Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der schwierige Konservatismus | APuZ 49/1971 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 49/1971 Artikel 1 Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart Der schwierige Konservatismus

Der schwierige Konservatismus

Gerd-Klaus Kaltenbrunner

/ 52 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag skizziert im ersten Teil die Faktoren, die dazu geführt haben, daß der Begriff des Konservativen heute vor allem im deutschen Sprachraum weitgehend belastet ist. Es folgt eine kritische Übersicht der wichtigsten Konservatismus-Definitionen, die sich in zwei große Gruppen gliedern: Konservatismus als historische Reaktion auf die Französische Revolution und Konservatismus als zeitlos gültiges System universaler Werte. Im dritten Teil wird Konservatismus neu bestimmt als eine in gesellschaftlichen Kreisen immer wiederkehrende Möglichkeit ethisch-politisch-intellektuellen Engagements. An Sätzen von Burke, Eichendorff, Baader und Gentz wird im vierten Teil der transzendentalsoziologische Gehalt sowie der anthropologische Bezug konservativen Denkens herausgearbeitet. Den Schluß bilden Gedanken über die Chancen eines — auch über sich selbst — aufgeklärten Konservatismus in der technologisch-wissenschaftlichen Gesellschaft des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts.

I. Das Credo von der „konservativen Verkehrtheit"

Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit um-geschrieben werden müsse, darüber besteht spätestens seit Goethes Tagen kein Zweifel mehr. Eine solche Notwendigkeit gilt in vielleicht noch größerem Ausmaße für die Geschichte der politischen Ideen, und zwar nicht so sehr deshalb, weil laufend völlig neue Tatsachen entdeckt werden, sondern weil jene, die das fragwürdige Glück haben, Genossen späterer Zeiten zu sein, jeweils auf Standpunkten sich vorfinden, von welchen aus das Vergangene auf neue Weise sich überschauen und deuten läßt, weil der Strom der Geschichte selbst immer wieder unerwartete Windungen macht und den Blick auf vordem verborgene Landschaften freigibt. So konnte beispielsweise die deutsche Romantik, entsprechend dem geschichtlichen Ort, von dem aus man sie betrachtete, als Anbruch einer verjüngten Menschheit, danach als Begleitmusik reaktionärer Verfinsterung, schließlich als Antizipation moderner Entwicklungen in Ästhetik, Literatur, Psychologie, Geschichtsund Symbolforschung betrachtet werden. Solche Neubestimmungen und Umwertungen von Werken einzelner Denker und Künstler, aber auch ganzer Epochen, Stile und Geistesbewegungen setzen allemal geschichtlich vermittelte Mutationen in den Perspektiven, Maßstäben und Interessen einer bestimmten Generation voraus, insbesondere bei jenen Gruppen, die aufgrund von Begabung, Beruf oder Geschäft den öffentlichen Geist ihrer Zeit formulieren. Einzelne können dazu wohl Anstoß und Signale geben, doch ob ihnen ein Umschwung im Urteil eines mehr oder minder breiten Milieus gelingt, das, was Hegel die Revolutionierung des Reiches der Vorstellung nennt, ist letzten Endes von den wechselnden Ansprüchen und Nöten der Wirklichkeit ebenso abhängig wie von den damit korrespondierenden Wandlungen in jenen mentalen Tiefenschichten, die inappellabel bestimmen, welche Aspekte, Qualitäten und Strukturen der Welt einer Verfassung des Lebens bevorzugt zugänglich sind, wo ihre großen Prämissen, Plausibilitäten und prejudices im Sinne Burkes liegen

Wenn etwa Begriffe wie Utopie, Revolution und Planung in den letzten zehn Jahren neu definiert und zunehmend mit positivem Wert-akzent versehen worden sind, so handelt es sich hier ebensowenig um eine bloße modische Oberflächenerscheinung wie bei der zunehmenden Abwertung nicht nur des Wortes, sondern auch der Sache Konservatismus und damit zusammenhängender Wirklichkeiten wie Autorität und Tradition. Es ist wohl auch kein Zufall, wenn in einem großen, vorwiegend von jüngeren Wissenschaftlern verfaßten politologischen Lexikon das Stichwort „Konservatismus" fehlt, während die Begriffe Kommunismus, Liberalismus, Marxismus, Sozialismus ausführlich traktiert werden. überhaupt hat man es mit den Exorzisten sämtlicher Windrichtungen und Fakultäten zu tun, wenn man dem Konservatismus die Ehre gibt, die ihm, so könnte man denken, in einer Zeit rasanten Wandels und permanenter Liquidierungen auf allen Gebieten mehr denn je gebührt. Das Credo von der „konservativen Verkehrtheit" scheint geradezu ökumenische Geltung zu besitzen: eine konservative Haltung in Politik, Gesellschaft und Kultur wird in breitesten Kreisen als irrelevant, wenn nicht gar als pervers eingeschätzt, gesellschaftlich als Sabotage auf der Fahrt in eine heilere Zukunft, individuell als ein extremer Fall von Pathologie, von moral insanity.

Mit einer Mischung von Scham, Widerwillen und Gereiztheit reagiert man auf dieses lästige Phänomen, und so nimmt es nicht wunder, daß konservativ heute durchweg ein Synonym für reaktionär, restaurativ, indolent, repressiv, autoritär, antidemokratisch, rechtsradikal oder faschistisch ist. Der Konservative gilt als Verkörperung des Ewig-Gestrigen, als Sand im Getriebe des Fortschritts; ihm haftet der Ruf an, für eine geschichtlich überholte, wenn nicht gar endgültig verlorene Sache zu plädieren und soziale Errungenschaften abbauen zu wollen. Wer heute eine pragmatische, maßvolle und distanzierte Meinung äußere, werde automatisch als „Konservativer" geschmäht, hat aufgrund eigener Erfahrungen mit politischen Gegnern der niederländische Außenminister Joseph Maria Luns festgestellt Bis weit in liberale und christliche Kreise hinein werden Kommunisten als willkommene Partner des „Dialogs" angesehen, nicht aber Konservative, denen gegenüber die üblichen Gesetze urbanen Gesprächs aufgehoben sind.

Eine konservative Zielsetzung, so heißt es, sei „mit einer rationalen Einsicht in den Geschichtsprozeß nicht in Einklang zu bringen", da wir „in der Zeit leben, das heißt in einem stetigen Strom von Veränderungen"; daher sei der Konservative „notwendigerweise irrational“: er „führt Analysen nicht radikal zu Ende, fragt nicht nach der Legimität von Voraussetzungen; weil er seine Argumentation vorschnell beenden muß, ist seine ultima ratio die Gewalt, die Diktatur" Ein anderer renommierter Autor formuliert ähnlich: „Ginge es nach den Konservativen, so steckten wir noch im Mittelalter oder auch im Altertum und hätten die Sklaverei und die Leibeigenschaft ebenso . bewahrt'wie die Folter oder die Todesstrafe, wie den Krieg und eigentlich auch den Kannibalismus, dessen Verschwinden der ganz konsequente Konservative schon als Zeichen der Dekadenz, Verweichlichung, Humanitätsduselei bedauern müßte." Auch Bundeskanzler Brandt verwendete in seiner Haushaltsrede vom Februar 1971 dreimal das Wort „konservativ“ in einem abschätzigen Sinne, ehe er sich nach empörten Zwischenrufen der christlich-demokratischen Opposition dazu bereit fand zu erklären, konservativ sei kein Schimpfwort, sondern eine ehrenwerte politische Richtung, die in manchen historischen Situationen ein nötiges Gegengewicht gebildet habe. Doch auch der Tenor dieser Ehrenerklärung war: Die Konservativen hatten einmal eine Funktion, heute ist ihre Existenzberechtigung dahin

Wie sehr konservativ als polemische Kategorie verstanden wird, beweist der Sprachgebrauch reformkommunistischer und linkssozialistischer Kreise, die stalinistische Parteibürokraten gerne als „Konservative" bezeichnen. Breschnew, Ulbricht, Nowotny, Molotow und andere galten und gelten in diesem Sinne als Konservative, die ihrerseits regelmäßig die „rechten Abweichungen" gegnerischer Fraktionen denunzieren. „It can never be repeated too offen that the political structure and the ideology of the USSR are sick with conservatism and sclerosis", schrieb 1968 Michael Tatu Konservatismus ist hier und in ähnlichen Aussagen vollends gleichbedeutend mit Immobilismus, Stagnation, sturer status-quo-Mentalität. Selbst im traditionellen Wortverstand ausgesprochen konservative Parteien und Bewegungen haben eine Scheu, sich offen als solche zu bekennen. Es ist symptomatisch, daß die schweizer Katholisch-Konservativen seit Anfang 1971 als Christlichdemokratische Volkspartei firmieren und daß vor allem englische Konservative über den Mangel an wirksamer Zusammenarbeit mit kontinentalen Gesinnungsgenossen klagen, da diese sich scheuen, offen eine konservative Position zu beziehen.

Unter diesen Verhältnissen bleibt die Beschäftigung mit konservativem Denken und konservativer Politik entweder auf dessen Verächter oder auf quacksalberische Sektierer traditionalistischer und sozialromantischer Observanz beschränkt, wenn sie nicht, wie wenigstens bis vor kurzem, von der Caritas klerikaler Kreise alimentiert wird.

Mannigfache geistesgeschichtliche, politische und soziale Faktoren haben dazu geführt, daß der Begriff des Konservativen vor allem im deutschen Sprachraum stark belastet ist.

Seit Marx kann die Weltgeschichte als ein sich in Klassenkämpfen und Revolutionen vollziehender Prozeß betrachtet werden in einer solchen Vision kann der Konservative nur als Bremsklotz, als Statthalter des Trägheitsgesetzes in der gesellschaftlichen Entwicklung, als Negation alles Vorwärts-und Aufwärts-strebenden figurieren. Zwei Weltkriege und eine Kette von technologisch-ökonomisch-sozialen Umwälzungen haben allenthalben das zerstört oder doch fragwürdig werden lassen, was man, nicht zu Unrecht, zu den konservativen Topoi gerechnet hat: Tradition, Kontinuität, Autorität, Organik und Hierarchie Dies alles wird von „progressiv“ -revolutionärer Seite „verunsichert", zum „Muff von tausend Jahren" degradiert und als Manifestation repressiver Kräfte abgetan, in untergründiger Komplicenschaft mit jenen Tendenzen der Zivilisation, gegen die zu kämpfen sie meint, gemäß dem bösen Wort Nietzsches, daß man das, was falle, auch noch stoßen solle. Der Tenor lautet etwa: In unserer modernen Welt befördern die technologischen Umwälzungen die gesellschaftliche Revolution, beide münden zusammen, beide tendieren in Richtung auf Emanzipation, Demokratie, Freiheit, Fortschritt. Daß es sich dabei nicht um soziologi-sehe Erkenntnisse, sondern allenfalls um politische Postulate, wenn nicht gar um das handelt, was Sorel als „soziale Mythen" apostrophiert hat, gehört zu den kaum mehr rückgängig zu machenden Resultaten konservativer Gesellschaftstheorie und Ideologiekritik.

Theodor W. Adorno sprach davon, daß das „Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung . . . mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips notwendig verknüpft" sei: „Ökonomen und Soziologen wie Werner Sombart und Max Weber haben das Prinzip des Traditionalismus den feudalen Gesellschaftsformen zugeordnet und das der Rationalität den bürgerlichen. Das sagt aber nicht weniger, als daß Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert wird." Damit würde jedoch auch das Substrat konservativer Lebenshaltung sukzessive abgebaut und die Erfahrungswelt der Völker, wie Adorno und Horkheimer an anderer Stelle sagen, tendenziell der der Lurche angeglichen

Hinzu kommt die verhängnisvolle Rolle einer bestimmten Art von Konservatismus im Prozeß der Heraufkunft und Etablierung der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts, wobei nur an die Übernahme von Symbolen, Attitüden und Schlüsselwörtern der deutschen „konservativen Revolution" durch die Nationalsozialisten erinnert sei. In Erinnerung an eine der markantesten, auch nobelsten Gestalten der „konservativen Revolution" könnte man vom Moeller van den Bruck-Effekt sprechen, der für jene „radikalen" Konservatismen typisch ist, die traditionelle Werte auf eine Weise zu bewahren trachten, daß sie dadurch in ihrer Substanz noch mehr verletzt und zerstört werden als durch den Angriff des revolutionären Gegners. Insofern trifft auf diese Konservativen Stefan Georges Urteilsspruch zu: „Die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall." Die Gefahr, daß ein gewisser Konservatismus das beschädigt oder in letzter Konsequenz gar verneint, was zu erhalten und auf dem zu gründen er doch beansprucht, zeigt sich übrigens nicht erst im Vorfeld der faschistischen Machtergreifungen, sondern schon bei de Maistre und de Bonald, dann bei Bismarck und dessen Kritiker Nietzsche

Wer immer danach trachtet, die Bedingungen der Möglichkeit und Legitimität eines Konser-vatismus im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zu bestimmen, wird diese Gefahr einer Selbstaufhebung des konservativen Standorts nicht unterschlagen können, eine konkrete Gefährdung, die die weite Verbreitung des Credos von der Verkehrtheit des Konservatismus verständlich macht.

II. Reaktion auf 1789 oder Wertmetaphysik? Zur Kritik zweier Definitionen des Konservatismus

Die Schwierigkeiten werden nicht geringer, wenn man sich den diversen Definitionen des konservativen Phänomens zuwendet. Nach wie vor herrscht Ungewißheit darüber, was Konservatismus überhaupt sei, und nicht wenige, die sich für Verfechter dieser Philosophie und Haltung ausgeben, sind sogar stolz darauf, daß es bislang nicht gelungen ist, eine allgemein anerkannte Bestimmung zu finden. Die Verwirrung ist groß, und wie stets bei solchen Wort-Konfusionen stellt die jeweilige Begriffsumschreibung bereits ein Politikum dar, ein Moment im Kampf der Parteien, Fraktionen und Cliquen um die Macht, welche nur dann maximal ist, wenn sie die über den Gebrauch von Worten und damit über das Denken miteinschließt.

Sprache ist Politik. Gefragt, welche Maßnahme er zuerst ergreifen werde, um ein Reich zu befrieden, antwortete ein Philosoph des alten China, er werde vor allem andern die Bedeutung der Wörter wiederherstellen. Deshalb vermag ein „Kampf um Worte" mehr als ohnmächtiges Gerede zu sein, sondern bereits der Beginn einer Emanzipation von denkhemmenden Schablonen und Phrasen, die erste Etappe einer neuen Kristallisation von durchaus auch die politische Praxis verändernden Kräften.

Der bloße Rückgriff auf die Etymologie des vom lateinischen conservare = bewahren abgeleiteten Wortes Konservatismus erweist sich* als wenig hilfreich, da er keinen Aufschluß vermittelt über das, was bewahrt werden soll. In seiner modernen Bedeutung geht der Begriff auf Chateaubriand zurück, der 1818 eine Zeitschrift „Le Conservateur" herauszugeben begann Das Wort konservativ wanderte dann von Frankreich aus durch ganz Europa und wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in England heimisch, wo bereits eine Generation früher Edmund Burke sein konservatives Credo in dem Satz zusammengefaßt hatte, „that the idea of inheritance furnishes a sure prin-ciple of Conservation, and a sure principle of transmission, without at all excluding a principle of improvement“ Bemerkenswert ist, daß Chateaubriands Zeitschrift keineswegs den Standpunkt vertrat, daß die gesellschaftlich-politischen Zustände in Frankreich bewahrenswert wären. „Le Conservateur" wandte sich vielmehr entschieden gegen den reaktionären Kurs der bourbonischen Restauration. Er sprach nicht von einer Bewahrung des Status quo, sondern von „conserver les saines doctrines", vom Festhalten an den gesunden Lehren. Religiös gesinnt und ein treuer Sohn der römischen Kirche, jedoch ein Gegner der ultramontanistisch-theokratischen Ideen de Maistres und de Bonaids, ein Anhänger der traditionellen Monarchie, doch auch einer die bürgerlichen Freiheiten sichernden Konstitution, Autorität und Liberalität, Tradition und Erneuerung zugleich bejahend, gehört Chateaubriand mit seinem Verwandten Alexis de Tocqueville und mit Burke zum Kreis der unorthodoxen, liberalen Konservativen, deren Schicksal es ist, von mißtrauischen Reaktionären für verkappte Parteigänger der Revolution, von doktrinären Progressisten für dem Vergangenen anhangende Traditionalisten gehalten zu werden. Mit dem ihm eigenen Unabhängigkeitssinn des Aristokraten und Künstlers war der Herausgeber von „Le Con-servateur" ein Anwalt der Freiheit, dessen Botschaft „Soyons libres“ lautete. Was ihn persönlich betraf, so bevorzugte Chateaubriand das konstitutionell-monarchische Regime, insofern konservativ im Sinne des 19. Jahrhunderts denkend, doch war er so unbefangen zuzugeben, daß er sich Freiheit auch sehr gut in einer demokratischen Gesellschaft vorstellen könne, hierin durchaus „liberal" argumentierend. Ein derart undogmatischer Konservatismus konnte nur von wenigen Zeitgenossen verstanden werden und so widerfuhr Chateaubriand, daß er von den Welfen als Ghibelline, von den Ghibellinen als Welfe angesehen wurde

Diese Ambivalenz findet auch ihren beredten Ausdruck in den verschiedenen Definitionen des Konservatismus. Im großen und ganzen scheiden sich die anspruchsvolleren Begriffsbestimmungen in zwei Gruppen.

Zur ersten gehören alle jene Interpretationen, die das konservative Phänomen als monarchisch-aristokratisch-klerikale Reaktion auf die Französische Revolution zu charakterisieren versuchen. Man beruft Jahrhunderts denkend, doch war er so unbefangen zuzugeben, daß er sich Freiheit auch sehr gut in einer demokratischen Gesellschaft vorstellen könne, hierin durchaus „liberal" argumentierend. Ein derart undogmatischer Konservatismus konnte nur von wenigen Zeitgenossen verstanden werden und so widerfuhr Chateaubriand, daß er von den Welfen als Ghibelline, von den Ghibellinen als Welfe angesehen wurde 16).

Diese Ambivalenz findet auch ihren beredten Ausdruck in den verschiedenen Definitionen des Konservatismus. Im großen und ganzen scheiden sich die anspruchsvolleren Begriffsbestimmungen in zwei Gruppen.

Zur ersten gehören alle jene Interpretationen, die das konservative Phänomen als monarchisch-aristokratisch-klerikale Reaktion auf die Französische Revolution zu charakterisieren versuchen. Man beruft sich dabei auf die Tatsache, daß Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France", die Magna Charta der angelsächsischen Konservativen, schon im Titel auf die Ereignisse von 1789 verweisen. Der Konservatismus sei ein Kind der Französischen Revolution. Das Ancien Regime habe noch keinen Konservatismus gekannt. Es besaß zwar ideologische Legitimationen, wie zum Beispiel Bossuets Lehre vom göttlichen Recht und von der französischen Monarchie als der Erbin des römischen Reiches, aber es bedurfte noch keiner Rechtfertigung gegenüber einem totalen, alle Grundlagen in Frage stellenden Angriff. Erst die Revolution habe den bisherigen Royalismus zum Konservatismus gemacht. Im Sinne dieser historischen Interpretation wird Konservatismus mit Königtum, Großgrundbesitz, ständischer Ordnung, Adels-privilegien und vorindustriell-agrarisch-feudaler Mentalität zusammengedacht. Er sei die politische Philosophie der Junker und anderer durch den aufsteigenden Dritten Stand bedrohter Schichten, so wie der Liberalismus den Interessen des Bürgertums, der Sozialismus der Situation des Proletariats entspreche. Stalin hat gemäß dieser klassenmäßigen Zuordnung des konservativen Phänomens die Hegelsche Philosophie als Ideologie der aristokratischen Konterrevolution gegen die progressive Bourgeoisie angesprochen. Die Bestimmung des Konservatismus als Antwort auf die Französische Revolution wird nicht nur von Marxisten, sondern auch von vielen nichtmarxistischen Historikern und Soziologen vorgebracht, so etwa von Karl Mannheim 17), Klemens von Klemperer 18) und Gerhard Ritter 19).

Diese Definition ist wohl auch deshalb so weit verbreitet, weil sie, vor allem in vulgärsoziologischer Vergröberung, dem umlaufenden Dogma von der Uberholtheit des Konservatismus sehr entgegenkommt. Ist Konservatismus einmal fixiert als Rechtfertigungsoder gar Restaurationsideologie vorbürgerlicher Gesellschaftsstrukturen, dann wird eine Differenzierung zwischen Reaktion, Restauration und einer konservativen Position sachlich unmöglich. Ein solches Konservatismus-Verständnis bringt methodisch notwendig überaus heterogene, ja diametral entgegengesetzte Theorien, Impulse und Bestrebungen auf einen Nenner.

Der Konservative Franz von Baader polemisierte gegen die Theorie vom Recht des Stär-keren, wie sie der Reaktionär Karl Ludwig von Haller in seiner „Restauration der Staatswissenschaft" verfochten hatte; der Konservative Joseph von Eichendorif gelangte in seinem brillanten Essay „Der Adel und die Revolution" zu soziologisch-politischen Einsichten, die seine feudalen Standesgenossen schockieren mußten; der Konservative Friedrich von Gentz, der sich durchaus bewußt war, daß die Zahl derer, „die für das Neue arbeiten", größer ist als die jener, „die mit Maß und Ziel das Alte zu behaupten" trachten, beschwor seinen Freund, den politischen Romantiker Adam Müller zeitlebens, „die göttliche Klarheit des Bewußtseins, die höchste aller intellektuellen Höhen“, nicht einem bigotten Mystizismus zu opfern; der Konservative Leopold von Ranke anerkannte den Liberalismus durchaus als ein „Ferment des Lebens", während der reaktionäre Schwärmer Moeller van den Bruck die liberale Idee als den Untergang der Völker schmähte; der Konservative Alexis de Tocqueville gelangte trotz seiner aristokratischen Abkunft zur kritischen Bejahung der Demokratie und verwarf entschieden die rassistische Geschichtsphilosophie des Grafen Gobineau; der österreichische Konservative Ernst Karl Winter akzeptierte sogar bestimmte Elemente des Marxismus, prägte die Formel: „Rechts stehn und links denken!“ und lehnte sowohl den Staatsstreich des christlich-sozialen Bundeskanzlers Dollfuß als auch den Faschismus ab.

Alle diese substantiellen Unterschiede werden nivelliert, wenn man, um ein neueres Beispiel anzuführen, mit Martin Greiffenhagen auf eine sachliche Unterscheidung von Konservatismus, Restauration und Reaktion verzichtet. Ein solcher Verzicht scheint auf die Dauer ähnlich erkenntnishemmend zu sein wie das von politisch rechter Seite gerne geübte demagogische Zusammenwerfen von Fabiertum, Anarchismus, Leninismus, Stalinismus, Maoismus, Radikalsozialismus, Sozialdemokratie skandinavischen Typs und „Neuer Linker" unter der Rubrik Sozialismus. Dann entsteht jene Nacht, in der, nach Hegel, alle Kühe schwarz sind. Wenn eine konservative Stellungnahme gleichbedeutend ist mit Sehnsucht nach feudalen Zuständen, mit dem Willen zur Bewahrung oder gar Restauration geschichtlich erledigter Herrschaftsordnungen, dann träfe in der Tat die schon erwähnte These von Holz zu, daß eine konservative Zielsetzung „notwendigerweise irrational" sei.

Gegen diese Interpretation und ihre Folgerungen wenden sich jene, die den Konservatismus nicht als historisch einmalige und durch das Interesse soziologisch identifizierbarer Klassen bedingte Bewegung, sondern als Metaphysik, als zeitlos gültiges System universaler Werte definieren. So schrieb Metternich an Guizot, daß die konservativen Prinzipien „auf die verschiedensten Lagen anwendbar" seien und mehr als ein halbes Jahrhundert vor ihm hatte Burke versichert, daß es darauf ankomme, die politische Verfassung „nach dem Vorbilde der Natur" und „im richtigen Verhältnis und vollkommenem Ebenmaß mit der Ordnung der Welt“ zu gestalten Zu den „konservativen Prinzipien par excellence* rechnet Peter Viereck: „Maß und Ebenmaß, Selbstgestaltung durch Selbstzucht, Erhaltung durch Reform, Humanismus und Gleichgewicht im Sinne der Klassik, fruchtbares Verlangen nach dem Dauernden unter dem Fluß der Dinge und zeugende Treue zur ungebrochenen Kontinuität der Geschichte" Mit noch mehr Pathos verkündete Arthur Moeller van den Bruck den überzeitlichen, transhistorischen Charakter des Konservatismus: „Dauer und Bindung sind die Pfeiler seines Domes. Heiligung und Verantwortung sind die Priesterschaften seines Menschendienstes. Er übt Macht aus, indem er bindet. Und die Bindung wiederum ist das Geheimnis seiner Macht [... ] Konservatismus hat die Ewigkeit für sich. Russell Kirk, einer der Wortführer des zeitgenössischen Konservatismus in den USA nennt folgende sechs „Grundregeln der konservativen Weltanschauung": 1. Glaube an das Walten einer göttlichen Vorsehung; 2. Sinn für das Mysterium und die Fülle des Lebens; 3. Bejahung von Autorität, Hierarchie und Führung; 4. Zusammengehörigkeit von Freiheit und Privateigentum; 5. Vertrauen in Tradition und überliefertes Recht, Mißtrauen gegen die schon von Burke attackierten „Sophi-sten und Kalkulatoren"; 6. Bevorzugung organischer, allmählicher Evolution vor plötzlichen und radikalen Änderungen

Alle diese Definitionsversuche neigen dazu, Konservatismus mit politischer Weisheit, moralischer Integrität und intellektueller Disziplin gleichzusetzen. So nimmt es nicht wunder, wenn Vertreter dieser und ähnlicher Begriffsbestimmungen so etwas wie eine „konservative Weltlinie“ konstruieren und Philosophen wie Heraklit, Platon Aristoteles, Plotin Thomas und Leibniz, Dichter wie Heriod, Homer, Pindar Dante und Goethe als Propheten und Eideshelfer konservativer Weltanschauung zitieren Häufig wird diesem Pantheon eine Genealogie des revolutionären Prinzips gegenübergestellt, die Namen wie Lenin, Marx, Rousseau, Descartes umfaßt und im äußersten Fall bis auf Luzifer selbst zurückgeführt wird: letzteres sowohl von konservativ als auch von revolutionär eingestellten Autoren

Während die zuerst skizzierte Auffassung den Konservatismus auf eine bestimmte historische Epoche — die Zeit nach der Französischen Revolution — und auf eine bestimmte Klassenbasis — in erster Linie grundbesitzender Adel, Klerus und Bauerntum — beschränkt, ist er für die zweite eine Metaphysik ewig gültigerWerte, und Ideale, die unabhängig von Raum, Zeit und Gesellschaft verbindlich sind und grundsätzlich von allen Menschen akzeptiert werden müssen, wenn sie überhaupt menschenwürdig und gemäß der Ordnung des Seins leben wollen. Führt die eine Definition zu der Konsequenz, daß eine konservative Haltung um so absurder wird, je länger Feudalismus, Königtum und religiös homogene Agrargesellschaft unwiederbringlich hinter uns liegen, so leidet die zweite an dem Manko, Konservatismus so allgemein zu fassen, daß er mit Überlieferung, Religion, Ethik, Kultur und guter Politik identisch wird.

Gegen sie läßt sich einwenden, daß viele der angeblich erzkonservativen Werte und Prinzipien zu großen Teilen auch von liberalen, sozialistischen und faschistischen Parteien akzeptiert werden könnten und in der Tat akzeptiert worden sind. Hinzu kommt, daß eine derart globale Konservatismus-Definition leicht zu einem manichäischen Weltbild führt: wer nicht konservativ im Sinne dieser Auffassung ist, gehört dann zur massa damnata und wird als Feind des Menschengeschlechts, als Agent einer diabolischen Weltverschwörung verketzert. Insofern erliegt sie dem Drang zur Dämonisierung des „anderen" nicht weniger als die zuerst umrissene historische Bestimmung des Konservatismus in ihrer vulgärsoziologischen Form: einmal ist der Konservative des Teufels, einmal der Nichtkonservative liberalen, sozialistischen, anarchistischen oder radikalistischen Typs. Mit Wissenschaft hat derlei nichts mehr zu tun, sehr wohl aber mit politischer Mythologie, die der Hatz auf beliebige „Sie" -Gruppen ein gutes Gewissen verschaffen soll

Ist also die Definition des Konservatismus als Ensemble von universalen Werten zu weit gefaßt, so entgeht der anderen, die das konservative Phänomen einzig als Reaktion auf 1789 sieht, daß sich sehr wohl lange vor der Französischen Revolution Einstellungen, Bewegungen und Konzeptionen nachweisen lassen, deren konservativen Charakter man auch dann nicht leugnen wird, wenn man die These von der „Ewigkeit" des Konservatismus ablehnt. So haben Fritz Valjavec und Klaus Epstein konservative Regungen bereits zwischen 1770 und 1780 konstatiert; hat Martin Greiffenhagen auf ein Gedicht von John Donne (1552— 1631) hingewiesen, in dem sich bereits alle Elemente konservativer Aufklärungskritik finden ist von Ernst Karl Winter in wenig bekannten geistesgeschichtlichen und biographischen Studien herausgearbeitet worden, in welchem großen Ausmaß der Konservatismus der politischen Romantik Motive der Staatslehre des Barock wiederaufgreift Noch tief-schürfender hat Hans Graßl, angeregt durch seine intensive Beschäftigung mit Baader, die zum Teil apokryphen Strömungen und Gegen-strömungen des 18. Jahrhunderts erkundet, die den Quellpunkt der konservativen Romantik Bayerns bilden. Er betont vor allem die Rolle des im süddeutschen Raum um 1760 gegründeten Ordens der Gold-und Rosenkreuzer, die ihrerseits auf die Esoterik der Kabbala, Jakob Böhmes und der mittelalterlichen Mystiker zurückgriffen

Ebenso tauchten auch in Frankreich selbst schon vor der Revolution von 1789 konservative Regungen auf, deren erste Spuren sich bereits zu Lebzeiten Ludwig XIV. nachweisen lassen. Die Hoffnungen dieser Keime zu einer neuen Fronde galten dem Herzog von Bourgogne, dem präsumptiven Thronfolger und Zögling Fenelons. Man verlangte, daß die Provinzialstände wieder an der Verwaltung beteiligt und die einzelnen Bevölkerungsklassen durch besondere Trachten unterschieden würden. Diese Forderungen versuchte der Graf von Boulainvilliers 1727 mit dem Argument zu rechtfertigen, daß der französische Adel von den fränkischen Eroberern abstamme, während die übrige Bevölkerung die Nachkom-menschaft der unterworfenen Gallier repräsentiere. Die qualitative Überlegenheit der Franken und ihrer Nachkommen könne man nur dann aus der Welt schaffen, wenn man die Zivilisation überhaupt vernichte. Die aufklärerische Publizistik hat diese Vorläuferin der mehr als ein Jahrhundert später von Gobineau entwickelten Rassentheorie leidenschaftlich bekämpft und vor allem gegen sie den revolutionären Begriff der „Nation" gerichtet. Auch in England kann man bereits zwei Jahrhunderte vor Burke Autoren nachweisen, die mit konservativen Argumenten die königliche Autorität der Tudors gegen die Angriffe von puritanischen Dissidenten verteidigten: Tyndale, Gardiner und insbesondere Richard Hooker mit seinem mehrbändigen Werk „Laws of Ecclesiastical Polity" (1594)

Ebensowenig wie die These, daß der Konservatismus ein Produkt der Französischen Revolution sei, läßt sich die andere von seinem aristokratisch-monarchischen und antidemokratischen Charakter im Lichte einer vergleichenden Analyse aufrechterhalten. Sie trifft nicht einmal auf Burke zu, der zu den seltenen politischen Schriftstellern gehört, über deren konservative Haltung sowohl Konservative als auch Nichtkonservative sich einig sind. Dieser nichtadelige Autor eines „revolutionären Buches gegen die Revolution" war durchaus kein Apologet des Feudalismus und des Adels, sondern ein Anwalt des in England bestehenden „mixed government", der für die Freiheit der amerikanischen Kolonien eintrat und in wirtschaftlichen Fragen mit Adam Smith, dem Vater der antifeudalen Freihandelslehre, übereinstimmte Hat dieser bürgerlich-liberale Zug den angelsächsischen Konservatismus stets ausgezeichnet, so ist der schweizerische seit dem 19. Jahrhundert demokratisch-republikanisch motiviert

III. Konservatismus als Krisenphänomen

Obwohl die zwei gängigen Definitionen des Konservatismus sich als problematisch erwiesen haben, so scheint doch der Gang ihrer Kritik zu einer neuen Bestimmung zu führen, die gewisse Elemente beider in sich aufnimmt, ohne der leeren Breite der einen, der historischen Enge der andern zu erliegen. Dieser Bestimmung des konservativen Phänomens wollen wir uns durch zwei auf Beobachtungen zurückgehende Gedankengänge weiter nähern. 1. Versuchen wir uns darauf zu besinnen, wann und in welchen Situationen in einem noch vor-politischen, zumindest nicht unbedingt politik-bezogenen Sinn von jemandem gesagt wird, er habe konservative Neigungen, sei konservativ veranlagt, nehme eine konservative Haltung ein. Welche Charakterzüge setzen wir bei einem derartigen Konservativen voraus? Ohne eine vollständige und systematische Aufzählung bieten zu wollen, seien einige solcher Eigenschaften genannt: anhänglich an das Gegebene; mißtrauisch gegenüber Neuerungen; am Bestehenden, Erprobten, Bewährten festhaltend; die Erfahrung des Lebens den Konstruktionen des Intellekts entschieden vorziehend; Dauer, Beständigkeit und Tradition instinktiv bejahend; skeptisch gegenüber jedem Radikalismus, gegenüber Utopien und Zukunftsverheißungen; stets vom Konkreten ausgehend und die Möglichkeiten des Menschen eher unter-als überschätzend, gemäß dem Wort Bismarcks, man könne den Strom der Zeit nicht schaffen und lenken, sondern nur auf ihm fahren und steuern, um mit mehr oder weniger Geschick den Schiffbruch zu vermeiden . . .

Ohne Zweifel gibt es auch heute noch Menschen — und es sind nicht unbedingt die schlechtesten —, die der Dauer vor dem Wechsel, dem Beständigen vor dem Unbeständigen den Vorrang geben, begrenzte und überschaubare Neuerungen großen und unbestimmten vorziehen und mit Whitehead dafürhalten, daß Ent-Wicklung ohne Erhaltung des Bestehenden nur ein Übergang von einem Nichts zu einem anderen ist Wahrscheinlich ist das Alter konservativer als die Jugend, die sich noch nicht recht an das Leben in der Welt gewöhnt hat, wie es auch mehr konservative, „ältere" Völker gibt und andere, „jüngere", bei denen die Rate qualitativ verändernder Ereignisse und Umbrüche in allen Lebensbereichen größer ist. Zu den ersten gehören vielleicht die alten Ägypter und Chinesen, zu den zweiten die antiken Griechen, vor allem aber die abendländische Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. „Die Chancen, allein durch den Prozeß des Älterwerdens auch weiser zu werden, nehmen leider rapide ab. Oder umgekehrt: die Chancen, sich in fortgeschrittenerem Alter im Verhältnis zur nachrückenden Generation verunsichert zu finden, nehmen zu."

Gleichwohl gibt es nach wie vor nicht unbeträchtliche Felder von Tätigkeiten, Verhaltensweisen und Beziehungen, die einen quasi naturwüchsigen Konservatismus voraussetzen: Freundschaft und Ehe gehören hierzu ebenso wie die Hingabe an das Land und an die Kirche, in die man hineingeboren wurde, ferner die Anhänglichkeit an vertraute Einstellungen, Arbeitsabläufe, Bräuche, Gegenstände und Spiele, an alle Aktivitäten, die nicht um des Nutzens, sondern um des Vergnügens willen gepflegt werden, das eine vertraute, mehr oder minder schon zum Ritus gewordene Lebensäußerung bereitet

Ein solcher Konservatismus, den Mannheim, nicht ganz unmißverständlich, als Traditionalismus bezeichnet hat läßt sich unabhängig von seinen theoretischen Rechtfertigungen und ideologischen Derivationen beschreiben. Er entspricht jenen emotional-affektiven „Residuen", die Pareto in seiner Soziologie unter „persistenza degli aggregati", „residui in relazione colla socialitä" und „integritä del! individue e delle sue dipendenze" traktiertM. großes Argument ist das der Ordnung. Wie diese Ordnung im einzelnen gestaltet ist oder verwirklicht werden soll, darüber mögen Meinungsverschiedenheiten legitim sein, wenn nur akzeptiert wird, daß der mit seinesgleichen lebende Mensch intakte Ordnungen nicht entbehren kann. Jeder Gesellschaft ist aufgetragen, unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen den Menschen in Ordnungen hin-einzunehmen. Jede einigermaßen stabile Gesellschaft ist primär Ordnung, eine „haltende Macht" vor dem Grauen des Chaos und der Anomie. „Der Mensch verträgt auf die Dauer Unordnung nicht. Jeder anarchistische Exzeß birgt den notwendig, früher oder später, kommenden Rückschlag zur Ordnung bereits in sich."

In welchem Ausmaße eine solche Haltung nicht nur persönlichkeits-, sondern darüber hinaus typus-und stilbildend zu sein vermag, ja mit der Kategorie des Klassischen, des Apollinischen konvergiert, beweist das hohe Ethos kultischen Bewahrens, Pflegens und Hegens von Werken der Kunst, aber auch der „kleinen Dinge" alltäglichen Gebrauchs bei Stifter oder Goethes auf eine ruhende Mitte bezogener Eros der Verwandlung, sein Glaube, es liege „in dem Tiefem, Bessern der menschlichen Natur", daß sie „dem Konkreten die Ehre der Idee zu verschaffen" strebe. Goethe, der das Leben desjenigen nicht lebenswert nennt, der „nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben", aber auch betont, daß noch der geringste Mensch „komplett sein“ kann, hat in diesen und unzähligen anderen Sätzen das Welt-und Lebensgefühl einer zutiefst konservativen Humanität formuliert: „Wir sind an den beiden entgegengesetzten Enden der Kette, er (Bentham, der Utilitarist und radikale Sozialreformer; G. -K. K.) möchte alles niederreißen — ich möchte alles bewahren", „Das Gesetz macht den Menschen, nicht der Mensch des Gesetz" (Tagebuchnotiz 1797), „Wer Großes will, muß sich zusammenraffen, /In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, /Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." — „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, /Sonst bedarf es keiner Offenbarung“ 2. Gehen wir einen Schritt weiter, so stellt sich die Frage, was uns zögern läßt, eine solche Haltung und Lebensphilosophie als eine mit ideologisch-politischen Bewegungen und Systemen wie Liberalismus, Anarchismus, Sozialismus, Marxismus usw. vergleichbare Größe anzusehen. Liegt es nicht daran, daß konservative Werte und Prinzipien wie Tradition, Ordnung, Autorität, Dauer, Stabilität ihren Ort auf einer anderen Ebene haben als die liberalen Forderungen nach Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Freiheit der Meinung, der Gewerbe und des Handels, als die marxistischen Kategorien von Kapitalismus, Proletariat, Klassenkampf und Revolution? Ist es nicht so, daß etwa die Gedanken des liberalen Rechtsstaates oder der proletarischen Diktatur auch für deren Gegner etwas unmittelbar Evidentes insofern haben, als sie an mögliches soziales Handeln appellieren und dieses auf direkt anstrebbare Ziele hinlenken?

Es kann ein sinnvolles Ziel politischen Engagements sein, den Schutzzoll oder das Koalitionsverbot für Arbeiter abzuschaffen oder den Frauen das Wahlrecht zu erteilen. Es scheint nicht in gleicher Weise sinnvoll zu sein, Tradition an sich, Autorität überhaupt, Ordnung im abstrakten Verstände erhalten zu wollen. Wer etwas „konservieren" will, muß erst einmal etwas haben, was konservierbar ist. Wer überliefern will, muß sich zuvörderst für bestimmte Wahrheiten, Werke und Werte entscheiden, deren Tradierung er dann unter Ausschluß anderer zu befördern hat. Über-lieferung als solche oder totale Überlieferung kann man nicht wollen. Man kann nur dafür sorgen, daß konkrete Inhalte nicht vergessen werden, daß ein bestimmtes Erbe nicht verschleudert wird.

Während gegenüber dem Liberalismus und Sozialismus die Frage sinnlos wäre, ist es legitim, die Kantische Formulierung abwandelnd, zu fragen: Wie ist ein Konservatismus als Programm überhaupt möglich? Welches ist das politische Ziel der Konservativen? Während der Marxismus — trotz aller Wandlungen und Richtungskämpfe seit Marx’ Tod — auch heute noch einen Kem von Annahmen und Postulaten enthält, dessen Akzeptierung darüber entscheidet, ob jemand als Marxist anzusprechen ist, gibt es keine vergleichbare kohärente Theorie des Konservatismus etwa von Burke über Tocqueville und Disraeli bis zu Arnold Gehlen. Trotz aller Querverbindungen zwischen einzelnen konservativen Denkern gibt es keinen Konservatismus als Lehre, die in jeweils neu kommentierter Form von Generation zu Generation weitergegeben würde.

Was jeweils konservativ ist, bestimmt sich verschieden je nach der geschichtlichen Lage und den nationalen Bedingungen Damit ist auch die These vom zeitlos-universalen Charakter des Konservatismus erledigt. Er hat vielmehr weder einen lückenlos referierbaren Lehrgehalt noch ein für allemal feststehende „Positionen" und ist nur dann zu aktualisieren, wenn in einer tiefgreifenden geschichtlichen Krise fundamentale Institutionen angegriffen oder sonstwie gefährdet werden. Er ist definiert durch die jeweilige kritisch-revolutionäre Herausforderung.

Eine solche geschichtliche Krise war die Französische Revolution, ein beispielloser Total-angriff auf eine bislang sakrosankte institutioneile Ordnung. Dieser Angriff provozierte eine entsprechende konservative Antwort, die in England von Burke, in Frankreich von Bo-naid und de Maistre, in Deutschland von Gentz, Adam Müller, Franz von Baader und Friedrich Schlegel formuliert wurde. Die folgenden revolutionären Erschütterungen von 1830, 1848 und 1871 riefen die konservativen Deutungen, Warnungen und Prophetien von Donoso Cortes, Alexis de Tocqueville, Julius Stahl, Jacob Burckhardt, Constantin Frantz, Maurice Joly, Fjodor Dostojewskij und Augu-stin Cochin auf den Plan. Dabei zeigte sich, daß spätere Generationen von Konservativen das bewahren wollten, was frühere noch als revolutionäre Hybris bekämpft hatten. Ein Jacob Burckhardt war sich der Tatsache wohl bewußt, daß „die Revolutionen Ergebnisse zustande gebracht haben, welche uns selber schon völlig bedingen und integrierende Teile unseres Rechtsgefühls und Gewissens ausmachen, die wir also nicht mehr ausscheiden können" Ähnlich hatte bereits Burke die Errungenschaften der Glorious Revolution von 1688/89 gegen jene Dissidenten verteidigt, die in England nach Pariser Vorbild neue Zustände schaffen wollten.

Konservatismus wäre demnach eine in bestimmten Krisensituationen immer wiederkehrende Möglichkeit ethisch-politisch-intellektuellen Engagements, die sich den unterschiedlichsten konkret-historischen Daseinsverhältnissen anbietet und erst an diesen ihr materiales Substrat findet. Wenn es sich aber so verhält, könnte man dann nicht einfach sagen, daß alles, was gestern noch als revolutionär gegolten hat, bereits heute oder morgen konservativ sein mag? Da der Konservatismus kein bestimmtes soziales Modell hat, wäre er demnach jeweils mit jener Richtung identisch, die für die gerade etablierten sozialen Verhältnisse optiert. Er wäre die Philosophie jener, die etwas haben und seinen Verlust fürchten. Die Gruppe, die für ein gefährdetes Vorhandenes plädiert, muß keineswegs mit der „herrschenden Klasse" identisch sein. Wer freilich chronisch unzufrieden ist, kann revolutionär oder auch reaktionär gesinnt sein, nicht aber konservativ.

Wäre demnach Konservatismus nichts als jene Formel, die das Interesse einer mehr oder minder homogenen sozialen Gruppe am jeweiligen status quo artikuliert? Reaktionär wäre das Streben, historisch bereits überwundene Zustände in einer total veränderten Umwelt zu erneuern, etwa die mittelalterliche Ständegesellschaft im Zeitalter der technisch-wissenschaftlichen Revolution, konservativ dagegen eine Haltung, die Bestehendes — unter Umständen auch durch Reform — gegenüber radikalen Angriffen zu bewahren versucht. Daß Konservatismus und Reform, Konservatismus und Evolution sich ausschließen, gehört zu jenen polemischen Thesen von progressistischer Seite, die auch dadurch nicht wahrer werden, daß sie seit mehr als einem Jahrhundert regelmäßig in politischen Grundsatzdiskussionen auftauchen Sowenig wie eine konservative Position Entwicklung ausschließt, sowenig ist sie deshalb auch auf eine einzige Gestalt gesellschaftlicher Verfassung fixiert: ja nach der historischen Situation kann der Konservatismus einen aristokratisch-elitären oder demokratisch-plebejischen, liberalen oder autoritären, republikanischen oder monarchistischen Charakter haben. Wer beispielsweise heute die bestehende rechtsstaatlich-demokratische Ordnung in der Bundesrepublik zu bewahren wünscht, ist ein Konservativer — unabhängig davon, ob er seiner Parteizugehörigkeit nach als Christdemokrat, Liberaler oder Sozialdemokrat gilt. (Wer dagegen im Ernst die Monarchie zu erneuern strebte, wozu er aller Wahrscheinlich-keit nach den Weg der Gewalt beschreiten müßte, wäre ein Revolutionär mit reaktionärem Ziel oder ein Reaktionär, der revolutionäre Mittel nicht verabscheut.)

Auf diesem Punkt unserer Erörterungen angelangt, scheint sich der Begriff Konservatismus vollends zu relativieren: er wäre jeweils die Funktion einer bestimmten Situation, in der eine bestimmte Gruppe, unabhängig von ihrer sonstigen „manifesten" Ideologie, bestimmte Errungenschaften gegen massive Bedrohungen von welcher Seite auch immer zu verteidigen wünscht. So oder ähnlich müßte eine „situationsgebundene" oder „positionale" Definition des Konservatismus lauten, die den Vorzug hat, die Aporien sowohl der Auffassung vom „feudalen" als auch der vom „sacralen" Konservatismus zu vermeiden Ist dies das letzte Wort? Ist der Konservatismus imstande, jeder beliebigen etablierten Ideologie und Herrschaftsordnung als Krücke oder Panzer zu dienen? Oder anders gefragt: Ist jede politisch-soziale Option darauf angelegt, eines Tages konservativ zu werden? Wir können diese Frage im Rahmen einer Einleitung nicht näher erörtern und begnügen uns mit dem Resultat von Gedankengängen, die hoffentlich bald anderswo ausführlicher dargestellt werden können, überspitzt ließe sich sagen, daß zwar ein radikal gewordener Konservatismus, indem er seine eigene Logik suspendiert — der wahre Konservative ist, in einem sehr präzisen Sinne, nicht radikal! —, die Brücke zum faschistischen Totalitarismus zu bilden vermag, daß jedoch umgekehrt eine extrem totalitaristische Herrschaftsordnung im mörderischen Ringen um totale Selbstbehauptung und Expansion nach innen und außen nicht mehr auf den Konservatismus zurückgreifen kann. Vielmehr erheischt die Logik des totalitaristischen Systems die radikale Liquidierung auch noch der letzten Restbestände und potentiellen Träger einer konservativen Haltung: dies ist der tiefste Sinn aller Schauprozesse und „Säuberungen".

Auch im Kampf auf Leben und Tod gegen den dämonisierten Feind, in der ausnahmslosen Mobilisierung der totalen Allfeindschaft gegen die „jüdisch-bolschewistisch-plutokrati-sche" Weltverschwörung wird nicht auf konservative Residuen rekurriert, diese werden vielmehr nicht nur in einem politischen, sondern darüber hinaus auch metaphysischen Sinne verneint. Es gibt einen katholischen, einen protestantischen und einen jüdischen Konservatismus, es gibt konservative Demokraten, Liberale und Sozialisten; es gibt aber keinen konservativen Faschisten und keinen konservativen Stalinisten. Der Leviathan kann nur seine immanente Radikalität steigern bis zur Selbstvernichtung, in der der Weltuntergang mitgemeint und mitgewollt wird; konservativ sein kann er nicht: anders wäre er nicht der Leviathan.

IV. Apologetischer und transzendentalsoziologischer Gehalt des Konservatismus

Hier öffnet sich uns ein letzter Zugang zum konservativen Phänomen, der die oben explizierte relativistisch-funktionale Bestimmung in ihrer wertneutralen Abstraktheit aufzuheben vermag. Dieser Zugang wird möglich, wenn wir unterscheiden zwischen der apologetischen und der transzendentalsoziologischen Struktur eines jeden historischen Konservatismus. Die erste verweist auf den bereits erörterten situationsbedingten, positional-funktionalen Charakter des konservativen Engagements, die zweite dagegen auf die Bedingungen der Möglichkeit sozialen Ordnung und nichtkatastrophischen Wandels überhaupt.

Apologetisch sind alle jene Aussagen, die dazu dienen, bestimmte, historisch kontingente Sozialordnungen, Privilegien, Machtpositionen usw. zu legitimieren, sie als „die" Ordnung überhaupt, als Ausdruck gott-oder naturgewollter Gesetze, als ewig und unwandelbar zu verklären. Hegels Apotheose der preußischen Monarchie gehört ebenso dazu wie Adam Müllers Lehre, daß der Geburtsadel »die erste und einzig notwendige staatsrechtliche Institution im Staate" sei.

Transzendentalsoziologisch sind alle jene Sätze, in denen, unzulänglich wie immer, alle historischen und bestehenden Ordnungen menschlichen Miteinanderlebens im Hinblick auf ihre gründenden Voraussetzungen hinterfragt werden. Sätze dieser Art würden, wenn man sie aus der Fülle apologetischer Abwehr-literatur herausnähme und systematisierte, in letzter Konsequenz eine kritische Theorie des Konservatismus ergeben. Sätze aus dem Bereich transzendentalsoziologischer Reflexion sind beispielsweise die folgenden: 1. „Ein Staat, dem es an allen Mitteln zu einer Veränderung fehlt, entbehrt die Mittel zu seiner Erhaltung [.. . ]. Eine der Hauptursachen unserer Fortschritte finden wir darin, daß wir die Kenntnisse nicht verachten, die uns unsere Voreltern hinterließen [... ]. Ordnung ist das Fundament aller guten Dinge."

2. „Aber nur die völlige Barbarei kann ohne Adel bestehen. In jedem Stadium der Zivilisation wird es, gleichviel unter welchen Namen und Formen, immer wieder Aristokraten geben, d. h. eine bevorzugte Klasse, die sich über die Massen erhebt, um sie zu lenken. Denn der Adel (um ihn bei dem einmal traditionell gewordenen Namen zu nennen) ist seiner unvergänglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Große, Edle und Schöne, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen. Mit romantischen Illusionen und dem bloßen eigensinnigen Festhalten des Längstverjährten ist also hierbei gar nichts getan." 3. „Freilich ist es übrigens etwas Anderes und Besseres, als das Zeitliche selber, was man in und gegen sie (die Zeit; G. -K. K. J festzuhalten hat, so daß es hier also keineswegs um die Konservation einer bloßen Mumie oder Zeitreliquie und historischen Antiquität zu tun ist, sondern um die Gewinnung und Erhaltung eines Ewigen, als der bleibenden Frucht des vergänglichen Zeitgewächses. Dieser Zeit-und Geschichtsbigotterie machen sich aber sowohl unsere illiberalen als unsere liberalen Ultras schuldig, jene für die vergangene, diese für die zukünftige Zeit, deren zweifache Narrheit man füglich in einem Bilde von Reisenden darstellen könnte, von welchen die einen, um ja Wagen und Gepäck zu behalten, lieber die Pferde ausspannen, die anderen aber, um ja nicht zurückzubleiben, jenen die Stränge abschneiden, und mit ihnen, den Wagen zurücklassend, davonjagen. [. . . ] Die Maxime: , daß man in den bestehenden Sozialinstituten (die religiösen und wissenschaftlichen mit inbegriffen) alles beim alten lassen solle', schließt die Aufgabe in sich: . nichts veralten zu lassen', weil dieses ein Sich-Ver-

ändern, oder ein Nicht-beim-alten-Bleiben ist, und somit ein beständiges entgegenwirkendes Verändern zum Behufe der Konservierung nötig macht. Das wahre Prinzip der Konservation besteht aber darin, daß man sich nie erlaubt, den Faden der Geschichte (Tradition) abzureißen (einen neuen Kalender anzufangen), quia verum vero, justum justo, sagt Thomas Aquin, non contradivere potest, und daß man die Ausgleichung der Vergangenheit mit der Zukunft nur durch ihr beständiges Ineinanderführen bezweckt." 4. „Zwei Prinzipien konstituieren die moralische und intelligible Welt. Das eine ist das des immerwährenden Fortschrittes, das andere das der notwendigen Beschränkung dieses Fortschrittes. Regierte jenes allein, so wäre nichts mehr fest und bleibend auf Erden und die ganze gesellschaftliche Existenz ein Spiel der Winde und Wellen. Regierte dieses allein, oder gewänne auch nur ein schädliches Übergewicht, so würde alles versteinern und verfaulen. Die besten Zeiten der Welt sind immer die, wo diese beiden entgegengesetzten Prinzipien im glücklichsten Gleichgewicht stehen. In solchen Zeiten muß denn auch jeder gebildete Mensch beide gemeinschaftlich in sein Inneres und in seine Tätigkeit aufnehmen, und mit einer Hand entwickeln, was er kann, mit der anderen hemmen und aufhalten, was er soll. In wilden und stürmischen Zeiten aber, wo jenes Gleichgewicht wider das Erhaltungsprinzip, so wie in finsteren und barbarischen, wo es wider das Fortschreitungsprinzip gestört ist, muß, wie mich dünkt, auch der einzelne Mensch eine Partei ergreifen und gewissermaßen einseitig werden, um nur der Unordnung, die außer ihm ist, eine Art von Gegengewicht zu halten. Wenn Wahrheitsscheu, Verfolgung, Stupidität den menschlichen Geist unterdrücken, so müssen die besten ihrer Zeit für die Kultur bis zum Märtyrertum arbeiten. Wenn hingegen, wie in unserem Jahrhundert, Zerstörung alles Alten die herrschende, die überwiegende Tendenz wird, so müssen die ausgezeichneten Menschen bis zur Halsstarrigkeit altgläubig werden. [. . . ] Audi jetzt, auch in diesen Zeiten der Auflösung müssen sehr viele, das versteht sich von selbst, an der Kultur des Menschengeschlechts arbeiten, aber einige müssen sich schlech-terdings ganz dem schwereren, dem undankbareren, dem gefahrvolleren Geschäft widmen, das Übermaß dieser Kultur zu bekämpfen. Daß diese vor allen Dingen selbst hochkultiviert sein müssen, setze ich als ganz unumgänglich voraus. [... ] Ich habe das Erhaltungsprinzip zu meinem unmittelbaren Leitstern gewählt, vergesse aber nie, daß man treiben kann und muß, indem man hemmt."

Jetzt wird nochmals deutlich, weshalb der Konservatismus nicht in eine Reihe mit Ideologien und Bewegungen wie Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus gestellt werden kann. So sehr er auch in seinem jeweiligen sozialapologetischen Gehalt, in seiner Funktion als Rechtfertigungsideologie als bloßer Verneiner jeglichen Fortschritts, als retardierendes Moment im Prozeß der Geschichte erscheinen mag, so sehr gehört er in seiner transzendentalsoziologischen Struktur einer Dimension an, die alle gruppen-und klassenmäßigen Ideologien überwölbt: er läßt sich dann definieren als die Einsicht in die Bedingungen intakter Institutionen und nichtkatastrophischen sozialen Wandels, wobei die Materie dessen, was jeweils institutionalisiert und umgewandelt wird, von der konkreten historischen Situation abhängig ist.

Eine solche kritische Theorie böte auch den Maßstab, um verbindlich zwischen echtem und falschem, schöpferischem und sterilem Konservatismus zu unterscheiden. So wie alles politische Handeln an Macht — Erlangung, Sicherung, Verteidigung und Ausbau von Macht — sich orientiert und selbst derjenige, der höhere, idealere Ziele im Auge hat, nicht umhinkann, die machtmäßigen Mittel zur Erlangung seiner Zwecke angemessen zu gebrauchen, so ist auch der Konservatismus eine Philosophie, der grundsätzlich alle politischen Strömungen in wechselndem Maße huldigen müssen. Einer scholastischen Tradition folgend, unterscheiden wir zwischen dem finis quo und dem Unis quod politischen Handelns. Finis quo ist ein Ziel, das nicht um seiner selbst willen angestrebt wird, sondern nur insofern es Mittel (quo) zur Erreichung eines anderen, um seiner selbst willen angestrebten Zieles (quod) ist. Wenn wir Konservatismus mit Unis quo in Parallele setzen, läßt sich sagen, daß er unvermeidlich auch für jene ist, die einen bestimmten Unis quod verwirklichen, fördern oder verteidigen wollen.

In seiner transzendentalsoziologischen Struktur verweist der konservative Gedanke auf eine unverkürzte Anthropologie, Man kann nicht vöm Konservatismus sprechen, ohne vom Menschen zu sprechen, ohne darüber zu befinden, was zum Wesen des Menschen gehört.

Daß es fast durchwegs konservative Autoren sind, die die philosophische Anthropologie begründet und ausgebaut haben, ist mehr als ein Zufall. Das konservative Prinzip ist hier nicht ein von außen herangetragenes Regulativ, sondern wirkt konstitutiv bereits im Ansatz, in den Fragestellungen und Methoden sowohl dieser Wissenschaft als auch der Ökologie, die zunehmend aus einer hochspezialisierten Einzeldisziplin, die sich dem Studium von Tier-und Pflanzengemeinschaften widmet, zu einer interdisziplinären Universalwissen'schäft von der Erhaltung unseres Planeten und des vielfältigen Lebens auf ihm wird.

Der Annahme einer solchen anthropologischen Dimension des Konservatismus widerspricht nicht die Tatsache, daß die konservative Haltung erst in verhältnismäßig später Zeit als Ergebnis und Reflexion einer gesamtgesellschaftlichen Krise aufgetreten ist. So wie der Mensch von Urbeginn an ein schöpferisches, erfinderisches und denkendes Wesen ist, obwohl erst die Griechen dieses anthropologische Faktum unverlierbar ins Bewußtsein gehoben haben, so hat auch der Konservatismus ein früher verdecktes menschliches Wesensmerkmal ans Licht gebracht: unsere bleibende Angewiesenheit auf Überlieferung, Autorität und einigermaßen intakte Institutionen; die Tatsache, daß Fortschritt überhaupt nur möglich ist auf der Grundlage von Tradition und daß Tradition bewahrter Fortschritt, Fortschritt weitergeführte Tradition ist. Es zeigt sich auch hier, daß Krisen erkenntnisintensivierend wirken, daß bestimmte Seins-„Schichten" erst im Zustand der Gefährdung und des beginnenden Abbaus der Analyse zugänglich werden, wie auch Freud seine Tiefenpsychologie aus Erfahrungen im Umgang mit Patienten entwickelt hat. Dem sozialen Physiologen ergeht es ähn33 lieh: in einer bestimmten historischen Krise gewinnt er Zugang zu dem, was möglicherweise schon immer da war, was ein Konstituens menschlicher Sozialität ausmacht und relativ unabhängig von ihr sich in der geschichtlichen Bewegung durchhält.

Zu der progressistisch-futuristischen These, daß alles anders werde, gesellt sich dann der Einwand des Konservativen: alles bis auf das, was bleibt, oder, dialektischer formuliert: es kann überhaupt nur anders werden, weil und sofern etwas nicht anders wird. Daß diese dem historischen Wandel trotzenden Bestände, Strukturen und Wirkungszusammenhänge selber wieder geworden sind, braucht nicht in Abrede gestellt zu werden; nur haben sie ihren Ursprung in anderen Tiefenschichten — etwa im Prozeß der Anthropogenese oder in prähistorischen Stufen der menschlichen Kultur — und in ihrer von der Geschichte im üblichen Sinne verschiedenen Entwicklung eine eigene Frequenz.

Die theologische Fundierung konservativer Politik und Soziallehre war vielleicht nur ein Zwischenspiel, so sehr es nachdenklich stimmen sollte, daß alle großen politischen Philosophen auch noch der Neüzeit im Grunde politisch-theologische Traktate geschrieben haben. In einer Epoche, in der Theologie einerseits für immer breitere Kreise unverbindlich wird, andererseits durch Anschluß an die Idee der Weltrevolution sich um jeden Preis zu aktualisieren sucht, hat eine anthropologische Begründung des Konservatismus mehr Evidenz als jeder Rekurs auf religiöse Offenbarung. Schon daß wir sind, ist gelebter Konservatismus. Ein solcher anthropologischer Bezug bewahrt eine konservative Position davor, bloße dandystische Grimasse oder Politik der Stimmung zu sein. Denn die Konstanten, die den Menschen als Menschen konstituieren, sind eben dauernder als jene Krisen, an die andere politische Programme anknüpfen, um von jenen Moden zu schweigen, in denen das Marxsche Pathos, die Welt zu verändern, zur hohnvollen Farce wird.

Eine solche transzendentalsoziologisdie Begründung, die ihrerseits auf einer philösophi. scheh Anthropologie basiert, ist nicht von ungefähr erst heute in unseren Blick gerückt. Da alles, was wir tun und lassen, im politischen wie im außerpolitischen Raum, seit einer Generation im Schatten des möglichen, von Menschen herbeigeführten, Endes der menschlichen Gattung steht, ist nicht länger die Bewahrung irgendwelcher historisch gewordener Institutionen das primäre Anliegen einer konservativen Stellungnahme, sondern die Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit bloßen überlebens selbst. Da der thermonuklearen und ökologischen Bedrohung alle ausgesetzt sind -auch die Revolutionäre aller Länder und Lager —, ist die planmäßige, rationale und systematische Abwehr dieser Gefahr zur konkret-allgemeinen Aufgabe eines aufgeklärten Konservatismus unter den eschatologischenBe-dingungen der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation geworden: gens humanum conser-vandum. Angesichts der unerbittlichen Nivellierung im Schatten des möglichen kollektiven Untergangs sind alle Menschen Konservative, es sei denn, sie wollen Selbstmord begehen, „Was braucht man noch einen Protest, wenn man nichts mehr hat, wogegen zu protestieren ist?“ Diese Frage Dostojewskijs sagt mehr aus über die Legitimität und Relevan einer konservativen Option in unserer Zeit als alle Manifeste und Traktate sich „abendländisch" gebender Berufskonservativer. Vor dem denkund herstellbaren Ende der Geschichte erweist sie die rational und historisch begründete Überlegenheit einer vis conser vandi über jene Richtungen, die in der Theologie der Revolution sowie in den Fortschritts-doktrinen marxistischer und liberaler Observanz ihren ideologischen Ausdruck finden. Der Konservatismus vermag nämlich, was jene nicht können: er ist imstande, die historische Berechtigung konkurrierender politisch-sozialer Philosophien einzusehen, die historischen Bedingungen ihres Obsoletwerdens anzugeben und überdies die in ihnen enthaltene Wahrheit seiner eigenen Theorie einzuverleiben.

V. Die Relevanz des Konservatismus heute

Glückliche Gesellschaften, hat man gesagt, brauchen keine Soziologie. Sie brauchen auch keinen Konservatismus. Wenn es je solche heilen Gemeinwesen in der Wirklichkeit gegeben haben sollte, so sind sie zumindest für heute und eine unabsehbare Zukunft vollends illusorisch geworden. Daher wird auch der Konservatismus, weit entfernt davon, ein geschichtlich überholter Standort zu sein, weiterhin alle Gesellschaften im Umbruch und „zwischen den Zeiten" als Mahner, Korrektiv und Avantgarde des Bewahrens begleiten. Alles spricht dafür, daß das Menschsein selber, die Humanität und Kreatürlichkeit im Horizont der Erfahrungen des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts hindrängen zu einem neuen, aufgeklärten Konservatismus, der nicht länger als Steigbügelhalter reaktionärer Herrenreiter oder als Angelegenheit politischer Köhler und Dandies abgetan werden könnte. Eine Menschheit, die das konservative Element restlos verdrängte, würde nicht nur zum Opfer utopischer Lebenslügen, sondern fiele letzten Endes erinnerungslos zurück in die Barbarei

Gibt es in unserer Gegenwart Tendenzen oder wenigstens Symptome, die auf ein praktisches Bedürfnis nach einem konservativen Ansatz hindeuten, auf die von uns behauptete Relevanz eines — auch über sich selbst — aufgeklärten Konservatismus? Einige Beobachtungen lassen es nicht abwegig erscheinen, diese Frage mit Ja zu beantworten. 1. Das Strukturgesetz der Industriegesellschaft selbst fordert nach einem konservativen Korrektiv ihrer Dynamik. Gerade wegen der vielen unvorhersehbaren Wandlungen in allen Lebensbereichen ist unsere hochdifferenzierte, risikoreiche, eminent stör-und sabotageanfällige Zivilisation mehr denn je auf intakte Ko-ordinierungs-, Integrationsund Stabilisierungsfunktionen angewiesen, auf rationale, durch Bindung an Gesetze und Präjudizien geleitete Autorität, auf eine funktionierende Rechtsprechung und in langfristigen Kategorien planende Verwaltung. All dies ist notwendig, nicht um Entwicklung zu drosseln, sondern um sie überhaupt erst sicherzustellen. * Um aber den technologischen Fortschritt zu steuern, ist es erforderlich, einen Punkt außerhalb desselben zu finden. Lenken läßt sich ein System nur aus einer Position, die nicht selbst vom System abhängt: das sagt schon eine Grundregel der Kybernetik. 2. Die mit der Verschmutzung, Vergiftung und Zerstörung von Erde, Wasser und Luft zusammenhängenden Probleme von Umwelt-und Lebensschutz verleihen den typisch konservativen Tugenden des Erhaltens, Hegens und Bewahrens, der Bindung des Menschen an ihn übergreifende Ordnungen eine neue Aktualität. Bertolt Brecht meinte, ein Gespräch über Bäume sei heutzutage fast ein Verbrechen, weil es „ein Schweigen über so viele Untaten" einschließe: Hinwendung zur Natur sei Flucht vor dem, was not tue. Inzwischen wissen wir, daß ein Schweigen über Bäume, Wasser und Luft nicht länger revolutionäre Askese, sondern Weltfremdheit, Menschenfeindlichkeit und Reaktion im übelsten Sinne bedeutet. Man kann nicht vom Konservatismus sprechen, ohne vom Menschen zu sprechen. Man kann aber nicht vom Menschen sprechen, ohne von seiner Umwelt zu sprechen. Konservativ ist die Einsicht, daß die natürliche Umwelt nicht ein beliebig auszubeutendes Objekt, sondern ein „Partner" der menschlichen Gattung ist Konservativ ist die tätige Erinnerung des Menschen an die unvermehrbare Natur, an die „ökologischen" Mächte: Erde, Wasser und Luft. Solche Besinnung hat nichts mit dumpfer Schollenromantik ä la „Blut und Boden" zu tun, sehr viel aber mit einem Wachstum und Reifen menschlicher Personalität, mit einer Abkehr von jenem infantilen Stadium verantwortungslosen Raubbaus, der unseren Planeten, um mit Ludwig Klages und Ernst Bloch zu sprechen, in ein einziges Chica-go zu verwüsten droht Dieser Umkehr mag, verwandelt und vielleicht nur als ein Hauch, wieder etwas von dem entspringen, was früher einmal Kult, Ritus und liturgische Gemeinschaft durchglühte. 3. Spätestens während des Zweiten Weltkriegs und als seine unmittelbare Folge wurden alle jene Schichten entmachtet, die traditionellerweise konservativ eingestellt waren: Adel, Junkertum, Großgrundbesitz und Dynastien spielen heute nur mehr in Illustrierten eine Rolle, politisch haben sie ausgespielt Inzwischen sind, wie beispielsweise Herbert Marcuse zähneknirschendzugeben mußte, nicht mehr die parasitären, sondern die produktiven Klassen der Gesellschaft spontan für eine konservative Haltung aufgeschlossen. Die Arbeiter haben heute im Ernstfall mehr als ihre Ketten zu verlieren und bilden deshalb in fast allen hochindustrialisierten Staaten eine Hauptkraft des Konservatismus, wenngleich es sich sehr oft nur um einen kritiklosen Konservatismus des Konsums handelt. 4. Konservatismus bedeutet heute — entgegen der Meinung Greiffenhagens — nicht mehr Kampf gegen die emanzipatorischen Konsequenzen der Aufklärung, sondern vielmehr Erhaltung und Sicherung des erreichten Maßes an Emanzipation, der Errungenschaften der großen westlichen Revolutionen: der Menschenrechte, der Gewissensfreiheit, des Rechtsstaates usw. „Deshalb enthält Fortschritt", wie Arnold Künzli festgestellt hat, „auch ein konservatives Element: dasjenige an äußerer und innerer Freiheit, was im Verlaufe der Geschichte bereits erkämpft worden ist, soll bewahrt, auf ihm soll aufgebaut werden. Das ist nicht eine Frage von Evolution und Revolution, es gilt für beide in gleichem Maße." Konservatismus ist das Bewußtsein, daß sich die Resultate der neuzeitlichen Emanzipation nicht von selbst verstehen, daß sie vielmehr immer wieder von neuem gesichert werden müssen im Widerstand gegen neue Formen von Entmündigung und Dehumanisierung. Diese Gefahren drohen heute nicht mehr in erster Linie vom Staat im traditionellen Sinn sondern von der Eigenmacht der technologisch, industriellen Entwicklung, die ebenso unter Kontrolle gebracht werden muß, wie seinerzeit der fürstliche Absolutismus Von Burke ist gesagt worden: er war liberal, weil er konservativ war. Von den neuen Konservativen wird man sagen können: sie sind konservativ, weil sie liberal sind.

5. Unter konservativem Vorzeichen stehen einige bemerkenswerte Wandlungen im ideellen Haushalt der allerletzten Jahre: so die Verdrängung des subjektivistischen Existentialismus durch den Strukturalismus die in verschiedensten Gebieten auftretenden und bislang getrennte Disziplinen miteinander in einen fruchtbaren Dialog bringenden Ansätze in Richtung auf ein Denken in Ganzheiten und Systemen, das den Fehler eines gewissen doktrinären „Universalismus" vermeidet; ferner die erstaunliche Kehre Max Horkheimers, des Nestors der „Kritischen Theorie", die gleichwohl schon von allem Anfang an in bestimmten Elementen dieser philosophischen Schule angelegt war. Horkheimer betont, „daß richtige Aktivität nicht bloß in der Veränderung, sondern auch in der Erhaltung gewisser kultureller Momente besteht, ja daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute" Dies sind nur einige Zeichen, die zu der Vermutung berechtigen, daß wir nicht nur an der Schwelle eines neuen Konservatismus-Verständnisses, sondern auch einer konservativen Renaissance im gesellschaftlich-politischen Raum angelangt sind. Jahrzehntelang fixierte Fronten sind durchlässig geworden; ideen-politische Kristallisationen, die unwandelbar schienen, beginnen sich zu verflüssigen und nehmen zum Teil völlig veränderte Konturen an; Parolen, die man aus einer bestimmten Windrichtung zu hören gewohnt war, werden plötzlich von entgegengesetzter Seite laut. Und so würde es nicht wunder nehmen, wenn sich andeutende Wandlungen in der geistigen Atmosphäre unserer Zeit auch einer lange verketzerten Sache zugute kämen, für die, mangels eines besseren, weiterhin das Wort Konservatismus stehen mag. Dieses würde dann nicht länger eine aparte parteipolitische Provinz bezeichnen, sondern die quer durch die Parteien und über sie hinaus wirkende Sammlung derer, die dafürhalten, daß nur Frivolität mit Revolution und Bürgerkrieg spielt; daß es darauf ankomme, die Mauern des Brauches, der Tradition, der Verantwortung und auch des guten Tons nicht niederreißen zu lassen; daß Wandel ohne Bewahrung nur ein Über-gang von einem Nichts zum anderen ist und die auf die Weise des Vergessens erschlichene Freiheit leer.

Konservatismus ist keine Heilslehre und kein Weg zur Erlösung von allem Übel. Er ist der sich wandelnde Ausdruck dessen, was im Grunde unwandelbar bleibt; Bewußtsein von den elementaren Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität, von den Konstanten der menschlichen Natur überhaupt; der in die Politik hineinragende Aspekt eines Denkens und einer Haltung, die an der condition humaine nicht leichtfertig vorbeizielen Er schützt vor Illusionen über die Natur des Menschen und die Möglichkeiten von Politik. Er ist — auch in seiner nicht mehr direkt dem Christentum verpflichteten Gestalt — ein Bekenntnis zur gefallenen Welt, zur unaufhebbaren Spannung zwischen der kreatürlichen Schwäche des ge-nus humanum und jenem utopisch Äußersten, das die erzkonservative imago „Heimat" meint

Der Abbe Galiani sagte zu Madame d'Epinay: Wichtig ist nicht, gesund zu werden, sondern mit seinen Krankheiten zu leben. Konservativ ist eine gewisse Trauer in Weltbegegnung und Daseinsgefühl, ein gewisses Mißtrauen gegen alle noch so menschenfreundlichen Weltumbaupläne, die das Paradies auf Erden verheißen. Der Konservative verneint nicht den Fortschritt, aber er fragt, bis zu welchem Ende fortzuschreiten sei, welche Kosten daraus entstehen, welche Dinge dabei verlorengehen. Der Konservative weiß, daß ans Erinnern und Bewahren alle menschliche Würde geknüpft ist, daß, nach einem Wort von Kraus, ohne das, was sie für einen überwundenen Standpunkt hält, die Menschheit auf die Dauer nicht auskommen kann. Im Konservativen ist etwas von der leidenschaftlichen Qual des Jungen in Peter Shrubbs Erzählung, der ein Verzeichnis aller Menschen niederlegen will, die jemals gelebt haben, damit ihr Andenken nicht verlorengehe, von dem Ernst, der Kraft und der Gnade der Erinnerung, der memoria, in der Griechentum und Christentum, Platon und Augustinus den Urquell aller Erkenntnis finden.

Im Anblick der vergegenwärtigenden Kraft der Ingens aula memoria wird die Welt erfahren. Erinnerung im anthropologischen, Treue im ethischen, Überlieferung und Institution im gesellschaftlichen Bereich sind es, die den Menschen in seiner Menschlichkeit, in seiner eminenten Versehrbarkeit und Größe, nicht nur auszeichnen, sondern überhaupt erst konstituieren: sie machen ihn zusammenhängend mit sich selbst, mit seinen Altvordern, mit seinen Erben, mit dem Universum. Als Treuhänder der memoria ist der Konservatismus in einer Welt des Verschleißes, die Gedächtnis, Überlieferung, Dauer, ja schon bloße Haltbarkeit aus Gründen ökonomischer Effektivität sukzessive liquidiert, notgedrungen eben nicht, was ihm die Gebildeten unter seinen Verächtern unterstellen, affirmativ und status-quoselig, sondern: Widerstand. Er ist Widerstand gegen die Zumutung, es sei dem Menschen bestimmt, nach einer Selbsteinschätzung Eichmanns, „eine Null, eine kleine Schraube in einer Riesenmaschine“ zu sein, oder zwischen Schock und Süchtigkeit zu vergehen. Der Konservatismus ist sich nur zu schmerzlich bewußt, daß Überlieferung, Bewahrung und so etwas wie die Dankbarkeit zu sein nur dann zu vollziehen sind, wenn auch noch dem geringsten Zeitgenossen die Möglichkeit gegeben wird, am Reichtum eines nicht mit dem Tag vergehenden Erbes teilzuhaben Das heißt aber auch — und hierin ist der Konservative mit Marx völlig eins —, den Menschen materielle Bedingungen zu verschaffen, die es ihnen gestatten, über die Sorge für morgen hinaus sich auch jenen guten Werken und höheren Hoffnungen zu widmen, ohne die ein Leben nicht anständig und sinnvoll sein kann. Konservatismus ist die Haltung jener, die durch allen Wandel hindurch bestimmte Dinge bewahren wollen, aber auch darum wissen, daß es darauf ankommt, Dinge zu vollbringen, die wert sind, bewahrt zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu diesem Problem einer „Transformation der Art und Weise, wie wir Wirklichkeiten auffassen“, die Bemerkungen von Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 36, 39, 59 f. Bereits 1926 hat Max Scheler geschrieben: „An die Stelle der absolut konstanten natürlichen Weltanschauung, jenes Idols der bisherigen Erkenntnistheorie, hat der Versuch zu treten, Gesetze der Transformation der relativ natürlichen Weltanschauungsstrukturen auseinander aufzusuchen" (vgl. Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern-München 1960 2, S. 61).

  2. Axel Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1970. — Martin Greiffenhagen spricht im Blick auf diese Auslassung mit Recht von einer „schwerverzeihlichen Einseitigkeit" (in: Das historisch-politische Buch. Ein Wegweiser durch das Schrifttum 19 (1971), H. 3, S. 88).

  3. Vgl. Andreas Graf Razumovsky, Frei von Illusionen. Der neue Generalsekretär der NATO Joseph M. Luns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nr. 133), 12. Juni 1971.

  4. Soweit Hans Heinz Holz in der linksliberalen National-Zeitung, Basel, 28. März 1971.

  5. Soweit Ossip K. Flechtheim, Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln o. J. [1970], S 226 Flechtheims Diktum faßt prägnant zusammen, was man, nach der Figur in Thomas Manns „Doktor Faustus“, das Breisacher-Argument nennen könnte: Als Einwand gegen eine konservative Haltung trifft es daneben, da so gut wie alle Konservativen gemäß der Devise Disraelis „Assist progress, resist revolution" für die Wirklichkeit und Legitimität geschichtlichen Wandels keineswegs blind waren und sind. Dagegen charakterisiert es nicht übel das Dilemma arrieregardistischer Gnostiker, die sich aus der spröden Nüchternheit des modernen Alltags in die traumumflossenen Dämmerzustände imaginärer Vorzeiten zurücksehnen und den „Sündenfall" der Menschheit nicht erst mit der Reformation (wie die französischen Traditionalisten) oder der paulinischen Interpretation der Lehre Christi (wie Nietzsche), sondern bereits in einem unvordenklichen Archaikum ansetzen (Alfred Schuler, Ludwig Klages, zum Teil auch Georg Friedrich Däumer, Rene Gunon und Giulio Evola).

  6. Vgl. Richard von Weizsäcker, Progressive und Konservative, in: Süddeutsche Zeitung (Nr. 44), München, 20. /21. Februar 1971, S. 8.

  7. In; Interplay, November 1968, S. 4.

  8. Vgl. dazu Milan Kangrga, Die Marxsche Auffassung der Revolution, in: Praxis. Revue philosoPhique. Edition internationale, Zagreb 5 (1969), Nr. 1— 2, S. 26— 36.

  9. Vgl. Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 138 ff.

  10. Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Bericht über die Erzieherkonferenz am 6. und 7. November in Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1960, S. 14.

  11. Vgl. Max Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 50.

  12. Stefan George, Der Stern des Bundes, Berlin 1914, S. 35.

  13. Vgl. dazu Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 67 ff.; Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Vom „Preußischen Stil" zum „Dritten Reich"; Arthur Moeller van den Bruck, in; Karl Schwedhelm (Hrsg.), Propheten des Nationalismus, München 1969, S. 139— 158, insbes. 155 ff.; Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München-Wien o. J. [1961], S. 40 ff., 123 ff., 129 ff., 209 ff., 244 ff.; Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, a. a. O., insbes. S. 239 ff.

  14. Vgl. Caspar von Schrenck-Notzing, Ein Wort -zwei Deutungen, in: Konservativ heute, Nr. 5 (Bonn-Bad Godesberg), November/Dezember 1970, S. 15.

  15. Vgl. Edmund Burke, Betrachtungen über die französische Revolution. In der deutschen Übertragung von Friedrich Gentz. Bearbeitet und mit einem Nachwort von Lore Iser, Frankfurt a. M. 1967, S. 69.

  16. Vgl. Alexander Dru, Erneuerung und Reaktion. Die Restauration in Frankreich. 1800— 1830, München 1967, S. 220, vgl. auch 64 f„ 201 ff., 217 ff.; ders., Chateaubriand oder Bonald, in: Hochland 53 (1961), H 5, S. 421 ff.; Luis Diez del Corral, Chateaubriand und der soziologische Ästhetizismus Tocquevilles, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, hrsg. von Hans Barion, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ernst Forsthoff und Werner Weber, Berlin 1969, S. 115— 152.

  17. Vgl. Gerhard Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858— 1876, Heidelberg 1913, S. 2.

  18. Brief vom 15. Juni 1847, in: Memoires, Bd. 7, Paris 1883, S. 402.

  19. Edmund Burke, Betrachtungen ... (s. Anm. 15), S. 69, vgl. auch S. 70 und 160 ff.

  20. Peter Viereck, Das Credo des Konservativen, in: Die amerikanische Rundschau 5 (1949), H. 27, S. 34.

  21. Moeller van den Bruck, Das dritte Reidt, hrsg von Hans Schwarz, Hamburg 1931 ’, S. 181, 187.

  22. Vgl. dazu Claes G. Ryn, Bertil Häggman Nykonservatismen in USA, Stockholm 1971, S. 31 ff. 41 f„ 61 ff.

  23. Vgl. Russell Kirk, Lebendiges politisches Erbe. Freiheitliches Gedankengut von Burke bis Santayana. 1790— 1958 (Orig.: The Conservative Mind), Erlenbach-Zürich 1959, S. 12 ff. Ähnlich wie Kirk bestimmt die „Prinzipien des konservativen Gedankens" auch Hans Mühlenfeld, Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unsere Zeit, München 1952, S. 319 ff. Vgl. auch Gustav E. Kafka, der in seinem Handbuchartikel „Konservatismus“ (Herders Staatslexikon. 6., erw., Aufl., Bd. 4, Freiburg i. Br. 1959, Sp. 1239) die sechs Kriterien Kirks weitestgehend übernimmt.

  24. Vgl. Michael Landmann, Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch, München 1966, S. 119: „Platon entspricht (...) politisch: der durch Aufklärung und Revolution heraufbeschworenen Umsetzung des bisherigen unreflektierten Konservativseins in eine konservatistisehe Ideologie bei Burke, Adam Müller, Gentz, Chateaubriand, Donoso Cortes. Er war selbst Patrizier, in antidemokratischer Familientradition groß geworden. Die Ideenlehre ist Gegenaufklärung, . konservative Revolution'." Für den Konservatismus reklamierte den Autor der „Politeia“ auch der österreichische Konservative Ernst Karl Winter, Platon. Das Soziologische in der Ideenlehre, Wien 1930.

  25. Uber Plotins rechtsphilosophische Relevanz vgl. neuerdings: Rene Marcic, Geschichte der Rechts-philosophie. Schwerpunkte — Kontrapunkte, Freiburg i. Br. 1971, S. 222— 225.

  26. Uber Pindar als Konservativen vgl. Rudolf Borchardt in: Corona, Dezember 1932, S. 236 ff., und Gerhard Nebel, Pindar und die Delphik, Stuttgart 1961. — Alexander Rüstow, Orstbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kultur-kritik, Bd. 3: Herrschaft oder Freiheit?, Erlenbach-Zürich 1957, S. 199 f., bezeichnet neben Pindar und Platon auch Thukydides als Konservativen. Gemäß der von ihm radikalisierten Uberlagerungstheorie, derzufolge Herrschaft und Ausbeutung erst durch den Einbruch zentralasiatischer Hirten-Nomaden in friedliche Bauern-und Stadtkulturen entstanden sei, deutet Rüstow den Konvervatismus als Oberschichtenideologie: stets entstünde eine konservative Ideologie, wenn die Überlagerer sich von der überlagerten Unterschicht bedroht sähen. Zur Kritik der Uberlagerungstheorie vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie, Neuwied—Berlin 1964, S. 248 ff.

  27. über Dante und Petrarca als Konservative vgl. Alois Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts-und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Darmstadt 1954 2, S. 469 ff.

  28. Als ein kaum mehr zu überbietendes Beispiel für Versuche, eine „konservative Weltlinie" nachzuweisen, sei noch die Liste der von Friedrich Heer als konservativ angesprochenen Gestalten erwähnt: Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Leibniz, Lessing, Mozart, Goethe, Kant, Eichendorff, Stifter, Jeremias Gotthelf, Clausewitz, Fontane, Ebner-Eschenbach, die Suttner, Teilhard de Chardin, Coudenhove-Kalergi ... Im übrigen stattet Heer trotz dieses großen Angebots an Namen den typischen Konservativen mit den Zügen eines linksliberalen Reformkatholiken österreichischer Provenienz aus, während er im Gegenbild des finsteren Reaktionärs so gut wie alles verketzert, was gemeinhin sehr wohl zum Konservativen gehört: z. B. Sinn für Macht und Machtverhältnisse, etwas, was man bei Heers Traumkonservativen ganz vermißt, und Widerstand gegen revolutionäre Entwicklungen. Der wahre Konservative, meint Heer, sei „planlos und programmlos": „Person sein ist alles. . Höchstes Glück der Erdenkinder'..." Friedrich Heer, Der Konservative und die Reaktion, in: Die Neue Rundschau 69 (1959), H. 3, S. 490— 527.

  29. Schon Samuel Johnson, berichtet Boswell, hat gesagt, daß „the first Whig was the devil", und Jarcke, mit Görres Begründer der „Historisch-politischen Blätter" (1838) und Gentz’ Nachfolger in der Wiener Hofkanzlei, meint: „Das Prinzip der Revolution sitzt im Menschen so tief wie die Sünde und ist so alt wie die Sünde." Aus den Worten Kains: „Bin ich der Hüter meines Bruders?" hört Jarcke bereits eine „tief durchdachte Emanzipationsund Ablösungstheorie“ heraus, und die Unterredung, die einst im Garten Eden Eva mit der Schlange pflog, ist ihm „die erste Loge, in der das Wohl der Menschenrechte beraten“ wurde (zit. nach Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 7: Die katholische Kirche in Deutschland, Freiburg — Basel — Wien 1965, S. 209 f.) Der alte Carl Ludwig von Haller veröffentlichte 1834 ein Schriftchen „Satan und die Revolution", die sich gegen Lamennais wendet. Ebenso zieht Donoso Cortes, für den die Revolutionen „vom Teufel“ sind, eine Linie von Satan bis zu Proudhon (vgl. Donoso Cortes, Der Staat Gottes, Karlsruhe 1933, S. 307, 319). Dieses Anathema haben politische Revolutionäre wie Proudhon und Bakunin, aber auch ästhetische wie Baudelaire (in „Les Fleurs du Mal", 1857) als Adelsbrief aufgefaßt: vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Das Lustprinzip Revolution. Michail Bakunin und der Anarchismus, in: Wort und Wahrheit 25 (1970), H. 3, S. 249.

  30. über die Rolle derartiger Weltverschwörungstheorien im politischen Denken mancher Konservativen vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 88, 142 ff., 165 ff., 173 ff., und Thomas Molnar, Kampf und Untergang der Intellektuellen, München 1966, S. 209 ff. Molnr meint sogar, daß sich die „Konspirations" -These „am Ausgangspunkt jedes großen konservativ-reaktionären Gedankens des 19. Jahrhunderts“ entdecken läßt.

  31. Vgl. Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 41 f.

  32. Vgl. Ernst Karl Winter, P. Nikolaus Joseph Albert von Dießbach S. J., in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 18 (1924), S. 22— 41, 282— 304; Joseph von Beroldingen, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 5 (1925), H. 1, S. 62 ff.; Romantik, in: Zeitschrift für Schweizerische Kir chengeschichte 21 (1927), S. 81— 102; Die österreichische Romantik, in: Allgemeine Rundschau 26 (1929), Nr. 18 und 19, S. 329 ff., 354 ff.; Anton Günther. Ein Beitrag zur Romantikforschung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 88 (1930), H. 1 S. 281— 333.

  33. Vgl. Hans Graßl, Aufbruch zur Romantik Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte, München 1968, S. 96 ff.

  34. Vgl. dazu Sheldon Wolin, Richard Hooker and English Conservatism, in: Western Political Quar-terly 4 (1953), S. 28— 47.

  35. Novalis, Blutenstaub, Fragment 104, in: Werke und Briefe, hrsg. von Alfred Kelletat, München 1962, S. 363: „Es sind viele antirevolutionäre Bücher für die Revolution geschrieben worden. Burke hat aber ein revolutionäres Buch gegen die Revolution geschrieben.“

  36. Vgl. dazu Samuel Huntington, Konservatismus als Ideologie, in: Vergleichende Analyse politischer Systeme, hrsg. von Günther Doeker, Freiburg i. Br. 1971, S. 196 ff.

  37. Diese Tatsache stellt die vor allem in der Bundesrepublik weitverbreitete Gleichsetzung von konservativ und illiberal in Frage. Vgl. Helga Grebing, Konservative gegen die Demokratie, Frankfurt a. M. 1971.

  38. Vgl. Alfred North Whitehead, Science and Modern World, New York 1925. Zu Whiteheads politischer Philosophie vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Jeder Fortschritt ist ein Kompromiß. Erinnerung an den englischen Philosophen Whitehead, in: Die Welt, 6. Januar 1968; über den postumen Einfluß Whiteheads auf die nordamerikanische Theologie vgl. Helga Reitz, Was ist Prozeßtheologie?, in: Kerygma und Dogma 16 (1970), II. 2, S. 78— 103; zu seiner Philosophie der Zeit vgl. Reiner Wiehl, Zeit und Zeitlosigkeit in der Philosophie A. N. Whiteheads, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 373— 405.

  39. Hermann Lübbe, Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg i. Br. 1971, S. 87 f.

  40. Vgl. dazu die formalen Kennzeichen des Spiels bei Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 14 ff.

  41. Vgl. Karl Mannheim, Das konservative Denken, a. a. O., S. 411— 418, wo er den Traditionalismus, der „allgemeinmenschlich" sei, mit dem „magischen Bewußtsein" in Zusammenhang bringt und, nicht gerade glücklich, auf „fast rein reaktives Han

  42. Vgl. Vilfredo Pareto, Trattato di Sociologia Generale. Introduzione di Norberto Bobbio, Milano 1964, Bd. 1, S. 526 ff.

  43. Armin Mohler, Der Konservative vor der Breschnew-Doktrin, in: Konservativ heute, Nr. 5 November-Dezember 1970, S. 18. Mohler setzt freilich hinzu: „Bloß darf man nicht glauben, daß der Rückschlag stets zur alten Ordnung zurückführe, b kann auch eine ganz neue (und unter Umständen auch eine recht unerwünschte) Ordnung sein (ebd.).

  44. Goethes Konservatismus wird schön herausgear-beitet von Arnold Bergsträsser, Staat und Dichtung, Freiburg i. Br. 1967, S. 41— 59.

  45. Daß der Konservatismus mehr als andere geistig-politische Richtungen nur aus der geschichtlichen Entwicklung heraus zu verstehen ist, betont mit vielen anderen auch Johann Christoph All-mayer-Beck, Der Konservatismus in Österreich, München 1959, S. 7 f.

  46. Zit. bei Alfons Rosenberg, Revolution und Tradition, in: Die erschreckende Zivilisation. Salzburger Humanismusgespräche, Wien 1970, S. 173 f.

  47. Als Gegenbeispiele vgl. das Burke-Zitat oben S. 30, Anm. 15 und Disraelis Devise „Assist pro-gress, resist revolution". Daß zu den zentralen Ideen der Baaderschen Philosophie die der Evolution gehört, habe ich an anderer Stelle näher erörtert: vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg), Franz von Baader. Sätze aus der erotischen Philosophie und andere Schriften, Frankfurt a. M. 1966. S. 10 f., 15 ff., 25 f. „Non progredi est regredi" War einer der Lieblingssprüche Baaders, über diesen konservativen Evolutionismus vgl. auch Hans Sedlmayr, Erneuerung als konservatives Prinzip bei Baader, in: Studium Generale 15 (1962), H 4 S. 264— 271; über den „konservativen Begriff der Umgestaltung" vgl. Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen, a. a. O., S. 27— 31, und Samuel Huntington, Konservatismus als Ideologie'a. a. O., S. 195 („Konservatismus bedeutet ni® einfach Abwesenheit von Wandel. Er ist der khn erkennbare, systematische, theoretische Widerstand gegen einen bestimmten Wandel") und S. 187.

  48. Dies hat Huntington meisterhaft nachgewiesen vgl. Konservatismus als Ideologie, a. a 0 S. 185 ff., insbes. S. 187, 206 f.

  49. Edmund Burke, Betrachtungen, a. a. O., S. 53, 166, 333.

  50. Joseph Freiherr von Eichendorff, Erzählungen, hrsg. von Werner Bergengruen, Zürich o. J., S. 606. — Das Zitat stammt aus dem im hohen Alter geschriebenen Essay „Der Adel und die Revolution", der auch abgedruckt ist in dem Band von Helmut Schanze (Hrsg.), Die andere Romantik. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1967. S. 151 ff. (die oben erwähnten Sätze S. 195).

  51. Franz von Baader, Sämtliche Werke, Leizpig 1850 ff., Bd. 6, S. 101 f„ 127. Vgl. dazu Leo Löwenthal, Die Sozietätsphilosophie Franz von Baaders, Diss. Frankfurt a. M. 1923 (auszugsweise Veröffentlichung unter dem Titel „Franz von Baader: Ein religiöser Soziologe der Soziologie", in: Internationales Jahrbuch für Religionssozioloqie, Bd--und 3, Köln—Opladen 1965, 1967).

  52. Friedrich von Gentz in seinem Brief vom 23. Dezember 1805 an den Historiker Johannes v. Müller. Zit. bei Jakob Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, Jena 1931 2, S. 231. Vgl. auch den im Tenor übereinstimmenden Brief des alten Gentz an eine Jugendfreundin, den Thomas Mann im Schlußkapitel seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) zitiert (Neuausgabe in der Taschenbuchedition von Manns essayistischem Werk: Politische Schriften und Reden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1968 S. 434 f.) und den Essay über Gentz in dem Band von Carl J. Burckhardt, Gestalten und Mächte, Zürich 1961, S. 299— 335.

  53. Vgl. Wilhelm Hennis, Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit, in: Merkur 25 (1971), H. 6 (278), S. 524. Erstaunlicherweise läßt Hennis gerade die konservativen Denker unbeachtet, obwohl deren Werke vielfach schon im Titel auf Theologie verweisen: „Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere“ (Adam Müller), „Die Staatshaushaltung systematisch dargestellt auf theologischer Grundlage" (Müller), „Uber das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innnigeren Verbindung der Religion und der Politik" (Franz von Baader), „Versuch über den Katholizismus, den Liberalismus und Sozialismus" (Donoso Cortes), „Der christliche Staat" (Friedr. Julius Stahl), „Der Protestantismus als politisches Prinzip" (Stahl) usw.

  54. Tagebuch eines Schriftstellers, 1921, Bd. 1, S. 387

  55. Dies ist auch die These des Marxisten Leszek Kolakowski, Vom Sinn der Tradition, in: Merkur 23 (1969), H. 12 (260), S. 1085 ff.

  56. Vgl. dazu Harald Sioli, Die Biosphäre und der Mensch. Probleme der Umwelt in der heutigen Weltzivilisation, in: Universitas 24 (1969), H. 10, S. 1081— 1088; ders., The Situation of Modern Civilization in the Light of the Ecological Aspect of Life, in: Internationales Handbuch für Ökologie und Lebensschutz, hrsg. v. H. Sioli, Freiburg i. Br. 1972; Bertrand de Jouvenel, Jenseits der Leistungsgesellschaft. Elemente sozialer Vorausschau und Planung, Freiburg i. Br. 1971, S. 69, 157 ff., 193 ff., 277 ff.; Herbert Bruns, Lebensschutz oder Bioprotektion, Wiesbaden 1969.

  57. Vgl. Ludwig Klages, Mensch und Erde (1913), in: Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen, Stuttgart 1956, S. 10; Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935, S. 240 ff. Uber die prophetische Dimension des Denkens von Klages vgl. auch Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Vom Weltschmerz des technischen Zeitalters, in: Karl Schwedhelm (Hrsg.), Propheten des Nationalismus, München 1969, S. 189— 210, insbes. S. 205 ff.

  58. Arnold Künzli, Amery hat recht, in: NationalZeitung, Basel, 28. März 1971.

  59. Vgl. dazu Arnold Künzli, Das Problem der „Technokratie" im Horizont der klassischen Theorien, in: Aufklärung und Dialektik. Politische Philosophie von Hobbes bis Adorno, Freiburg i. Br. 1971, S. 38— 68; Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971.

  60. Vgl. dazu Jean Amery, Was kommt nach Sartre? Neue geistige Tendenzen in Frankreich, in: Tribüne 6 (1967), H. 23, S. 2458— 2465; die Strukturalismus-Diskussion, in: Alternative. Zeitschrift für Literatui und Diskussion 10 (1967), H. 54 (mit Beiträgen von Michel Foucault, Claude Levi-Strauss, S. Chopra, Roland Barthes, Lucien Sebag, Louis Althusser, Jacques Lacan, Lucien Goldmann und Jean-Paul Sartre); Frangois Furet, Die französischen Intellektuellen und der Strukturalismus, in: Neue Deutsche Hefte 15 (1968), H. 2 (118), S. S. 14— 35; Martin Puder, Geschichte und das „Wilde Denken", ebd. 16 (1969), H. 3 (123), S. 120— 126.

  61. Vgl. das Interview in: Der Spiegel, Nr. 1/2 Hamburg 5. Januar 1970, S. 79 ff., und dazu das Buch von Werner Post, Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus. Zum Spätwerk Max Horkheimers, München 1971. Daß Horkheimer dem „Grundgefühl eines krisenbewußten Konservativismus" erlegen sei, vermerkt nicht ohne Vorwurf Michael-Viktor Graf Westarp, „Kritische Theorie in der Sackgasse?, in: Merkur 24 (1970), H. 265, S. 477— 484.

  62. Vgl, Waldemar Besson, Um einen deutschen Edmund Burke bittend, in: Monat 22 (1970), H. 265, S. 81— 84, insbes. S. 83 f.

  63. Vgl. dazu die auf Eichendorff, den konservativen Christen, Beamten und Poeten, bezüglichen Ausführungen von Oskar Seidlin, Versuche über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 148 ff.

  64. Vgl.den Schluß von Gabriel Marcels im Herbst 1951 an der Universität Münster gehaltenen Vortrag: . über den Begriff des geistigen Erbes", publiziert in Gabriel Marcel, Das große Erbe, Münster 1952.

Weitere Inhalte

Gerd-Klaus Kaltenbrunner, geboren 1939 in Wien, studierte dort Rechts-und StaatsWissenschaften. Seit 1962 als Verlags-lektor tätig. Veröffentlichungen: Franz von Baader: Sätze aus der erotischen Philosophie und andere Schriften, Frankfurt a. Main 1966 (als Herausgeber); August M. Knoll: Zins und Gnade. Studien zur Soziologie der christlichen Existenz, Neuwied — Berlin 1967 (als Herausgeber); Studien über Eugen Dühring, Houston Stewart Chamberlain, Arthur Moeller van den Bruck und Ludwig Klages, in: Propheten des Nationalismus, (Hrsg. Karl Schwedhelm), München 1969; Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz, München 1970 (als Herausgeber); Hegel und die Folgen, Freiburg i. Br. 1970 (als Herausgeber); Das Lustprinzip Revolution. Michail Bakunin und der Anarchismus, in: Wort und Wahrheit, Jg. 25 (1970), H. 3, S. 248 bis 265; Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg i. Br. 1972 (in Vorbereitung, als Herausgeber).