung die jeweilige Wunschvorstellung projiziert wird" daß sich also mit der GHS die unterschiedlichsten Erwartungen der verschiedenen Gruppen verbinden.
Auch wer sich nicht auf das undankbare Geschäft der Motivforschung einläßt, kann nicht übersehen, daß sich mit der GHS handfeste Interessen verbinden, etwa status-und stan-despolitische Hoffnungen, am Sozialpromoter-Effekt der Universität teilzuhaben. Im Folgenden sollen die drei wichtigsten Argumente für die GHS skizziert werden, nämlich das normative, das bildungsökonomische und das Argument der internen Effizienz. Diesen Argumenten stimmen prinzipiell alle Befürworter differenzierter Gesamthochschulbereiche zu, wobei sie je nach politischem Couleur und taktischer Zweckmäßigkeit Schwerpunkte setzen. 1. Das normative Argument Das normative Argument muß vor dem Hintergrund des bildungspolitischen Aufbruchs der sechziger Jahre gesehen werden. Es betont zweierlei: das „Bürgerrecht auf Bildung" (Dahrendorf) als . individual demand'und den sozialethischen Gesichtspunkt der Egalisierung der Chancen Das Bürgerrecht auf Bildung meint für Dahrendorf dreierlei:
— „Ein soziales Grundrecht (jedes Menschen)
auf eine intensive Grundausbildung, die ihn befähigt, von seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wirksamen Gebrauch zu machen"; — „Chancengleichheit in jenem rechtlichen Sinne, in dem dieser Begriff gemeint ist. Es darf keine systematischen Bevorzugungen oder Benachteiligungen bestimmter Gruppen aufgrund leistungsfremder Merkmale wie Herkunft oder wirtschaftlicher Lage geben." — „Es ist die Pflicht der staatlichen Instanzen, dafür Sorge zu tragen, daß diese Rechte ausgeübt werden können . .. Mit der Bereitschaft zu einer Bildungspolitik für die Verwirklichung des Rechtes auf volle Teilnahme aller Bürger am Leben der Gesellschaft entscheidet sich für Deutschland mit dem Weg in die Modernität auch der in die Freiheit."
Bildung als Bedingung der Möglichkeit von Mündigkeit wird in dreifacher Weise als Politikum begriffen a) als Bürgerrecht, b) als Instrument, politische Gleichheit herzustellen, die formale Gleichheit zur galit de fait, zur realen Chancengleichheit zu machen, c) als politische Bildung, die zur Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Funktionen befähigen soll. Bildung als Politikum — eben dies hat Condorcet in seinem „Bericht über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens" vor nahezu zweihundert Jahren betont; daß Dahrendorf dies erneut und mit erheblicher Resonanz thematisieren mußte, zeigt eben jenen „Mangel an Modernität" der westdeutschen Gesellschaft, den Dahrendorf selbst des öfteren lebhaft beklagte. Die Bildungsforscher, deren Ergebnisse u. a. Dahrendorf popularisierte, hatten auf die sozial-konservative Funktion des Bildungssystems aufmerksam gemacht, daß die bestehende Sozialstruktur reproduziert und das soziale Gefälle stabilisiert * Die GHS, insbesondere in ihrer integrierten Form, soll durch erhöhte Flexibilität und Durchlässigkeit im Tertiärbereich die vertikale Mobilität begünstigen und damit einen wichtigen Beitrag zur Egalisierung der Sozialchancen leisten. Sie kann in der Tat Fehlentscheidungen des vorgelagerten Bildungsbereichs teilweise revidieren und partielle Fehlentscheidungen korrigieren. Doch kann das Teilsystem Hochschule mit Sicherheit nicht die von der Bildungsforschung aufgewiesenen Milieu-und Lerndefizite ausgleichen. Dies könnte nur (soweit heute übersehbar) langfristig durch eine Totalrevision des Bildungssystems von der (kompensatorischen) Vorschulerziehung über Primär-und Sekundarstufe bis zur Oberstufe geleistet werden.
In der jüngsten bildungspolitischen Diskussion ist die Inflation des Arguments von der Chancengleichheit unübersehbar; es dient als Legitimationskonzept nahezu jeder bildungs-und hochschulpolitischen Maßnahme. Diese Inflation mag sich daraus erklären, daß „Chancengleichheit" in zwei Richtungen als Alibi dienen muß: zum einen gegen den Vorwurf, man orientiere die Ausbildungsmöglichkeiten einseitig am wirtschaftlichen Bedarf, zum anderen gegen den konservativen Hinweis, die expansive Bildungspolitik verrate die deutsche Bildungstradition. Gegenüber beiden Vorwürfen kann darauf hingewiesen werden, daß eine Bildungspolitik, die den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften im Auge hat, das Verfassungsrecht auf Chancengleichheit in weit höherem Maße realisiert als dies die bisherige Bildungspolitik tat, ein Recht, das doch wohl in seiner Legitimität auch von der Bildungstradition unbestritten sei
Auf einen betont egalitären Aspekt der normativen Diskussion weist schließlich die Bundes-Assistenten-Konferenz (BAK) hin, wenn sie mit der Neustrukturierung des Tertiärbereichs die Hoffnung verbindet, „daß (dann) ein jeweils verschiedener Status in der Gesellschaft aufgrund der Absolvierung von bestimmten Bildungseinrichtungen mit klassifizierenden, Anrecht begründenden Abschlüssen nicht mehr entsteht" Hier wird erwartet, daß die IGH den „Akademikerdünkel", die elitären Ansprüche akademischer Ausbildung reduziere. In der Tat muß die enge Koppelung zwischen akademischer Ausbildung und Status-Erwartungen angesichts der politisch gewünschten akademischen Massenausbildung aufgebrochen, d. h. die Ansprüche, die sich mit der akademischen Ausbildung verbinden, heruntergeschraubt werden. 2. Das bildungsökonomische Argument Das bildungsökonomische Argument bietet die GHS als organisatorische Lösung des „Massenproblems" an: Nur die strukturelle Reform im Hochschulbereich sei geeignet, die Disparität zwischen Studienbewerbern und Studienplätzen auszugleichen und so den Bedarf an Hoch-schulabsolventen zu befriedigen. Hatten in den sechziger Jahren die Bildungsforscher auf die sozialen und regionalen Disproportionalitäten hingewiesen, so hoben die Bildungsökonomen die wirtschaftliche Problematik hervor. „Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand", schrieb Picht der zusammen mit Bestseller-Autoren wie Klaus Mehnert und Karl Steinbuch die Einsicht in die Abhängigkeit zwischen dem Wachstum der hochtech-nisierten Industrie von einer ausreichenden Zahl qualifizierter Arbeitskräfte popularisierte; „Bildung" erschien als dritter Faktor an der Seite der traditionellen Investitionsfaktoren . Kapital'und . Arbeit'. Damit ergab sich die Frage nach dem „Bedarf" des Marktes an Hochschulabsolventen, zugleich auch die Befürchtung eines . Akademiker-Proletariats Riese und seine Mitarbeiter erstellten im Auftrag des Wissenschaftsrats eine Arbeit über die Entwicklung des Bedarfs an Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik" Widmaier und seine Mitarbeiter für das baden-württembergische Kultusministerium eine „Modellstudie zur Bildungsplanung" Diese Bedarfs-berechnungen versuchten, Bedarf und Nachfrage zu ermitteln: ein Nachfragemodell wurde mit einem Angebotsmodell konfrontiert und beide Seiten in einer sog. Bildungsbilanz verrechnet, die sichere Orientierungsdaten für die Bildungsplanung liefern, also die Nachfrage der privaten Haushalte, des Staates, der Wirtschaft und die Eigennachfrage des Bildungssystems quantifizieren sollte.
Diesen methodischen Ansatz, der erhebliche Schwächen zeigt, stellt die Bildungsökonomie heute in Frage. Zum einen versucht die be-
darfsorientierte Bildungsplanung den künftigen Arbeitskräftebedarf aus dem heutigen Ist-Zustand zu errechnen, ohne Modelle dafür zü haben, wie sich durch vermehrte (oder verminderte) Qualifikation das Arbeitsplatzgefüge selbst verändert. Sie geht davon aus, daß Güter Und Dienstleistungen in der gleichen Faktorenkombination wie heute auch in der Zukunft erstellt werden. Tatsächlich aber ergeben sich aus dem proportionalen oder überproportionalen Einsatz hochqualifizierter Kräfte unterschiedliche Wachstums-und Rentabilitätschancen. Zum anderen zeigt der be-
darfsorientierte Ansatz eine deutlich konsetvative Tendenz, da er sich auf die ökonomische Fragestellung beschränkt und nicht in der Lage ist, soziale und gesellschaftliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. Ferner erscheint hier der Bedarf ausschließlich als Funktion ökonomischer Entwicklungen, während er tatsächlich in erheblichem Maße durch politische Entscheidungen beeinflußt wird, z. B.der Lehrerbedarf durch die Veränderung der Klassenfrequenzen, der Arztebedarf durch die Veränderung der Zahlenrelätion zwischen Ge-
samtbevölkefung und praktizierenden Ärz-ten H. Riese, der oft zitiert wird, um eine mögliche Inflation an Akademikern nachzuweisen, betont, daß eine „Bildungspolitik, die die Zahl der Abiturienten ausschließlich an ökonomischen Notwendigkeiten mißt, ... in ihrem Grundton nur konservativ sein" kann. Und: „Insofern beruht meine Studie über den Akademikerbedarf auf einer zu engen Fragestellung: anstatt nach dem notwendigen Bildungssystem zu fragen, also die notwendigen Reformen anzuvisieren, ist allein die Frage nach dem Wieviel gestellt worden" 3. Das Argument der Effizienz Die Bildungsökonomie hat es nicht nur mit der ökonomischen Beziehung zwischen Bildungs-und Beschäftigungssystem zu tun, sondern auch mit der Rentabilität und internen Ökonomie der Bildungseinrichtungen. Während die Bildungsökonomie auf der einen Seite nachweist, daß die Expansion der Hochschulabsolventen notwendig sei, fragt sie also auf der anderen, welche Organisa-tiohsform am geeignetsten sei, die Studenten-expansion wirtschaftlich optimal zu bewältigen. In der Bundesrepublik hat sich die Über-zeugung durchgesetzt, daß nur Hochschulverbundsysteme den optimalen Einsatz materieller und personeller Mittel gestatten. Im einzelnen werden unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Effizienz vor allem drei Punkte angeführt:
— die Rationalisierung der Verwaltung durch die Bildung gemeinsamer Zentralverwaltungen mit Datenverarbeitungsanlagen zur technischen Abwicklung von Verwaltungsvorgängen (z. B. Immatrikulationen), —. die gemeinsame Benutzung zentraler Anlagen (z. B. Rechenzentren, Zentralbibliotheken) bzw. die gemeinsame Nutzung von Einrichtungen (z. B. Hörsäle, Labors, Studienplätze), — die optimale Auslastung des Lehrpotentials: die Verbindung verschiedener Hochschultypen erlaubt, „das in sich selbst differenzierte Lehrpersonal der Hochschulen in verschiedenen Teilen des Hochschulbereichs zu beschäftigen" und so „fruchtbarer wirksam werden zu lassen" Überlegungen dieser Art tragen naturgemäß den Charakter des Vorläufigen, solange GHS nur ein theoretisches Programm darstellen und genaue Kostenanalysen deshalb nicht durchgeführt werden können. Offen ist, in welchem Umfang die Rationalisierung und Straffung der Studiengänge (z. B. durch die Vermeidung von Mehrfachangeboten) die bessere Ausnutzung vorhandener Kapazitäten erlaubt. Andererseits verlangt die GHS zugunsten der propagierten Ziele einen erheblichen Aufwand an „Innovations-Investitionen“ im Bereich der Curriculum-Entwicklung, des programmierten Unterrichts etc.
IV. Die differenzierte Gesamthochschule
„Differenzierte Gesamthochschule", der von Dahrendorf in die hochschulpolitische Diskussion gebrachte Terminus, meint das gesamte Spektrum möglicher Verbundsysteme, dessen Extreme die kooperativen bzw. integrierten Gesamthochschulen sind. Zwei Überlegungen liegen der GSH zugrunde: Zum einen verbieten die personellen und finanziellen Zwänge der einzelnen Hochschule, die gesamte . Universitas'der Wissenschaften anzubieten; Vollständigkeit im Lehr-und Forschungsangebot kann nur noch im Rahmen arbeitsteiliger Verbundsysteme erreicht werden, die die Bildung von Schwerpunkten erlauben. Die andere Überlegung — der strukturelle Leitgedanke aller GHS-Pläne — zielt auf den Abbau der starren Grenzen zwischen den Hochschultypen und auf die Zusammenfassung aller Institutionstypen des Tertiärbereichs in einem GHS-System. Für die Realisierung dieses Systems bieten sich prinzipiell zwei Modelle an: die kooperative und die integrierte GHS. 1. Die kooperative Gesamthochschule
Helmut Schelsky, der allerdings die Forschung im Blick hatte, während heute die Lehre im Vordergrund steht, war der erste, der einen Aspekt der kooperativen GHS formulierte: „Die Einführung eines Hochschulverbundes mehrerer Hochschulen in Forschung und Lehre erscheint mir als das beste Mittel, den institutionellen Egoismus der Einzelhochschulen und Einzelfakultäten zugunsten einer Kooperationsform zu überwinden, . . . die geeignet ist, den unaufhörlich steigenden finanziellen und personellen Anforderungen der Wissenschaft in Forschung und Lehre mit einer Form der Rationalisierung, d. h. einer optimalen Ausnützung von Begabungen und Geld, zu begegnen."
Das Modell der kooperativen GHS geht von der prinzipiellen Selbständigkeit der verschiedenen Einrichtungen innerhalb des Verbundes aus; alle Hochschulen verstehen sich als Teile einer „funktionalen Einheit". Die Zusammenarbeit bezieht sich auf die gegenseitige Abstimmung der Studiengänge und Prü-fungsordnungen, die Bildung von Schwerpunkten in Forschung und Lehre, die Koordinierung von Forschungsprogrammen, den Austausch wissenschaftlichen Personals und die gemeinschaftliche Nutzung wissenschaftlicher Einrichtungen Die Kooperation innerhalb des Verbundes wird durch ein Koordinationsorgan organisiert Seine Aufgabe ist es, die „Realisierbarkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit" einer möglichen Zusammenarbeit zu prüfen. Die Arbeitsorgane dieses Koordinierungsgremiums sind die „ständige Geschäftsstelle" (Sekretariat) und die Fachausschüsse, die die Aufgabe haben, „die Empfehlungen für das gemeinsame Koordinierungsgremium" zu erarbeiten und die Beschlüsse sachlich vorzubereiten. Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit beeinträchtigt „weder die organisatorische Selbständigkeit noch das Selbstverwaltungsrecht der Hochschule", da jede Hochschule grundsätzlich selbst entscheidet, „ob die Beschlüsse und Empfehlungen des gemeinsamen Koordinierungsgremiums in ihrem Bereich verwirklicht werden sollen"
Dieses Modell macht nicht deutlich, wie die bloße Assoziierung der Hochschulen die auch für die kooperative GHS propagierte Durchlässigkeit erlauben soll Dieses Problem wird bereits im „Dahrendorf-Plan" sichtbar, der — in der heutigen Terminologie gesprochen — das Modell der kooperativen GHS vertritt: „Entscheidend für das Modell der differenzierten GHS ist, daß ihre Bestandteile nicht bloß formell aneinandergereiht, etwa rechtlich verbunden oder auf ein Verwaltungs-
Zentrum bezogen, sondern, wo immer dies sinnvoll möglich ist, effektiv verschränkt werden, ohne daß die Eigenart der Bestandteile damit zerstört wird" Die offene Frage für die kooperative GHS ist, wie sie die „effektive Verschränkung" mit der Wahrung der „Eigenart der Bestandteile" vereinbaren will. 2. Die integrierte Gesamthochschule (IGH)
Die radikale Antwort auf diese Frage ist das Strukturmodell der IGH. In der aktuellen Diskussion steht der Begriff „Integration" für die verschiedenartigsten Maßnahmen: von der Abstimmung einzelner Studiengänge und -ab-schlüsse über die Kooperation benachbarter Einrichtungen bis zum Projekt der IGH, wie es im Hochschulgesamtplan I (neben der kooperativen GHS), vom Wissenschaftsrat, dem Bilgungsbericht der Bundesregierung und der WRK gefordert wird In der IGH werden die unterschiedlichen Hochschulen in einer organisatorisch einheitlichen Einrichtung unter einer gemeinsamen Leitung und mit gemeinsamen Entscheidungsorganen zusammengefaßt. In einem „Vermaschungsprozeß", dessen Verlauf und Struktur in starkem Maße von der regionalen bzw. lokalen Situation bestimmt wird, werden die Institutionstypen integriert; am Ende des Prozesses steht ein aliud — die IGH, in die die Hochschulen verschmolzen sind. Für die IGH zeichnen sich, je nach räumlicher Situation, zwei organisatorische Alternativen ab: ein dezentralisiertes System von Teilhochschulen in Flächenstaaten und das Modell der zentralisierten, d. h. räumlich zusammenliegenden GHS, das auch der Verschmelzung der örtlichen Einrichtun- gen des Tertiärbereichs hervorgegangen ist. Im Folgenden rollen mit dem „Evers" -und dem „Weizsäcker" -Plan zwei Strukturmodelle für den IGH-Bereich beschrieben werden, wobei beide gleichzeitig den Charakter von Studienreformmodellen haben. a) Der „Evers“ -Plan Anders als der „Dahrendorf" -Plan beschränkt sich Evers nicht auf den Tertiärbereich, sondern bezieht auch den Sekundarbereich in seine Strukturreform ein (s. Exkurs). Evers'Plan der „Gestuften GHS" faßt regional die bestehenden Hochschulen in Teilhochschulen zusammen. An diesen Teilhochschulen werden arbeitsteilig vierfach gestufte Studiengänge angeboten, wobei nach erfolgreichem Besuch auf jeder Stufe ein berufsqualifizierender Abschluß mit einem akademischen Grad möglich ist:
— die zweijährige College-Stufe (Grundstudium);
sie soll die Orientierung in der gewählten Disziplin erlauben und mit Hilfe intensiver Studienberatung die Entscheidung über den weiteren Verlauf oder Abschluß des Studiums geben;
— das praxisorientierte einjährige Abschlußstudium oder — das stärker theoretisch orientierte zweijährige Hauptstudium;
— das (in der Regel) zweijährige Aufbaustudium (Abschluß: Promotion).
In diesem Modell sind die Fachhochschulen etc. keine selbständigen Einrichtungen mehr, doch sollen ausbildungsintensive Grundstudien größtenteils an den „unvollständigen Teil-hochschulen“ (den heutigen Pädagogischen und Fachhochschulen) absolviert werden, während den herkömmlichen wissenschaftlichen Hochschulen in erster Linie (nicht ausschließlich) die forschungsintensiven Haupt-und vor allem Aufbaustudien vorbehalten bleiben. Die einzelnen Teile der Gesamthochschule bieten also arbeitsteilig die verschiedenen Stufen und Abschlüsse in allen Disziplinen an. Hier tritt freilich das Problem auf, daß Lehrende und Lernende vermutlich die „vollständigen Teilhochschulen" (also die heutigen Wissenschaftlichen Hochschulen) den „unvollständigen Teilhochschulen" vorziehen werden und damit die Verteilung auf die Hochschulen zum Zwecke der optimalen Kapazitätsauslastung unmöglich wird. Dieser Gefahr soll dadurch begegnet werden, daß innerhalb der „Gestuften GSH alle materiellen und immateriellen „Diskriminierungen und Differenzierungen" ausgeräumt werden Ulrich Lohmar, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, zählt denn auch zu den Zielen der IGH die „Egalisierung vorgeprägter Unterschiede zwischen Universitäten Hochschulen und Fachhochschulen im Hinblick auf Bauausstattung, Haushaltsmittel und Personal" Sollte sich „der prestigebedingte Zustrom der Studienbewerber zum Grundstudium an die alten Universitäten" trotz qualitativ gleicher Ausstattung der Teilhochschulen nicht vermeiden lassen, wird sich „die Verteilung der Studenten des Grundstudiums nach dem Losverfahren nicht vermeiden lassen" b) Der „Weizsäcker“ -Plan Origineller, aber auch anspruchsvoller als der Plan von Evers und seinen Mitarbeitern ist das Baukastensystem Ernst von Weizsäckers
Der Plan empfiehlt die Aufgliederung des gesamten Lehrangebots einer GHS in Studien-einheiten den sog. „Bausteinen", und weitgehend freie Wahl der Bausteine: „Eine Einheit ist ein relativ abgeschlossenes Lehrgebiet, das durch Praktika, Kolloquien, Selbstbeschäftigung mit Fachliteratur und Fernstudienbriefen sowie Vorlesungen erabeitet wird, wobei Reihenfolge und Gewicht der jeweiligen Aktivitäten je nach Fach und Ziel der Einheit didaktisch vorteilhaft festgelegt werden können. Pro Semester sollen etwa zwei solcher Kompakteinheiten belegt werden können, die jeweils zwischen fünf und zehn Wochen in Anspruch nehmen. Durch die Zusammenstellung frei gewählter Einheiten — etwa die Hälfte in einem Fach, der Rest möglichst fachübergrei-fend — soll der Studierende die Möglichkeit haben, sein Studium transparenter und ökonomischer zu gestalten.
Kennzeichnend für den Weizsäcker-Plan ist das sog. Tutorensystem. Dessen Grundgedanke ist, „das in der Studentenschaft selbst liegende intellektuelle und pädagogische Potential" zu aktivieren. „Ein Studierender kann die Aufgabe eines Tutors bereits übernehmen, wenn er erst einige Semester in dem betreffenden Fach studiert." Aufgabe des Tutors ist neben der Anfängerberatung u. a. die Hilfestellung bei Lektürekursen, Arbeits-und Diskussionsgruppen, was im Sinne des „Durch-Leh-
ren-lernen" durchaus als Gewinn für das Studium des Tutors gesehen werden kann. Der Zugang zur ersten Einheit dieser Baukasten-hochschule steht jedermann offen. „Personen ohne Abitur müssen vorher mit einem eigens hierfür angestellten, psychologisch vorgebildeten Studien-und Arbeitsmarkt-Berater sprechen," der ihnen empfehlen kann, vor dem Eintritt in die Einheit zunächst noch bestimmte Abend-oder Fernkurse zu belegen Die „Hochschulreife" hat, wer drei Einheiten erfolgreich absolviert bzw. das Abiturzeugnis besitzt. Sie berechtigt zum sechssemestrigen Studium. Der Student erhält einen akademischen Titel, der ihn — je nach Wahl — beruflich qualifiziert oder zum Weiterstudium berechtigt, wenn er mindestens zehn Einheiten, davon die Hälfte in einem Hauptfach, erfolgreich absolviert hat.
V. Die integrierte Gesamthochschule als Organisationsproblem
Probleme der organisatorischen Konkretisierung der IGH werden in der aktuellen Diskussion weitgehend als Restgröße behandelt. Dabei treten eine Reihe organisationstechnischer und — soziologischer Probleme auf. Es liegt auf der Hand, daß eine Großorganisation mit Arbeitsteilung in horizontaler und Dezentralisierung mit vertikaler Differenzierung ein hohes Maß an Koordination erfordert. In erheblichem Maße erschwert wird diese Koordination durch die räumliche Trennung der (Teil-) Hochschulen. Wie die IGH, die durch funktionelle Einheit und wechselseitige Kommunikation der Fachbereiche ein Höchstmaß an Durchlässigkeit, also Wechselmöglichkeit für Studierende, ermöglichen soll, organisatorisch bewältigt werden kann, ist heute eine weitgehend ungelöste Frage. Angesichts der voraussehbaren Schwierigkeiten spricht wenig für die Behauptung, „durch Vereinfachung der Gesamtstruktur der künftigen Hochschulen werden sämtliche Entscheidungsund Verwaltungsvorgänge durchschaubarer sein" 1. Die Makrostruktur der integrierten Gesamthochschule Es liegt nahe, in den Stadtstaaten und den kleineren Flächenstaaten die bestehenden und neu zu errichtenden Institutionen des Tertiär-bereichs zu einer GHS mit entsprechend vielen Teilhochschulen zusammenzufassen. Für die großen Bundesländer bieten sich dagegen jeweils mehrere GHS auf regionaler Ebene an Im einzelnen stellt die Integration die Frage, welche Ausbildungsstätten bzw. -gänge aus dem Bereich der Fachhochschulen (Höheren Fachschulen) für die Einbeziehung in den GHS-Bereich in Betracht kommen. Dabei macht die Beurteilung der Fachhochschulen besondere Schwierigkeiten, weil diese sich in vieler Hinsicht mit dem Bereich der Fachschulen überschneiden
Zu den Kriterien für die Prüfung der Integration zählt der Wissenschaftsrat u. a.
— Ausbildungsziel — Inhalt des Studiengangs — Beziehung zu anderen Studiengängen — Beziehung des Ausbildungsganges zur Forschung — Zweckmäßigkeit einer organisatorischen Zusammenführung
Es liegt auf der Hand, daß eine nähere Präzisierung — vor allem des Kriteriums der „Zweckmäßigkeit einer organisatorischen Zu-sammenführung" — erst vor Ort'erreicht werden kann, d. h. dann, wenn die regionalen, baulichen, curricularen etc. Faktoren im einzelnen berücksichtigt werden können. Hier fordert der Wissenschaftsrat ein Instrumentarium für die Entscheidung über die Integration. Dies muß „einer Einrichtung übertragen werden, in der Bund und Länder Zusammenwirken" Nur so könnten überregionale Gesichtspunkte und die notwendige Konzentration der Mittel berücksichtigt werden. In manchen Fällen verbieten die regionalen Verhältnisse die Einrichtung von IGHs. So ist es etwa in Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte im Interesse eines ausreichenden Bildungsangebots nützlich, vorhandene Hochschuleinrichtungen beizubehalten, die wegen ihrer räumlichen Lage in absehbarer Zeit nicht in IGHs einbezogen werden können. Auch wäre es wenig sinnvoll, Hochschulen zusammenzuschließen, die räumlich weit auseinanderliegen oder die fachlich völlig verschiedene Aufgaben haben 2. Die Binnenstruktur der integrierten Gesamthochschule Mangelnde Effizienz der Universitätsverwaltung, Immobilismus der akademischen Entscheidungsgremien, hierarchische Verfestigung der Autoritätsstrukturen — auf diese Punkte läßt sich, formelhaft verkürzt, die Kritik an der traditionellen Universitätsstruktur reduzieren. Die Phase der Hochschulgesetze, die mit der Verabschiedung des Hochschulgesetzes in Hessen im Jahre 1966 begann und die keine umfassende Reform des Hochschulrechts, sondern vor allem Neuregelungen im Organisationsbereich der Universität brachte, leitete die Reorganisation der universitären Binnenstruktur ein, deren Notwendigkeit allgemein bejaht wurde Auch der Wissenschaftsrat fordert in seinen „Empfehlungen" für die Organisationsstruktur der IGH — für die Leitung der Hochschule einen Präsidenten; für die Ablösung der herkömmlichen Honoratiorenspitzen sprachen wichtige Gründe, u. a. die diskontinuierliche und des. halb schleppende Amtsführung, Überforderung der nebenamtlich tätigen Rektoren, die aus Zeitmangel nur schwer das Informations. niveau erarbeiten konnten, das für die Führung des Großbetriebes Hochschule notwendig ist Der Präsident ist Integrations-und Repräsentationsfigur. Als . Vertreter'der gesamten der Universität zugeschriebenen Haushaltsmittel steht er in doppelter Frontstellung: einmal gegenüber dem Staat in der Auseinandersetzung über die Höhe der Mittel, zum anderen gegenüber den Fachbereichen, die mit Sicherheit plausible Gründe aufführen können, warum gerade sie mehr Geld bzw. Stellen haben müssen, als für sie vorgesehen ist. Zur starken Stellung des vom Konzil gewählten Präsidenten trägt bei, daß in fast allen Universitätsgesetzen der staatlichen Rechts-aufsicht eine Rechtsaufsicht des Präsidenten (oder Rektorats) vorgeschaltet ist, die sich auf die Beschlüsse und Maßnahmen aller Stellen der Hochschule, auch der Fachbereiche erstreckt; — eine genügend starke Verwaltungsund Entscheidungsbefugnis der kochschule in Personal-und Haushaltsfragen;
— die Zusammenfassung der „akademischen" und „allgemeinen" (oder Wirtschaftsund Personalverwaltung) zu einer Einheitsverwaltung, d. h. die bisher von staatlichen Dienststellen wahrgenommene Wirtschafts-und Personalverwaltung geht als Auftragsverwaltung an die Hochschule, wobei sie der staatlichen Fachaufsicht unterliegt; — die Einrichtung von Fachbereichen als organisatorischen Grundeinheiten der Hochschulen. In diesen „neu zu bildenden Fach-100 bereichen" werden „die Angehörigen der jeweiligen Fachrichtung sowohl aus den jetzigen Wissenschaftlichen Hochschulen wie aus den anderen Ausbildungsstätten des Hochschulbereichs zusammenzuführen sein. Diese neuen Einrichtungen übernehmen die bisher in getrennten Einrichtungen wahrgenommenen sowie sich der GSH neu zu stellenden Aufgaben"
Zu den wichtigsten Schritten einer stufenweisen Integration gehört die Konstruktion eigener Organe wie Präsident, kollegiale Zentralorgane und gemeinsame Vertretungen in den Fachinstanzen. Erleichtert wird diese Integration durch die Angleichung der Verfassungen der Fachhochschulen etc. an die der Wissenschaftlichen Hochschulen, d. h. durch Schaffung von Parallelorganen wie Präsident, Konzil, Senat etc. Die Zentralorgane werden im Aufbaustadium der IGH erhebliche Entscheidungsbefugnisse haben müssen, um den zu erwartenden partikularen und auseinanderstrebenden Tendenzen und Interessen der Einzelhochschulen und ihrer Teile begegnen zu können
Generell läßt sich sagen, daß die Frage nach der institutionellen Ausgestaltung der Integration durch ein Bündel organisatorischer, fachspezifischer, lokaler und personeller Faktoren in einer Weise kompliziert wird, daß spezifische Aussagen über den optimalen Zentralisierungsgrad der IGH, die Aufgabenverteilung und Kompetenzabgrenzung zwischen den Fach-und Zentralinstanzen, die Schaffung zentraler Einrichtungen, die Koordination der in (Flächenstaaten notwendigen) Abteilungen etc. nicht möglich sind. Eine Detailbeschreibung der künftigen Organisationsstruktur — vor allem auf der Ebene der Fachinstanzen — wird zudem dadurch erschwert, daß der Integrationsprozeß zum einen zur Konzessionsbereitschaft gegenüber einbeziehbaren Strukturelementen des herkömmlichen Systems nötigt, zum anderen, weil die Auswirkungen, die die jeweiligen Studiengänge auf die formale Organisation haben werden, nicht abzusehen sind.
VI. Die integrierte Gesamthochschule als bildungstheoretisches Problem
„Die integrierte Gesamthochschule ist die organisatorische Folgerung aus der Reform der Studiengänge", heißt es im „Bildungsbericht 70" Und der Regierungsentwurf des Hochschulrahmengesetzes betont: „Ziel (der IGH) ... ist die Schaffung eines differenzierten Angebots von abgestuften und aufeinander bezogenen und Studienbeschlüssen. Studiengängen Die dadurch erzielte Verbesserung des Studiensystems ist ...der entscheidende Aspekt der Gesamthochschule." Entscheidend ist also die . innere Reform': die Entwicklung eines Studiensystems, in dem es keine vertikal unterschiedenen Studienkategorien gibt, sondern (im wesentlichen) horizontale Differenzierungen, die frühere Studienentscheidungen in möglichst weitem Maße korrigierbar machen. 1. Studienreform Die Studienreform hat es mit der inneren und äußeren Organisation des Studiums zu tun, also mit der Reform der Lernziele und Lehr
Inhalte (s. Curriculum) und der Studien-und Prüfungsordnungen. Vor allem drei Studienreformmodelle werden im Zusammenhang mit der IGH diskutiert: das „Baukastensystem“; das „Projektstudium"; das „Stufenmodell".
Das „Baukastensystem" als konsequentes . Freiwahlsystem'sieht komprimierte -Studien einheiten vor, die interdisziplinär gestaltbare individuelle Studiengänge anbieten sollen. Zu fragen ist, ob (abgesehen von dem Aufwand bei der Entwicklung von „Bausteinen") alles Grundwissen und die methodischen Kenntnisse in themengebundene Projekte eingebracht werden können; ferner, ob Einzelprüfungen nach dem Kumulationsverfahren ausreichen und nicht doch eine Abschlußprüfung o. ä. zur Integration der Teilziele und zur übergreifendenOrientierung notwendig ist schließlich, ob die für das Modell . lebenswichtige'Beratungshilfe („Welche Bausteine nehme ich, um welches Ziel zu erreichen?") wirklich von den . Tutoren'in Weizsäckers Sinne geleistet werden kann. Eine Variante des „Baukastensystems" ist das Block-oder Kompaktstudium, bei dem im Mehrwochenrhythmus ein präzis umrissenes Thema im kleinen Kreis behandelt wird.
Das „Projektstudium" ist im Vergleich zum „Baukastensystem" weniger abgeschlossen und standardisiert. Die in Kleingruppen organisierte Projektarbeit soll in Bremen, insbesondere in der Lehrerbildung, die vorherrschende Studienform sein Projektbereiche werden nach den bislang entwickelten Vorstellungen als zeitlich befristete Einrichtung der Fachbereiche für die Dauer von ein bis zwei Semestern (u. U. auch länger) durch eine übergreifende Thematik definiert. In ihnen sollen eine größere Anzahl von Studenten, Tutoren und Hochschullehrern in kleinen Gruppen verschiedene Arbeitsvorhaben im Sinne des „forschenden Lernens" durchführen Als Kriterium eines Projektes werden der Bezug auf die zukünftige Berufspraxis des Studenten und auf ein gesellschaftlich relevantes Problem genannt. Das Modell des „Projektstudiums" stellt beträchtliche Ansprüche an die Flexibilität und Kooperationsbereitschaft bei Lehrenden und Lernenden. Nicht zuletzt vom Ergebnis dieses Experiments wird es abhängen, ob Bremen den Namen einer . Reformuniversität'verdient.
Das für die Studienorganisation der IGH vorherrschende Modell dürfte das „Stufenmodell" sein. Seine Vorzüge hat Carl-Heinz Evers an einem Beispiel deutlich gemacht: „Heute legt sich der Student zu Beginn des Studiums auf sein Studienziel fest — graduierter Ingenieur etwa oder diplomierter Ingenieur. In der Gesamthochschule würde der Student nur die Marschrichtung haben, Elektrotechnik etwa, und erst einmal ein Grundstudium absolvieren — ganz gleich, ob im GSH-Teilbereich TU oder im Teilbereich Ingenieurschule. Und je nach Leistung und Neigung kann er auf diesem Weg weitermarschieren: nach dem Grundstudium ein Fachstudium" etc. Allerdings werden sich nicht in allen Disziplinen „Grundstudien" abgrenzen und integrierte Studiengänge einrichten lassen. Hier wird die Möglichkeit gemeinsamer Studienabschnitte oder konsekutiver Studiengänge von Fach zu Fach geprüft werden müssen. Prinzipiell bieten sich je nach Fachrichtung bzw. Studienziel für die Studien-
Integration zwei Möglichkeiten: die Studiengänge einer Hochschule werden zu fachglei. chen bzw. fachanalogen Studiengängen einer anderen Hochschule ausgelagert oder neue gemeinsame Studiengänge bzw. -einheiten werden in einer Hochschule geschaffen.
Im ganzen steht die Diskussion über die künftige Studienorganisation der IGH noch am Anfang. Mit Sicherheit werden die unterschiedlichen Fachrichtungen nicht zu einheitlichen Lösungen kommen; vielmehr dürfte die künftige Studienorganisation der IGH eine jeweils fachspezifisch konkretisierte Mischung der heute erörterten Modelle sein.
In naher Zukunft müßten Modell-Studiengänge entwickelt werden, die dann während der Experimentalphase modifiziert werden könnten. Maßstab für die Beurteilung des Studienmodells bzw.der konkreten Studienordnung muß dabei die größtmögliche vertikale und horizontale Durchlässigkeit sein, also die Chance zur optimalen Individualisierung des Studiums. Dabei zählt die Entwicklung von Kurzstudiengängen zu den didaktischen Schlüsselproblemen der IGH. Der Wissenschaftsrat plädierte dafür, überall dort, wo es das Ausbildungsziel zuläßt, Studiengänge anzubieten, die einen Abschluß nach zweieinhalb bis drei Jahren erlauben. Der Wissenschaftsrat schätzt, daß 1980 von den 25 bis 30 % eines Geburtsjahrgangs, die eine Hochschulausbildung erhalten sollen, 15 bis 18°/o ein zwei-bis dreijähriges Studium absolvieren werden, nämlich — in absoluten Zahlen ausgedrückt — 375 000 bis 450 000 Studenten
Der Gedanke der Kurzstudiengänge geht davon aus, daß heute in einer Vielzahl von Berufen — etwa im Bereich der Sozialberufe, der Rechtspflege, der öffentlichen Verwaltung etc. — Personen tätig sind bzw. ein Bedarf an Personen besteht, deren Qualifikationen nach Inhalt und Niveau oder nach beiden differenziert sind, deren Ausbildung jedoch bei aller Verschiedenheit der Qualifikationen für deren Erwerb nicht auf Wissenschaftsorientierung verzichten kann. Allerdings sind diese Kurzstudiengänge nicht unumstritten. Bereits Dahrendorfs (vertikale) Unterscheidung von Kurz-und Langstudiengängen war auf erhebliche Kritik gestoßen ; ähnliches gilt für die Vorschläge des Hochschulrahmengesetzes und des Wissenschaftsrats So kritisierte eine Studentenorganisation das sechssemestrige Studium, hinter dessen „Regelzeit“ sich nichts anderes verberge als die effektive Möglichkeit, Studenten zu disziplinieren und sie zu „bornierten, in fachlicher Enge befangenen Teilen eines Produktionsablaufs zu degradieren“ Eine solche Argumentation klammert sich zu sehr an die Studiendauer; politisches Verständnis und kritische Einsichten entwikkein sich nicht proportional zur Länge des Studiums, sondern sind (neben anderem) die Funktion des Studieninhalts und seiner Präsentation. Die „Verwissenschaftlichung“ dieser Kurzstudiengänge ist eine der schwierigsten Aufgaben der . inneren Studienreform'. Dabei dürften sich bei der Erprobung der Kurzstudiengänge eine Reihe der Schwierigkeiten ergeben, die Giesecke am Beispiel des Übergangs von den „Lehrerbildungsanstalten“ zur „Wissenschaftlichen Lehrerbildung" beschrieben hat Die Kritiker, die die Kürze der Ausbildungszeit monieren, werden sich fragen müssen, ob die Liberalität eines Bildungssystems nicht auch daran gemessen werden muß, ob es kürzere Bildungsgänge bereitstellt, also seine Absolventen nicht zwingt, rund fünf oder mehr Jahre zu studieren, bevor sie einen berufs-qualifizierenden Berechtigungsschein erwerben können. Richtig erscheint die Kritik dagegen dort, wo sie auf einen verkürzten Praxis-Begriff in der hochschulpolitischen Diskussion aufmerksam macht, wenn das Argument der „praxisnahen Ausbildung" angeführt wird, das übersieht, daß eine Ausbildung nicht „praktisch" sein kann, die nicht eine wissenschaftliche ist, die den Menschen also nicht lehrt, ständig sich verändernde Probleme immer wieder begrifflich zu strukturieren, rational zu argumentieren, sich selbst und die eigene Praxis methodisch zu problematisieren und gezielt Informationen zu verschaffen Zu beachten ist die Kritik ferner dort, wo sie auf die Gefahren einer engen Koppelung von Ausbildungsgang und starrem Berufsbild hin-* weist. Eine solche Koppelung stände zum einen möglichen Innovationen im Beschäftigungssystem im Wege, zum anderen, wie Riese kürzlich in einem instruktiven Aufsatz gezeigt hat, der „Substituierbarkeit“. Unter Substituierbarkeit ist „die Möglichkeit einer reibungslosen Anpassung des Angebots an Bedarfsschwankungen für einzelne Qualifikationen“ zu verstehen. Um dies zu gewährleisten, muß das Bildungswesen so konzipiert sein, daß die Berufswahl ... möglichst spät erfolgt. Geringe Differenzierung auf der Gym-nasialstufe, Betonung der Allgemeinbildung und der generellen Abstraktionsfähigkeit beim Studium sind die Voraussetzungen. Die Denkschulung steht vor dem Lernen praktischer Anwendungsmöglichkeiten. Die Spezialausbildung erfolgt weitgehend im Beruf (on-the-job-training)."
Neben der Einrichtung von Kurzstudiengängen (bzw. integrierter Elementarstudiengängen) erscheint die sinnvolle Verbindung von Prüfungsanforderungen und Studienordnungen als zweites didaktisches Schlüsselproblem der IGH. Wie Prüfungsordnungen Studiengänge zementieren können, zeigt das Beispiel der Lehrerbildung. Hier nimmt das Prüfungsrecht eine deutliche Trennung zwischen Gymnasiallehrern einerseits und Volks-und Realschullehrern andererseits vor. Die einheitliche Lehrerbildung („Stufenlehrer") setzt also die Revision des Prüfungsrechts voraus. Neben der Korrektur der akademischen und staatlichen Prüfungsordnungen bzw. ihrer Neuformulierung im Hinblick auf differenzierte Abschlüsse und multidisziplinäre Studiengänge ist die Revision der Laufbahnvorschriften im öffentlichen Dienst notwendig. Hier wird deutlich, daß die Absicht, mit der IGH ein System differenzierter Abschlüsse für Tätigkeitsfelder bereitzustellen, die vom heutigen Ausbildungssystem nicht oder nur unzulänglich abgedeckt werden, die Kooperation von Hochschule, Praxis und Berufsforschung in einem bislang unbekannten Umfang verlangt. Exkurs: Gesamthochschule und Oberstufenreform Erschwert wird Studienreform durch die die unbeantwortete Frage der Zugangsvoraussetzungen zur GHS. Sicher ist, daß das traditionelle Abitur des Gymnasiums als Aditur (sic!) zur Hochschule abgelöst wird. Umstritten ist es nicht erst seit heute — schon 1959 schrieb Wilhelm Flitner von der „Krisis der Maturität" Die vorliegenden Oberstufenreformpläne zielen darauf ab, die Kluft zwischen der Schule, die es „nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen" zu tun hat, und der Wissenschaft „als ein(em) noch nicht ganz gelöste(n) Problem" (Humboldt) zu verringern. So schlägt v. Hentig ein Oberstufenkolleg vor, das die bisherige Oberstufe des Gymnasiums mit dem Grundstudium der Universität verbindet und Studierende des 11. — 14. Ausbildungsjahres aufnimmt. Damit wird einer „spezialisierten Einrichtung“ der „schwierige Übergang von notwendiger Allgemeinbildung zu notwendiger Spezialausbildung (verbunden obendrein mit der Berufswahl)" übertragen.
Auch der von Carl-Heinz Evers vorgetragene Reformplan schaltet einen Übergang zwischen die zehnjährige Gesamtschule und die Hochschule ein. Diese Zwischenstufe besteht aus einem zweijährigen Teil, der als „Neues Gymnasium" die Oberstufe bildet, und aus einer zweijährigen Kolleg-Ausbildung, die die Eingangs-und Orientierungsstufe eines Gesamthochschulsystems darstellt („Grundstudium"). Das „Neue Gymnasium" kombiniert in drei parallelen Ausbildungsvorgängen theoretische mit berufsbildenden Kursen — Vollzeitunterricht mit allgemeinen und beruflichen Kursen — Schulunterricht und betriebliche Ausbildung zu gleichen Teilen — etwa ein Drittel Schulunterricht und zwei Drittel betriebliche Ausbildung.
Damit würde die zweijährige Oberstufe nicht nur die Vorbereitungskurse für ein Hochschulstudium umfassen, sondern in den beiden anderen Zügen auch das heutige Berufs-und Fachschulwesen in die Gesamthochschule miteinbeziehen. Je nach Leistung und Kombination der Wahlkurse würde der erfolgreiche Besuch dieser Oberstufe dann entweder zu einer praktischen Berufsausbildung oder zu den weiterführenden Bildungseinrichtungen des Fachschuloder Hochschulbereiches führen Von besonderem Interesse ist schließlich der auf der 27. Sitzung der Bildungskonimission des „Deutschen Bildungsrats“ am 13. Februar 1970 verabschiedete „Strukturplan für das Bildungswesen", auf den sich die Stellungnahme des „Bildungsberichts '70“ zur Reform des Sekundarbereichs stützt. An eine „zehnjährige Vollzeitschule" schließt sich (in der Regel mit dem 16. Lebensjahr) der Über-gang auf die Sekundarstufe II an. Dieser Sekundarbereich II vereint in sich Aufgaben, die heute auf so unterschiedliche Institutionen wie die gymnasiale Oberstufe, die Berufsschule und die verschiedenen Fachschulen verteilt sind. Allerdings ist der Bildungsrat anders als der Evers-Plan der Meinung, daß „eine volle Integration für die ganze Sekundarstufe II zumindest für die nähere Zukunft nicht empfohlen werden kann" Die Bildungsgänge der Sekundarstufe II führen zu „berufsqualifizierenden Abschlüssen unterschiedlichen Niveaus" und zum Abitur II. „Das Abitur II ist nach inhaltlich bestimmten Profilen differenziert. Es eröffnet den Zugang zum Studium im Hochschulbereich, berechtigt jedoch nicht zur Wahl beliebiger Studiengebiete. Die Festsetzung der für ein bestimmtes Studiengebiet geforderten Leistungsgebiete und Leistungsgrade erfolgt von Schule und Hochschule." Damit ist die traditionelle Koppelung von „Abitur" und „allgemeiner Hochschulreife“ aufgegeben. 2.
Zwei Schlüsselbegriffe der Studienreform: „Curriculum" und „Hochschuldidaktik“
Vorweg erscheinen einige Anmerkungen zur Abgrenzung zwischen „Curriculum“ (C) und „Hochschuldidaktik" (HD) nützlich, wobei daran zu erinnern ist, daß terminologische Fragen Angelegenheiten der Zweckmäßigkeit und der Verständigung sind. Der Begriff „C“, von Saul B. Robinsohn wieder in die deutsche Pädagogik eingeführt, hat sich dank seiner Anwendung in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen des Deutschen Bildungsrats sehr schnell verbreitet. Mit „C“ soll bezeichnet sein, „was mit Bildungskanon, Lehrgefüge, Lehrplan jeweils ungenau oder nur partiell gefaßt ist" (Robinsohn). Diese Breite des Begriffs bewirkt, daß er zwar vielseitig verwendet werden kann (und wird), daß aber die jeweiligen Aussagen unspezifisch sind, soweit man sie nicht eindeutig aus dem Zusammenhang erschließen kann.
Ähnliche Unschärfen erschweren den Umgang mit dem Begriff „Didaktik". Zwar ist, wie Blankertz im Hinblick auf die allgemeine Didaktik bemerkt, das Interesse an ihr noch nie so groß gewesen wie heute, doch zugleich illustriert er an ihr eine Erkenntnis der Informationstheorie, „derzufolge sich die Häufigkeit, mit der ein Zeichen auftritt, umgekehrt proportional zu seinem Bedeutungsinhalt verhält“
Zur Schwierigkeit der begrifflichen Abgrenzung trug auch die Diskussion über die Aufgaben der Hochschuldidaktik bei. Am Anfang der Diskussion, die 1966 begann, standen Fragen der Unterrichtsmethodik und -technik im Vordergrund, also das Problem der Vermittlung. Die HD drohte, so mutmaßten Kritiker, zur „Unterrichtsmechanik" zu werden, zur „Ratschlagswissenschaft" die unbefragtes Wissen auf unbefragte Ziele hin vermittelt; HD solle vorzeitig verengt werden „auf eine Technik, den bestehenden Betrieb rationalisiert, aber grundsätzlich an ihm nichts ändert" Damit verschob sich Interesse der HD von den Techniken zu den Lernzielen und Leminhalten; die HD geriet in die Nähe des C. Huber hat schließlich eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Abgrenzung zwischen C. und HD angeboten, indem er die Aufgaben, um die es der HD gehen muß, im Begriffssystem der Curriculumforschung zu lokalisieren sucht (s. u.). a) Curriculum
Im anglo-amerikanischen Sprachraum gibt es eine Reihe von C-Theorien, die sich von der ursprünglichen Gleichsetzung von C. mit dem Stoffplan bis zur Definition des C. als Summe aller Lernerfahrungen (einschließlich der sozialen Erfahrungen), die der Schüler in der Schule und durch die Schule macht, erstrecken. In jüngster Zeit schränkt man den Begriff wieder ein, nämlich auf die Unterrichtsziele und deren detaillierte Beschreibung (bzw. die zu erwerbenden Qualifikationen), auf Lehrinhalte und die Unterrichtsorganisation und -methoden 5. Das C. soll also Auskunft darüber geben, wer was wann auf welche Weise und wozu lernt. Der letzte Aspekt wird vom Begriff des „Lernziels" abgedeckt.
Anders als der „Lehrplan“ ist das C. also nicht traditionalistisch, sondern konstruktiv bestimmt. Ihm geht es, um mit Robinsohn zu sprechen, darum, die Entscheidung über Bildungsziele und -Inhalte aus dem Bereich der „. Beliebigkeit', aus pädagogischem und politischem Dezisionismus heraus in Formen eines rationalen gesellschaftlichen Konsens“ zu bringen Ziel curricularer Überlegungen ist es, neben der weitgehenden Objektivierung des Lehrens die Individualisierung des Lernens zu erreichen. Auch an der Hochschule meint die Aufstellung eines C. die organisatorische und inhaltliche Gestaltung der Lehre. In fünf Punkten lassen sich die wesentlichen Schritte der C-Entwicklung zusammenfassen
1. Die theoretisch begründete Satzung der Lernziele oder ihre empirische Ermittlung (etwa durch Analyse der Tätigkeitsfelder, Expertenbefragungen etc.).
2. Die Auswahl und Organisation der zu vermittelnden Inhalte (Grundbegriffe, Aufbau, spezielle Fakten, Methoden, Hilfsmittel). 3. Auswahl und Organisation der Lernsituationen und Lernverfahren (Selbststudium, Programmierter Unterricht, Gruppenunterricht, Vorlesungen, Beratung, Praktika etc.).
4. Auswahl und Organisation der Lehrstrategien (d. h. die Anordnung des Stoffes und die Umsetzung von Inhalten von Prozessen und Aufgaben).
5. Empirische Erforschung des Lehrund Lernerfolges, gemessen an den aufgestellten Zielen (Evaluation).
Das C. stellt ein Regelkreissystem dar, d. h. zwischen den Teilen der Curriculum-Konstruktion herrscht Interdependenz: Entscheidungen in (2), (3) oder (4) dürfen nur so getroffen werden, daß alle oder möglichst viele der in (1) aufgestellten Ziele erreicht werden; Entscheidungen über die Inhalte stehen nicht über, sondern unter den Zielentscheidungen. „Ziele, zu denen sich in (2), (3) oder (4) keine geeigneten Inhalte, Lernsituationen und Lehrstrategien finden lassen, müssen einstweilen anders gefaßt oder eben zurückgestellt werden, wenn man nicht der Unredlichkeit verfallen will; dem Fegefeuer der Evaluation (5) müssen alle in (1) —(4) getroffenen Entscheidungen immer wieder unterworfen werden, um bereinigt und verändert zu werden." Die Schritte (3) —(5) sind Gegenstand der HD; mit (1) und (2) werden Probleme angesprochen, die Hartmut von Hentig mit dem Begriff „Wissenschaftsdidaktik" thematisiert hat
Die Auswahl der Inhalte im Hinblick auf die Ziele verlangt die zielkritische Organisation der Wissenschaft unter dem Aspekt der Vermittlung. Organisierbar ist Wissenschaft unter drei Aspekten: dem der optimalen Verwaltung, der optimalen Forschung und der optimalen Lehre, wobei sich ihre Struktur jeweils verschiebt. Wissenschaft didaktisch organisieren heißt, sie auf Lernziele hin ordnen. Wissenschaftsdidaktik, die dies leisten könnte, würde damit zur „Wissenschaftswissenschaft", zur Metawissenschaft, die über die Beziehung zwischen Sach(-Wissenschafts) -Struktur und Denkstruktur nachdenkt; sie würde gleichermaßen fachspezifische Integrationswissenschaft, die den gemeinsamen Horizont der jeweiligen Wissenschaft wieder-(oder erst) her. stellt, denn was als „eine Wissenschaft“ fir. miert, hat sich in Teilbereiche aufgelöst, in Spezialgebiete mit jeweiligen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen. Wissenschafts, didaktik, so verstanden, müßte im Interesse der Vermittlung den vom Forschungsinteresse bestimmten Zentrifugalkräften und die intradisziplinären Verständigungsschwierigkeiten überwinden, die kaum geringer sind als die interdisziplinären.
Eine Didaktik, die dies leisten könnte, scheint einstweilen undenkbar; doch gilt für sie, was v. Hentig in anderem Zusammenhang bemerkte: „Didaktik als Wissenschaft (und nicht als schöpferische Vermittlungskunst) ist im Begriff, sich wenigstens negativ durchzusetzen: Es wird immer mehr Lehrern und Wissenschaftlern bewußt, daß sie uns fehlt.“
Zum Problem der Lernziele: die BAK hat 1968 elf allgemeine Lernziele für ein Hochschul-Curriculum formuliert (wobei die Reihenfolge beliebig ist), in deren Mittelpunkt der Begriff des „wissenschaftlichen Verhaltens" steht Autonomie; Reflexion auf praktische Anwendung und gesellschaftliche Relevanz; Ökonomie; methodische Sicherheit und methoden-kritisches Bewußtsein; Anwendung des Verfahrens „Hypothese — Verifikation und Falsifikation; Kontrolle und Kritik; Kommunikation; Kooperation; Motivation; Kreativität; fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten. Diese Lernziele sind notwendig sehr allgemein und fachunspezifisch. Aufgabe der einzelnen Fächer wäre es nun, diese Ziele anhand fachspezifischer Fragestellungen zu konkretisieren und zu operationalisieren, d. h.der Evaluation (5) zugänglich zu machen. Hier zeigen sich methodische Probleme, etwa die Reduktion der allgemeinen auf spezielle Lernziele, ihre Klassifikation und die Organisation des . didaktischen Regelkreises
Bei diesen methodischen Problemen ist die C-Forschung im wesentlichen steckengeblieben und kann deshalb der Studienreform nur in begrenztem Maße Hilfe leisten. Curricula im beschriebenen Sinne wären in der IGH insbesondere im Bereich der Grundstudiengänge zu erstellen. Dabei geht es um die Entwicklung jeweils eines Fundamentalstudiengangs für die verschiedenen, stärker spezialisierten Fachstudien mit unterschiedlicher Länge und unterschiedlichen Qualifikationszielen.
Im Grundstudium müssen die später notwendigen Spezialisierungsprozesse vorbereitet und aus der Sache begründet werden:
„Der Student muß also Einsicht in die Funktion der Spezialisierung gewinnen, um jeweils den Stellenwert des Speziellen ermessen zu können und ein Bewußtsein für seine Teil-funktion zu behalten. Gleichzeitig muß durch eine solche Orientierung über Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Spezialisierung in einem Wissenschaftsbereich eine aufgeklärte Wahl des weiteren Studiums ermöglicht werden." Ziel dieses Grundstudiengangs ist zudem die systematische Angleichung der Eingangspositionen, da ihm das konsekutive Modell die Funktion des . Filters'und . Verteilers'zuschreibt. Dabei wird sich das Grundstudium vor allem vor dem hüten müssen, was sehr plastisch als „Grundlagenideologie“ bezeichnet worden ist: das Angebot eines Stoffkanons, der unbefragt deklariert, was im jeweiligen Fach als „fundamental" und „unbedingt wichtig" gilt.
Die C-Konstruktion erscheint ferner bei der Erstellung von Studieneinheiten (etwa im Sinne der „Bausteine") wichtig, die auch im Rahmen des projektierten FIM-Systems („Fernstudium im Medienverbund") verwendet werden können, zudem bei der Erarbeitung objektivierter Studienmaterialien in verschiedenen Bereichen (vor allem in dem methodischen Einführungs-und Kernbereich eines Studiengangs, über den es einen interuniversitären Minimalkonsens der Fachvertreter gibt), die als „vorgefertigte Montageteile" überregional eingesetzt werden können b) Hochschuldidaktik Die Forderung nach HD gehört seit 1966 zu den Gemeinplätzen der Hochschulpolitik. Sie fehlt in keinem der bekannten Gesetze, Resolutionen und GHS-Pläne. Dem Beobachter erscheint sie gelegentlich als deus ex machina, der die Probleme der Hochschule aus der Welt schaffen soll, als handliche Formel, die Schwieriges ungebührlich vereinfacht. Auch wer sich der eminenten Wichtigkeit der HD bewußt ist, wird sich gelegentlich fragen müssen, ob HD leisten kann, was von ihr erwartet wird (etwa die Reduzierung der drop out-Quote mit ihren nur schwer zu überschätzenden humanen und sozialen Kosten).
Was ist HD? Folgt man der Systematik Hubers (s. o,), so hat es HD mit der Auswahl und Organisation der Lernsituationen, Lernverfahren und Lehrstrategien zu tun, also mit der optimalen Umsetzung von Inhalten in Prozesse. HD fragt nach der jeweiligen Nützlichkeit der Medien wie , direct teaching". Buch, Lehrbrief, Diapositiv etc., ferner nach der Wirksamkeit akademischer Lehrveranstaltungen und der optimalen Zuordnung von Lerngegenstand und Veranstaltungstypus (Übungen, Colloquien, Kompaktkurse etc.) Dabei erweist sich . Lernen'als soziales Interaktionssystem mit hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren.
Im einzelnen hängt die Wirksamkeit von Lehrveranstaltungen ab:
„ 1. vom Inhalt des jeweiligen Lerngegenstandes und der in der jeweiligen Arbeitsweise verfolgten Absicht der Wissensvermittlung, Förderung des Problemdenkens oder von Motiven und Einstellungen, 2. von dem jeweiligen Adressaten, seinem Wissen, seiner Motivationslage, seinen Fähigkeiten und Absichten und 3. auch von dem jeweils tätigen Dozenten und seinen Wirkungsmöglichkeiten, deren Spielraum zwischen der Rolle des Informationsverarbeiters und -Vermittlers, des Grup-* penführers und des . Gruppentherapeuten'variieren kann.“
Zu 3. wäre zu ergänzen, daß . Lernen'auch mit dem Kontakt Student-Dozent außerhalb von Veranstaltungen Zusammenhängen kann — auch an der Universität bleibt das Lernen dem Lehrer zuliebe als ein Teil der Motivation bestehen HD begreift Lernen also nicht nur als kognitiven, sondern auch als sozialen und affektiven Prozeß. Gerade dieser Hinweis auf die . emotionale'Komponente könnte dazu beitragen, das Sozialklima im Großbetrieb Hochschule freundlicher zu machen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf Lerneffizienz. Vor allem die gruppendynamischen Arbeiten, die bei der HD immer mehr Interesse finden zeigen die enge Beziehung zwischen Lernfähigkeit Gruppensituation und Persönlichkeitsstruktur: „Die frühere Auffassung, der Lehrstoff bilde den entscheidenden Inhalt, die Technik des Lehrens sei eine notwendige Ergänzung . . ., erfährt bei konsequenter Anwendung gruppendynamischer Prinzipien fast eine Umkehr: Die Mitglieder einer Gruppe sind nicht ohne weiteres in der Lage, real zu lernen, bevor nicht ihre tatsächlichen Beziehungserwartungen und -befürchtungen untereinander und den Lehrenden gegenüber soweit geklärt sind, daß sie erwartungsfrei die Wirklichkeit wahrnehmen können".
Auf die Beziehung zwischen Persönlichkeitsstruktur, Sozialerfahrung und Lernbereitschaft weist der Begriff der Motivation hin, der heute zum gängigen Vokabular der HD zählt; hier wird zwischen primärer (intrinsischer) und sekundärer (extrinsischer) Motivation unterschieden wobei wiederum jeweils tätig-keitsund situationsspezifisch differenziert werden muß. Wenn auch die Beziehung zwi-sehen Motivation und Lernen eindeutig nach-gewiesen ist ist heute noch nicht zu sehen wie die Orientierung einer (einheitlichen) Studienorganisation an (unterschiedlichen) Motivationen geleistet werden könnte. Zum Beispiel hat Helge Pross mit dem Hinweis auf Leibfrieds und Lefevres Kritik an den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Studienreform (1966), die eine strengere Reglementierung der Studiengänge, besonders in den Philosophischen Fakultäten vorsahen, darauf aufmerksam gemacht, daß „Zwischenprüfungen und andere Leistungskontrollen ... für die durchschnittliche Studentin eine andere, positivere Bedeutung als für viele männliche Studierende" haben
Ein anderes Arbeitsfeld der HD, das eng mit den Fragen der Motivation verbunden ist, ist die Problematik der Prüfungen. Steinbuch hat kürzlich auf ein Unding des bundesdeutschen Prüfungsmodus hingewiesen: „An amerikanischen Universitäten ist es meist üblich, schriftliche Prüfungen ohne Aufsicht durchzu-führen, die Studenten gehorchen ihrem , Ho-nor-Code', der sie dazu verpflichtet, illegale Methoden bei der Prüfung weder zu benutzen noch deren Benutzung durch andere zu dulden. Auch hier zeigt die Erfahrung, daß eine solche Art der Prüfung in unserem Land durch uralte Bräuche verhindert wird. Deshalb werden dieselben Menschen, die wenige Monate später als . Akademiker'in unserer Gesellschaft einen relativ hohen Status beanspruchen, kurz vorher noch bei Prüfungen durch penible Aufsicht am . Spicken'gehindert. Es gibt wenig Tatbestände, welche die Untauglichkeit unserer akademischen Tradition zur Erziehung intellektuell und moralisch hochwertiger Akademiker deutlicher demonstrieren." Es geht bei der hochschuldidaktischen Diskussion der Prüfung nicht um die polemische Alternative zwischen Abschaffung oder Beibehaltung, sondern um die Frage nach ihrer Funktion, von der dann Prüfungsstruktur, -inhalt und -zeitpunkt abzuleiten sind. Insgesamt hat die HD hier eine Reihe interessanter Ergebnisse und Vor-schläge vorgelegt
Im Vorhergehenden wurde deutlich, daß sich HD nicht nur mit den Adressaten, den Studenten, beschäftigt, sondern auch, ein relativ wenig erörtertes Thema, mit dem Dozenten. Die akademische Lehre, die sich an den Einsichten der HD orientiert, verlangt vom Dozenten ein erhebliches Engagement wobei guter Unterricht im Universitätssystem bislang kaum gelohnt wird „Eine entscheidende Beeinträchtigung jedes Engagements und erst recht einer ständigen Arbeit in didaktischen Fragen ergibt sich daraus, daß theoretische Reflexion der Wissensvermittlung . . . oder praktische, erfolgreiche Neuerungen im Unterricht . . . für die akademische Karriere gegenüber Leistungen in der Forschung nicht ins Gewicht fallen. Einer der objektiven Gründe dafür dürfte sein, daß sich die Leistungen im Bereich der Lehre bisher nicht so mühelos objektiv nachweisen lassen. Hilfen zu diesem Punkt müssen noch erfunden werden; . Lehrproben'allein wären ein zu fragwürdiges Mittel."
VII. Fazit
„Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Massenausbildung auch auf der Hochschulstufe." Die Gesamthochschule, insbesondere in ihrer integrierten Form, versteht sich als organisatorische Antwort auf diese politische Entscheidung. Sie will (im Vergleich zum bisherigen Hochschulsystem) für weniger Geld mehr Menschen besser ausbilden, zugleich, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, an der . Einheit von Forschung und Lehre'festhalten. Ob sie diese Versprechungen einlöst oder vor ihren eigenen Aporien kapituliert, steht heute noch dahin. Zudem mag sich zeigen, daß das Engagement der Politiker für Gesamthochschulen erlahmt, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, daß die bloße Integration des Mangels keinen Überfluß bringt.
Aber das sind Spekulationen. Heute stellt sich die sehr praktische Frage: Wer soll die Gesamthochschule verwirklichen, wer soll die Reformarbeit leisten? Die Kultusverwaltungen klagen über den Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, desgleichen die Planungsstäbe der Universitäten. An den Hochschulen führt das Übermaß der Ausschüsse zur permanenten Überlastung der Engagierten. Sie können aus „Arbeitsüberlastung und auf Grund des mit ihrer Arbeit verbundenen Lernzwangs nicht ausreichend informiert sein, sie werden sich nicht genügend über ihre Ziele einig, und es ist aus allen diesen Gründen oft ein zu großer Entscheidungsaufwand und eine denn-noch geringe Entscheidungsqualität festzustellen
Auf die Dauer dürften im Hochschulbereich die Appelle an die Freiwilligkeit abgenutzt sein; hier wäre zu prüfen, ob die Reformarbeit nicht honoriert werden könnte, etwa durch Sitzungsgelder oder durch Reduzierung der Lehrpflichten. Diese Leistungen müßten als . Innovationsinvestitionen'verstanden werden. Dies freilich würde die mögliche Frontbildung der Hochschule gegenüber den staatlichen Instanzen voraussetzen, die einen inneruniversitären Konsens verlangt, der, abgesehen von der notorischen Unfähigkeit der Hochschulen zu korporativem Handeln, in der aktuellen Situation nicht leicht zu erzielen sein dürfte.
Nochmals: Wer soll die angestrebten , inhaltlichen'Reformen leisten? Erschwert werden sie zudem durch Kontaktsperren — etwa durch Ressentiments und Sprachbarrieren — zwischen Hochschule und Kultusverwaltung, vielleicht auch zwischen den hauptamtlichen akademischen Planern und den akademischen Selbstverwaltungsorganen und zwischen den Lehrkörpern der künftigen Teilhochschulen. Hinzu kommt, daß die Gesamthochdiskussion vor einer Reihe von Fragen steht, auf die wir bestenfalls hypothetische oder Teilantworten haben. Ebensowenig wie heute ernsthafte Prognosen darüber angestellt werden können, ob die Gesamthochschule die Hochschulprobleme löst oder nur die alten durch neue ersetzt, ist die Gefahr von der Hand zu weisen, daß der Erfolgszwang’ die politischen Instanzen verführt, Institutionen miteinander zu verklammern, ohne zuvor vom Arbeitsinhalt dieser Institutionen her die Voraussetzung dafür geschaffen zu haben. Dies freilich hieße, die inhaltliche Immobilität mit progressiven Begriffen zu verschleiern, was freilich niemand außer den unmittelbar Beteiligten und (soweit es sich um Hochschulangehörige handelt) Betroffenen merkt, die es dann vermutlich vorziehen zu schweigen, sei es, weil sie sich ohnehin nicht zu Gehör bringen könnten, sei es, weil ihre Klagen als Plädoyer pro domo abgestempelt werden würden.
Noch ist also offen, ob sich die Gesamthochschule als Königs-oder Holzweg in die Hochschullandschaft der achtziger Jahre erweisen wird.
Dieter Mohrhart, geb. am 20. 2. 1944 in Holm-Seppensen (Niedersachsen), fuhr von 1958 bis 1963 zur See. Abitur (Abendgymnasium) 1967; seitdem Studium der Politologie in Hamburg. Mitarbeiter mehrerer Zeitungen und des NDR.