Modellvarianten der Einheit und Zusammenarbeit in der kommunistischen Weltbewegung
Heinz Timmermann
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Zusammenfassung
Die dritte Moskauer Kommunistenkonferenz vom Juni 1969, an der insgesamt 75 im Prinzip prosowjetische Parteien teilnahmen, bekannte sich zwar grundsätzlich zur Notwendigkeit, die Einheit und Geschlossenheit der kommunistischen Weltbewegung zu wahren, über Methoden und Inhalt der Zusammenarbeit aber herrschte Uneinigkeit, und zwar zwischen den sowjetisch geführten „Traditionalisten" einerseits und dem heterogenen Lager der „Autonomisten" (u. a. Italiener, Rumänen, Kubaner) andererseits. Während sich jene nach wie vor auf angeblich unfehlbare Prinzipien eines kanonisierten Marxismus-Leninismus berufen und bei verbalem Bekenntnis zur Selbständigkeit der Einzelparteien an dem Ziel festhalten, eine allgemeinverbindliche Generallinie auszuarbeiten, verstehen diese den Marxismus nur noch als eine kritische Methode zur Analyse der Wirklichkeit und als Aktionsleitfaden. Die Traditionalisten suchen das überkommene Beziehungsmodell im Weltkommunismus mit der KPdSU als Angelpunkt zu erhalten; die Autonomisten plädieren für eine vertraulich-sachliche Zusammenarbeit unter gleichberechtigter Teilnahme aller Parteien. Das von den Autonomisten vorgeschlagene Konzept einer „Einheit in der Vielfalt“ (Togliatti) enthält eine ganze Reihe neuer Elemente und Forderungen: Eine konkrete Mitbestimmung der Einzelparteien in allen die Gesamtbewegung betreffenden Fragen; eine offene Diskussion über Meinungsunterschiede zwischen den Parteien sowie eine rationale Konfliktlösung; schließlich eine Transparenz der Entscheidungsprozesse im Weltkommunismus und dessen stärkere Öffnung hin zu den nichtkommunistischen Revolutionären und Reformkräften Vorerst jedoch macht der sowjetisch geführte Traditionalistenflügel noch keine Anstalten, auf die Konzeptionen dieser — flexibleren und möglicherweise effektiveren — „neuen Einheit" einzugehen. Nur in einem sehr langfristigen Prozeß — wenn überhaupt — können daher die unterschiedlichen Modellvarianten der Einheit und Zusammenarbeit im Weltkommunismus harmonisiert werden.
„Die Dinosaurier paßten sich weder an noch folgten sie der Entwicklung der anderen Tiere — und daher überlebten sie nicht." Massimo Calderazzi, Vie Nuove, 19. 6. 1969
I. Gruppierungen und Tendenzen in der Organisationsfrage
Als vor etwa zwei Jahren, im Juni 1969, die dritte Internationale Beratung kommunistischer Parteien ihren Abschluß gefunden hatte, war man sich im Osten wie im Westen über eines einig: Das Moskauer rote Gipfeltreffen markierte eine wichtige Etappe auf dem Wege zu neuen Formen der Zusammenarbeit in der — nach sowjetischer Zählung mittlerweile auf 90 Parteien angewachsenen — kommunistischen Weltbewegung.
Im übrigen jedoch differierten die Einschätzungen der Konferenzergebnisse sowie die Ansichten darüber, wie sich die Einheit im Weltkommunismus zukünftig manifestieren werde, beträchtlich. Unter den westlichen Beobachtern glaubten die einen die Moskauer Zentral-gewalt gestärkt, während andere das Treffen umgekehrt als einen endgültigen Durchbruch zu einem pluralistischen Kommunismus werteten.
Nicht weniger unterschiedlich war die Einschätzung unter den 75 Konferenzteilnehmern selbst. Bei aller Vorsicht vor Etikettierungen lassen sie sich, grob gesprochen, in drei Gruppen einteilen: die sowjetisch geführten Traditionalisten, die bei verbalem Bekenntnis zur Selbständigkeit der Einzelparteien an dem Ziel festhalten, eine allgemeinverbindliche ideologisch-politische Generallinie auszuarbeiten; die in sich keineswegs homogene Gruppe der Autonomisten (zu ihnen zählen so unterschiedliche Kräfte wie die italienische, rumänische und kubanische KP), die zwar an der grundsätzlichen Solidarität mit den Bruderparteien festhalten, im übrigen aber ihre politische Linie selbst bestimmen wollen; schließlich eine „zentristische“ Gruppe, die je nach politischer Opportunität mehr zu der einen oder der anderen Richtung neigt oder sich auf einem Gebiete (etwa der Innenpolitik) „autonomistisch" und auf anderen „traditionalistisch" verhält (z. B. die Parteien Ungarns oder Frankreichs).
Zwar war man sich grundsätzlich einig über die Notwendigkeit, die Einheit und Geschlossenheit der kommunistischen Weltbewegung zu wahren und von Zeit zu Zeit auch zu demonstrieren. Nadi langem Zögern hatte sich sogar die italienische KP (IKP), die stärkste nichtregierende KP und Vorkämpferin der Parteienautonomie, dem entsprechenden Drän-gen der KPdSU nicht verschließen können. Parteichef Luigi Longo begründete die Teilnahme der IKP an der Weltkonferenz ausdrücklich mit der Notwendigkeit, „dem gegenwärtigen Prozeß des Auseinanderstrebens Einhalt zu gebieten" sowie „den zentrifugalen Tendenzen und der Gefahr des Zerfalls dadurch zu begegnen, daß man einen gegenläufigen Prozeß zur Verstärkung und Entwicklung der Zusammenarbeit" in Gang setzen müsse
Während der Beratungen vom Juni 1969 konnten Divergenzen jedoch nicht überwunden werden — kein Wunder angesichts der Polymorphie des Systems kommunistischer Staaten und Parteien, die unter jeweils spezifischen Bedingungen wirken. Von vordergründigen, unterschiedlichen Einschätzungen zu konkreten politischen Tagesfragen abgesehen, bezogen sich die Meinungsverschiedenheiten auf die zu-künftige Form der Zusammenarbeit in der kommunistischen Weltbewegung sowie auf die Methoden, die zwischen einzelnen ihrer Abteilungen entstandenen Konflikte zu lösen. Das alte Konzept eines autoritativ entscheidenden Führungszentrums war überholt und nun auch offiziell ad acta gelegt worden (nachdem es hinter den Kulissen des dritten Moskauer Kommunistentreffens von der KPdSU und einigen ihrer Anhänger noch einmal — wenngleich mehr aus konferenztaktischen Gründen — ins Spiel gebracht worden zu sein scheint). Andererseits hatte aber auch die ursprünglich italienische Idee einer „Einheit in der Vielfalt“ noch keineswegs allgemeine Zustimmung gefunden: Es herrschte Uneinigkeit darüber, wie die Einheit zu erreichen sei. In dieser Transformationsphase der kommunistischen Weltbewegung ist es sicher nützlich, die verschiedenen Modellvarianten multilateraler Zusammenarbeit unter den im Prinzip prosowjetischen Parteien etwas genauer zu beleuchten — insbesondere die mitunter geradezu konträren Vorstellungen der sowjetischen und der italienischen Kommunisten Welche historischen Erfahrungen liegen den verschiedenen Konzeptionen zugrunde? Wie will man zukünftig Konflikte im Weltkommunismus lösen (sofern man sie überhaupt aut objektive Ursachen zurückzuführen bereit ist)? Wie sieht die Praxis multilateraler Zusammenarbeit seit der Moskauer Konferenz aus? Und schließlich: Welche Perspektiven ergeben sich aus alldem für die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt dessen, was man vage als kommunistische Weltbewegung bezeichnet?
II. Dezentralisierung und Regionalisierung im Weltkommunismus
Noch während des Zweiten Weltkrieges war man im Exekutivkomitee der Komintern zu der Einsicht gelangt, daß die organisatorische Form einer zentral gelenkten kommunistischen Internationale eher ein Hindernis als eine Hilfe für die Einzelparteien sei: zu stark waren die Mitgliederparteien angewachsen und zu unterschiedlich waren vor allem die Kampfesbedingungen in den einzelnen Ländern geworden. Mit dieser Begründung jedenfalls, die man nicht als reines Propagandamanöver abtun sollte, wurde die Komintern 1943 aufgelöst. Hinfort übernahmen die entsprechenden ZK-Abteilungen des KPdSU-Sekretariats direkt die Kontrolle über die Einzelparteien.
Nicht viel anders als der Komintern erging es dem — 1947 zur Koordinierung kommunistischer Aktionen in Europa gegründeten — Kominform-Büro: Mit dem Kraftakt des Ausschlusses Jugoslawiens im Jahre 1948 hatte es seine Energien verbraucht und führte bis zu seiner Liquidation (1956) nur noch ein Schattendasein. Stalins Versuch von 1950 schließlich, eine neue Internationale zu gründen, scheiterte bereits im Ansatz: Der von ihm als Generalsekretär ausersehene IKP-Chef Palmiro Togliatti weigerte sich strikt, sein internationales Prestige in ein derart anachronistisches Unternehmen zu investieren.
Interessanterweise zeichneten sich die unterschiedlichen Vorstellungen schon damals am deutlichsten bei den Parteiführern gerade jener beiden kommunistischen Parteien ab, die sich auch heute als entschiedenste Vorkämpfer unterschiedlicher Modellvorstellungen profilieren. Immerhin, seit diesem letzten Versuch war die Idee einer neuen zentralistischen internationalen Organisation des Kommunismus derart diskreditiert, daß entsprechende spätere Vorstöße keine ernsthafte Realisierungschance mehr hatten.
Togliatti ließ es jedoch keineswegs bei seiner negativen Stellungnahme bewenden. Vielmehr zog er, die moralische Autoritätskrise der KPdSU nach dem XX. Parteitag von 1956 nutzend, die logische Konsequenz aus dem Komintern-Auflösungsbeschluß und schlug vor, der Auffächerung des Weltkommunismus in ein polymorphes Parteiensystem nunmehr auch politisch-organisatorisch Rechnung zu tragen. Schlagwortartig sprach er von einer neuen Phase des „Polyzentrismus“, in die die internationale kommunistische Bewegung eingetreten sei. Nachdem er diesen damals ebenso sensationellen wie verfrühten Gedanken unter dem Drude der sowjetischen und französischen Genossen wieder hatte fallenlassen müssen, fand er in seinem Jalta-Memorandum vom August 1964 ein neues Rezept: Man solle „die Parteien veranlassen, auf einer Reihe von Zusammenkünften gruppenweise die Aufgaben gründlich zu prüfen und besser zu definieren, die uns heute in den verschiedenen Bereichen unserer Bewegung gestellt sind". Möglich sei dies durch „recht häufige Fühlungnahme und durch den Erfahrungsaustausch zwischen den Parteien auf breiter Ebene; Einberufung gemeinschaftlicher Tagungen zum Studium gemeinsamer Probleme gewisser Gruppen von Parteien; internationale Arbeitstagungen allgemeiner Probleme der Wirtschaft, Philosophie, Geschichte usw."
Dieses Dezentralisierungskonzept, das seither mit Erfolg praktiziert und von der Moskauer Kommunistenkonferenz von 1969 schließlich auch offiziell gebilligt wurde, ist zweifellos elastischer als das alte zentralistische Modell. Es begünstigt die — unter Umständen rasche — Ausarbeitung einer taktisch-strategischen Aktionseinheit durch Parteigruppen je nach ihren konkreten Regionalbedingungen. Es schafft die Möglichkeit, zwischenparteiliche Konfliktpunkte dadurch zu entschärfen, daß Auseinandersetzungen über ideologische Fragen zurückgestellt werden und die Parteien konkrete Aktionsprogramme erarbeiten, ohne sich der Zustimmung einer Zentralinstanz versichern zu müssen: „Eine ganz neue Phase internationaler kommunistischer Planung und Kooperation auf strategisch-taktischem Gebiet hatte begonnen."
Regionalkonferenzen im gesamt-und westeuropäischen, im arabischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Raum zeigen, daß dem von den Italienern angeführten, wachsenden Lager der Autonomisten in diesem Punkt bereits vor dem kommunistischen Gipfel von 1969 ein entscheidender Durchbruch geglückt war.
Am Ende gelang es den sowjetisch geführten Traditionalisten zwar, ihr Konferenzprojekt zu realisieren, doch mußten sie dabei viel Wasser in den Wein gießen. Vielleicht trug das rote Gipfeltreffen von 1969, langfristig gesehen, sogar zu einer Beschleunigung des Transformationsprozesses innerhalb der kommunistischen Weltbewegung bei, da jede Partei in einer Art Selbstklärungsprozeß gezwungen war, ihren Standpunkt deutlich zu formulieren und ihn auch öffentlich zu vertreten.
Eine solche Vermutung jedenfalls drängt sich auf, wenn man die unterschiedlichen ideologischen, politischen und organisatorischen Kooperationsmodelle näher untersucht.
III. Modellvarianten der Zusammenarbeit
Ausgangspunkt dieser unterschiedlichen Vorstellungen ist die jeweilige Interpretation der Souveränität sozialistischer Staaten sowie der Autonomie kommunistischer Parteien.
Es ist bekannt und braucht daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden, daß der Traditionalistenflügel seit der CSSR-Intervention gegen den erbitterten Widerstand der Autonomisten verstärkt bemüht ist, den vorgeblich übergeordneten Interessen der sozialistischen Staatengemeinschaft Priorität einzuräumen gegenüber der Souveränität der einzelnen sozialistischen Länder. Ansätze dazu fanden Eingang sowohl in das Hauptdokument der Moskauer Beratung von 1969 wie auch in den sowjetisch-tschechoslowakischen Bündnisvertrag vom 6. 5. 1970. Aus dem Hauptdokument zitieren die Traditionalisten nicht zufällig immer wieder jene Passage, wonach „die Verteidigung des Sozialismus ... die internationale Pflicht der Kommunisten" ist. Im Prager Vertrag ist von „brüderlicher gegenseitiger Hilfe" die Rede sowie von der „gemeinsamen internationalen Pflicht der sozialistischen Länder", die sozialistischen Errungenschaften zu festigen und zu verteidigen . Gegenwärtig versucht man sogar, die mit dem Namen Breshnews verknüpfte Dok-trin der beschränkten Souveränität zu einem „allgemeinen Prinzip internationalen sozialistischen Rechts“ zu erheben, das auf sämtliche nicht-paktgebundenen sozialistischen Staaten, ja selbst auf die Länder anzuwenden sei, die zukünftig den Weg des Sozialismus beschreiten wollen
Nicht viel anders die Divergenzen zur Frage der Parteienautonomie. Für die Autonomisten ist sie, unbeschadet freiwilliger internationalistischer Koordination, per definitionem unteilbar und sinnvoll nur als völlige Selbständigkeit der Einzelparteien bei der Festlegung ihrer Innen-und Außenpolitik sowie ihrer Stellung innerhalb der kommunistischen Welt-bewegung. Die KPdSU hingegen ist faktisch allenfalls bereit, eine „beschränkte Autonomie“ zuzugestehen — beschränkt in dem Sinne, daß den Parteien zwar in Fragen der innenpolitischen Strategie und Taktik eine gewisse Selbständigkeit zugestanden, im übrigen aber eine strikte Unterordnung unter die von ihr einseitig interpretierten Prinzipien des „prole-I tarischen Internationalismus" abverlangt wird. Auf eine kurze Formel gebracht, geht die sowjetische Konzeption von der Annahme aus, daß trotz aller unterschiedlichen Kampfesbedingungen der Einzelparteien eine ideologisch-politische Einheit im Weltkommunismus auch heute noch notwendig und möglich ist. Die Autonomisten dagegen halten eine derartige Einheit, auf absehbare Zeit jedenfalls, für utopisch und den Versuch, sie um jeden Preis zu realisieren, für schädlich. Während die Differenzen nach Ansicht des sowjetischen Lagers ausschließlich subjektiven Charakter haben (und somit korrigiert werden können und müssen), sind sie in der Sicht der Autonomisten objektiv begründet (und daher nur in einem langen Entwicklungsprozeß zu überwinden). Während jene die Divergenzen bekämpfen, wollen diese mit ihnen leben.
Aus dieser Spannung heraus, in der es natürlich viele Zwischentöne gibt, erklären sich die unterschiedlichen Vorstellungen über eine zukünftige Zusammenarbeit im Weltkommunismus. 1. „Neue Einheit" in der kommunistischen Weltbewegung Ohne Umschweife verwerfen die Autonomisten die sowjetischen Bestrebungen, die Diver-genzen in der kommunistischen Weltbewegung aufzufangen durch Konzessionen an die innenpolitisch-taktischen Erfordernisse der Einzelparteien sowie durch gewisse Umformungen und Auflockerungen der internationalen Organisationsstruktur — Bestrebungen die ihrer Ansicht nach letztlich darauf hinauslaufen, das überkommene Beziehungsmodell im Weltkommunismus in der Substanz zu erhalten und diesem auch weiterhin den Stempel der Uniformität und des Monolithismus aufzudrücken.
Gewiß sind die Motive der Autonomisten durchaus unterschiedlich: Die Rumänen sehen in dem Modell der „neuen Einheit" ein Vehikel ihrer Emanzipationsbemühungen innerhalb des östlichen Paktsystems, die Kubaner wollen loskommen von dem sowjetischen Revolutionsmodell, das ihrer Ansicht nach nicht für lateinamerikanische Verhältnisse taugt; die Italiener schließlich wollen um ihrer nationalen Glaubwürdigkeit willen die internationalen Beziehungen mit ihren national-politischen Zielvorstellungen in Einklang bringen: mit der „pluralistischen Vision einer sozialistischen Gesellschaft, in der es keinen Platz für eine Staatsideologie geben darf" Wichtig in unserem Zusammenhang ist jedoch nicht die unterschiedliche Motivierung der Opposition gegen die sowjetischen Modellvorstellungen, sondern die Konstituierung einer relativ geschlossenen Oppositionsfront überhaupt, deren Partner sich gegenseitig die Bälle zuspielen.
Plötzlich aufbrechende, scheinbar unerklärliche Krisen innerhalb des sozialistischen Lagers, vor allem aber die heftige sowjetisch-chinesische Konfrontation während und nach dem zweiten roten Gipfeltreffen von 1960, waren für die Autonomisten ein Trauma und zugleich eine Herausforderung, Schluß zu machen mit jeglicher Form einer fiktiven Einheit. Qualitativ neue Beziehungen zwischen autonomen Parteien sollten eine „neue Einheit" begründen — eine Einheit, die, mit IKP-Chef Longo zu sprechen, „das Resultat freier Erörterung und freier Einwilligung ist und ohne jegliche Einmischung und Pression zustande gekommen sein muß“ Diese Forderung nach freier Erörterung zog zwangsläufig eine Diskussion über eine Reihe miteinander verzahnter ideologischer, politischer und organisatorischer Probleme nach sich: Probleme der Mitbestimmung der Einzel-parteien, der Konfliktlösung, der Demokratisierung der Entscheidungsprozesse sowie der zukünftigen Leitungsmethoden. 2. Mitbestimmung der Einzelpartelen Schon an dieser Stelle sei gesagt, daß die Autonomisten durchaus bereit sind, auch weiterhin in der kommunistischen Weltbewegung mitzuarbeiten — unter einer Voraussetzung allerdings: daß ihnen die KPdSU ein Recht auf gleichberechtigte Mitbestimmung einräumt. Bei dieser Forderung gehen die Autonomisten von der Erfahrung aus, daß wichtige Entscheidungen regierender Bruderparteien oft prinzipielle Bedeutung für die Gesamtbewegung haben und die innenpolitische Strategie und Taktik der Einzelparteien mitunter sehr negativ beeinflussen — als jüngstes Beispiel erwähnten sie die Intervention der fünf Kernstaaten des Warschauer Pakts in der SSR. Um derartige Konflikte zukünftig unter Berücksichtigung der Interessen sämtlicher direkt oder indirekt beteiligter Parteien zu regeln, plädieren sie für eine vertrauensvoll-sachliche, gleichsam obligatorische Zusammenarbeit. So, wie jede Partei Pflichten vor der internationalen Bewegung habe, müsse ihr auch das Recht zustehen, über alle die Gesamtheit betreffenden Fragen informiert und konsultiert zu werden. Unter dem Schock der Intervention taten selbst die sonst eher den Traditionalisten zuneigenden Franzosen einen mutigen Schritt nach vorn: Der Internationalismus verlange, so Politbüromitglied Gaston Plissonnier, „daß sämtliche interessierte Parteien gemeinsam eine gegebene Situation prüfen, kollektiv die Entscheidung erarbeiten und an der gemeinsamen Aktion teilnehmen“
Bislang konnten die Divergenzen in dieser Frage aber nicht überwunden werden. Gewiß, gelegentlich räumt auch die KPdSU ein, daß niemand als Alleinvertreter internationaler Interessen auftreten könne, daß folglich „nur eine kollektive Entscheidung der Fragen unter Teilnahme aller interessierten Länder möglich" sei und daß in den Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern (also wohl auch zur KPdSU) „keine Verletzung des Grundsatzes der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" vorliege, „wenn eine solche Meinung geäußert" werde
Die Erfahrung zeigt jedoch, daß die Traditionalisten ein derartiges Recht auf Kritik und Mitbestimmung einseitig auslegen und nur dann gelten lassen wollen, wenn sie die eigenen Interessen gefährdet glauben — gefährdet vor allem durch „revisionistische Abweichungen". In einem solchen Falle, schrieb der sowjetische Ideologe Shilin, entstehe eine „besonders schwierige, um nicht zu sagen delikate Situation", die keinerlei Kompromisse zulasse, denn „die Praxis zeigte, daß der Revisionismus sich in der Regel nicht auf Versuche beschränkt, die Strategie und Taktik der Parteien sowie die Prinzipien ihrer Organisation zu verändern. Er richtet seine Angriffe unermüdlich auf die gemeinsam ausgearbeiteten Einschätzungen und Schlußfolgerungen der gesamten kommunistischen Bewegung. Und wenn er eine Abfuhr nicht auf nationaler Ebene erhält, so sind die anderen marxistischleninistischen Parteien berechtigt, ihre prinzipiellen Positionen und ihre internationale Strategie zu verteidigen."
Die CSSR-Krise enthüllte vollends die Widersprüchlichkeit, ja Doppelzüngigkeit der sowjetischen Konzeption: Hatte der Kreml vor der Intervention verlauten lassen, die Prager Reformmaßnahmen müßten alle Kommunisten beunruhigen und auf Gegenmaßnahmen sinnen lassen, so argumentierte der neue KP-Chef Gustav Husak auf der Weltkonferenz vom Juni 1969, also fast ein Jahr nach dem Einmarsch, genau umgekehrt: Unter dem Beifall der Traditionalisten verbat er sich jegliche Diskussion über die durch die Intervention entstandene Lage als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes sowie als unqualifizierten Vorgriff auf eine eigene fundierte Analyse (die dann im Dezember 1970 erstellt wurde und die volle sowjetische Zustimmung fand). Auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU schließlich, nach dem äußerlichen Erfolg der Politik der „Normalisierung", verkündeten Breshnew und Husak wieder offen ihre als. einzig korrekt ausgegebene Version der tschechoslowakischen Krise.
Eins wird aus alldem deutlich: Für eine echte Kritik, ohne die nach Ansicht der Autonomi-sten weder eine substantielle Mitbestimmung vorstellbar noch eine glaubwürdige und konsequente nationale Politik realisierbar ist, bringen die Traditionalisten wenig Verständnis auf. Sie orientieren sich weiterhin an einer politischen Leitlinie, die der damalige polnische Parteichef Gomulka auf dem V. Kongreß seiner Partei so umschrieb: „Jede kommunistische Partei in den kapitalistischen Ländern läßt sich von einer bestimmten Strategie und Taktik leiten, die sich aus den Bedingungen ergibt, unter denen sie wirkt. Sie können jedoch nicht von den Bruderparteien, die an der Macht sind und die die unmittelbare Verantwortung für die Entwicklung und die Macht des gesamten sozialistischen Systems tragen, verlangen, daß sie ihren politischen Kurs der gerade aktuellen Politik der kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern anpassen."
Interessendivergenzen werden von den Traditionalisten auf subjektive Fehler und Mängel ihrer Kritiker reduziert: auf das verstärkte Eindringen kleinbürgerlich-nationalistischer Elemente in die betreffenden Parteien und Parteiführungen, auf die — durch bürgerlichen und revisionistischen Drude hervorgerufene — trügerische Taktik, kurzfristige innenpolitische Erfolge auf Kosten langfristiger Perspektiven der Gesamtbewegung zu suchen, schließlich überhaupt auf ein Abweichen von der korrekten Linie des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus. 3. Probleme der Konfliktlösung Hier wird sichtbar, daß die Divergenzen zwischen Traditionalisten und Autonomisten letztlich in einem unterschiedlichen Verständnis der gemeinsamen marxistischen Lehre wurzeln: Während jene sich auf die angeblich unfehlbaren Prinzipien eines kanonisierten Marxismus-Leninismus berufen, wollen diese den Marxismus nur noch als eine kritische Methode zur Analyse der Wirklichkeit und als eine Anleitung zum Handeln gelten lassen; während jene die zwischenparteilichen Divergenzen als Abweichungen von den universellen Prinzipien und den allgemeinen Gesetzen eines wissenschaftlichen Sozialismus ansehen, beginnen diese zu zweifeln, ob der Marxismus überhaupt die Formulierung allgemeinverbindlicher, wissenschaftlich unangreifbarer Dokumente erlaubt.
Angesichts derart gravierender Meinungsunterschiede in ideologisch-politischen Grundsatzfragen verwundert es nicht, daß die Antworten auf die Frage, wie Konflikte innerhalb der kommunistischen Weltbewegung ausgetragen und gelöst werden sollen, höchst unterschiedlich ausfallen.
Auf der einen Seite die Traditionalisten. Befangen in ihrer Fiktion einer heilen Welt des Sozialismus, sind sie, wie wir sahen, noch nicht einmal bereit, eine wichtige Voraussetzung für die Lösung von Konflikten zu akzeptieren: sich einer allseitigen Kritik zu stellen und sie womöglich zum Anlaß eigenen Umdenkens zu nehmen. Im Gegenteil: Sie scheuen sich nicht, alle ernsthafte Kritik seitens der Autonomisten als antikommunistisch und — da sich ja die KPdSU als Hüterin kommunistischer Orthodoxie versteht — als antisowjetisch zu diskreditieren Verlorengegangen ist mit der Zeit der Wille (und wohl auch die Fähigkeit), nichtkonforme Ansichten im eigenen Lager als autonom gewachsen anzusehen und zu akzeptieren: Derlei Ketzereien können nach Ansicht der Traditionalisten nur von außen, von bürgerlich-revisionistischen Kreisen, gesteuert sein. Kampf bis zum endgültigen Sieg, nicht Diskussion wird als Gegengift empfohlen.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Indem man alle Schwierigkeiten im eigenen Lager verschleiert oder dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie zuschreibt, verliert man bei Freund und Feind an Glaubwürdigkeit und Autorität (Berlinguer in Moskau: „Heute würde uns auch niemand glauben, daß wir in allem übereinstimmen") und vertieft letztlich die Gräben, statt sie zuzuschütten.
Auf der anderen Seite die Autonomisten. Von den durch ihre schwierige Balance zwischen Moskau und Peking zur Zurückhaltung gezwungenen Rumänen abgesehen, ist es für sie eine Prinzipienfrage, alle im Weltkommunismus aufkommenden Schwierigkeiten kritisch zu analysieren — nicht ausgeschlossen solche, die in den Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten auftreten. Vorüber sei die Phase, da die Sowjetunion als Kern der Weltrevolution um jeden Preis — auch um den Preis kritikloser Zustimmung zu allen ihren Maßnahmen — habe verteidigt werden müssen. Heute sei es an der Zeit, sich auf die leninschen Prinzipien revolutionärer Kritik zu besinnen. Nachdrücklich forderte der Generalsekretär der KP Spaniens, Santiago Carrillo, der „kommunistischen Kritik und Selbstkritik" als „notwendigen Grundelementen unserer Bewegung" wieder Geltung zu verschaffen Niemand habe, so Longo, „die Wahrheit für sich gepachtet“ oder könne, wie es der rumänische Parteichef Ceaucescu ausdrückte, „Anspruch darauf erheben, den Zauberschlüssel zu dem Kästchen zu besitzen, das die Antworten auf alle Fragen enthält" Jeder Versuch, Differenzen „durch . Abweichungen'von der reinen Lehre zu erklären", führt nach Ansicht Berlinguers nur zu ihrer Verschärfung und versperrt „den Weg zum Verstehen der objektiven Ursachen und realen Interessen .. ., denen sie entspringen" Juan Diz, Mitglied des Exekutivkomitees der KP Spaniens, verunsicherte sogar die Leser der normalerweise höchst moskaukonform redigierten „Probleme des Friedens und des Sozialismus“ als er schrieb: „Aber der Marxismus-Leninismus als Wissenschaft besitzt keine . heilige Inquisition', die die . Reinheit'bestimmt . . . Das einzig wirkliche Kriterium für wissenschaftliche und revolutionäre marxistisch-leninistische Ideen ist die revolutionäre Praxis und die Vorwärts-entwicklung der Revolution . . . Wir haben das Beispiel Lenins vor Augen, der selbst in Augenblicken, die für den gerade entstandenen Sowjetstaat sehr gefährlich waren, kühn auf breite ideologische Diskussion ausging, die eine scharfe Kritik an bestimmten Aspekten der sozialistischen Wirklichkeit enthielten. Lenin war dabei überzeugt, daß diese Diskussionen zur Durchsetzung und Festigung des Sozialismus beitragen."
Die Autonomisten verlangen, daß die Differenzen ausdrücklich als natürliche Konsequenzen aus den Unterschieden zwischen den Einzel-parteien anerkannt werden. Dies sei kein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke der Bewegung. Den Traditionalisten werfen sie vor, eine derartige kritische Analyse im Weltkommunismus zu verhindern und den Parteisprechern statt dessen nur die Wahl zu lassen zwischen einer „rein formalen, diplomatischen Diskussion oder aber Beschimpfungen und gegenseitigen Exkommunizierungen" 4. Demokratisierung der Entscheidungsprozesse Hiermit sind bereits einige methodische Elemente angedeutet, durch die die Autonomisten versuchen wollen, zumindest sich selbst auf multilateraler Ebene einen Freiheitsraum zu sichern, wenn es schon nicht gelingt, die KPdSU für das Konzept einer neuen „Einheit in der Vielfalt" zu gewinnen. Diese eingeschränkte Zielsetzung hatte bemerkenswerte Teilerfolge zu verzeichnen: Nach Abschluß der Moskauer Weltkonferenz konnte man in der Tat „nur darüber staunen, wie viele der Ende 1967 von Longo vorgetragenen italienischen Forderungen ganz oder teilweise verwirklicht worden sind"
Das bezog sich zunächst auf die Forderung, den Debatten ein Höchstmaß an Publizität zu verleihen. Nur so könne, meinte Longo 1967, „die innere Dialektik der kommunistischen Weltbewegung zur Geltung und zur Wirkung" gebracht und „jede Stellungnahme dem Urteil der Bewegung selbst und der öffentlichen Meinung" unterworfen werden Noch präziser formulierte der damalige ZK-Sektionsleiter für Auslandsbeziehungen, Carlo Galluzzi: erst öffentliche Konfrontation der Standpunkte schaffe die Voraussetzungen, um „Deformationen und Manipulationen wirksamer zu bekämpfen" und „den echt demokratischen Charakter unserer Diskussion, die wirkliche Tragweite unserer Divergenzen und den unsere Bewegung beseelenden Geist und einheitlichen Willen besser in Erscheinung treten zu lassen"
In den Klartext übersetzt, hieß das zweierlei: Auf der einen Seite wollten die Autonomisten möglichen internen Pressions-und Verschleierungsversuchen des sowjetischen Lagers durch eine vorsorgliche Durchsetzung des Offentlichkeitsprinzips rechtzeitig vorbeugen; auf der anderen Seite erwarteten sie, daß eine Distanzierung von einigen ideologisch-politischen Vorstellungen Moskaus, aller Welt kundgetan, als demonstrativer Beweis der Eigenständigkeit nicht ohne Eindruck auf Wähler und innenpolitische Bündnispartner bleiben werde. Die Traditionalisten hatten sich seit Jahrzehnten — zuletzt während der Weltkonferenzen von 1957 und 1960 — so an den Stil licht-scheuer Geheimdiplomatie gewöhnt, daß es die Autonomisten nach eigenen Angaben harte Arbeit kostete, sie unter Hinweis auf die lenin-sehen Traditionen öffentlicher Auseinandersetzung zum Einlenken zu bewegen. Diesmal konnte die Öffentlichkeit die Debatten sozusagen live verfolgen: Jeder Delegation stand es frei, ihre Beiträge zu publizieren und Pressekonferenzen zu veranstalten.
Einen weiteren Erfolg sahen die Autonomisten darin, daß die Abschlußdokumente diesmal nicht, wie noch 1957 und 1960, auf geheimen Vorberatungen und ohne echte Konsultation der Bruderparteien im wesentlichen von der KPdSU (damals noch — mehr schlecht als recht — in Zusammenarbeit mit den Chinesen) verfaßt wurden: Diesmal konstituierte man ein mehrstufiges System von Redaktions-und Vorbereitungskomitees, die die Aufgabe hatten, gemeinsam mit den Zentralkomitees der Einzelparteien ein möglichst allseitig akzeptables Abschlußdokument auszuarbeiten. Sämtliche Parteien waren berechtigt, an den Sitzungen der Vorbereitungsgremien teilzunehmen und Vorschläge zu unterbreiten.
Weniger erfolgreich waren die Autonomisten in der Auseinandersetzung über zwei wichtige, eng verzahnte organisationspolitische Probleme: Einerseits über die schon von Togliatti aufgeworfene Grundsatzfrage, ob kommunistische Weltkonferenzen nicht überhaupt den Erfordernissen der Einzelparteien und der Gesamtbewegung eher schaden als nützen; andererseits über die engere Frage, ob solche Konferenzen — gesetzt den Fall, sie fänden als neue Organisationsformen des Weltkommunismus allgemeine Anerkennung — auch in Zukunft ideologisch-politische Abschlußdokumente ausarbeiten sollten, und wenn ja, welche Verbindlichkeit ihnen für die Politik der Einzelparteien beizumessen sei. In jedem Fall hätte ein sowjetischer Verzicht leicht als eine Grundsatzkonzession an die Konzeption der Autonomisten gedeutet werden können: Jedermann wußte, daß sich hinter diesen organisationspolitischen Kontroversen tiefe ideologische Divergenzen verbargen.
Aus dieser Erwägung heraus will der Traditionalistenflügel auch zukünftig nicht auf umfassende Kommunistenforen verzichten, wie sie, gleichsam als den aktuellen Bedingungen angepaßter Ersatz für die aufgelöste Internationale, in den Jahren 1957, 1960 und 1969 jeweils in Moskau zusammentraten. Auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU vom März/April 1971 sprach sich ihr Generalsekretär Breshnew dafür aus, solche internationale Treffen „fest in die Praxis der kommunistischen Weltbewegung eingehen" zu lassen — eine Formulie. rung übrigens, die der neue SED-Chef Honecker auf dem VIII. Kongreß seiner Partei vom Juni 1971 fast wörtlich übernahm
Gerade diese Kontinuitätsthese aber weckte den Argwohn der Autonomisten gegenüber derlei umfassenden Kommunistenkonferenzen Von vornherein suchten sie Tendenzen abzuwehren, die darauf hinauslaufen, anachronistische Leitungsorgane mit Richtlinienkompetenzen in neuem Gewände aufzupolieren -Richtlinien, die, wie die Erfahrungen von 1960 und 1969 zeigen, von den Traditionalisten einseitig ausgelegt und als Disziplinierungsinstrument benutzt werden können. Sie plädieren statt dessen, in Anlehnung an Togliattis Konzept von 1964, für zwanglose Ad-hoc-Konferenzen (auch auf regionaler Ebene) über Fragen der Theorie und Ideologie, der Außenpolitik und des antiimperialistischen Kampfes. Diese Vorschläge laufen letztlich darauf hinaus, umfassende Treffen ausschließlich zur Beratung gemeinsamer konkreter antiimperialistischer Aktionen einzuberufen und die tiefgreifenden ideologischen Divergenzen dadurch zu entschärfen, daß man sie bei multilateralen Kommunistenkonferenzen ausklammert und Spezialistenzirkeln überläßt.
Auf dem Moskauer Welttreffen von 1969 ließen schließlich beide Seiten von ihren Maximalforderungen ab. Die KPdSU verzichtete auf die Reaktivierung traditioneller Organisationsformen und Leitungsmethoden, wie sie einige moskautreue Delegationsleiter, sicher nicht ohne sowjetisches Zureden, noch einmal vorgeschlagen hatten. Ausdrücklich sprach sie sich (durch den Mund ihres Generalsekretärs Breshnew) für Regional-und Spezialkonferenzen mit eingegrenzter Thematik aus und willigte sogar ein, die Endfassung des Moskauer Hauptdokuments um den folgenden Passus zu ergänzen: „Heute, da in der kommunistischen Weltbewegung kein leitendes Zentrum besteht, nimmt insbesondere die Bedeutung der freiwilligen Koordinierung ihrer Aktionen im Interesse der erfolgreichen Lösung der vor ihnen stehenden Aufgaben zu."
Als Gegenleistung enthielten sich die Autonomisten jeglicher Polemik gegen mögliche weitere kommunistische Weltkonferenzen und stimmten der Formel des Schlußkommuniques zu, in der u. a. die „Durchführung — je nach Notwendigkeit — von internationalen Beratungen der kommunistischen und Arbeiterparteien" befürwortet wurde
Auch die Verabschiedung des Abschlußdokuments war für die Traditionalisten nur ein Teilgewinn. Zwar hatten sie ihr Konzept im Prinzip durchgesetzt: eine gewisse Kontinuität zu den Konferenzen von 1957 und 1960 zu wahren und sich damit für die Zukunft alle Möglichkeiten offenzuhalten. Gleichzeitig aber konnten die Autonomisten dieses Prinzip faktisch dadurch unterlaufen, daß der Traditionalistenflügel die Vorbedingung Longos hinnahm, wonach „es jeder Partei überlassen bleibt, eventuell kollektiv erarbeitete und gebilligte Beschlüsse nicht oder nur teilweise oder mit Vorbehalt zu akzeptieren, ohne daß dadurch die Beziehungen zwischen den einzelnen Parteien eine Veränderung erfahren."
In Moskau lehnten drei der 75 anwesenden Parteien eine Unterzeichnung des Abschlußdokuments überhaupt ab (die dominikanische sowie die ohnehin nur als Beobachter vertretene schwedische und kubanische KP). Vier weitere Parteien, die Australier, die Italiener sowie die Parteien von San Marino und Reunion, unterschrieben nur den Teil des Dokuments, der sich mit dem konkreten Programm des antiimperialistischen Kampfes befaßte.
Praktisch war damit die Frage, ob das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" Anwendung auch auf der Ebene multilateraler Kommunistenkonferenzen finden dürfe, zugunsten der Autonomisten entschieden worden.
Die sowjetischen Traditionalisten, die sich bei derartigen Beratungen noch immer auf eine zahlreiche Klientel zum Teil mikroskopisch kleiner Parteien stützen und den Rest der Teilnehmer majorisieren können, bejahen die Frage: es sei undemokratisch, wenn eine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwinge. Dementsprechend wurde über die endgültigen Formulierungen des Moskauer Abschlußdokuments durch Mehrheitsbeschluß entschieden, soweit man sich nicht in einem Kompromiß traf.
Die Autonomisten ihrerseits sahen in der Übertragung des Prinzips des „demokratischen Zentralismus" von der innerparteilichen Ebene auf die internationalen Beziehungen keineswegs nur eine Verfahrensfrage, sondern einen unzulässigen Eingriff in ihre autonome politische Entscheidungsbefugnis. In der Tat: Welchen Sinn sollten Abstimmungen über Probleme haben, die in der Diskussion kontrovers geblieben waren? Vielleicht auch erinnerten sich einige unter den Autonomisten an die heftigen Polemiken der Chinesen gegen die sowjetische Sicht der Frage Mehrheit-Minderheit Die KP Spaniens jedenfalls fühlte sich als „ein untrennbarer Bestandteil der kommunistischen Bewegung" und war „niemals dazu bereit, als Minderheit zu gelten" Noch klarer formulierte der britische KP-Chef John Gollan: „Wenn es bei einem Punkt eine Mehrheit gäbe, könnte die Minderheit nicht erwarten, daß diese Mehrheit ihren Standpunkt aufgibt. Genauso kann man nicht erwarten, daß die Minderheit ihren Standpunkt zugunsten der Mehrheit aufgibt. Deshalb ist die Zustimmung und nicht die Abstimmung die Methode, die wir gewählt haben.“
IV. Perspektiven und Prognosen
Angesichts der geschilderten Gegensätze der ideologischen, politischen und organisatorischen Konzeptionen soll nunmehr die eingangs gestellte Frage aufgegriffen werden, ob und inwieweit die kommunistische Weltbewegung, durch das Ausscheiden des prochinesischen und das Beiseitestehen der neutralistischen Parteien (beispielsweise der Niederlande, Islands, bis vor kurzem auch Japans) ohnehin geschwächt, in Zukunft zusammenarbeiten wird.
Wiederum waren es die Italiener, die als erste ein neues Rezept erdachten, um dem Weltkommunismus seine schon fast verlorene Schwungkraft zurückgaben: Sie schlugen vor, statt einer Neuauflage eines Kommunistentreffens lieber eine Weltkonferenz aller fortschrittlichen und antiimperialistischen Kräfte zu veranstalten. 1. Öffnung der kommunistischen Weltbewegung
Bei diesem Vorschlag gingen die Italiener von der Erkenntnis aus, daß einerseits ideologische Differenzen im „antiimperialistischen Kampf“ heute zunehmend an Gewicht verlieren, während sich andererseits nichtkommunistische Revolutionäre und Reformkräfte oftmals „durch autonome Prozesse ... außerhalb unserer Tradition und unseres direkten Einflusses" zum Sozialismus hin entwickeln Sie hielten daher eine künstliche Trennung der „antiimperialistischen Bewegung“ in einen inneren (kommunistische Parteien) und einen äußeren Kreis (nichtkommunistische Kräfte) für provinziell und schädlich: Die Grenzen des Sozialismus seien nicht mehr identisch mit denen der sozialistischen Länder. Der Weltkommunismus könne heute „nicht mehr als eine in sich geschlossene Bewegung angesehen werden, die sich nur auf die Verteidigung ihrer Eroberungen beschränkt . .., sondern sie muß sich bewußt sein, neue Aktionsräume und neue Grenzen vor sich zu haben, sie muß Anregungen aufnehmen, die von neuen Kräften in der ganzen Welt auf verschiedenen Wegen auf sie zukommen und die sich den Idealen des Sozialismus nähern. Dies ist der Weg, auf dem die kommunistische Bewegung ihre historische Mission erfüllen kann.“
Diese Anregung fand bei den Traditionalisten nur wenig Anklang: umfassende Bündnisse könne nur der schließen, der selber auf testen, prinzipiellen Grundlagen stehe Auch blieb ihnen nicht verborgen, daß die Autonomisten, wäre man auf ihren Vorschlag eingegangen, auf diesem Umweg die Beratung und Verabschiedung ideologisch-politischer Leitlinien vereitelt und ihr Ziel erreicht hätten, sich auf die Ausarbeitung konkreter antiimperialistischer Aktionsplattformen zu beschränken. Nicht zufällig sah sich Berlinguer in Moskau dem Vorwurf ausgesetzt, die IKP sei auf einen „prinzipienlosen Pragmatismus und Empirismus" abgeglitten und wolle „die Rolle der kommunistischen Parteien innerhalb der umfassenderen Bewegung der antiimperialistischen, demokratischen und friedliebenden Kräfte herabmindern oder aufheben".
Das ist sicher falsch, da die IKP wie auf nationaler, so auch auf internationaler Ebene nach wie vor der Gramsci-Formel von der Hegemo. niefunktion der Kommunisten Gültigkeit beimißt. Es spricht sogar einiges dafür, daß sich das italienische Konzept gegen die Bremsver. suche der Traditionalisten durchsetzt: Weniger wegen des Faktums, daß die Kommunistenkonferenz am Ende grundsätzlich für ein umfassendes antiimperialistisches Treffen votierte, als deshalb, weil die KPdSU die Maschinerie der Weltkonferenz überhaupt nur mit der eingeschränkten Zielsetzung der „antiimperialistischen Aktionseinheit" hatte ankurbeln können und nur dieser Punkt die nahezu einhellige Zustimmung der Teilnehmer fand.
2. Die Rolle der KPdSU Ungeachtet all der geschilderten tiefgreifenden Divergenzen jedoch würden der KPdSU in dieser um mancherlei nichtkommunistische Kräfte erweiterten „Einheit in der Vielfalt'nach Ansicht auch der Autonomisten nach wie vor Führungsaufgaben zufallen: aufgrund der politischen Macht und des überragenden wirtschaftlichen und militärischen Potentials der Sowjetunion, aber nicht zuletzt auch aufgrund der Vergangenheit der KPdSU als Keimzelle der Weltrevolution.
Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die KPdSU daraus nicht nur Rechte und Privilegien ableitet und die Haltung der Einzelparteien zum Kreml als Kriterium für die Treue zum Marxismus-Leninismus deklariert, sondern daß sie auch die aus dieser Sonderstellung erwachsenden Pflichten ernst nimmt und aufhört, in jedem Falle die sowjetische Staatsräson mit dem Interesse der Gesamtbewegung zu identifizieren (wie es ihnen beispielsweise die australischen Kommunisten offen vorwerfen).
Unter dieser Bedingung stimmen die Autonomisten Moskauer Auffassungen zu, wie sie ein sowjetischer Autor folgendermaßen umschrieb: „Die KPdSU vertrat auf der Moskauer Beratung ihren Standpunkt als eine Partei unter anderen Parteien, zugleich wurde sie aber auch wiederholt als die erste Partei unter gleichen — als Prismus inter pares — bezeichnet, da sie als der erfolgreiche Pionier des neuen gesellschaftlichen Systems und als regierende Partei einer Weltmacht größere Verpflichtungen und höhere Verantwortung trägt." Bislang jedoch machten der Kreml und seine Gefolgschaft faktisch noch keine Anstalten, sich mit dem von den Autonomisten vorgeschlagenen Modell der Zusammenarbeit im Weltkommunismus anzufreunden. Sie denunzieren im Gegenteil die Vorstellungen einer Autonomie und eines neuen Internationalismus auch weiterhin als opportunistisch, antisowjetisch und spalterisch. In diesem Sinne schrieb der Ostberliner Ideologe Harald Neu-bert vor kurzem in bewußter polemischer Umdeutung autonomistischer Konzeptionen, es gebe „unter-einigen Kommunisten Westeuropas auch Bestrebungen, ihren Kampf losgelöst von objektiv existierenden internationalen Faktoren zu führen. Mit Losungen von einer notwendigen . Autonomie', von der Über-windung der . Logik der Blöcke'usw. will man dem Zwang der Logik des internationalen Klassenkampfes zwischen dem sozialistischen und dem imperialistischen Weltsystem aus dem Wege gehen . . . Revisionistische Kräfte in der westeuropäischen Arbeiterbewegung verfolgen offen das Ziel, die Aktionen der Werktätigen in ihren Ländern vom Kampf der sozialistischen Staaten gegen den Imperialismus zu trennen ...
Die . Unabhängigkeit'einer revolutionären Bewegung oder Partei von den anderen revolutionären Kräften, das heißt, die . Autonomie'zu verwirklichen, bedeutet in erster Linie, sich selbst zu schaden, sich von den internationalen Bündniskräften, derer man bedarf, zu lösen und sich im nationalen Kampf gegen einen international organisierten Feind zu entwaffnen."
Die unterschiedlichen Vorstellungen sind deutlich: Der Autonomist Berlinguer machte auf der Moskauer Weltkonferenz keinen Hehl daraus, daß er die Ausformung unterschiedlicher Sozialismusmodelle in der internationalen kommunistischen Bewegung für notwendig und wünschenswert hält. Der weißrussische KP-Chef Masherow hingegen bezeichnete auf dem XXIV. KPdSU-Parteitag die Verfechter eines, wie er es nannte, „pluralistischen Marxismus" und einer „Vielfalt nationaler Modelle des Sozialismus" als ausgemachte Antikommunisten und Antisowjetisten — eine Etikettierung, die nach Ansicht der jugoslawischen Bruderpartei nicht nur auf die IKP zugeschnitten war, son-dem auf all jene westeuropäischen kommunistischen Parteien, die dem Kreml eine bedingungslose Gefolgschaftstreue verweigern 3. Erosion oder Transformation?
Angesichts dieser Divergenzen ist die im Westen oft gestellte Frage berechtigt, weshalb die Autonomisten überhaupt noch an ihren internationalen Bindungen festhalten, und ob sie nicht eines Tages aus dem — letztlich von der KPdSU organisierten — Parteiensystem ausbrechen werden.
Der zweite Teil der Frage ist eindeutig negativ zu beantworten, wie die Ausschlüsse derjenigen innerparteilichen Gruppierungen beweisen, die nach der ÖSSR-Intervention auf ein distanzierteres Verhältnis zur KPdSU oder gar einen Bruch mit ihr drängten: die Manifesto-Gruppe in Italien, Garaudy in Frankreich, die Fischer-Marek-Sympathisanten in Österreich und die Petkoff-Anhänger in Venezuela. In dieser kritischen Phase der kommunistischen Weltbewegung erwies sich, „daß man auf beiden Seiten realistisch genug war, die unmittelbare Konfrontation zu vermeiden, um dafür komplementäre, nicht unbedingt gegensätzliche Vorstellungen zu verwirklichen" ”).
Die KPdSU möchte auf die erweiterten politischen Möglichkeiten nicht verzichten, über die sie als Führungsmacht im Weltkommunismus verfügt. Auf der Seite der Autonomisten spricht ein ganzes Bündel innerparteilicher sowie innen-und außenpolitischer Gründe gegen einen formellen Bruch. Zunächst: Die KPdSU würde in einem solchen Falle kaum zögern, sich über die Köpfe der abtrünnigen Führung hinweg direkt an die Parteibasis und die mittleren Kader zu wenden, um die in diesen Kreisen noch stark ausgeprägten Bindungen an das Land und die Partei der Oktoberrevolution für sich zu mobilisieren und notfalls die Partei zu spalten. In Finnland, Italien und jüngst auch in Spanien war eine solche Taktik in Ansätzen zu beobachten. Weiterhin fürchten die Autonomisten, im Falle eines Bruchs mit sozialdemokratischen Reformparteien verwechselt und links überholt zu werden. * Schließlich spricht gegen einen Bruch die Tatsache, daß die Sowjetunion nach wie vor Symbol einer gemeinsamen revolutionären Vision ist und zudem seit Jahren die größten materiellen Mittel für die Unterstützung revolutionärer Bewegungen zur Verfügung gestellt hat: in Vietam, Kuba und anderen Teilen der Dritten Welt.
V. Die konkreten Aktionsformen
Aus all diesen Gründen haben Togliatti und Longa nie gezögert, den Fliehkräften in der kommunistischen Weltbewegung energisch entgegenzutreten. Auch Berlinguer wiederholte in Moskau, daß die IKP innenpolitische Bündnisse nicht zu Lasten der internationlistisehen Solidarität schließen werde. Entscheidend sei nicht die Frage der Zugehörigkeit zur kommunistischen Weltbewegung — sie stehe außer Diskussion —, ausschlaggebend sei vielmehr, , wie wir an ihr teilnehmen"
Aus dieser Sicht hielten die Autonomisten eine Politik des passiven Beiseitestehens oder gar eines Bruchs mit den im Prinzip prosowjetischen Parteien für wenig nützlich. Sie entschlossen sich vielmehr, durch ihre Politik der kritischen Präsenz den Prozeß der Erneuerung anzuspornen, um das Parteiensystem nach ihren eigenen Vorstellungen zu verändern: Sie wollen die Transformation beschleunigen, um die Erosion zu verhindern.
Sieht man einmal ab von kommunistischen Heerschauen nach Art der Leninfeier vom April 1970 sowie dem XXIV. KPdSU-Parteitag vom März/April 1971, die nach dem Eingeständnis selbst eines relativ moskautreuen Kommunistenführers wie Georges Marchais (Stellvertretender FKP-Chef) Grußadressen, nicht aber kritische Diskussionsbeiträge entgegennehmen sollen —; sieht man ab von derlei rituellen und sterilen, propagandistischen Massentreffen kommunistischer Parteien, so konzentriert sidi das Interesse jn dieser Transformationsphase auf die Vielfalt der theoretischen und regionalen Kommunisten-konferenzen, die seit dem Juni 1969 veranstaltet wurden.
Faßt man dabei die Entwicklung zwischen dem zweiten und dritten Gipfeltreffen von 1960 bis 1969 ins Auge, so überraschen diese Spezial-konferenzen weniger durch ihre neuen Formen oder neuen Inhalte: Schon damals zeichnete sich eine regionale Differenzierung im Weltkommunismus ab, und hin und wieder gab es auch Theorie-Debatten (veranstaltet vor allem von der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus"). Auffallend ist vielmehr die zunehmende Häufung dieser Konferenzen: Bisweilen tagten sie im Abstand von nur wenigen Wochen.
Es ist schwer zu sagen, wer sich am entschiedensten als Konferenzpromotor engagierte, Wahrscheinlich entfalteten Autonomisten und Traditionalisten in etwa ein gleiches Maß an Initiative, rechnet man sämtliche Begegnungen zusammen.
Im einzelnen aber deuten Anzeichen darauf hin, daß die Autonomisten den Schwerpunkt eher auf die Regionalkonferenzen legten. Die Traditionalisten hingegen forcierten im allgemeinen die theoretisch-ideologische Debatte — ein Trend, der sich bereits mit der Verschärfung des ideologischen Kampfes seit 1968/69 (vgl. das Plenum des ZK der KPdSU vom April 1968) abgezeichnet hatte. In seinem Beschluß über die Ergebnisse der Weltkonferenz ging das ZK der KPdSU nur flüchtig auf die „allseitige Erweiterung der Verbindungen und Kontakte zwischen Bruderparteien" ein, widmete dafür aber der Notwendigkeit „häufiger internationaler theoretischer Konferenzen und Seminare" gleich einen ganzen Absatz 1. Theoretische Konferenzen Ihren Beiträgen nach zu urteilen sah die KPdSU in den theoretischen Konferenzen ein geeignetes Mittel, den in Theorie und Praxis sich ausweitenden „Revisionismus" linker (China) und rechter (Tschechoslowakei, Italien) Observanz unter Kontrolle zu bringen, die Verbindlichkeit der sowjetischen Marxismus-Leninismus-Interpretation zu unterstreichen sowie die „richtige" Verbindung der nationalen und internationalen Momente zu verdeutlichen.
Soweit erkennbar, fand keine einzige dieser Konferenzen ohne Sowjetvertreter statt: Zu groß ist das Mißtrauen des Kreml gegenüber den wachsenden Tendenzen im Weltkommunismus, eine „schöpferische Weiterentwicklung" des Marxismus-Leninismus ohne oder gar gegen die KPdSU-Orthodoxie vorzunehmen. Tatsächlich war dem Kreml weniger an einer echten wissenschaftlichen Diskussion gelegen als an einer ideologischen Disziplinierung: Ein solcher Schluß drängt sich, von den Konferenzbeiträgen einmal ganz abgesehen, schon deshalb auf, weil die KPdSU auf den meisten Beratungen eine dominierende Rolle spielte und zumindest zu den wichtigsten Treffen nicht qualifizierte Theoretiker delegierte, sondern den für die Beziehungen zu den nicht-regierenden kommunistischen Parteien zuständigen ZK-Sekretär Boris Ponomarjow, der seine Karriere im Komintern-Apparat begonnen und dort bereits wichtige Funktionen bekleidet hatte. Allem Anschein nach war Ponomarjow überhaupt mit der Planung und der Koordinierung der Theoriekonferenzen betraut — eine Aufgabe, für die er als Vorsitzender der hinter den Kulissen der Weltkonferenz von 1969 Regie führenden Redaktionskommission die besten Voraussetzungen mit-brachte.
Bei näherem Zusehen zeigt sich aber noch eine weitere wichtige Änderung der sowjetischen Stoßrichtung auf dem Gebiete der Theorie. Bis zum Jahre 1969 hatte sich die Polemik des Traditionalistenflügels primär gegen die maoistische Ideologie gerichtet; die Moskauer Konferenz bildete einen gewissen Höhepunkt in der ideologischen Auseinandersetzung mit China. Diese Polemik trat jetzt in den Hintergrund, wie die Ansprache Breshnews auf dem XXIV. KPdSU-Parteitag sowie die Grußadressen der normalerweise antimaoistisch eingestellten Parteien jüngst im allgemeinen unterstrichen: Die kommunistische Weltbewegung hatte sich im wesentlichen immun gezeigt gegenüber dem linken Pekinger Bazillus. Keineswegs unempfindlich aber erwies sie sich gegenüber dem rechten, tschechoslowakisch-italienischen Virus, der seine zersetzende Wirkung nach der Intervention in der CSSR voll entfaltet und die kommunistische Weltbewegung in einen schlimmeren Fieberzustand versetzt hatte als vorher der Moskau-Peking-Konflikt. Die Konferenzserie über Probleme der führenden Rolle der Partei sowie über die Gefahren des Sozialdemokratismus im besonderen und des Nationalismus und Revisionismus im allgemeinen unterstreicht, daß die Sowjets die Theoriediskussionen jetzt in erster Linie als Plattform des Kampfes gegen rechtsrevisionistische Abweichungen ansahen, wie sie beispielsweise Roger Garaudy in Frankreich, Ernst Fischer in Österreich und jüngst Teodoro Petkoff in Venezuela vertraten. Die Tatsache, daß die KPdSU in einigen dieser Fälle ihre Kampagne bereits vor dem offiziellen Parteiausschluß der Häretiker startete, deutet auf ein großes Interesse, den von ihr als stark eingeschätzten Einfluß dieser Gruppe auf die Meinungsbildung innerhalb des Weltkommunismus frühzeitig einzudämmen.
In diesem Rahmen hatten die Theoriekonferenzen nicht nur die Aufgabe, das sowjetische Vorgehen gleichsam kollektiv zu legitimieren und zu sanktionieren: Sie sollten darüber hinaus die westlichen Bruderparteien vor der Gefahr allzu weitgehender ideologischer und politischer Konzessionen an die potentiellen Bündnis-und Regierungspartner auf Kosten der (einseitig interpretierten) Prinzipien des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus warnen und die Grenzen sowjetischer Toleranz gegenüber kritischen Anmerkungen der Bruderparteien abstecken.
Eine geschickte Konferenzregie sorgte dafür, daß die daheim einflußlose, in ideologischen und politischen Fragen aber sowjetkonforme KP der USA als Kronzeugin einer korrekten politischen Strategie in den kapitalistischen Ländern häufig zu Worte kam, mitunter sogar mit einem einleitenden Hauptreferat.
Aus dem gleichen Grunde dürfte die KPdSU für eine beschleunigte Zulassung der DKP zu internationalen Kommunistenkonferenzen plädiert haben, die ihr — im Unterschied zur KPD und SEW — für das Moskauer Welttreffen noch verweigert worden war. Die DKP bedankte sich für diese Hilfe durch intensive Beteiligung im Sinne der sowjetischen Konzeption. Sicher nicht zufällig spielten auch die französischen Kommunisten auf all diesen Konferenzen eine herausgehobene Rolle. Ihr Konzept entspricht genau den sowjetischen Vorstellungen: den Dialog mit der nichtkommunistischen Linken zu verbinden mit einer maximalen Wahrung der eigenen ideologischen, politischen und organisatorischen Identität; den Bindungen an die KPdSU jedenfalls insoweit Priorität vor der eigenen Autonomie einzuräumen, als ihre Volksfrontstrategie nicht unmittelbar berührt wird.
Schließlich fällt auf, daß sich die SED mit einer Reihe von theoretischen Beiträgen zu profilieren suchte — auch dies sicher nicht ohne sowjetische Zustimmung: Wer hätte überzeugender den Beweis dafür antreten können, daß sich eine Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution und ein hohes, stabiles Wirtschaftswachstum verbinden ließ mit einer modifizierten zentralen Planwirtschaft sowie mit der Beibehaltung der führenden Rolle der Partei auch auf dem Wirtschaftssektor (daß beides also nicht etwa neue Formen einer sozialistischen Marktwirtschaft oder gar ein System der Arbeiterselbstverwaltung mit allen darin liegenden Gefahren revisionistischer Abweichungen erforderte)? Wer hätte eindrucksvoller gegen die Pluralismus-konzepte der IKP und der KP (während der Dubcek-Ära) polemisieren können als die SED, die schließlich auf die Erfahrungen einer über 20jährigen „Bündnispolitik" verweisen konnte? Als lebender Beweis für die Richtigkeit ihrer Thesen ließ die SED auf einem der Kolloquien sogar die Vorsitzenden der vier bürgerlichen Blockparteien LDPD, DBP, CDU und NDPD aufmarschieren und referieren — ein Unikum zumindest im Rahmen der hier untersuchten Konferenzserie.
Im Ganzen gesehen dürfte jedoch keine Seite mit dem bisherigen Ergebnis der theoretischen Konferenzen zufrieden sein, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Traditionalisten und Autonomisten mit völlig unterschiedlichen Zielsetzungen an sie herangegangen waren und dahermeist aneinander vorbeiredeten.
Auf der einen Seite versagten die Treffen als ideologisches Disziplinierungsinstrument; sie konnten ein weiteres Ausgreifen unorthodoxer und kritischer Vorstellungen im Weltkommunismus nicht verhindern, wie es der sowjetisch geführte Traditionalistenflügel erhofft hatte.
Andererseits waren die Autonomisten nicht in der Lage, sie zur Plattform einer offenen, kritischen Konfrontation der Ideen zu machen. Sie mußten zufrieden sein, einen ersten Schritt in Richtung ihres Zieles getan zu haben, die kaum lösbaren Divergenzen von den Weltkonferenzen in die Spezialistenzirkel abzuschieben (und sie damit gleichsam zu entschärfen). 2. Regionalkonferenzen Wesentlich fruchtbarer als die ideologisch-theoretischen Kongresse waren die Regional-konferenzen. Auch hier suchte sich die KPdSU intensiv einzuschalten. In gewissem Umfang verstand sie es sogar, aus der Not der Auffächerung des Weltkommunismus eine Tugend zu machen und die neuen Organisationsformen zu eigenem Vorteil zu nutzen. Nach den positiven Erfahrungen der Karlsbader Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien über Sicherheitsprobleme vom April 1967 trommelte sie im Januar und im Oktober 1970 ihre europäischen Bruderparteien erneut zur Beratung der gleichen Thematik zusammen, diesmal nach Moskau. Im Gegensatz zu Karlsbad wurde jedoch über beide Treffen eine strikte Publikationssperre verhängt.
Immerhin sind wir durch Indiskretionen der jugoslawischen Kommunisten, die seit den Nahost-Konferenzen von Moskau und Budapest (9. Juni bzw. 11. /12. Juli 1967) erstmals wieder an einem multilateralen Kommunisten-treffen teilnahmen, über Ziele und Ergebnisse wenigstens der ersten Begegnung relativ gut informiert. Danach sollten über die Sicherheitsprobleme hinaus Fragen der europäischen Zusammenarbeit sowie „der Gedanke der Ab-haltung eines umfassenden Kongressens der Völker Europas" erörtert werden — eines Kongresses übrigens, der zuletzt von der Moskauer Weltkonferenz vorgeschlagen wurde und der „die Einberufung einer europäischen Staatenkonferenz vorbereiten und erleichtern'sollte. Allem Anschein nach setzte die KPdSU jetzt den Hebel der Regionalkonferenz an, um das Projekt des europäischen Völkerkongresses zu forcieren.
Stellvertretend für die anderen Autonomisten, deren Vorstellungen sich von denen der Jugoslawen kaum unterscheiden, machte der Vertreter Belgrads eine Reihe kritischer Anmerkungen zu der sowjetischen Sicherheitskonzeption sowie zur mangelnden Bereitschaft Moskaus, den europäischen Völkerkongreß demokratisch vorzubereiten und die gleichberechtigte Mitwirkung aller progressiven Parteien und Bewegungen Europas zu garantieren
Mit dieser — wenn auch diplomatisch verpackten — antitraditionalistischen Philippika gaben die Jugoslawen nicht nur den europa-politischen Konzeptionen Moskaus einen anderen Sinn: Sie führten darüber hinaus aller Welt vor Augen, daß die sowjetischen Vorstellungen von der Funktion kommunistischer Regionalkonferenzen noch keineswegs mit denen der Autonomisten übereinstimmen, weder was die Form noch was den Inhalt dieser Treffen angeht. Wesentlich mehr wissen wir über die regionalen Kommunistentreffen, die in den verschiedenen Teilen der Welt von nichtregierenden kommunistischen Parteien veranstaltet wurden: kurzfristig einberufene Begegnungen zur Beratung konkreter Tagesfragen oder gut vorbereitete Konferenzen zur Ausarbeitung gemeinsamer langfristiger politischer Strategien. Ein gutes Beispiel für den ersten Fall ist das Indochina-Treffen 15 westeuropäischer kommunistischer Parteien vom 15. 5. 1970 anläßlich der US-Intervention in Kambodscha. Kurzfristig beriefen die italienischen und französischen Kommunisten eine Gipfelkonferenz nach Paris ein, um gemeinsam mit ihren benachbarten nichtregierenden Bruderparteien zu Massenaktionen gegen die Erweiterung des Indochinakrieges aufzurufen und einen entsprechenden Druck auf die Regierungen ihrer Länder auszuüben. Auf italienischen Vorschlag wurde beschlossen, in allen Ländern gleichzeitig große Indochina-Meetings unter Teilnahme ausländischer Redner zu veranstalten und damit zur politischen Isolierung der Nixon-Regierung beizutragen — ein Plan, der schon im Juni 1970 mit internationalen Großveranstaltungen in Paris, Neapel, Hamburg und anderen Städten Westeuropas verwirklicht wurde.
Mit berechtigtem Stolz konnte das für die Organisation der Pariser Maikonferenz verantwortliche FKP-Politbüromitglied Raymond Guyot darauf verweisen, „daß die (kommunistischen) Parteien der kapitalistischen Länder Europas ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben, so rasch und gemeinsam auf eine ernste Situation“ zu reagieren
Unter diesem Gesichtswinkel ist nicht auszuschließen, daß die westeuropäischen Parteien mit ihrer Indochina-Initiative eine zusätzliche Nebenabsicht verfolgten: der KPdSU gewisse Mitbestimmungsrechte abzuringen durch den Beweis, daß man zu raschen, wirkungsvollen und verantwortungsbewußten Gemeinschaftsaktionen bereit und fähig ist.
Längerfristig angelegt waren die Strategiediskussionen der westeuropäischen kommunistischen Parteien. Im Vordergrund standen dabei die Einschätzung der EWG sowie, angesichts der zunehmenden multinationalen Firmenzusammenschlüsse, Möglichkeiten gemeinsamer übernationaler politischer und gewerkschaftlicher Gegenmaßnahmen. Nirgends wurden Vorteil und Notwendigkeit regionaler Beratungen so deutlich sichtbar wie hier: Die Parteien konnten ihre spezifischen Probleme offen diskutieren, frei von möglicher — ideologisch oder machtpolitisch motivierter — außerregionaler Einflußnahme.
In diesem Sinne war die Londoner Konferenz zum Thema „Der Kampf der Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder Europas angesichts der Entwicklung der multinationalen Gesellschaften" vom Januar 1970 zwar nicht die erste Westeuropakonferenz überhaupt, wohl aber die erste Begegnung, die konkreten wirtschaftspolitischen Fragen gewidmet war. Von einem am 21. 9. 1970 gleichfalls in London tagenden 9-Parteien-Treffen in enger Zusammenarbeit mit den Zentralkomitees gründlich vorbereitet, vereinte die Konferenz hohe Parteifunktionäre und Wirtschaftsspezialisten 15 westeuropäischer kommunistischer Parteien. Ohne auf die Diskussionen, aus deren Inhalt kein Geheimnis gemacht wurde, im einzelnen einzugehen kann als Gesamteindruck festgehalten werden, daß es in London zu einem echten Meinungs-und Erfahrungsaustausch kam, der auf die Strategie und Taktik der Einzelparteien nicht ohne Einfluß bleiben dürfte. Auf der Basis eines reichhaltigen Dokumentationsmaterials, das unter Mitarbeit aller interessierten Parteien schon vor Konferenzbeginn zusammengestellt worden war, erhielt das Treffen nach Aussage eines französischen Teilnehmers über eine Lagebeschreibung hinaus echt analytischen Charakter. Wenn man sich dabei nicht scheute, auch die bestehenden Divergenzen offen auszusprechen, so entspricht das durchaus den Vorstellungen der (überwiegend autonomistisch gesinnten) Teilnehmerparteien. Die Analyse der unterschiedlichen Formen multilateraler Zusammenarbeit seit der Moskauer Kommunistenkonferenz von 1969 zeigt, daß die Institution der Regional-und Spezial-konferenzen, der wachsenden Vielgestaltigkeit des Weltkommunismus entsprechend, mittlerweile quantitativ noch weiter ausgebaut worden ist und zum Teil qualitativ neue Züge angenommen hat. Die KPdSU hat sich, so scheint es, nach anfänglichem Zögern zu einer Änderung ihrer Taktik entschlossen: Statt zu bremsen, sucht sie sich aktiv in den Prozeß der Regionalisierung und Spezialisierung einzuschalten, die neuen Formen für die eigenen politischen Interessen nutzbar zu machen und die von den Autonomisten forcierte Entwicklung in Richtung einer „neuen Einheit" im Weltkommunismus zu kanalisieren.
All dies gelang dem Kreml weitgehend auf dem Gebiete der Theoriekonferenzen, an die die Autonomisten kurzfristig ohnehin keine großen Erwartungen geknüpft hatten.
Weniger einfach hatte es die KPdSU schon auf den von ihr inspizierten Regionalkonferenzen zu aktuellen Fragen der Außenpolitik und des antiimperialistischen Kampfes. Unseren spärlichen Kenntnissen nach zu urteilen hatten sich die Sowjets hier mit kritischen Diskussionspartnern, womöglich sogar mit einer geschlossenen Oppositionsfront der Autonomisten auseinanderzusetzen. Auch bei Regionaltreffen steht der Kreml jetzt vor der Alternative, entweder breit angelegte Begegnungen zu arrangieren (auf denen dann ideologische und politische Kompromisse unumgänglich sind), oder die eigenen ideologischen und politischen Ziele um jeden Preis zu verfolgen (und damit den Teilnehmerkreis auf die engere Gefolgschaft zu beschränken).
Am interessantesten aber sind zweifellos die westeuropäischen Regionalkonferenzen. Sie sind sicher weniger Vorformen eines westkommunistischen Parteien-Sonderbundes, wie bisweilen im Westen vermutet wird: primär werden sie von den Autonomisten gegenwärtig eher, was ihren Arbeitsstil und ihre inhaltlichen Aussagen angeht, beinahe demonstrativ als Vorbild für die Zusammenarbeit und die „neue Einheit" im internationalen Kommunismus angesehen.
Damit könnte sich in ihnen auf lange Sicht die Hoffnung des österreichischen Marxisten Franz Marek erfüllen, daß Konferenzen der westeuropäischen kommunistischen Parteien als ständige Einrichtung bedeutsamen Einfluß auf die Entscheidungen in der kommunistischen Weltbewegung gewinnen
VI. Ausblick
Die „Krise des Internationalismus" (Berlinguer) dürfte so lange andauern, wie die KPdSU daran festhält, ihre Interpretation des Marxismus-Leninismus sowie ihr Sozialismusmodell als letzte und allgemeingültige Wahrheit zu propagieren — und dies in einer Phase, in der die Italiener nicht nur unterschiedliche Aktionsrezepte im Weltkommunismus für selbstverständlich halten, sondern darüber hinaus sogar einen Pluralismus des „sozialistischen Denkens" propagieren, wie es Berlinguer jüngst in seiner Rede vor dem XXIV. KPdSU-Parteitag tat
Das Status quo-Denken der KPdSU erklärt sich natürlich vor allem aus ihrem Bestreben, nicht das Instrument aus der Hand zu geben, das es ihr ermöglicht, auch weiterhin in Angelegenheiten der Bruderparteien einzugreifen und diese Parteien der sowjetischen Staatsräson dienstbar zu machen. Auch fürchtet sie nicht zu Unrecht, daß die Vorstellungen der Autonomisten, sobald sie erst einmal im Rahmen des Weltkommunismus akzeptiert worden wären, gleichsam von der Peripherie her die Sowjetunion selbst erobern und die Köpfe ihrer Bürger verwirren könnten.
Man sollte aber auch bedenken, daß die KPdSU von anderen Voraussetzungen ausgeht als viele ihrer „Bruderparteien“, die — jedenfalls soweit sie im kapitalistischen Westen operieren — zu ständiger rationaler politischer Auseinandersetzung sowie zum Denken in Kategorien des Pluralismus gezwungen sind. Die KPdSU hingegen hat (ob auf innerparteilicher, innenpolitischer oder weltkommunistischer Ebene) nie gelernt, mit Konflikten zu leben und sich rational mit ihnen auseinanderzusetzen. Immer nur gab es Freunde und Feinde, gab es das berühmte „wer—wen", gab es „gesunde" und „kranke" Kräfte.
Wahrscheinlich wird die KPdSU auch zukünftig pragmatisch vorgehen und sich in Organisations-und Formfragen zu unumgänglichen Konzessionen entschließen. Inhaltlich aber ist von ihr in absehbarer Zeit kein Einlenken zu erwarten. Nur in einem sehr langfristigen Prozeß — wenn überhaupt — könnten daher die unterschiedlichen Modellvarianten einer Einheit und Zusammenarbeit im Weltkommunismus harmonisiert werden.
Heinz Timmermann, geb. 26. 10. 1938, Studium von Geschichte, Politik und Latein in Marburg, Göttingen und Berlin. Seit 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Spezialgebiete: Kommunistisches Parteiensystem sowie Strategie und Taktik der Linken in Westeuropa (vor allem Italien und Frankreich). Aufsätze zu diesen Themen in Zeitungen und wiss. Zeitschriften, u. a. in: Osteuropa, Europa Archiv, Politische Studien; Rundfunk-manuskripte.