Die Außenpolitische Führungselite der Bundesrepublik Deutschland
Heino Kaack/Reinhold Roth
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Zusammenfassung
Der außenpolitische Entscheidungsprozeß läßt sich schwerpunktmäßig von den Konzeptionen, den Institutionen und den Personen der Führung eines politischen Systems aus konzeptualisieren. Hier wird von den politischen Akteuren ausgegangen und nach dem Zusammenhang von Führungsgruppenstruktur und politischem Wandel gefragt. Das Subsystem Außenpolitische Führungselite kann als Interaktionsfeld von Akteursgruppen verstanden werden, die unmittelbar am Prozeß der Entscheidungssanktionierung beteiligt sind. Im Falle der Bundesrepublik steht der Bundeskanzler im Zentrum dieses Systems, dessen Struktur sich infolgedessen vor allem aus den Relationen der einzelnen Gruppen zu diesem Entscheidungszentrum ergibt. Konsens und Dissens der Gruppen mit dem Bundeskanzler sowie die Kooperationsfähigkeit der einzelnen Einheiten dieses Systems, die sich hinsichtlich Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz unterscheiden, werden als strukturelle Determinanten gesehen. Von 1949 bis zur Gegenwart lassen sich insgesamt neun Entwicklungsphasen der außen-politischen Führungselite, die aus 9 bis 13 Einheiten bestand, feststellen, die in drei Grundtypen zusammengefaßt werden können. Von 1949 bis 1957 bestand ein zentralisiertes System mit einem starken Bundeskanzler, auf den die Mehrzahl der Gruppen fixiert war. Nach 1957 löste sich dieses System allmählich auf und entwickelte sich bis 1966 zu einem dezentralisierten System mit einer Pluralität konkurrierender Gruppen, unter denen der Bundeskanzler nicht immer dominierte. Die Große Koalition begünstigte die Bildung eines polarisierten Systems, das auf einer Verschärfung der Gegensätze beruhte, und gegenwärtig wieder zum zentralisierten System tendiert, nachdem einer der beiden Antipoden im polarisierten System nunmehr in das Entscheidungszentrum rückte. Die Bundesrepublik scheint ein Musterfall für den Kreislauf des Strukturwandels außen-politischer Führungseliten vom zentralen zum dezentralen, zum polarisierten und schließlich wieder zum zentralen System zu sein. Politischer Wandel erfolgte dabei vor allem mit der Entwicklung von der Polarisierung zur Zentralität, während Dezentralität die Elitenzirkulation begünstigte.
Wenn außenpolitische Fragen der Bundesrepublik erörtert werden, geht es zumeist um Konzeptionen, Pläne, Vorschläge, Stellungnahmen und Meinungen. In erster Linie werden also Inhalte der Außenpolitik behandelt, während Probleme des außenpolitischen Entscheidungsprozesses erst neuerdings im Zusammenhang mit der Diskussion des Verhältnisses von Innen-und Außenpolitik stärkere Berücksichtigung finden Die personalen Aspekte dieses Entscheidungsprozesses stehen zwar häufig im Mittelpunkt von Presseartikeln, sind bisher aber kaum wissenschaftlich systematisiert worden. Daher soll hier die Struktur der außenpolitischen Führungsgruppen im Vordergrund stehen; Sachprobleme werden nur insoweit erwähnt, wie sie zur Darstellung der Führungsgruppenstruktur unbedingt notwendig sind. Zentrale Arbeitshypothese dieser Untersuchung ist die Vermutung eines Zusammenhanges von Führungsgruppenstruktur und politischem Wandel.
I. Der analytische Bezugsrahmen
1. Zur empirisch-theoretischen Erfassung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses Diese Studie über außenpolitische Führungsgruppen in der Bundesrepublik soll ein Versuch sein, den Komplex des außenpolitischen Entscheidungsprozesses von einem begrenzten Ansatz her auf empirischer Basis wenigstens partiell zu erschließen. Die gegenwärtige Forschungssituation in diesem Themenbereich ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß auf der einen Seite theoretische Konzepte relativ hohen Abstraktionsgrades vorliegen und auf der anderen Seite empirische Fallstudien historisch-deskriptiver Art dominieren, deren Ergebnisse kaum zu generalisieren sind. So wurde kürzlich in einer Bilanz des Forschungsstandes mit Recht gefolgert: „Als erstes Postulat ergibt sich hieraus die Forderung nach der Verbindung von theoretischer Konstruktion und historischer Reflexion."
Abbildung 5
Tabelle 4: Einstufung der Abhängigkeit der Akteure
Tabelle 4: Einstufung der Abhängigkeit der Akteure
Bei dieser Zielsetzung müssen einige methodische Überlegungen genereller Art vorangestellt werden: Nachvollzug und generalisierende Erklärung politischer Entscheidungsprozesse sind Rekonstruktionen zwangsläufig fragmentarischen Charakters. Die verfügbaren Informationen sind reduzierte Wirklichkeit, weil erstens gerade die wichtigsten Entscheidungsgremien nicht öffentlich tagen, weil zweitens selbst Geheimprotokolle bestenfalls die Ergebnisse exakt wiedergeben, aber kaum den Verlauf der Meinungs-und Willensbildung, und weil drittens der Interpret den Akteur niemals einholen kann Diese Trivialitäten, die bei außenpolitischen Problembereichen noch bedeutsamer als bei innenpolitischen sein dürften, werden bei der Theoriebildung zumeist gering geachtet. Der Entscheidungsprozeß wird uneingeschränkt rekonstruierbar und rational gedacht. Die Tatsache, daß Entscheidungen vielfach irrational zustande kommen, ist zwar bekannt, findet aber in geschlossenen theoretischen Systemen kaum einen adäquaten Platz Da wir nicht intendieren, dieses Problem der Irrationalität zu lösen, müssen wir notwendigerweise auch die Illusion aufgeben, Entscheidungsprozesse jemals in einer solchen Zahl und Vollständigkeit rekonstruieren zu können, daß eine theoretische Basis für den systematischen, minuziösen Vergleich gegeben ist. Wir wollen vielmehr davon ausgehen, daß sich der Entscheidungsprozeß im strengen Sinne nur einkreisen läßt. Wenn wir auf empirischer Ebene arbeiten wollen, sind wir daher gezwungen, unsere begrenzte theoretische Systematisierung auf der Basis der vorgegebenen Quellenlage anzusetzen. Theoretische Systemperfektion als Selbstzweck hilft hier nicht weiter, ebensowenig wie auf der anderen Seite der Vorwurf, Theoriebildung sei alternativ nur eine kumulative Anpassung an einzelne empirische Befunde.
Abbildung 6
Tabelle 5: Kompetenzskala
Tabelle 5: Kompetenzskala
Hinsichtlich der Quellenlage können wir von zwei Hypothesen ausgehen:
Abbildung 7
Tabelle 6 Einstufung der Abhängigkeit der Akteure
Tabelle 6 Einstufung der Abhängigkeit der Akteure
1. Der nationale Entscheidungsraum dürfte leichter überschaubar sein als der internationale Entscheidungsraum.
Abbildung 8
Tabelle 7 Berechnung der Kooperationsfähigkeit
Tabelle 7 Berechnung der Kooperationsfähigkeit
2. Diskussionen über Grundsatzfragen der internationalen Politik werden in stärkerem Maße öffentlich geführt als Diskussionen über Spezialfragen.
Abbildung 9
Interaktionsgraphik 1: Außenpolitische Führungselite der BRD 1949-1953
Interaktionsgraphik 1: Außenpolitische Führungselite der BRD 1949-1953
Auf öffentlich zugängliches Material sind Wir aber angewiesen, wenn wir nicht nur politische Prozesse nachzeichnen wollen, die uns einigermaßen zugänglich sind, weil sie historisch sind. Der außenpolitische Entscheidungsbereich der Bundesrepublik läßt sich in folgende Hauptgebiete gliedern: Deutsch-amerikanische Beziehungen, europäische Integration einschließlich deutsch-französische Beziehungen, Sicherheitspolitik, Deutschland-und Ostpolitik, Außen-wirtschaftspolitik, Entwicklungshilfe Geht man von diesen issue-areas aus, so kann man als Grundsatzfragen diejenigen bezeichnen, die nahezu alle oder wenigstens mehrere dieser Bereiche direkt tangieren und in der Regel nicht von funktionsspezifischen Führungseliten allein entschieden werden. Diese Grundsatzfragen betreffen nicht nur Ziele, Rollen und Position der Bundesrepublik in der internationalen Staatengesellschaft, sondern haben gleichzeitig unmittelbare Auswirkungen auf die politische, gesellschaftliche und ökonomische Struktur der Bundesrepublik selbst. 2. Ansatzebenen der Analyse außenpolitischer Entscheidungsprozesse Die Analyse außenpolitischer Entscheidungsprozesse ist grundsätzlich von drei Ansatzpunkten aus denkbar: 1. vom außenpolitischen Problemhaushalt eines Staates (issue-areas) und von den Konzeptionen in den einzelnen Bereichen, 2. von der Struktur des politischen Systems und den institutioneilen Voraussetzungen außenpolitischer Entscheidungen und 3. von den einzelnen Personen bzw. Personengruppen, die als außenpolitische Handlungsträger identifiziert werden.
Abbildung 10
Tabelle 8 : 1. Phase (1949— 1953)
Tabelle 8 : 1. Phase (1949— 1953)
Selbstverständlich sind in jeder Analyse alle drei Ebenen zu berücksichtigen; es geht also nur um die Frage der Schwerpunktbildung a)
Abbildung 11
Interaktionsgraphik 2: Außenpolitische Führungselite der BRD 1953-1955
Interaktionsgraphik 2: Außenpolitische Führungselite der BRD 1953-1955
Problembereiche als Ansatzebene Geht man von den Problembereichen aus, so steht im Mittelpunkt die Frage nach den Konzeptionen und Zielen in der Außenpolitik Dieser Ansatz führt in der Regel zu einer Diskussion der inhaltlichen Probleme, zum Entscheidungsprozeß hingegen nur dann, wenn derart detailliertes Material vorhanden ist, daß eine minuziöse Verlaufsanalyse möglich wird. Derartiges Material besitzen wir aber zumeist nur über historische Probleme, die in keinem unmittelbaren Bezug zu gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen stehen, also für die Politikwissenschaft generell nur von sekundärem Erkenntnisinteresse sein dürften, es sei denn, die Erkenntnisse ließen sich mit Blick auf gegenwärtige Problemstellungen generalisieren. Aber gerade das Problem der Generalisierbarkeit lassen historische Detail-analysen in aller Regel offen. b) Institutionen als Ansatzebene Bilden die Institutionen den Ausgangspunkt von Analysen des außenpolitischen Entscheidungsprozesses, so besteht die Gefahr einer Gleichsetzung von Institutionen und Entscheidungseinheiten nach dem Maßstab der formalen Kompetenz. Handlungseinheiten wären bei einem derartigen Ansatz z. B. das Staatsoberhaupt, der Regierungschef, das Kabinett, der Außenminister, das Außenministerium, das Parlament, eine Parlamentsfraktion oder auch die Dritte Gewalt, also ausschließlich rein formale Entscheidungseinheiten. Dieser Ansatz eignet sich vor allem für Kompetenzvergleiche im Rahmen des Comparative Government, aber damit dürfte der Entscheidungsprozeß in einzelnen Staaten bzw. generell lediglich hin-
Abbildung 12
Tabelle 9 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 9 Gruppen-Positionsindex
sichtlich seiner formalen Voraussetzungen be-
Abbildung 13
Interaktionsgraphik 3: Außenpolitische Führungselite der BRD 1955 -1957
Interaktionsgraphik 3: Außenpolitische Führungselite der BRD 1955 -1957
schrieben und vermutlich nicht einmal wesentlich eingekreist werden. Problematisch ist an diesem Ansatz vor allem, daß er lediglich auf das Regierungssystem, nicht aber auf das politische System bezogen ist. Parteien und Verbände — gesellschaftliche Gruppen überhaupt — haben selbstverständlich Anteil am außenpolitischen Entscheidungsprozeß. Berücksichtigt man sie aber auf der Basis des Ansatzes, so ergibt institutioneilen das der sich sofort Problem Personalunionen Wie Regierungschefs sind die Handlungen aber zu interpretieren, zugleich wenn er Vorsitzender einer Partei ist? Trifft er außen-politische Entscheidungen als Regierungschef oder Parteivorsitzender? Ein Sozialminister, der als Vorsitzender einer Gewerkschaft in das Kabinett berufen wurde, macht seinen Einfluß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß geltend. Handelt er als Kabinettsmitglied leicht oder als Intelessenvertreter? Es ist einzusehen, daß sich die Handlungen nicht immer auf die eine oder andere Position zurückführen lassen. Die formale Position im Regierungssystem dürfte somit als Basiseinheit für die Träger des außenpolitischen Entscheidungsprozesses allein nicht ausreichend sein. c) Akteure als Ansatzebene Daher empfiehlt sich als Ausgangspunkt die Akteursebene. Dieser Ansatz vereint den Aspekt des Regierungssystems und des politischen Systems, indem einerseits die formale Position, andererseits die Gruppenrepräsentation berücksichtigt wird. Die Gruppenrepräsentation eignet sich als Kriterium der Begrenzung außenpolitischer Handlungsträger, weil sie als ein zentrales Phänomen unserer Gesellschaft gelten kann: Politische Macht resultiert weitgehend aus der Repräsentation politischer Gruppen; sie wird nicht allein durch die Position im Regierungssystem definiert. Die Positionen werden von politischen Akteuren in der Regel in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten politischer Gruppen besetzt.
Abbildung 14
Tabelle 10 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 10 Gruppen-Positionsindex
Damit ist der institutionelle Aspekt erfaßt und zugleich der gesamtgesellschaftliche Bezug gesehen. Vor allem aber wird die Vergleichbarkeit im internationalen Rahmen erhöht, insofern das Prinzip der Gruppenrepräsentation grundsätzlich in allen politischen Systemen in vergleichbarer Form gegeben sein dürfte, während hingegen das Institutionengefüge höchst unterschiedlich ist. 3. Eingrenzung der außenpolitischen Führungsgruppen auf nationaler Ebene a) Die politische Führungselite in der Bundesrepublik Deutschland Die Gruppenrepräsentation erfolgt im politischen System der Bundesrepublik in erster Linie über die Parteien, insofern diese im politischen Willensbildungsprozeß — verfassungsrechtlich abgesichert — eine zentrale Funktion ausüben. Die Bundesrepublik weist zwar in den diversen Bereichen gesellschaftlichen Führungseliten auf, diese können aber nicht als eine geschlossene Einheit angesehen Die werden politische Führungselite kann aus der Gesamtheit gesellschaftlicher Führungskräfte nur formal ausgegrenzt werden. Dennoch erscheint diese Begrenzung gerechtfertigt, wenn sie im Zusammenhang mit der Zielsetzung erfolgt, den politischen Entscheidungsprozeß darzustellen. die Während Meinungsbildung und Willensbildung jedem freisteht die Führungskräften aller Art bevorzugt möglich ist, ist die Entscheidungsbildung an formale Kompetenzen auf letztlich verfassungsrechtlicher Basis gebunden. Die Mitwirkung an den politischen Entscheidungen beruht daher in der Regel auf einer bzw. mehreren Positionen, die ein Akteur im Institutionengefüge einnimmt. Dieses Institutionengefüge wird vor allem durch folgende Organisationseinheiten gebildet: Bundespräsident, Bundesregierung mit Kabinett und höherer Ministerialbürokratie, Landesregierungen, Deutscher Bundestag, Länderparlamente, Parteivorstände der Bundestagsparteien auf Bundes-und Landesebene, Verbände auf Bundes-und Landesebene — mit hohen Mitgliederzahlen oder gesamtwirtschaftlich relevanter Funktion —, Organe der Massenkommunikation mit überlokalem Radius sowie die Organe der Dritten Gewalt. Die Mitglieder der politischen Führungselite, die alle in mindestens einer der genannten Organisationseinheiten verankert sein müssen, lassen sich differenzieren in Generalisten und Spezialisten. Die wesentlich kleinere Gruppe der Generalisten nimmt eine Führungsfunktion ein, die sich tendenziell auf alle Bereiche der Politik bezieht. Die Mehrzahl der Führungskräfte hingegen wirkt nur in einem oder mehreren speziellen Bereichen. b) Funktionsspezilische DHIerenzierung der Führungselite Da wir uns hier nur für die außenpolitische Führungselite interessieren, können wir zahlreiche Spezialisten der politischen Führungselite ausklammern. Die Differenzierung in spezielle Führungsgruppen geht im Bereich der Innenpolitik sehr weit. Neben Regierung, Parlament und Parteien spielen in den einzelnen innenpolitischen Problembereichen die jeweils betroffenen Interessengruppen eine erhebliche Rolle. Diese Interessengruppen sind über einen direkten Zugang sowohl zur Ministerialbürokratie wie auch zu den Abgeordneten unmittelbar am Entscheidungsprozeß beteiligt, zumal sie in zahlreichen Fällen über einen Informationsstand verfügen, der dem von Regierung und Parlamentsfraktionen gleichwertig oder sogar überlegen ist In außenpolitischen Problembereichen besteht hingegen ein genereller Informationsvorsprung der Regierung, der auf ihrem besonderen Zugang zu den äußeren Bezugspartnern beruht. Dieser Informationsvorsprung wird verstärkt durch die erheblich größere Kompetenz, die die Regierung gegenüber dem Parlament und allen anderen Organisationseinheiten des politischen Systems in außenpolitischen Fragen besitzt Allerdings bestehen auch im Bereich der Außenpolitik funktionsspezifische Eliten wie z. B. in der Sicherheits-, Europa-, Entwicklungs-und Außenhandelspolitik, die starke Überschneidungen mit funktionsspezifischen Eliten in innenpolitischen Problembereidien, z. B. in der Finanz-, Agrar-, Verkehrs-und Energiepolitik, Diese Überschneidungen werden vor allem infolge der Institutionalisierung der Europäischen Integration wirksam. c) Eingrenzung der außenpolitischen Führungsgruppen durch die Struktur des Entscheidungsprozesses Wie oben bereits erwähnt, soll im folgenden lediglich nach den Führungsgruppen gefragt werden, die an der Entscheidung außenpolitischer Grundsatzfragen beteiligt sind. Es geht hier also nicht um die Spezialisten, die von Fall zu Fall herangezogen werden, sondern um die Generalisten, die einen tendenziell permanenten Zugang zur Mitwirkung an dem ständigen Prozeß der Überprüfung und Korrektur außenpolitischer Grundpositionen haben. Um aber zwischen den einzelnen am außenpolitischen Prozeß beteiligten Akteuren unterscheiden und gegebenenfalls abstufen zu können, müssen wir zunächst den Entscheidungsprozeß näher definieren. Wir wollen davon ausgehen, daß er sich vor allem in drei Phasen einteilen läßt: 1. Die Entscheidungsbildung bzw. -beeinflussung. In dieser Phase wird die Entscheidung präformiert, das heißt, der Spielraum der Entscheidung wird fortlaufend eingeengt. 2. Die Entscheidungssanktionierung. In dieser Phase wird die Entscheidung verbindlich gemacht. Sanktionieren meint hier nicht nur den juristischen Begriff im engeren Sinne, also nicht nur völkerrechtlich relevante Entscheidungen, sondern alle außenpolitischen Entscheidungen, die die Fixierung einer inhaltlichen Position — auch für einen begrenzten Zeitraum und im Hinblick auf vermutete zukünftige Entscheidungen anderer — beinhalten
3. Die Entscheidungsausführung. In dieser Phase werden die Folgerungen aus den Beschlüssen gezogen; dabei ist nicht nur an die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes und an das Außenministerium als Handlungsträger zu denken, sondern ebenso an Fraktions-und Parteigremien, insofern sie die Folgen von Entscheidungen im nationalen Bereich zu verarbeiten haben.
Abbildung 16
Tabelle 11 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 11 Gruppen-Positionsindex
Als außenpolitische Führungselite wollen wir im folgenden die Akteure bezeichnen, die unmittelbar an der Beratung der Entscheidungssanktionierung Anteil haben. Die Kompetenz der Entscheidungssanktionierung liegt in erster Linie beim Bundeskanzler, ferner beim Außenminister und im Kabinett, außerdem — und hier bereits weitgehend begrenzt — beim Parlament. Nur diese institutionellen Einheiten können daher für einen politischen Akteur den unmittelbaren Zugang zur Entscheidungssanktionierung bewirken. Dennoch muß eine weitere Ebene berücksichtigt werden: die Führungsspitzen der Bundestagsparteien, insofern sie zumeist gleichzeitig Füh-13 rungsfunktionen auf Regierungs-und/oder Parlamentsebene einnehmen.
Abbildung 17
Interaktionsgraphik 5: Außenpolitische Führungselite der BRD 1961 -1963
Interaktionsgraphik 5: Außenpolitische Führungselite der BRD 1961 -1963
Daraus ergibt sich, daß sich die außenpolitische Führungselite rekrutiert aus Akteuren mit Funktionen als 1. Kabinettsmitglied, Kanzlerberater, Außenministerberater, 2. Mitglied der Fraktionsführung (vor allem von Regierungsparteien), 3. Mitglied der Parteiführung (vor allem von Oppositionsparteien), 4. Mitglied des außenpolitischen Arbeitskreises einer Bundestagsfraktion, 5. Mitglied des außenpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages, 6. Mitglied der Führung einer sozialen Gruppe, die Funktionsträger unter 1— 5 aufweist. Abgesehen von dieser außenpolitischen Führungselite im engeren Sinne wirken am außen-politischen Entscheidungsprozeß im nationalen Bereich noch Akteure mit, die man auf zwei Typen zurückführen kann. Einmal gehören die Vertreter großer gesellschaftlicher Gruppen wie Arbeitnehmer-und Arbeitgeberverbände sowie die führenden Interpreten der öffentlichen Meinung dazu, zum anderen aber auch die Vertreter zahlreicher sehr spezieller Interessengruppen, wie z. B. Verbandspolitiker der Landwirtschaft oder der Energiewirtschaft. Das Interesse von Akteuren der letztgenannten Kategorie erstreckt sich zumeist aber nur auf spezielle außenpolitische Fragen und tangiert selten die Auseinandersetzung um außenpolitische Grundsatzfragen, auf die wir uns hier konzentrieren wollen
Abbildung 18
Tabelle 12 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 12 Gruppen-Positionsindex
Ferner müssen natürlich die internationalen Bezugspartner der nationalen außenpolitischen Führungselite berücksichtigt werden. Aber auch sie nehmen in der Regel nur am Prozeß der Präformation der Entscheidung teil, nicht hingegen an der Entscheidungssanktionierung. Selbst wenn der amerikanische Botschafter zeitweise im Vorzimmer gesessen haben sollte, während das Bundeskabinett über außenpolitische Fragen beriet, und selbst dann, wenn der Bundeskanzler zwischenzeitlich den Kabinettssaal verlassen haben sollte, um mit dem Botschafter zu beraten, blieb dennoch ein Unterschied in Position und Funktion zwischen Kabinettsmitgliedern und Botschafter. Erstere gehörten kraft Position im politischen System der Bundesrepublik ohne singuläre Vorklärung zu den Akteuren, die die Entscheidung zu sanktionieren hatten. Der Botschafter wurde hingegen von einem der Akteure hinzugezogen; er konnte sich nicht mit undiskutierbarer Selbstverständlichkeit beim Vorgang der Sanktionierung mit an den Tisch setzen. Dabei spielt es keine Rolle, inwieweit die Entscheidung durch Partner des internationalen Systems, z. B. die amerikanische Regierung, bereits präformiert war. Selbst wenn wir den Grenzfall annehmen, daß der Botschafter im Vorzimmer die Entscheidung faktisch diktierte, so blieb dennoch der Unterschied zu den anderen Akteuren, daß er die Sanktionierung nicht selbst aussprechen konnte
Abbildung 19
Interaktionsgraphik 6: Außenpolitische Führungselite der BRD 1963-1965 Mende/Scheel 2, 41
Interaktionsgraphik 6: Außenpolitische Führungselite der BRD 1963-1965 Mende/Scheel 2, 41
Die Bezugspartner des internationalen Systems und die Vertreter sozialer Gruppen wie Indu-strie, Gewerkschaft, Landwirtschaft u. a. sind in der oben definierten außenpolitischen Führungselite — wenn nicht direkt, so doch indirekt — dadurch vertreten, daß die Position von Mitgliedern der außenpolitischen Führungselite sowie die Verbindlichkeit der Sanktionierung von ihnen abhängen. Die Verbindlichkeit wird erreicht durch a) die Autorität der Positionsinhaber, b) Integration der wichtigsten sozialen Gruppen über die an der Sanktionierung beteiligten Personen, c) die Fähigkeit der Kalkulation von Konsens und Dissens der relevanten Bezugspartner im internationalen System seitens der außenpolitischen Akteure.
II. Die Struktur des Subsystems Außenpolitische Führungselite
Abbildung 2
Tabelle Eigenständigkeilsskala
Tabelle Eigenständigkeilsskala
1. Akteure und Akteursgruppen Die Außenpolitische Führungselite besteht nicht aus einer Summe unabhängiger und individueller Akteure, sondern aus Akteuren und Akteursgruppen, die als Repräsentanten politischer Gruppen eine derartige Führungsposition erlangt haben. Ihre Kompetenz erhalten sie allerdings weniger als Gruppenvertreter, sondern mehr als Inhaber von Führungspositionen im staatlichen Institutionengefüge. Schon auf Grund ihrer Position im Regierungssystem gehören stets zur Außenpolitischen Führungselite:
Abbildung 20
Tabelle 13 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 13 Gruppen-Positionsindex
1.der Bundeskanzler, 2.der Außenminister, 3.der Bundestagsfraktionsvorsitzende der führenden Regierungspartei, 4.der Bundestagsfraktionsvorsitzende der führenden Oppositionspartei.
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Interaktionsgraphik 7: Außenpolitische Führungselite der BRD 1965-1966
Interaktionsgraphik 7: Außenpolitische Führungselite der BRD 1965-1966
Weitere nahezu ständige Mitglieder der Außenpolitischen Führungselite ergeben sich aus Personalunionen sowie aus der Repräsentation relativ konstanter Gruppen innerhalb der großen Parteien. So war der Vorsitzende der SPD von 1949 bis 1963 identisch mit dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, von 1963 bis 1966 mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, von 1966 bis 1969 mit dem Außenminister und seit 1969 mit dem Bundeskanzler. Der Bundesvorsitzende der CDU war von 1950 bis 1963 identisch mit dem Bundeskanzler. Von 1963 bis 1966 bestand diese Personalunion nicht, aber Konrad Adenauer schaltete sich aus der Position des Parteivorsitzenden und mit der Autorität des Altbundeskanzlers sowie nicht zuletzt als Repräsentant einer Richtungsgruppe in der Partei in die außenpolitischen Auseinandersetzungen ein. Vom Frühjahr 1966 bis Oktober 1969 waren Parteivorsitzender und Bundeskanzler — von einer Übergangsphase abgesehen — wieder identisch. Nach der Bundestagswahl 1969 spielte der CDU-Parteivorsitzende erstmals keine separate Rolle in der Außenpolitischen Führungselite, zumal seine Ablösung bereits 1970 diskutiert wurde und im Oktober 1971 erfolgte. Seit Oktober 1971 sind Partei-und Fraktionsvorsitzender identisch.
Abbildung 22
Tabelle 14 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 14 Gruppen-Positionsindex
Mit den Fraktionsvorsitzenden sind nicht alle außenpolitischen Führungskräfte in den Fraktionen erfaßt. Es muß in der Regel bei den beiden großen Fraktionen zwischen Fraktionsvorsitzendem und den außenpolitischen Fraktionsexperten unterschieden werden. Der Fraktionsvorsitzende hat nicht nur besondere Informationsmöglichkeiten, sondern auch eine stärkere offizielle Position mit einem höheren Grad von Aussagenverbindlichkeit Die besondere Funktion der Fraktionsexperten ist im Vergleich zum Fraktionsvorsitzenden, Initiativen mit Versuchscharakter bei geringerer Verbindlichkeit zu starten und divergierende Tendenzen in der Fraktion integrativ umzusetzen. Neue Kontakte mit anderen Parteien, die zu Ansätzen einer Umstrukturierung der Relationen innerhalb des Subsystems werden können, aber noch nicht voll kalkulierbar sind, laufen zumeist über die Fraktionsexperten. Darin ist deren spezifische Funktion innerhalb des Systems Außenpolitische Führungselite zu sehen. Befindet sich eine Partei in einer generellen Isolation — wie die SPD bis etwa Mitte der fünfziger Jahre —, so erübrigt sich eine Differenzierung zwischen Fraktionsvorsitzendem und -experten, da die genannte spezifische Funktion der Experten weitgehend entfällt. Die Fraktionsexperten dürfen sicherlich in vielen Fällen nicht als homogene Gruppe gesehen werden. Wenn wir sie hier als Einheit zusammenfassen, so hat das folgende Gründe: Der Bundeskanzler, der Außenminister und die Fraktionsvorsitzenden sind Einheiten des Sub-Systems Außenpolitische Führungselite nicht als Einzelakteure, sondern als Spitze einer Organisationseinheit, deren personeller Apparat als Akteursgruppe verstanden werden kann. Die Struktur dieser Akteursgruppe ist eindeutig: Die Gruppe arbeitet ausgerichtet auf und im Namen einer Person, der die institutioneile Kompetenz gehört. Dem einzelnen Fraktionsexperten fehlt eine vergleichbare institutionelle Kompetenz, aber den Experten einer Fraktion insgesamt kann sie zugesprochen werden, insofern diese sich bei mehrheitlichem Konsens auf die Repräsentation der Fraktion berufen können, intern notfalls sogar gegen den Fraktionsvorsitzenden.
Abbildung 23
Interaktionsgraphik 8; Außenpolitische Führungselite der BRD 1966 -1969
Interaktionsgraphik 8; Außenpolitische Führungselite der BRD 1966 -1969
Weitere ständige Gruppen der Außenpolitischen Führungselite ergeben sich aus der Struktur des Parteiensystems. In der CDU und in der SPD müssen in außenpolitischen Problembereichen die Berliner jeweils als separate Gruppe verstanden werden, weil diese Gruppen im Hinblick auf den Wandel der Relationen zwischen SPD und CDU insgesamt systemkonstitutiv wirkten. Innerhalb der SPD nahm in den fünfziger Jahren insbesondere der rechte Flügel der Berliner Sozialdemokraten eine Sonderstellung ein, indem er partiell mit Adenauers Westpolitik übereinstimmte Andererseits befand sich auch die Berliner CDU zeitweilig in einer Zwischenstellung, so daß über die Berliner Vertreter der beiden großen Parteien integrative Kontakte liefen, die direkt von Parteispitze zu Parteispitze nicht möglich waren. Nach dem Schwinden des diametralen Gegensatzes von SPD und CDU änderte sich die Funktion der Berliner Partei-gruppen. Die Berliner SPD gewann mit Brandt zentralen Einfluß auf die sozialdemokratische Außenpolitik in den Jahren 1961 bis 1966. Nach Brandts Eintritt in das Bundeskabinett übernahmen die Berliner Bürgermeister die Rolle eines ostpolitischen Vorpostens, und zwar gerade mit Blick auf die Konstellationen im nationalen System der Außenpolitischen Führungselite.
Abbildung 24
Tabelle 15 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 15 Gruppen-Positionsindex
Ganz anders entwickelte sich die Berliner CDU, die seit Beginn der sechziger Jahre in einem engen Zusammenhang mit den soge-nannten SBZ-Flüchtlingen und den Vertriebenen gesehen werden muß. Die Vertriebenen wurden von 1953 bis 1957 durch den Koalitionspartner BHE in der Außenpolitischen Führungselite repräsentiert. Sie waren in der Phase von 1957 bis 1961 in hohem Maße durch ihre außenpolitischen Experten in der CDU/* CSU-sowie der SPD-Fraktion systemkonstitutiv, insofern über diese Experten parlamentarische Kompromisse zwischen den beiden großen Parteien angebahnt wurden. In den sechziger Jahren hingegen stellten die Vertriebenen in der Außenpolitischen Führungselite keine eigene Gruppe mehr dar; ihre Interessen wurden von diversen anderen Gruppen wahrgenommen und im Hinblick auf system-konstitutive Funktionen von der Berliner CDU aufgefangen. Mit Bildung der Großen Koalition wurde die Berliner CDU für das System Außenpolitische Führungselite bedeutungslos.
Abbildung 25
Interaktionsgraphik 9: Außenpolitische Führungselite der BRD 1969
Interaktionsgraphik 9: Außenpolitische Führungselite der BRD 1969
Die Vertriebenen gewannen hingegen wieder einen Platz in diesem System, nachdem die CDU in die Opposition gegangen war.
Abbildung 26
Tabelle 16 Gruppen-Positionsindex
Tabelle 16 Gruppen-Positionsindex
Als eigenständige Einheiten waren außerdem einige kleinere Parteien zu berücksichtigen, und zwar ununterbrochen seit 1949 die CSU und die FDP, aus der zeitweilig mehrere Gruppen der Außenpolitischen Führungselite kamen. Neben dem bereits erwähnten BHE war ferner für die Jahre 1949 bis 1957 die Deutsche Partei zu berücksichtigen. Daneben spielten in einigen Phasen einzelne Persönlichkeiten bzw.
Abbildung 27
Tabelle 17 : Konsens und Dissens zum Entscheidungszentrum
Tabelle 17 : Konsens und Dissens zum Entscheidungszentrum
Gruppen der CDU eine systemkonstitutive Rolle, im allgemeinen als Regulativ oder Störfaktor im Rahmen eines Krisenmanagements innerhalb des Systems, und zwar von 1961 bis 1963: Heinrich Krone, von 1963 bis 1965: Konrad Adenauer und Heinrich Krone, von 1965 bis 1966: Konrad Adenauer und Ludger Westrick, von 1966 bis 1969: Bruno Heck und Gerhard Schröder sowie seit 1969: Gerhard Schröder.
Abbildung 28
Abbildung 28
Abbildung 28
Sehen wir vom Bundeskanzler und Außenminister ab, wurde bisher nicht nach den außenpolitisch relevanten Ressorts gefragt.
Abbildung 29
Tabelle 18 Kooperationsfähigkeit der Akteure
Tabelle 18 Kooperationsfähigkeit der Akteure
Dennoch sind diese — sicherlich kein Zufall — überwiegend durch die Orientierung an den relevanten Gruppen innerhalb des Parteien-systems abgedeckt. Das Verteidigungsministerium war bis 1962 mit Franz-Josef Strauß, dem führenden Repräsentanten der CSU, besetzt, 1966 bis 1969 mit Gerhard Schröder und seit 1969 mit Helmut Schmidt. Lediglich Kai-Uwe von Hassel, Verteidigungsminister von 1963 bis 1966 und damals faktisch Neuling in Bonn, wurde nicht als führender Gruppenrepräsentant eingestuft. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen war bis 1962 in den Händen der Berliner CDU, wurde von 1963 bis 1966 von Erich Mende geleitet und von 1966 bis 1969 von Herbert Wehner. Nach 1969 verlor es erheblich an Bedeutung. Während das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein relativ unbedeutendes Ressort blieb, stieg nach Abschluß der Ära Adenauer die Bedeutung wirtschaftlicher Aspekte und Argu-mentationsweisen in außenpolitischen Problembereichen erheblich Von 1963 bis 1966 stand ein stark wirtschaftspolitisch orientierter Kanzler im Entscheidungszentrum, so daß für den Ressortminister kein Spielraum für systemkonstitutive Einflußnahmen blieb, aber mit Bildung der Großen Koalition gewann das Wirtschaftsministerium unter Karl Schiller zunehmend an Eigengewicht im außenpolitischen Entscheidungsprozeß. Schiller wird daher in der Außenpolitischen Führungselite seit 1966 als separate Einheit gesehen. 2. Entscheidungszentrum und Gruppensystem Die einzelnen Gruppen sind nicht nur ungleich strukturiert, sondern auch von unterschied-lichem politischen Gewicht innerhalb der Außenpolitischen Führungselite. Im politischen System der Bundesrepublik besitzt der Bundeskanzler eine eindeutige Vorrangstellung. Im Bereich der Exekutive dominiert er infolge seiner Richtlinienkompetenz, die sich in außen-politischen Problembereichen verstärkt auswirkt, weil hier die Kompetenz der Regierung im Vergleich zum Parlament höher ist als in innenpolitischen Problembereichen Der Bundeskanzler kann daher als Entscheidungszentrum im System der Außenpolitischen Führungselite angesehen werden. Das bedeutet, seine Position ist stärker als die jeder anderen einzelnen Gruppe, schließt aber nicht aus, daß er zeitweise von einer Koalition anderer Gruppen majorisiert wird.
Seit 1949 hat sich die Struktur des Subsystems Außenpolitische Führungselite mehrfach gewandelt, so daß — wie im folgenden noch dargestellt wird — neun Phasen zu unterscheiden sind. In diesen neun Phasen lag die Zahl der Gruppen einschließlich Entscheidungszentrum zwischen 9 und 13. Jede dieser Gruppen hat mit jeder anderen vielfältige Beziehungen, die jeweils nachjssue'und Konstellation wechseln. Sämtliche Relationen dürften daher wohl kaum in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sein. Man kann davon ausgehen, daß nicht alle diese Relationen die Struktur des Subsystems gleichermaßen bestimmen. Hier geht es in erster Linie um die Korrelation von politischem Wandel und Strukturwandel der Außenpolitischen Führungselite. Politische Innovation in außenpolitischen Problembereichen kann im politischen System der Bundesrepublik im Hinblick auf die Entscheidungssanktionierung nicht ohne das Entscheidungszentrum Bundeskanzler erfolgen, was nicht heißt, daß sie nicht gelegentlich gegen das Entscheidungszentrum erfolgen kann. Derartige Initiativen einzelner Gruppen werden dann aber mit Blick auf das Entscheidungszentrum unternommen, so daß die wesentlichen Strukturveränderungen im Zuge der Entscheidung über außenpolitische Grundsatzfragen sich aus den Relationen zwischen Entscheidungszentrum und den einzelnen Gruppen ergeben. Daher kann die Darstellung der Relationen beschränkt werden auf die Relationen zwischen Entscheidungszentrum und jeder einzelnen Gruppe sowie auf die Relationen zwischen den Gruppen, soweit sie deren Haltung zum Entscheidungszentrum betreffen. 3. Konsens und Dissens zum Entscheidungszentrum Die Struktur der Außenpolitischen Führungselite wird somit weitgehend definiert durch das Ausmaß von Konsens und Dissens der einzelnen Gruppen zum Entscheidungszentrum. Konsens wird in den Interaktionsgraphiken dargestellt durch Verbindungslinien zwischen dem Entscheidungszentrum und den einzelnen Gruppen. Dissens gegenüber dem Entscheidungszentrum wird dargestellt durch Verbindungslinien zwischen den einzelnen Gruppen. In der Haltung zum Entscheidungszentrum werden, gemessen am Ausmaß der Überein-stimmung, fünf Formen unterschieden: 1. Hoher Konsens Die Gruppe stimmt derart mit dem Entscheidungszentrum überein, daß keine relevanten abweichenden Beziehungen zu anderen Gruppen bestehen. Sie ist eindeutig auf das Entscheidungszentrum fixiert. 2. überwiegender Konsens Die Gruppe stimmt mit dem Entscheidungszentrum in den Grundkonzeptionen und der Mehrzahl der Entscheidungen überein. Sie unterhält aber abweichende Beziehungen zu mindestens einer anderen Gruppe, insbesondere um gemeinsame Gruppeninteressen sowie personelle Forderungen und sich daraus ergebende Nuancierungen der Grundkonzeption gegen das Entscheidungszentrum durchzusetzen. Die Gruppe ist dennoch in erster Linie auf das Entscheidungszentrum fixiert. 3. Partieller Konsens Die Gruppe stimmt insgesamt etwa gleichermaßen mit dem Entscheidungszentrum überein, wie sie andererseits abweichende Beziehungen zu mindestens einer anderen Gruppe unterhält. Sie ist auf keine Einheit des Subsystems eindeutig oder auch nur überwiegend fixiert, sondern kooperativ, wechselnd je nach Situation, , issue'und Konstellation in anderen Teilen des Subsystems.
4. Geringer Konsens Die Gruppe stimmt mit dem Entscheidungszentrum in der Grundkonzeption nicht unbedingt und in der Mehrzahl der Entscheidungen überwiegend nicht überein, findet aber dennoch zu diesem gelegentlich einen Konsens. Die Beziehungen der Gruppe zu anderen Gruppen sind in der Regel wesentlich intensiver als die zum Entscheidungszentrum. Die Gruppe ist auf mindestens eine andere Einheit des Subsystems stärker fixiert als auf das Entscheidungszentrum. 5. Kein Konsens Die Gruppe lehnt die Grundkonzeption des Entscheidungszentrums durchgängig ab. Sie ist auf keine Einheit des Subsystems mehr fixiert als auf sich selbst.
Dissens wird hier als strikter Komplementär-begriff verstanden. Hoher Konsens schließt Dissens aus, überwiegender Konsens läßt Raum für geringen Dissens, partieller Konsens ermöglicht partiellen Dissens, geringer Konsens überwiegenden Dissens und kein Konsens hohen Dissens. 4. Kooperationsfähigkeit als Voraussetzung der Relevanz von Konsens und Dissens Konsens und Dissens spielen für die Struktur der Außenpolitischen Führungselite noch nicht dann eine Rolle, wenn sie lediglich konzeptionell vorhanden sind, sondern erst dann, wenn sie durch Kooperation mit anderen Gruppen in politisches Handeln umgesetzt werden.
So stand die FDP-Fraktion unter Thomas Deh ler in den Jahren 1955 bis 1957 nur in einen geringen Konsens zu Konrad Adenauer, mi dem die SPD gleichzeitig generell nicht über einstimmte Der konzeptionelle Dissens bei der Gruppen hatte unterschiedliche Ursachei und konnte daher nicht in gemeinsames poli tisches Handeln gegen das Entscheidungszen trum umgesetzt werden. Dissens gegen da: Entscheidungszentrum wirkt sich strukturver ändernd für die Außenpolitische Führungs elite in der Regel erst dann aus, wenn er zt einer Kooperation von Gruppen führt, die sid tendenziell gegen das Entscheidungszentrum richtet. Systemkonstitutiv sind also nur Rela tionen auf der Basis der Kooperationsfähig keit.
5. Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kom petenz als Positionsfaktoren der Akteure Die Positionen der einzelnen Gruppen dei Außenpolitischen Führungselite sind durch die Analyse des Konsens und Dissens zum Ent Scheidungszentrum sowie der Kooperations fähigkeit noch nicht hinreichend geklärt. Diese Kategorien zeigen zwar die Lage im Interaktionsfeld, erlauben aber keine Gewichtung der einzelnen Gruppen auf gleicher Basis Diese Gewichtung soll im folgenden über die Faktoren Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz vorgenommen und mit der Kooperationsfähigkeit in Verbindung gesetzt werden. a) Definition der Begriffe Eigenständigkeit ist das Einfluß-und (Mit-) Entscheidungspotential eines politischen Akteurs, das auf der „Quelle" beruht, aus der er seine Position im System erhält. Die Eigenständigkeit zeigt an, für wen der Akteur — die personalisierte Spitze einer Gruppe — steht, für wen er sprechen kann. Abhängigkeit ist die Bindung an Entscheidungen und Einstellungen der Institution bzw. sozialen Gruppe, auf die der Akteur als eigene Basis Rücksicht nehmen muß.
Kompetenz wird entsprechend dem vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch verstanden und zeigt die Affinität zu außenpolitischen Problembereichen an, die sich aus der Position des Akteurs im Institutionengefüge ergibt. b) Eigenständigkeitsskala Im Hinblick auf das Subsystem Außenpolitische Führungselite lassen sich sechs relevante Formen der Eigenständigkeit — wie in Ta21) belle 1 dargestellt — unterscheiden und skalieren. In dieser Skala erhält die stärkste Form der Eigenständigkeit den Indexwert 1, 00, die schwächste in diesem Fall nicht den Wert 0, 00, sondern 0, 17; denn „keine Eigenständigkeit" heißt nicht, daß der betreffende Akteur überhaupt nicht in der Lage ist, politisch eigenständig zu handeln, sondern lediglich, daß er nicht führender Repräsentant einer eigenständigen Einheit in der Außenpolitischen Führungselite ist. „Keine Eigenständigkeit" in diesem Sinne haben zum Beispiel die persönlichen Referenten des Bundeskanzlers und des Außenministers; es ist aber nicht auszuschließen, sondern im Gegenteil sogar zu vermuten, daß sie bisweilen ein gewisses Mitentscheidungspotential haben.
Alle anderen Arten der Eigenständigkeit sind ausschließlich führenden Gruppenrepräsentanten zuzuordnen, die eine der Einheiten des Systems bilden. Eine personbezogene Eigenständigkeit liegt dann vor, wenn Akteur ein aufgrund einer persönlichen Sonderstellung zu einer eigenständigen Einheit im System wird, die nicht im Rahmen des sonstigen Institutionen-und Gruppengefüges liegt. Bundesminister Ludger Westrick, unter Erhard Leiter des Bundeskanzleramtes, hatte in den Jahren 1965/66 eine derartige Sonderstellung inne. Ebenfalls eine personbezogene Eigenständigkeit im außenpolitischen Entscheidungsprozeß besitzt seit 1966 Bundesminister Karl Schiller. Am Beispiel Schiller läßt sich auch der Unterschied zur Eigenständigkeitsform 1 leicht erläutern: Eine amtsbezogene Eigenständigkeit in Hinblick auf außenpolitische Grundsatzfragen schlechthin hat der Bundeswirtschaftsminister nicht; sein Amt verleiht ihm aller-dings eine besondere Kompetenz in außenpolitischen Fragen. Aufgrund der Position sind — relativ unabhängig von der Stellung im
Gruppengefüge — außer dem Bundeskanzler nur noch der Außenminister sowie der Regierende Bürgermeister von Berlin im außenpolitischen Entscheidungsprozeß eigenständig. Im Falle der beiden letztgenannten sind einige Einschränkungen zu machen: Eine amtsbezogene Eigenständigkeit des Außenministers kann nur dann vorliegen, wenn der Bundeskanzler selbst nicht in erster Linie außenpolitisch profiliert und interessiert ist (Schröder/Erhard) oder wenn der Außenminister aus einer früheren Position heraus bereits eine amtsbezogene Eigenständigkeit mitbringt (Brandt/Kiesinger). Die amtsbezogene Eigenständigkeit des Regierenden Bürgermeisters beruht auf dem besonderen Status Berlins. Der Berliner Bürgermeister zählt aber nur dann zur Außenpolitischen Führungselite der Bundesrepublik, wenn er über den Bereich Deutschland-und Ostpolitik hinaus an der Entscheidungssanktionierung beteiligt ist. Eine derartige Beteiligung kann man in der Regel als gegeben ansehen, wenn er gleichzeitig die Möglichkeit hat, als Repräsentant einer Gruppe im Parteiengefüge in den außenpolitischen Entscheidungsprozeß einzugreifen.
Ferner wird zwischen partei-, fraktions-und gruppenbezogener Eigenständigkeit unterschieden. Eine parteibezogene Eigenständigkeit wird den Parteivorsitzenden und gelegentlich auch ihren Stellvertretern zugeordnet, außerdem in der Regel den führenden Repräsentanten der kleineren Koalitionspartner, denn sie stehen für ihre Partei in der Außen-politischen Führungselite, auch dann, wenn sie nicht den Parteivorsitz innehaben. Den Repräsentanten der kleineren Oppositionsparteien wird hingegen nur eine gruppenbezogene Eigenständigkeit zugesprochen, weil sie im parlamentarischen Kräftesystem lediglich für eine Minderheit der Minderheit stehen, also bestenfalls den Repräsentanten von Minderheitsgruppen innerhalb der großen Parteien gleichzusetzen sind. Die fraktionsbezogene Eigenständigkeit trifft nicht nur für die Fraktionsexperten und den Vorsitzenden der Regierungsfraktion zu, sondern bisweilen auch für ehemalige Fraktionsvorsitzende, wenn deren Stellung im Kabinett vor allem auf ihrem Rückhalt in der Fraktion beruht Die parteibezogene Eigenständigkeit ist höher einzuschätzen als die fraktionsbezogene, weil der Partei in politischen Grundsatzfragen im allgemeinen die höhere Kompetenz zugespro22) dien wird. Dabei kommt es nicht auf die reale Kompetenz, sondern lediglich auf die Legitimationsqualität an. c) Abhängigkeitsskala Abhängigkeit ist nicht einfach das Gegenteil von Eigenständigkeit, weil die Abhängigkeit zumeist auf einer anderen „Quelle" beruht als die Eigenständigkeit. In der Skala werden wiederum sechs Formen unterschieden, allerdings nicht in einer der Eigenständigkeitsskala reziproken Anordnung. Als Optimum wird „keine Abhängigkeit" mit dem Indexwert 1, 00 bedacht. Sie setzt voraus, daß der betreffende Akteur unangefochten über den Gruppen steht, was institutionell ohnehin nur dem Bundeskanzler möglich ist und nur für Adenauer in den Jahren 1949 bis 1957 galt, neuerdings wohl auch in außenpolitischen Problembereidien für Bundeskanzler Brandt zutrifft.
Die stärkste Form der Abhängigkeit ist die personbezogene. Der politische Akteur mit personbezogener Abhängigkeit ist nicht führender Repräsentant einer Einheit des Systems Außenpolitische Führungselite, sondern Angehöriger einer Gruppe, der nur über die Person des führenden Repräsentanten in den Prozeß der Entscheidungssanktionierung eingreifen kann. Akteure mit amtsbezogener Abhängigkeit sind zwar führende Repräsentanten einer Gruppe der Außenpolitischen Führungselite, aber durch ein Amt an Weisungen des Ent-Scheidungszentrums gebunden. Das gilt insbesondere für alle Bundesminister, jedoch auch für den Regierenden Bürgermeister von Berlin, dessen Mitwirkung im außenpolitischen Ent-
Scheidungsprozeß durch die Weisungsbefugnis der Alliierten sowie durch die amtsbedingte Abhängigkeit von den Entscheidungen der Bundesregierung und damit vor allem des Bundeskanzlers eingegengt ist.
Gruppen-, fraktions-und parteibezogene Abhängigkeit wurden eingestuft nach dem Ausmaß direkter Kontrolle, die die entsprechenden Organisationseinheiten auf ihre Repräsentanten im Durchschnitt ausüben. Der generell stärksten Kontrolle dürften die Gruppenrepräsentanten ausgesetzt sein, weil die Gruppen ein relativ kleiner, überschaubarer Kreis sind, zumal hier nur solche Gruppen Berücksichtigung finden, die sich innerhalb des Bundestages sowie der Parteispitzen formieren. Die Bindung an die Fraktion insgesamt ist wegen deren Heterogenität in der Regel schwächer als die Bindung an eine kleinere Gruppe. Die Bindung an die Partei wiederum ist schwächer als die Bindung an die Fraktion, weil letztere ständig präsent ist, in kurzen Zeitabständen zusammentritt und schon räumlich dem permanenten Entscheidungsprozeß näher ist. Partei-bezogene Abhängigkeit meint nicht die Abhängigkeit vom Parteipräsidium, das entweder mit der Fraktionsführung oder mit dem Kabinett weitgehend identisch ist, sondern die Abhängigkeit von der Partei insgesamt, symbolisiert vor allem durch die Parteitage. Partei-bezogene Abhängigkeit stellt also nur eine sehr geringe Stufe der Abhängigkeit dar und bedeutet, daß der betreffende Akteur zur Legitimierung seiner Entscheidungen in der Regel nur der — zumeist nachträglichen pauschalen — Zustimmung der Partei bedarf. Aufgrund seiner unangefochtenen Stellung als Parteivorsitzender oder auch als dessen Stellvertreter steht ein derartiger Akteur sozusagen souverän über der Fraktion. d) Kompetenzskala Die Kompetenz eines Akteurs kann sich auf alle zentralen Bereiche der internationalen Politik erstrecken, sie kann sich aber auch — zumindest dominant — auf einen oder einige Problembereiche beschränken. Je nachdem sprechen wir von genereller oder partieller Kompetenz. Die Kompetenz kann auf einem Amt in der Regierung, der Fraktion oder der Partei sowie auf einer führenden Stellung in einer Gruppe beruhen, sie kann aber auch durch fachliche Qualifikation als Experte erworben sein und sich darauf beschränken. Da die gruppenbezogene Kompetenz grundsätzlich nur partiell ist, ergeben sich somit neun Formen der Kompetenz, deren Indexwerte in Tabelle 5 genannt sind. Wer keine Kompetenz hat, gehört nicht zu den außenpolitischen Akteuren, so daß diese Kategorie hier entfällt.
Eine generelle amtsbezogene Kompetenz besitzen nur der Bundeskanzler und der Außenminister. Wird aus Gründen, die übrigens nicht in der Kompetenz liegen, ein Chef oder Staatssekretär des Bundeskanzleramtes oder ein Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zur Spitze einer separaten Einheit der Außenpolitischen Führungselite, so ist auch ihm eine generelle amtsbezogene Kompetenz zuzuordnen. Bundesminister mit außenpolitisch relevantem Ressort besitzen eine partiell amtsbezogene Kompetenz. Danach wird als nächst-höchste Kompetenzstufe die generelle fraktionsbezogene Kompetenz aufgeführt, weil allgemein der Zugang der Bundestagsfraktionen zum außenpolitischen Entscheidungsprozeß direkter ist als der von Parteigremien. Ausgehend vom Kompetenzvorsprung der Regierung in allen außenpolitischen Fragen gegenüber die Opposition wird eine fraktionsbezogene Kompetenz nur der Fraktion der führenden Regierungspartei zugeordnet, wenn nicht — wie im Falle der Großen Koalition — beide Koalitionspartner etwa gleich stark sind. Die partiell gruppenbezogene Kompetenz wird höher eingestuft als die partiell fraktionsbezogene, weil erstens vorausgesetzt ist, daß es sich um Gruppen handelt, die in der Fraktion der führenden Regierungspartei verankert sind, und weil zweitens diese Gruppen dann im Vergleich zum unverbindlicheren Status des Fraktionsexperten auf eine Legitimation als Betroffene hinweisen können. Eine generell parteibezogene Kompetenz haben die führenden Repräsentanten der Oppositionsparteien sowie der kleineren Koalitionsparteien — letztere, soweit sie nicht dem Kabinett angehören — sowie Akteure der führenden Regierungspartei, sofern sie in erster Linie als Träger eines Parteiamtes der Außenpolitischen Führungselite angehören Eine partielle parteibezogene Kompetenz haben Gruppen, die sich vor allem auf eine Oppositionspartei stützen Solche Gruppen gehören allerdings nur in Ausnahmesituationen zur Außenpolitischen Führungselite. Die Fraktionsexperten haben — sofern sie nicht der führenden Regierungspartei angehören — lediglich eine generell fachbezogene Kompetenz, in Einzelfällen sogar nur eine partielle fachbezogene Kompetenz.
Ein einzelner Akteur bzw. Gruppenrepräsentant wird somit in der Regel hinsichtlich Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz einen höchst unterschiedlichen Stand in der Rangskala einnehmen. Konrad Adenauer besaß im Zeitraum 1949— 1957 eine amtsbezogene Eigenständigkeit, keine Abhängigkeit und eine generelle amtsbezogene Kompetenz, also eine optimale Stellung in diesem System. Die anderen Akteure hatten zum Teil zwar eine relativ hohe Kompetenz, dann aber zumeist auch eine amtsbezogene — also sehr starke — Abhängigkeit und eine geringere Eigenständigkeit Wechselt ein Akteur von einem Kabinettsposten in die Fraktionsführung, wird zwar seine Abhängigkeit vom Entscheidungszentrum, dem Bundeskanzler, geringer, aber gleichzeitig auch seine Kompetenz. Seine Eigenständigkeit bleibt trotz des Positionenwechsels zumeist konstant, weil sie überwiegend auf einer „Quelle" im Gruppensystem beruht. Das genannte Instrumentarium läßt sich also offenbar für eine differenzierte Analyse der Wandlungsprozesse innerhalb der Führungselite verwenden. e) Positionsindex Die Gewichtung der Akteure ergibt sich nicht nur durch Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz, sondern auch aus der Kooperationsfähigkeit. Diese wird gemessen, indem für jede Phase die Zahl der Gruppen und darauf basierend die Zahl der maximal möglichen Kooperationsbeziehungen (= Gruppenzahl minus 1) festgestellt wird. Wenn eine Einheit des Systems mit allen anderen Einheiten derartige systemkonstitutive Beziehungen hat, erhält sie den Indexwert 1, 00. Variierend aufgrund der unterschiedlichen Gruppenzahl sinkt der Indexwert bis auf Werte zwischen 0, 08 und 0, 13 für nur eine Kooperationsbeziehung
Der Positionswert errechnet sich dann als Addition von Eigenständigkeits-, Abhängigkeits-, Kompetenz-und Kooperationswert. Dabei wird diesen vier Faktoren gleiches Gewicht zugemessen, insofern für jeden Fall die Skala von 0 bis 1 reicht. Die Positionswerte bewegen sich somit in einer Größenordnung bis maximal 4, 00. Die Gleichgewichtigkeit der genannten Faktoren ist natürlich nicht in jeder politischen Situation gegeben, aber hier sollen auch keine einzelnen politischen Situationen gemessen werden. Die Einstufung gilt als Durchschnittswert für einen längeren Zeitraum, in diesem Fall von ein bis vier Jahren. Sie gibt eine formale Position wieder, basiert aber darauf, daß das System als dynamisches Interaktionsfeld verstanden wird. Weitere Faktoren können in diesem Zusammenhang nicht zwingend ausgeschlossen werden, aber die Überprüfung am empirischen Material ergab, das alle vorkommenden Phänomene im Hinblick auf die Wandlung der Gruppenstruktur über diese Faktoren erfaßt werden. Signifikante Dominanz eines der vier Faktoren oder eine Rangfolge waren nicht zu erkennen.
Daher mußten sie in diesem Rahmen gleich gewertet werden.
Mit diesem Instrumentarium soll zunächst die Struktur der Außenpolitischen Führungselite der Bundesregierung im historischen Kontext analysiert werden. Abschließend wird dann zu fragen sein, welche Grundmodelle der Führungsgruppenstruktur sowie des außenpolitischen Entscheidungsprozesses sich mit Hilfe dieses Ansatzes erkennen lassen.
III. Wandlungen des Subsystems Außenpolitische Führungselite der Bundesrepublik Deutschland seit 1949
Abbildung 3
Tabelle 2 Einstufung der Eigenständigkeit der Akteure
Tabelle 2 Einstufung der Eigenständigkeit der Akteure
1. Extreme Zentralität im Entstehungsstadium (1949— 1953)
Überblickt man die Außenpolitische Führungselite seit 1949, so fällt die geringere Gruppen-zahl in der Entstehungsphase auf. Von 1949 bis 1953 setzte sich das Subsystem lediglich aus neun Gruppen zusami ien. Im Entscheidungszentrum standen zugleich Bundeskanzler und Außenminister. Das Auswärtige Amt wurde erst am 15. März 1951 geschaffen und von Adenauer in Personalunion übernommen Es ging aus dem von Adenauer beherrschten Bundeskanzleramt hervor und blieb auch voll in dessen Kontrolle. Konrad Adenauer direkt zugeordnet war ein Kreis von persönlichen Vertrauten, zu denen vor allem Herbert Blankenhorn, Hans Globke, Walter Hallstein, Otto Lenz und Theodor Blank zählten. Dieser Beraterstab war an der Entscheidungsbildung und -Sanktionierung unmittelbar beteiligt, aber in seiner politischen Wirkungsweise allein auf den Bundeskanzler ausgerichtet und nur für ihn nutzbar. Da ein vergleichbarer Stab von keiner anderen Gruppe errichtet werden konnte, besaß Adenauer quasi ein Expertenmonopol auf nationaler Ebene. Die Wirkung dieses Monopols verstärkte sich dadurch, daß Adenauer alleiniger Verhandlungspartner und Informant der Besatzungsmächte war. Seine Eigenständigkeit resultierte aus der Funktion als Regierungschef. Eine partei-bezogene Abhängigkeit lag nicht vor, zumal die Partei auf Bundesebene erst 1950 konstituiert wurde und die Parteiführungsgremien unter dem Vorsitz Adenauers bestenfalls zweitrangige Funktionen im Vergleich zu den Führungsgremien auf Regierungsebene einnahmen. Eine fraktionsbezogene Abhängigkeit Adenauers ist zu verneinen, weil die relativ heterogene Fraktion nicht über die Informationen und die Geschlossenheit verfügte, die für eine Kontrolle Adenauers notwendig gewesen wären. Adenauer profitierte in der Anfangsphase gegenüber dem Parlament davon, daß Außenpolitik formell in die Zuständigkeit der Besatzungsmächte fiel. Die CDU/CSU-Fraktion nahm im Vergleich zu späteren Phasen auch deshalb noch eine relativ unbedeutende Stellung ein, weil Adenauers Beraterstab sich nicht aus der Fraktion bzw.der Partei rekrutierte Adenauer allein besaß eine uneingeschränkte Kompetenz in außen-politischen Fragen, so daß er hinsichtlich der drei Faktoren Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz optimal einzustufen ist.
Auch hinsichtlich der Kooperationsfähigkeit dominierte Adenauer eindeutig. Fünf der anderen Gruppen des Systems standen in einem hohen Konsens zum Entscheidungszentrum. Zwischen ihnen existierte also keine relevante, auf Dissens zu Adenauer beruhende Kooperation. Von den an der Regierungskoalition beteiligten Gruppenvertretern hatte lediglich Jakob Kaiser ein alternatives außenpolitisches Konzept zu Konrad Adenauer, das sich jedoch schon vor der . Gründung der Bundesrepublik als nicht realisierbar erwiesen hatte — eine Tatsache, die seine Position entscheidend schwächte. Dennoch war Kaiser ein innenpolitischer Machtfaktor, da er als Exponent des Gewerkschaftsflügels und der Berliner CDU galt Als Kabinettsmitglied war er von den außenpolitischen Informationen und Entscheidungen Adenauers abhängig und durch diese amtsbezogene Abhängigkeit trotz partieller amtsbezögener Kompetenz als Minister für gesamtdeutsche Fragen in seiner Handlungsweise äußerst eingeschränkt. Die Kabinetts-mitglieder waren nur partiell am außenpolitischen Entscheidungsprozeß beteiligt und konnten keine politischen Grundsatzentscheidungen ohne die Zustimmung des Bundeskanzlers treffen. Das kam u. a. darin zum Ausdruck, daß Konrad Adenauer sie häufig nur einzeln konsultierte, je nach politischer Zweckmäßigkeit Die unzureichende Unterrichtung der Kabinettsmitglieder in außen-politischen Fragen verminderte die Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten eigenständiger Konzepte.
Der Einfluß Kaisers beschränkte sich daher immer mehr auf seine Zuständigkeit im Bereich der Entscheidungsausführung als Minister für gesamtdeutsche Fragen, zumal er für seine Konzeption unter den anderen Gruppen keinen Adressaten fand. Kaiser spielte also im Subsystem Außenpolitische Führungselite lediglich eine Außenseiterrolle. Stärker war hingegen die Position der anderen an der Regierungskoalition beteiligten Gruppen.
Heinrich von Brentano hatte als Fraktionsvorsitzender institutionell bedingt zwar eine relativ hohe Kompetenz und Eigenständigkeit bzw. geringere Abhängigkeit, war aber eindeutig auf das Entscheidungszentrum fixiert. Abweichende Beziehungen zu anderen Gruppen konnten vor allem deshalb nicht relevant werden, weil er in der Fraktion die Rolle des Integrators zu spielen hatte, die eine einseitige Festlegung auf bestimmte Gruppierungen ausschloß. Die Hauptaufgabe Brentanos war folglich, die Außenpolitik Adenauers auf der parlamentarischen Ebene innenpolitisch abzusichern. Wie Brentano hatten auch die außenpolitischen Experten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion infolge des Handlungs-und Informationsvorsprungs Adenauers keinen vom Kanzler unab-hängigen Zugang zur Entscheidungssanktionierung. Sie waren weniger an der Entscheidungssanktionierung beteiligt, als vielmehr Sprecher ihrer Fraktion im Parlament. Ihre eindeutige Ausrichtung auf das Entscheidungszentrum basierte letztlich darauf, daß sich CDU/CSU und SPD antagonistisch gegenüberstanden
Führender Repräsentant der CSU war Bundes-finanzminister Fritz Schäffer, der sich als Kabi-nettsmitglied nicht nur auf eine partielle amts-bezogene Kompetenz, sondern auch auf eine parteibezogene Eigenständigkeit stützen konnte. Auf der Basis des hohen Konsens beschränkte sich sein Einfluß aber auf die durch Adenauer zugewiesenen Handlungsräume.
Innerhalb der DP waren für die Außenpolitik weniger die Bundesminister, sondern allmählich überwiegend der Fraktionsvorsitzende Hans-Joachim von Merkatz zuständig. Die DP betonte die grundsätzliche Übereinstimmung mit Adenauer, um sich dadurch eine Mitbeteiligung am Regierungshandeln zu erhalten. Infolgedessen übte sie nur im personellen Bereich Kritik und befürwortete nahezu unein-Läuterungen zu den Interaktionsgraphiken:
Grundsätzlich zu unterscheiden sind erstens Verbindungslinien vom Entscheidungs-Zentrum (Bundeskanzler) in der Mitte der Graphiken zu den anderen Einheiten und zweitens Verbindungslinien zwischen den anderen die Einheiten.
Die erstgenannten Linien bezeichnen den Konsens einer Gruppe mit dem Entscheidungszentrum; dabei sind vierfache Linie = hoher Konsens, dreifache Linie = überwiegender Kon-Sens, zweifache Linie = partieller Konsens, einfache Linie = geringer Konsens, keine Linie = kein Konsens.
Die zweitgenannten Linien bezeichnen die Übereinstimmung im Dissens zum Entscheidungszentrum zwischen zwei Gruppen; dabei sind vierfache Linie = hoher Dissens, dreifache Linie = überwiegender Dissens, zweifache Linie = partieller Dissens, einfache Linie = geringer Dissens, keine Linie = kein Dissens oder keine zu Kooperation führende Übereinstimmung im Dissens.
Vgl. zu den Definitionen auch Kapitel II 3 und II 4. geschränkt den außenpolitischen Kurs Adenauers
Als ERP-Minister, Vizekanzler und Parteivorsitzender war Franz Blücher der wichtigste außenpolitische Akteur der FDP. Der Einfluß, der sich aus seiner parteibezogenen Eigenständigkeit und seiner partiellen amtsbezogenen Kompetenz ergeben hätte, wurde durch amtsbezogene Abhängigkeit und die geringen dezentralisierenden Kooperationsmöglichkeiten weitgehend gemindert Während Blücher in hohem Maße mit Adenauer übereinstimmte, vertrat Bundesjustizminister Thomas Dehler teilweise von Adenauer abweichende Auffassungen Er konnte sich damit aber ebensowenig durchsetzen wie der außenpolitische Experte der FDP-Fraktion, Karl Georg Pfleiderer, der sogar eine Alternative zur bevorstehenden Westintegration der Bundesrepublik entwickelte. Seine Vorstellungen blieben jedoch politisch unwirksam, da er sich in der Fraktion, die überwiegend Blücher folgte, nicht behaupten konnte Pfleiderer war lediglich Teil einer Gruppe, die an außenpolitischen Entscheidungen letztlich nicht direkt beteiligt war und der Zusammenarbeit mit Konrad Adenauer Priorität einräumte.
Der Versuch der FDP, auf außenpolitische Entscheidungen Einfluß zu nehmen, konzentrierte sich nicht auf Grundsatzfragen, sondern auf personelle Forderungen und das Verlangen nach umfangreicherer Information. Die FDP forderte immer wieder die Auflösung der Personalunion zwischen Bundeskanzler und Außenminister. Bei einer Trennung der Ämter glaubte sie, den Außenminister stellen zu können und dadurch einen direkten Einfluß auf außenpolitische Entscheidungen zu gewinnen Konrad Adenauer behielt sich jedoch alle Entscheidungsbefugnisse vor und setzte Informationen gezielt ein. Der Ursprung des Auswärtigen Amtes lag im Bundeskanzleramt und führte zu einer engen formellen und informellen Verflechtung, indem der Bundeskanzler alle zentralen Entscheidungsfunktionen auf sich vereinigte und die Spitzenpositionen des neu errichteten Auswärtigen Amtes mit seinen persönlichen Vertrauten, Blanken-horn und Hallstein, besetzte Da der Bundeskanzler die personellen Ansprüche der FDP 1 nicht erfüllte und die politische Kraft der FDP nicht ausreichte, Entscheidungen zu erzwingen, blieb ihr der unmittelbare Zugang zu außen-politischen Entscheidungen versagt.
Die SPD-Führung von Partei und Fraktion war zwar nicht so heterogen wie die außenpolitischen Gruppen der Regierungskoalition, dennoch gab es einige interne Differenzen um Konzeption und Taktik Diese wurden im außenpolitischen Entscheidungsprozeß aber nicht wirksam, weil sie von der generell antagonistischen Haltung zum Entscheidungszentrum überdeckt wurden. Schumacher kann im Subsystem Außenpolitische Führungselite für die gesamte SPD mit Ausnahme der Berliner stehen, weil keine innerparteiliche Gruppierung, auch wenn sie mit Schumacher partiell nicht übereinstimmte, im Hinblick auf das Entscheidungszentrum relevante Beziehungen besaß, die Schumacher nicht hatte In bezug auf die Entscheidungssanktionierung wird Schumacher ein relativ hoher Positionswert zugemessen. Schumacher wird aber in der Index-Tabelle nicht zuletzt deshalb an dritter Stelle genannt, weil im Vergleich mit späteren Phasen die Position der zur Koalition gehörenden Gruppen gegenüber dem Entsdieidungszentrum extrem schwach ist. In den Jahren 1953— 1957 bleibt der Positionswert des Oppositionsführers bzw.der Oppositionspartei — weil der Vorsitzende hier für die Partei steht — absolut nahezu konstant, sinkt aber relativ, weil die Werte der anderen Gruppen ansteigen
In der Anfangsphase war die außenpolitische Haltung der stärksten Oppositionspartei gerade im Hinblick auf die Partner der Bundesrepublik im internationalen System noch nicht so gleichgültig wie in den folgenden Phasen, nachdem mit der Bundestagswahl 1953 sich das innenpolitische Kräftegewicht eindeutig zugunsten der CDU/CSU verschoben hatte. Dennoch konnte Adenauer seine außenpolitischen Ziele von der SPD nahezu ungestört verfolgen, zumal die Sozialdemokraten mit der Wahlniederlage der Labour Party im Jahre 1951 ihren wichtigsten Adressaten im internationalen Bezugssystem verloren. Danach konnte Adenauer bei allen Regierungen der westlichen Besatzungsmächte einigermaßen überzeugend mit der These aufwarten, daß die SPD als Gegner seiner mit den Westmächten abgestimmten Außenpolitik nicht der richtige Partner sei Die dadurch bewirkte Isolierung der SPD im internationalen System erleichterte Adenauer innenpolitisch die Strategie, die SPD in die Nähe der KPD zu rücken und damit auch die innenpolitische Isolierung zu manifestieren. Diese wurde durch das antagonistische Verhalten der SPD-Führung verstärkt und beeinträchtigte die Wirksamkeit der SPD im außenpolitischen Entscheidungsprozeß erheblich Die SPD partizi-pierte in keiner Weise am Entscheidungsprozeß der Regierungskoalition, zumal sie als potentieller Koalitionspartner nicht in Frage kam und zur Mehrheitsbildung nicht benötigt wurde. Sie hatte also keine Chance, ihre außenpolitischen Vorstellungen über parlamentarische Mehrheitsentscheidungen zu realisieren. Andererseits war aber auch ihre Chance gering, über öffentliche Meinung und Wählerentscheidungen ihr Konzept durchzusetzen, weil sie infolge des krassen Informationsrückstandes in der öffentlichen Auseinandersetzung sichtbar der geringeren Kompetenz überführt werden konnte. Diese Tendenz bewirkte quasi eine Isolation vom Wähler, indem dieser der SPD im außenpolitischen Problembereich eine geringere Leistungsfähigkeit zuordnete
Eine Stellung zwischen Schumacher und dem Entscheidungszentrum nahm der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter ein. Der rechte Flügel der Berliner SPD, auf den sich Reuter stützte, wich von Schumacher in der Beurteilung der Westintegration erheblich ab und befand sich in einem partiellen Konsens mit Konrad Adenauer Der gemeinsame Dissens von Schumacher und Reuter gegenüber Adenauer bezog sich auf die unterschiedlichen Grundpositionen von SPD und CDU/CSU, der gleichgerichtete gemeinsame Dissens von Reuter und Kaiser betraf hingegen die Berliner Belange. Nur über diese Berliner Kontakte bestand in der Anfangsphase eine systemrelevante Beziehung zwischen CDU/CSU und SPD
Die Außenpolitische Führungselite war in der Entstehungsphase ein extrem einpoliges System, in dem acht zentralen Interaktionslinien nur zwei dezentrale gegenüberstanden, die zudem noch von Gruppen mit niedrigem Positionswert ausgingen. 2. Unveränderte Zentralität bei wachsender Zahl der Akteure (1953— 1955)
Die dominierende Stellung des Entscheidungszentrums blieb auch nach 1953 voll erhalten Die Personalunion von Bundeskanzler und Außenminister wurde erst 1955 aufgelöst. Die personelle Zusammensetzung des Entscheidungszentrums änderte sich nur wenig. Zu den persönlichen Vertrauten Adenauers gehörten von 1953— 1955 Hans Globke, Herbert Blankenhorn, Walter Hallstein, Wilhelm Grewe und Felix von Eckardt. Mit den organisatorischen Vorbereitungen der Wehrpolitik war Theodor Blank betraut. Otto Lenz schied aus dem Beraterstab des Bundeskanzlers aus. Die Komplexität der außenpolitischen Aufgaben führte zu einer Arbeitsteilung innerhalb des Beraterstabes. Hans Globke war für den personalpolitischen Sektor zuständig; Felix von Eckardt für den informationspolitischen; Wilhelm Grewe arbeitete an außenpolitischen Sonderaufgaben der rechtlichen Aspekte der Außenpolitik; Herbert Blankenhorn fungierte als persönlicher Sonderbeauftragter des Bundeskanzlers Walter Hallstein war engster Berater Adenauers für den gesamten Bereich der Außenpolitik in der offiziellen Position des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Während die Stellung der Opposition in der außenpolitischen Führungselite konstant blieb, veränderte sich das Subsystem im Bereich der Koalitionspartner. Der Konsens zu Adenauer war grundsätzlich nach wie vor gegeben, dennoch entwickelten sich in verstärktem Maße Interaktionen zwischen den an der Koalition beteiligten Gruppen, die tendenziell — wenn auch in geringem Maße — für das System eine dezentralisierende Wirkung hatten. Die Zahl der Koalitionsgruppen war von sechs auf acht gestiegen.
Die Koalition war um den BHE erweitert worden, weil Adenauer für die Verabschiedung der Wehrgesetze wegen der dafür erforderlichen Grundgesetzänderungen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament benötigte Der BHE wurde in außenpolitischen Fragen vor allem durch den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer vertreten, der mit Adenauers Außenpolitik in hohem Maße übereinstimmte
Ferner war eine weitere Gruppe hinzugekommen, weil in der FDP eine verstärkte Flügel-bildung eingesetzt hatte. Thomas Dehler war 1953 aus dem Kabinett ausgeschieden und Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion geworden. Mit diesem Positionswechsel verstärkte sich seine Distanz zu Adenauer, während Blücher weiterhin überwiegend mit dem Kanzler übereinstimmte. Zwischen Dehler und Blücher bestand nur eine geringe dezentralisierende Kooperation, soweit sie sich aus der gemeinsamen Parteibasis zwangsläufig ergab. Dehlers partieller Dissens mit Adenauer konnte im Entscheidungsprozeß nicht wirksam werden, weil kein relevanter Kontakt zu anderen von Adenauer abweichenden Gruppen, insbesondere zur Sozialdemokratie, entstand Die Gruppe um Dehler, zu der auch die außen-politischen Experten Karl Georg Pfleiderer und Max Becker gehörten, war vor allem auf der Ausschußebene aktiv Da der Aufbau konzeptioneller Alternativen eine Kooperation mit der SPD, für die die Voraussetzungen fehlten, bedingt hätte, standen personelle Aspekte im Vordergrund. Man forderte die Abberufung Adenauers als Außenminister und den Rücktritt Hallsteins als Staatssekretär
In der CDU/CSU-Fraktion bildeten sich im außenpolitischen Bereich erste Ansätze eines vorerst noch nicht festgefügten Nebenzentrums heraus. Erstmals wurden Arbeitskreise der Fraktion errichtet, unter anderen auch ein außenpolitischer Arbeitskreis Diese Institutionalisierung verlieh den Fraktionsexperten Eugen Gerstenmaier, Kurt-Georg Kiesinger und Richard Jaeger innerhalb der Fraktion ein größeres politisches Gewicht. Ihr Handlungsspielraum war jedoch in zweierlei Hinsicht begrenzt, einmal durch die übergeordnete Stellung des Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden, zum anderen aber infolge divergierender Interessen innerhalb der Gesamtfraktion.
Vergleicht man die Positions-Indices in den beiden ersten Phasen, so ergibt sich, daß der Positionswert der CDU/CSU-Fraktion eindeutig die stärkste ansteigende Tendenz aufweist. Eigenständigkeit, Abhängigkeit und Kompetenz blieben konstant, die dezentralisierenden Kooperationsmöglichkeiten wurden hingegen stärker ausgenutzt Die tendenziell gegen das Entscheidungszentrum laufenden Beziehungen zwischen CDU/CSU-Fraktionsexperten, Fraktionsführung, CSU und Berliner CDU berührten nicht die Geschlossenheit gegenüber anderen Parteien. Sie betrafen vielmehr die Ausformung des innerparteilichen Kräfte-systems und mündeten im Bereich der Außenpolitik in Auseinandersetzungen um personelle Fragen. So forderte die CSU unter Hinweis auf ihr besonders gutes Wahlergebnis, daß bei der Bildung eines Verteidigungsministeriums ein CSU-Vertreter berücksichtigt werden sollte. Daraufhin wurde Franz Josef Strauß als Sonderminister in das Bundeskabinett aufgenommen, der sich in zunehmendem Maße außenpolitischen Fragen zuwandte Für die Berliner CDU trat neben Jakob Kaiser noch Robert Tillmanns ins Kabinett ein. Da er in stärkerem Maße mit Adenauer kooperierte und übereinstimmte, wurde er zum wichtigsten Vertreter dieser Gruppe in der Außenpolitischen Führungselite
In der SPD war an die Stelle Schumachers inzwischen Ollenhauer getreten. Dieser Personenwechsel änderte nichts an der Position der SPD innerhalb der Außenpolitischen Führungselite. Wie in der CDU/CSU bezogen sich die Veränderungen überwiegend auf innerparteiliche Gruppierungen, zwischen denen Ollenhauer zu vermitteln versuchte Das Verhältnis von Regierung und Opposition blieb in den außenpolitischen Grundsatzfragen unverändert. Nach wie vor strebte die SPD die direkte Konfrontation mit der Regierung im Parlamentsplenum und in der öffentlichen Diskussion an Gelegentliche Fühlungnahmen der Sozialdemokraten, die als Kooperationsversuche gewertet werden können, fanden in der CDU/CSU keine Resonanz Unverändert blieb auch die Rolle des rechten Flügels der Berliner SPD, als dessen führender Repräsentant nach dem Tode Reuters Willy Brandt galt, der damals Mitglied des Bundestages und des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten war 3. Stabile Zentralität bei leichten Strukturveränderungen (1955— 1957)
Die Einteilung der zweiten Legislaturperiode in zwei Phasen rechtfertigt sich durch die Systemveränderung infolge der Aufhebung der Personalunion von Bundeskanzler und Außenminister. Die Trennung dieser Ämter bedeutet grundsätzlich eine starke Dezentralisierung, weil erstmals zwei Gruppen mit höchster Kompetenz in der Außenpolitik auftraten. Da dem Außenminister ebenso wie dem Bundeskanzler eine generelle amtsbezogene Kompetenz zuzuordnen ist, bildet er potentiell einen günstigen Adressaten für vom Zentrum abweichende Gruppen von geringerer Kompetenz, aber größerer Eigenständigkeit bzw. geringerer Abhängigkeit. Trotz fraktionsbezogener Eigenständigkeit konnte aber Heinrich von Brentano als Außenminister nicht die aufgezeigte Rolle wahrnehmen, da der überwiegende Konsens aller relevanten Kontaktgruppen mit dem Entscheidungszentrum keinen entsprechenden Spielraum ließ. Wie als Fraktionsvorsitzender blieb Brentano auch als Außenminister in erster Linie auf Adenauer fixiert, der mit seinem engeren Beraterstab nach wie vor dominierte und den Außenminister raktisch in den Referentenstab miteinbezog Zu der informellen Gruppierung um Konrad Adenauer gehörten Hans Globke, Felix von Eckardt, Herbert Blankenhorn, Walter Hall-stein, Wilhelm Grewe und Heinrich von Brentano. Der Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Herbert Blankenhorn, ging als Botschafter zur NATO nach Paris. In dieser Adenauer in direkter Konsultation mit seinen persönlichen Vertrauten Die Auflösung der Personalunion von Bundeskanzler und Außenminister am 6. Juni 1955 veränderte nur die formale Kompetenzverteilung. Das unmittelbare Vortragsrecht Hallsteins beim Bundeskanzler sicherte Konrad Adenauer einen direk-Funktion war er dem Bundeskanzler direkt unterstellt Felix von Eckardt unterbrach zeitweilig seine Tätigkeit als Bundespressechef und vertrat die Bundesregierung bei den Vereinten Nationen in New York Konrad Adenauer hielt durch seine Vertrauten direkten Kontakt mit allen wichtigen Botschaften. Die anstehenden Entscheidungen wurden nicht durch Außenminister Heinrich von Brentano unmittelbar getroffen, sondern von Konrad ten Kontakt zum Auswärtigen Amt am Außenminister vorbei
Mit Wilhelm Grewe übernahm am 15. Juni 1955 als Nachfolger Herbert Blankenhoms wieder ein enger Mitarbeiter Adenauers die Leitung der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt Der Aufgabenbereich Heinrich von Brentanos beschränkte sich auf die Führung des außenpolitischen Apparates, die Kontakte zum Bundestag und Bundesrat sowie die diplomatische Vertretung der Bundesrepublik auf internationalen Konferenzen In dieser Funktion war Brentano direkt dem Bundeskanzler untergeordnet und von seinen Entscheidungen abhängig. Die gleiche direkte Abhängigkeit bestand auch bei Theodor Blank Die wichtigsten wehr-politischen Entscheidungen wurden von Konrad Adenauer getroffen. Hans Globke kontrollierte als enger Vertrauter Adenauers den personalpolitischen Sektor und konzipierte die notwendigen Gesetzesvorlagen Folglich blieb auch der Einfluß der CSU auf die Verteidigungspolitik noch relativ begrenzt. Sie konnte aber ihre Position ausbauen. Franz Strauß am 12. 1955 zum Josef wurde Oktober Bundesminister für Atomfragen ernannt. Uber den Bundesverteidigungsrat, dessen zweiter Vorsitzender er wurde, bildete er ein politisches Gegengewicht gegen Theodor Blank und löste ihn am 17. Oktober 1956 als Verteidigungsminister ab
Zwischen dem Entscheidungszentrum und den zur CDU/CSU gehörenden Gruppen verringerte sich der Abstand in den Positionswerten von 1949 bis 1957 zwar nur leicht, aber stetig. Während Adenauers Positionswert konstant blieb, erhöhte sich wiederum der der CDU/CSU-Fraktion aufgrund der gestiegenen Zahl dezentralisierender Interaktionslinien Grundsätzlich änderte sich an den Beziehungen zwischen Adenauer und CDU/CSU-Fraktion im Bereich der Außenpolitik nichts, zumal die Grundsatzentscheidungen gefallen waren und der Nachfolger Brentanos als Fraktionsvorsitzender, Heinrich Krone, seine Rolle ebenso auf das Entscheidungszentrum fixiert verstand wie sein Vorgänger
Die Vertreter der Koalitionsparteien in der Außenpolitischen Führungselite verloren nach der Verabschiedung der außenpolitisch relevanten Grundgesetzänderungen erheblich an Bedeutung, da sie zur Mehrheitsbildung nicht mehr benötigt wurden. Oberländer und Blücher wurden zu Vertretern unbedeutender Gruppen, nachdem sich die Fraktionen des BHE und der FDP im Bundestag gespalten hatten
Auch in der zweiten und der dritten Phase blieb die Außenpolitische Führungselite -ein auf das Zentrum ausgerichtet. Die Zahl deutig der Gruppen und die dezentralisierenden Kooperationsmöglichkeiten nahmen zwar leicht zu, aber die Isolierung der Opposition blieb voll erhalten. 4. Ansätze zur Umstrukturierung des Systems (1957— 1961)
Während der dritten Legislaturperiode beginnt ein Umstrukturierungsprozeß der Außenpolitischen Führungselite. Die Positionswerte der Gruppen steigen im Vergleich zum Entscheidungszentrum erheblich. Zum ersten Mal befindet sich keine der Gruppen mehr in einem hohen Konsens zu Adenauer. Alle drei Gruppen, die in der vorausgegangenen Phase ausschließlich auf das Entscheidungszentrum fixiert waren, haben ihre Position in der Außen-politischen Führungselite verloren Der Repräsentant der Deutschen Partei, Hans-Joachim von Merkatz, war zwar weiterhin Bundesminister, aber als Gruppenvertreter im außenpolitischen Entscheidungsprozeß unbedeutend, weil die DP nicht mehr zur Mehr-heitsbildung benötigt wurde. Das galt erst recht für Franz Blücher, der nach 1957 DP-Abgeordneter war. Auch Theodor Oberländer verlor seine Funktion als Gruppenrepräsentant; er war inzwischen zur CDU übergetreten Die Vertretung der Vertriebenen im außenpolitischen Entscheidungsprozeß ging auf Experten der Fraktionen von CDU/CSU und SPD über, die aus den Reihen der Vertriebenen kamen. Als neue Gruppe in der Außen-politischen Führungselite formierten sich außerdem die außenpolitischen Experten der SPD-Fraktion, denen es erstmals gelang, ein Netz dezentralisierender Interaktionslinien zu anderen Gruppen zu errichten.
Adenauers Einfluß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß wurde von den zur CDU/CSU gehörenden Gruppen nicht unmittelbar in Frage gestellt, sondern nur mittelbar, und zwar zum Teil über die Auseinandersetzungen um die Nachfolge und zum anderen infolge der Entstehung kooperativer Beziehungen zwischen Experten der CDU/CSU-und der SPD-Fraktion Aber auch im Entscheidungszen-trum selbst deuteten sich erste Umstrukturierungen an.
Der ausschließlich auf den Bundeskanzler fixierte Beraterstab verkleinerte sich. Konrad Adenauer geriet allmählich in eine parteibezogene Abhängigkeit und berücksichtigte in seinen informellen Beratungen stärker persönliche Vertraute, die in der Lage waren, innerparteiliche Kräftegruppen an sich zu binden Zu dieser informellen Gruppierung gehörten nach wie vor Hans Globke, Felix von Eckardt, bis 1958 Walter Hallstein, Wilhelm Grewe, seit 1958 Botschafter in Washington, nunmehr aber auch Heinrich Krone, Franz Josef Strauß und teilweise Heinrich von Brentano Heinrich von Brentanos geringer Handlungsspielraum als Außenminister wurde eingegrenzt durch die internationalen Strukturgegebenheiten, die außenpolitischen Leitbilder der innenpolitischen Kräftegruppen, den Einfluß Adenauers auf den außenpolitischen Apparat und die außenpolitischen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Auswärtigem Amt, Wirtschafts-und Verteidigungsministerium. Brentano konnte seine fraktionsbezogene Eigenständigkeit gegenüber Adenauer nicht zur Entfaltung bringen. Insbesondere gelang es ihm nicht, sich einen Expertenstab seines persönlichen Vertrauens im Auswärtigen Amt aufzubauen Der Versuch Brentanos, die diplomatischen Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten zu intensivierten, wurde von Hallstein, Grewe und einem Teil des Auswärtigen Amtes blockiert
Die Errichtung einer selbständigen Ostabteilung im Auswärtigen Amt unter der Leitung von Ferdinand Duckwitz im Februar 1958 schuf zwar die technische Voraussetzung für diplomatische Gespräche, die innenpolitische Durchsetzbarkeit außenpolitischer Ziele war damit aber nicht gewährleistet Das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen stand seit 1956 immer wieder im Mittelpunkt der ostpolitischen Überlegungen. Schon im Herbst 1956 befürwortete Brentano die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen in absehbarer Zeit. Dieser Vorstoß scheiterte ebenso wie das Angebot Brentanos auf der Genfer Gipfelkonferenz, Vereinbarungen eines gegenseitigen Gewaltverzichts mit Polen und der CSSR zu treffen, an dem Einfluß der Kräftegruppen im außenpolitischen Bereich, die diese Regierung innenpolitisch stützten Die Angriffe der Vertriebenen, insbesondere das direkte Einwirken des CSU-Abgeordneten Manteuffel-Szoege auf Adenauer gegen Brentano und Duckwitz bewirkten, daß der Bundeskanzler die ostpolitischen Vorschläge von Duckwitz verwarf. Duckwitz wurde von Karl Carstens als Planungschef für die Gipfelkonfe-renz der vier Großmächte im Mai 1960 abgelöst
In den Jahren 1958 bis 1961 gab es einige wichtige organisatorische und personelle Veränderungen im Auswärtigen Amt. Albert Hilger van Scherpenberg wurde am 29. Januar 1958 als Nachfolger Hallsteins zum Staatssekretär ernannt, Karl Carstens im August 1960 zum zweiten Staatssekretär berufen, Scherpenberg wurde im Juli 1961 von Rolf Lahr abgelöst und Hans Kroll ging im Februar 1958 als Botschafter nach Moskau Diese personellen Umbesetzungen führten nicht zu einer verstärkten Einflußnahme Brentanos auf den aüßenpolitischen Apparat. Er blieb im personellen und informationspolitischen Bereich weitgehend von Adenauer abhängig. So wurde zum Beispiel Hans Kroll als Vertrauensmann Adenauers nach Moskau entsandt und vom Bundeskanzler teilweise gegen den Außenminister unterstützt
Während der Außenminister gegenüber Adenauer nach wie vor nur einen geringen Spielraum besaß, wuchs der Einfluß der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Innerhalb des Systems verfügte sie nach Adenauer über den größten Aktionsradius. Vor allem die innen-und außenpolitische Konsolidierung der Bundesrepublik führte innerhalb der CDU/CSU zu einer verstärkten politischen Einflußnahme der Fraktion im außenpolitischen Bereich. Das zunehmende politische Gewicht der Fraktion begünstigte eine differenzierte Gruppenbildung. Je nach der Gruppenkonstellation und den außenpolitischen Problembereichen versuchten die Fraktionsexperten Kurt-Georg Kiesinger, Eugen Gerstenmaier, Hans Furier, Ernst Majonica, Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg und Hermann Kopf auf den außen-politischen Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen Die Regierungsgruppen waren in erheblichem Umfange auf eine Kooperation mit der CDU/CSU-Fraktion angewiesen, so daß ein System von zweisinnigen Beziehungen bestand. Diese Entwicklung erweiterte die Kompetenz und Kooperationsfähigkeit der CDU/CSU-Fraktion in außenpolitischen Fragen. Heinrich Krone hatte als Fraktionsvorsitzender die Aufgabe, zwischen Fraktion und Adenauer sowie zwischen verschiedenen Gruppen der Fraktion auszugleichen. Auf seine Position innerhalb der Gruppen wirkte sich die Tatsache günstig aus, daß er als Vertrauter des Bundeskanzlers eine personelle Alternative bei einem eventuellen Kanzlerwechsel darstellte
Franz Josef Strauß war als Verteidigungsminister nach Klärung der außenpolitischen Grundsatzfragen in seinem Ressort relativ autonom. Er gehörte zeitweilig zu der informellen Gruppierung um Adenauer und bestimmte weitgehend die sicherheitspolitische Konzeption der Bundesregierung Innenpolitisch konnte er seine Position als Repräsentant der CSU ausbauen, indem er vom stellvertretenden zum Vorsitzenden der CSU aufrückte
Das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen und damit ein Einfluß auf die Entscheidungssanktionierung wenigstens in diesem Teilbereich der Außenpolitik blieb nach wie vor in den Händen der Berliner CDU. Als Nachfolger Jakob Kaisers wurde Ernst Lemmer, der schon seit 1955 als wichtigster Repräsentant der Berliner CDU gelten konnte, 1957 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Alle dargestellten Gruppen innerhalb der CDU/CSU standen ungeachtet ihrer dezentralisierenden Kooperationstendenzen nach wie vor in einem überwiegenden Konsens zum Entscheidungszentrum. Die oppositionellen Gruppen besaßen im Gegensatz zu früheren Phasen zwar alle kooperative Beziehungen zu Adenauer, befanden sich aber bestenfalls in einem partiellen Konsens mit ihm. Ein partieller Konsens mit dem Entscheidungszentrum wurde vor allem von der Berliner SPD und der FDP-Bundestagsfraktion gepflegt, während Ollenhauer und die SPD-Fraktion nur in geringem Maße mit Adenauer übereinstimmten. Die FDP war in diesem System als wesentlich kleinere Oppositionspartei so unbedeutend, daß ihr nur eine gruppenbezogene Eigenständigkeit zugeordnet werden kann.
Ein grundlegender Wandel in den Beziehungen der Kräftegruppen zueinander wurde hingegen durch die innen-und außenpolitische Neuorientierung der SPD eingeleitet Die außenpolitischen Akteure der SPD können in drei Gruppen innerhalb der Partei eingeteilt werden, deren Grenzen allerdings fließend waren. Die eine Gruppe wurde repräsentiert durch Helmut Schmidt, Fritz Erler, Carlo Schmid, Karl Mommer und Wenzel Jaksch, die andere konzentrierte sich um Herbert Wehner, Erich Ollenhauer und Heinz Kühn, die dritte um Willy Brandt, der als Regierender Bürgermeister von Berlin eine amtsbezogene Eigenständigkeit im außenpolitischen Entscheidungsprozeß gewann
Der Deutschlandplan der SPD vom 18. März 1959, an dessen Ausarbeitung Herbert Wehner, Fritz Erler, Gustav Heinemann, Kurt Mat03) tick, Ernst Wilhelm Meyer, Ernst Paul und Helmut Schmidt beteiligt waren, brachte einen Prozeß zum Abschluß, in dem die antagonistische Frontstellung der SPD zur Außenpolitik Adenauers in den vergangenen zehn Jahren dominierte. Die SPD übernahm nach dem eindeutig negativen Echo auf den Deutschlandplan weitgehend die außenpolitische Konzeption Brandts Die Annäherung zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner im November 1959 schuf die Voraussetzung für die Realisierung dieser Konzeption in der Partei
Herbert Wehner koordinierte und bestimmte die Beziehungen im Kräftefeld der Gruppen innerhalb der SPD und in den Ausschüssen des Bundestages. Im Auswärtigen Ausschuß schaltete er Wenzel Jaksch als Kontaktperson zu den Vertriebenen ein Der allmähliche Einstellungswandel zwischen Regierung und Opposition ermöglichte eine pragmatische Zusammenarbeit in partiellen Bereichen der Außenpolitik. Zwischen der SPD und den Fraktionsexperten der anderen Parteien entstanden kooperative Beziehungen, die zeitweise ohne Beteiligung des Entscheidungszentrums liefen. In den Unterausschüssen des Auswärtigen Ausschusses wurden außenpolitische Entscheidungen vorformuliert, auf die Bundeskanzler, Fraktionsvorsitzende, Außenminister und Fraktionsexperten einwirkten
Dadurch, daß an diesen Entscheidungen alle Parteien beteiligt waren, erhielten die am Entscheidungsprozeß beteiligten Gruppen ein eigenständiges Gewicht gegenüber der informellen Gruppierung um Konrad Adenauer. Auf diese Weise gelang es der SPD, außen-politische Entscheidungen mitzugestalten
Die Entwicklung der Außenpolitischen Führungselite von 1949 bis 1961 läßt sich an der Zahl und Richtung der Interaktionslinien verdeutlichen. In der ersten Phase standen sieben zentralen nur zwei dezentrale Interaktionslinien gegenüber. 1953 verdreifachte sich die Zahl der dezentralen Interaktionslinien auf sechs, die der zentralen stieg hingegen nur auf neun. 1955 bis 1957 glichen sich beide Quoten weiter an: Zehn zentralen standen nunmehr acht dezentrale Interaktionslinien gegenüber. Von 1957 bis 1961 verkehrten sich die traditionellen Relationen in das Gegenteil: Die Zahl der zentralen Interaktionslinien blieb mit zehn konstant, während die dezentralen auf 17 sich mehr als verdoppelten. Das Zentrum dominierte nach wie vor aufgrund der optimalen Eigenständigkeit, Kompetenz und Kooperationsfähigkeit, aber der Einfluß der anderen Gruppen stieg beträchtlich. Das kommt auch in der erstmaligen parteibezogenen Abhängigkeit des Zentrums zum Ausdruck und zeigt sich letztlich in einem gene-rellen Ansteigen der Positionswerte der Gruppen 5. Dezentralisierung des Systems (1961— 1963) Inzwischen hatten sich im System der internationalen Bezugspartner der Bundesrepublik erhebliche Wandlungen vollzogen, die sich zwar seit 1955 bereits abzeichneten, aber erst in den sechziger Jahren die Struktur der Außenpolitischen Führungselite sichtbar beeinflußten. Der Wandlungsprozeß wurde vor allem durch die veränderte Einstellung der USA zur Sowjetunion im Bereich der Nuklear-strategie, die Desintegration der NATO und die Stagnation der Erweiterung der EWG bewirkt. Diese Entwicklung tangierte entscheidend die enge Bindung der Bundesrepublik an die Vereinigten Staaten, die Haltung gegenüber Frankreich das Verhältnis zur Sowjetunion Die stärkere Ausfächerung im System der internationalen Beziehungspartner bedingte, daß nicht mehr lediglich eine Person oder eine Gruppe der Außen-politischen Führungselite nahezu allein die Kontakte und den Informationsfluß zwischen der Bundesrepublik und den anderen Staaten beherrschte. Dabei spielten auch personelle Faktoren eine Rolle, wie z. B. die Tatsache, daß Adenauer nach dem Tode von Dulles keine adäquaten Partner in der amerikanischen Regierung mehr fand. Kontakte und Informationen liefen mehr als bisher funktionsbezogen zwischen den Abteilungen der Außenministerien und den parlamentarischen Experten. Von dieser Tendenz profitierte auch die Opposition, insbesondere die sozialdemokratischen Verteidigungs-und Wirtschaftsexperten sowie Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin. Mit Frankreich hingegen konnte Adenauer den für ihn typischen Stil außenpolitischer Kontakte weiter aufrechterhalten, da er in de Gaulle den entsprechenden Partner fand Die geringere Kohäsion im atlantischen Bündnissystem spiegelte sich in der geringeren Kohäsion der CDU/CSU wider. Die Divergenzen innerhalb der CDU/CSU beendeten die souveräne Autorität des Entscheidungszentrums, die auf einer Stellung über den Gruppen und einem einzigartigen Zugang zum internationalen System beruhte. Nunmehr konnten auch andere Gruppen die Autorität äußerer Bezugspartner für sich in Anspruch nehmen Der geminderte Einfluß des Entscheidungszentrums machte sich auch im personellen Bereich bemerkbar. Zwei enge Vertraute Konrad Adenauers wurden von wichtigen Botschafterposten abberufen. Wilhelm Grewe schied auf Drängen der USA im Juni 1962 in Washington aus, Hans Kroll wurde im September 1962 in Moskau abgelöst Die geringere Kohäsion in der CDU/CSU hatte selbstverständlich auch eine innenpolitische Wurzel. Sie stand in engem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Nachfolge Konrad Adenauers und mit unterschiedlichen Koalitionspräferenzen innerhalb der CDU/CSU. Das Kräfteverhältnis hatte sich zugunsten der SPD und der FDP verschoben. Die CDU/CSU hatte ihre absolute Mehrheit verloren und war auf einen Koalitionspartner angewiesen. Die FDP hatte den Wahlkampf unter dem Motto „mit der CDU ohne Adenauer" geführt und versuchte nach der erneuten Nominierung Adenauers durch die CDU/CSU-Fraktion ihre Selbständigkeit dadurch hervorzuheben, daß sie einen größeren Einfluß auf den außenpolitischen Entscheidungsprozeß verlangte. Nachdem ihr ein Staatsminister im Auswärtigen Amt nicht zugestanden worden war, bestand sie demonstrativ darauf, daß Brentano nicht wieder ernannt wurde. Dieser trat daraufhin zurück. Gerhard Schröder wurde — unterstützt von der FDP — zu seinem Nachfolger ernannt
Mit Gerhard Schröder repräsentierte erstmals ein Außenminister eine eigene Kräftegruppe im politischen System. Schröder versuchte, seinen Handlungsspielraum zu erweitern und mit Hilfe des außenpolitischen Apparates politische Entscheidungsfunktionen zu übernehmen. Erst mit der Person Schröders wurde das Amt des Außenministers zu einem politischen Faktor im Kräftefeld der Gruppen. Schröder entwickelte eine eigenständige außenpolitische Konzeption, die eine enge Anlehnung an die USA und eine flexiblere Ostpolitik beinhaltete Wegen der zunehmenden Widerstände Konrad Adenauers und von Teilen der CDU/CSU-Fraktion gegen seine Außenpolitik informierte er den Bundeskanzler und die außenpolitischen Experten der Fraktion nur soweit, wie unbedingt nötig Seine Außenpo-litik wurde von anderen Teilen der CDU, insbesondere dem Evangelischen Arbeitskreis, aber auch von SPD und FDP gebilligt.
Die Gruppenbildung innerhalb der CDU/CSU war nicht konsistent und veränderte sich je nach den außenpolitischen Problembereichen. Gegen die ostpolitischen Aktivitäten wandten sich vor allem der Fraktionsvorsitzende Heinrich von Brentano, Teile des Kabinetts, des Auswärtigen Amtes, der Repräsentant der Berliner Gruppe, Johann Baptist Gradl, Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg und der Vorsitzende des Außenpolitischen Arbeitskreises der CDU, Ernst Majonica. Im Bereich der Verteidigungspolitik formierten sich zwei gegensätzliche Gruppen um Strauß und Schröder. Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, Richard Jaeger, Guttenberg, Heinrich Krone und Heinrich von Brentano bildeten gegen die ihnen einseitig erscheinende Anlehnung an die USA im Bereich der Westpolitik eine Frontstellung gegen Schröder. Hermann Kopf, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, und Erik Blumenfeld, ordentliches Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, befürworteten dagegen die pro-angelsächsische Orientierung des Außenministers
Heinrich Krone wurde im November 1961 zum Sonderminister ernannt und erhielt ein Mitspracherecht bei allen Berlin-Entscheidungen. Im Beziehungsfeld der Kräftegruppen innerhalb der CDU/CSU versuchte er als Vertrauter Adenauers die Gruppierungen um Franz Josef Strauß, Teile der Fraktion und des Kabinetts, die Berliner Gruppe um Gradl und die Vertriebenen zu einer geschlosseneren Einheit zu integrieren Er bildete damit in seinem auf Adenauer zugeordneten Handeln ein politisches Gegengewicht gegen Schröder. Das Subsystem bestand im Bereich der Koalitionspartner aus acht Gruppen, von denen sieben zur CDU/CSU zählen. Von diesen Gruppen standen nur drei in überwiegendem Konsens zu Adenauer, Strauß, Krone und die Berliner CDU. Zwischen Adenauer und der FDP, Schröder, Brentano sowie der CDU/CSU-Fraktion gab es summa summarum nur einen partiellen Konsens. Der Positionswert des Außenministers erhöht sich um 0, 53 Punkte gegenüber der vorausgegangenen Phase und nähert sich dem des Bundeskanzlers bis auf 0, 90 Punkte, während zuvor zwischen beiden ein Abstand von 1, 64 bzw. 1, 43 Punkten bestanden hatte. Schröders Position ist im Vergleich zu seinem Vorgänger vor allem deshalb so stark, weil er mehr Kontaktgruppen hat und seine dezentralisierenden Kooperationsmöglichkeiten besser nutzt. Dem partiellen Konsens mit Adenauer steht ein partieller Dissens zum Entscheidungszentrum gemeinsam mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion, aber auch mit der SPD-Fraktion (und damit faktisch ebenso mit Ollenhauer und Brandt), gegenüber Schröder kann sich auf diese Weise im Parlament in außenpolitischen Fragen partiell auf Mehrheiten stützen, die A denauer nicht gleichermaßen hat.
Mit der Diskrepanz zwischen Bundeskanzler und Außenminister steigt aber die Bedeutung der Fraktionsvorsitzenden und der außenpolitischen Experten in der Fraktion. Diesen Gruppen bietet sich eine Wahlmöglichkeit zwischen den Konzeptionen und Vorschlägen von Kanzler und Außenminister. Damit wächst die Rolle der Fraktion als Schlichtungs-und schließlich Beschlußorgan. Gegen diese Verselbständigungstendenzen der Fraktion versuchte Konrad Adenauer neue Gremien zu mobilisieren, die bisher im außenpolitischen Entscheidungsprozeß keine Rolle spielten.
Stärkeres Gewicht im Kräftefeld der Gruppen gewann infolgedessen das CDU-Präsidium, denn hier dominierte eindeutig die Gruppierung um Konrad Adenauer. Der wichtigste Verbindungsmann Adenauers, Heinrich Krone, wurde im Juni 1962 in das CDU-Präsidium gewählt. Im März 1963 berief Konrad Adenauer ihn zu seinem ständigen Vertreter im Vorsitz des Bundesverteidigungsrates, eine Maßnahme zur Stärkung des außenpolitischen Gewichts der Gruppierung um Adenauer auf Kabinetts-ebene Der Adenauer-Anhänger Josef-Her-mann Dufhues erhielt im Juni 1962 den Posten eines Geschäftsführenden Vorsitzenden der CDU Im Parteipräsidium, dem Schröder nicht angehörte, hatten die Anhänger Adenauers dadurch die Mehrheit und konnten Entscheidungen in diesem Sinne festlegen
Eine mittlere Position in diesem Interaktionssystem nahm die FDP ein, die auf keine Gruppe eindeutig fixiert war, sondern mit allen gleichermaßen kooperierte und den Schwerpunkt jeweils nach eigenen Interessen zu setzen versuchte. Die FDP konnte • damit ihre Position im innenpolitischen Gefüge stabilisieren. Das einzige FDP-Kabinettsmitglied mit partieller amtsbezogener Kompetenz war Walter Scheel als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Fraktion unter der Führung Mendes unterstützte vor allem den außenpolitischen Kurs Schröders und war für den Außenminister ein durchaus wichtiger Partner. Schröder informierte daher die FDP ständig über außenpolitische Vorgänge. Andererseits versuchte Erich Mende auch in direkten Gesprächen mit der Gruppe um Adenauer, die Vorstellungen der FDP in außen-politische Entscheidungen mit einzubringen 3. Die Kooperation der SPD in außenpolitischen Fragen mit dem Außenminister, einem Teil der CDU/CSU-Fraktion und der FDP integrierte die Sozialdemokraten voll in das System der Außenpolitischen Führungselite, so daß die Interaktionslinien erstmals einen geschlossenen Kreis ergaben. Die SPD stützte alle Gruppen, die in einem partiellen Dissens zu Adenauer standen und wurde dadurch ein notwendiger Partner eines wesentlichen Teiles der Regierungskoalition. Die außenpolitischen Akteure der SPD handelten zwar gleichgerichtet, dennoch läßt sich eine Gruppierung um die Fraktionsführung und um Willy Brandt unterscheiden. Zu der Fraktionsführung gehörten Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Fritz Erler, Carlo Schmid und Karl Mommer. Die SPD unterstützte den außenpolitischen Kurs Schröders und wurde von Schröder infolgedessen umfassend informiert Sie intensivierte ihre Kontakte in den parlamentarischen Ausschüssen mit den Vertretern der anderen Parteien. Zu den vertraulichen Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses wurde Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin hinzugezogen. Die Kritik der SPD bezog sich nunmehr weniger auf Grundsatzfragen als vielmehr auf Nuancen und Modifizierungen in außenpolitischen Einzelbereichen. In der Frage des deutsch-französischen Vertrages verlangte die SPD vor allem die Klarstellung, daß die Ratifizierung kein Veto gegen Großbritannien bedeute und die multilateralen Verträge des atlantischen Bündnissystems ihre volle Gültigkeit behielten Sie kooperierte erfolgreich mit der FDP und Teilen der CDU, um entsprechende Vorbehalte in das Ratifizierungsgesetz einzubringen
Hinsichtlich der Relation von zentralen und dezentralen Linien änderte sich das System gegenüber der Phase 1957— 1961 nur geringfügig. Die Zahl der zentralen Linien bleibt mit zehn konstant, während die der dezentralen von 17 auf 20 steigt. Vergleicht man aber die Relation der Summen von Konsens und Dissens zum Entscheidungszentrum, so wird die Verlagerung des Gewichts zuungunsten des Entscheidungszentrums deutlich. Während 1957— 1961 der Konsens mit 24 : 21 den Dissens überwog, verschob sich die Relation nunmehr auf 20 : 33. Dieses Ergebnis verdeutlicht, daß die Kräfterelation zwischen Entscheidungszentrum und den Gruppen nicht allein durch Konsens und Dissens — und damit konzeptionell-inhaltlich — bestimmt wird, sondern ebenso durch institutionell bedingte Faktoren, die durch die Positionswerte erfaßt werden 6. Pluralität konkurrierender Gruppen (1963— 1965)
Ausgangspunkt der Veränderungen war 1963 der Wechsel im Kanzleramt. Ludwig Erhard war in der Auseinandersetzung um die Nachfolge nicht zuletzt damit belastet worden, kein außenpolitischer Experte zu sein. Da er in der Grundkonzeption ohnehin mit Gerhard Schröder übereinstimmte, konnte der Außenminister seinen Spielraum gegenüber dem Kanzler erhalten Von der formal-rechtlichen Seite her besaß Bundeskanzler Ludwig Erhard die übergeordnete Entscheidungskompetenz. Er war jedoch in seinem Handlungsspielraum von den anderen Gruppen der Außenpolitischen Führungselite abhängig und wurde vor allem durch die engen kooperativen Beziehungen zu Gerhard Schröder und Erich Mende, aber auch durch die SPD gestützt Erhard brachte einen eigenen Beraterstab — allerdings ohne außenpolitische Erfahrungen — mit ins Bundeskanzleramt, das sich unter der Leitung Ludger Westricks zu einer zentralen Koordinierungsstelle entwickelte Nachteilig auf Erhards Entscheidungsspielraum wirkte vor allem, daß er nicht zugleich Parteivorsit-zender war Er war im Gegensatz zu Adenauer von der Fraktion abhängig.
Konrad Adenauer versuchte nach wie vor, die Entscheidungen auf das CDU-Präsidium und den Fraktionsvorstand zu verlagern Zur Gruppe um Adenauer, die mit Erhard und Schröder rivalisierte, gehörten Heinrich Krone, ein Teil der Fraktion, Josef-Hermann Dufhues, Felix von Eckardt und Eugen Gerstenmaier. Daher war Erhard nicht in der Lage, die Meinungsbildung in der CDU direkt zu beeinflussen. Heinrich Krone repräsentierte diese festgefügte Gruppe zunächst als Sonderminister und seit 1964 als Vorsitzender des Bundesverteidigungsrates im Kabinett. Sein politischer und institutioneller Rückhalt begrenzten Erhards Handlungsspielraum BS). Eugen Gerstenmaier versuchte in enger Anlehnung an das Konzept Adenauers und in öffentlichen Angriffen auf Schröder sich als Alternative anzubieten
Zwischen Adenauer Und Erhard versuchte Rainer Barzel, seit 1964 Fraktionsvorsitzender, zu vermitteln. Er bildete eine Reihe von informellen Kontakten heraus und beteiligte sich wöchentlich an den politischen Beratungsstunden bei Erhard und Westrick im Bundeskanzleramt, außerdem besprach er sich regelmäßig mit Konrad Adenauer und Dufhues. Die Vielfalt der Beziehungen zwischen den divergierenden Gruppen gab ihm eine zentrale Position im Entscheidungsprozeß. Die Fraktion konnte daher ihr politisches Gewicht gegenfen auf Schröder sich als Alternative anzubieten
Gegen die außenpolitische Konzeption der Regierung artikulierte sich am stärksten die Gruppe Strauß, zu der Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Richard Jaeger und ungefähr ein Drittel der CDU/CSU-Fraktion gehörten Strauß versuchte, sich in seinen Aktionen der Zustimmung Adenauers zu versichern Die direkten Angriffe auf Schröder dienten dazu, Bundeskanzler Erhard von seinem Außenminister zu isolieren, um somit eine Gruppenbildung gegen Schröder zu bewirken. Je nach dem Grad der Geschlossenheit und dem Einfluß der innerparteilichen Kräfte-gruppen mußte sich Erhard zu Schröder kooperativ verhalten, da Schröder im Beziehungsfeld der innerparteilichen Kräftegruppen einen eigenständigen politischen Faktor bildete Die öffentlichen Initiativen von Strauß, Guttenberg und Adenauer zielten darauf ab, den Außenminister abzulösen Dafür konnten sie aber keine Mehrheit über die Gruppen hinweg erreichen, da sich ein großer Teil der Fraktion in außenpolitischen Fragen indifferent verhielt. Die scharfen öffentlichen Auseinandersetzungen in Interviews und Stellungnahmen in der Presse konnten nicht das politische Übergewicht zugunsten einer Gruppe herbeiführen Im Kräftefeld der Gruppen strukturierte sich ein politisches Nebenzentrum in den Dreiecksbeziehungen zwischen Adenauer, Strauß und Barzel, das den Handlungsspielraum Erhards stark beschränkte
Von den im Kabinett vertretenen Gruppen befand sich außer Schröder nur noch die FDP in einem überwiegenden Konsens mit Erhard. Die wichtigsten außenpolitischen Repräsentanten der FDP waren die Bundesminister Erich Mende und Walter Scheel. Als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen baute Erich Mende mit Unterstützung seines Staatssekretärs Carl Krautwig seine Kompetenzen im Bereich der Deutschlandpolitik aus. Scheel und Mende besaßen infolge ihrer Ressorts eine partielle amtsbezogene Kompetenz, aber auch eine amtsbezogene Abhängigkeit. Da jedoch die FDP andererseits eine eigenständige politische Kraft darstellte, auf die Erhard im Willensbildungsprozeß angewiesen war, hatte sie auf außenpolitische Grundsatzentscheidungen einen relevanten Einfluß. Auf verschiedenen Ebenen — über das Kabinett, die Fraktionsarbeit, die Ausschußarbeit, den außenpolitischen Experten Ernst Achenbach, die Fraktion der CDU/CSU und die SPD — liefen Kontakte und bestanden kooperative Beziehungen Obwohl die SPD in der Opposition stand, muß sie zu den Gruppen gerechnet werden, die überwiegend mit der Außenpolitik Erhards — oder besser: der Außenpolitik Schröders — übereinstimmte. Der überwiegende Konsens war in erheblichem Maße auch taktisch motiviert, erstens, weil die SPD ihre neue Rolle als Alternative auf der Basis der „Gemeinsamkeiten" herausstellen wollte, und zweitens, weil sie unter dieser Voraussetzung die innerparteilichen Divergenzen in der CDU/CSU zur Steigerung ihres Einflusses innerhalb der Außenpolitischen Führungselite optimal ausnutzen konnte
Die außenpolitischen Akteure der SPD repräsentierten eine Gruppe um die Fraktionsführung, zu der in erster Linie Herbert Wehner, Fritz Erler, Carlo Schmid und Hans-Jürgen Wischnewski gehörten Eine davon etwas abweichende Gruppe bildete sich um Willy Brandt, der sich mit Egon Bahr einen von innerparteilichen Richtungen unabhängigen Beraterstab aufbaute In der Ost-und Deutschlandpolitik entwickelten Brandt und Bahr ein eigenes Konzept, das u. a. zu praktischen Ergebnissen in der Passierscheinfrage im Dezember 1963 führte Brandt befürwortete im Gegensatz zu Herbert Wehner und Fritz Erler zeitweilig einen engeren Anschluß an die Politik de Gaulles Die SPD war am außenpolitischen Willensbildungsprozeß auf verschiedenen Ebenen beteiligt. Sie kritisierte Schröder in der parlamentarischen Auseinandersetzung nur in partiellen Bereichen und versuchte, im Auswärtigen Ausschuß sowohl personell als auch sachbezogen außenpolitische Lösungen mitzugestalten. Zu Erhard besaß sie kooperative Beziehungen, zumal dieser die SPD-Vertreter Willy Brandt, Herbert Wehner und Fritz Erler bei wichtigen Entscheidungen konsultierte 9. Im Interaktionsfeld der Kräftegruppen erhielt sie ein zunehmendes politisches Gewicht, da sie mit fast allen Gruppen kooperationsfähig war.
Die Relation der Summen von Konsens und Dissens zum Entscheidungszentrum weicht mit 24 : 33 kaum von der vorausgegangenen Phase ab Daraus läßt sich bestenfalls folgern, daß Erhards Positionsstärke etwa der Adenauers von 1961 bis 1963 entsprach. Der summarische Vergleich ist aber in diesem Fall nicht sonderlich ergiebig. Daher soll von der Verlagerung der einzelnen Konsens-und Dissensbeziehungen ausgegangen werden. Die Gruppen bleiben zwar nahezu konstant, aber die Funktion einiger wichtiger Akteure ändert sich im Regierungssystem. Adenauer bleibt nach seinem Ausscheiden als Bundeskanzler im System der Außenpolitischen Führungselite als Gruppenrepräsentant. Die Gruppen, die ihn als Bundeskanzler in erster Linie unterstützten, stehen nach wie vor in überwiegendem Konsens mit ihm. Dieser Konsens wird voll als Dissens gegen das Entscheidungszentrum Erhard wirksam, weil Erhard überwiegend mit Gerhard Schröder übereinstimmt. Rainer Barzel stimmt wie sein Vorgänger Brentano nur partiell mit dem Entscheidungszentrum überein, befindet sich aber im Gegensatz zum Fraktionsvorsitzenden der vorausgegangenen Phase auch in einem gemeinsamen partiellen Dissens mit den wichtigsten Gegen-gruppen. Damit entsteht ein partiell gegen Erhard gerichtetes Dreieck von Barzel bzw. CDU/CSU-Fraktion sowie Adenauer und Strauß. Ein Gegenzentrum kann sich aber deshalb nicht voll ausbilden, weil dieses Dissens-dreieck von anderen Dreiecksbeziehungen überlagert wird. Dennoch ist zu konstatieren, daß die Stellung Erhard/Schröder innerhalb der CDU/CSU-Gruppen schwächer ist als die Adenauers. Infolgedessen wird auch verständlich, daß die Außenpolitik Erhards und Schröders von der SPD mit überwiegendem Konsens trotz Oppositionsfunktion — gewissermaßen als das geringere Übel — gestützt wird. 7. Auflösung des Entscheidungszentrums (1965— 1966)
Eine entscheidende Umstrukturierung trat nach der innerparteilich unbefriedigenden Regierungsbildung durch die Aufspaltung der Fraktion auf fünf Kräftegruppen in der CDU/CSU ein. Um Ludwig Erhard gruppierte sich ein Teil der Fraktion. Das festgefügte Kräftedreieck zwischen Erhard, der FDP und Gerhard Schröder verlor allmählich an politischer Relevanz. Der pro-französisch eingestellte Leiter des Bundeskanzleramtes, Ludger Westrick, entwickelte im außenpolitischen Bereich kooperative Beziehungen zu Konrad Adenauer und Heinrich Krone. Dadurch gelang es ihm, den außenpolitischen Einfluß Schröders auf Erhard partiell zu neutralisieren. Im Bereich der Deutschlandpolitik blockierte er — wie auch Teile der CDU und Strauß — wirksam die Initiativen von Erich Mende und der SPD Erhard sah sich im wachsenden Maße einer außenpolitischen Isolierung ausgesetzt, da er immer weniger über eine mehrheitsbildende Kräftegruppierung verfügte Die Übernahme des Parteivorsitzes im März 1966 brachte Ludwig Erhard konstellationsbedingt keine Erweiterung seines Einflußbereiches Durch die Informationskontakte und die kooperativen Beziehungen zu Ludger Westrick konnte die Gruppe um Adenauer ihren politischen Einfluß im Entscheidungsprozeß vergrößern. Zu dieser Gruppe gehörten Heinrich Krone, das Geschäftsführende Präsidiumsmitglied Bruno Heck, als Repräsentant der Berliner CDU Johann Baptist Gradl, und Eugen Gerstenmaier. In ihrer Verbindung zu der Gruppe um Strauß und Barzel dominierte diese Kräftegruppierung innerhalb der CDU/CSU Dennoch konnte sie nur als Gegengewicht gegen Erhard und Schröder einheitlich handeln, da sowohl Strauß als auch Barzel Machtfaktoren mit eigenen Zielsetzungen darstellten.
Die Gruppe um Franz Josef Strauß, der auch Guttenberg zuzuordnen ist, intensivierte ihre Kritik an Schröder. Im außenpolitischen Arbeitskreis der CDU/CSU gelang es nicht, die internen Differenzen in der NATO-und Frank-reichpolitik zu überwinden. Die Kräftegruppierung Strauß, Guttenberg, Krone, Heck, Gerstenmaier und Adenauer konnte sich in der Fraktion in steigendem Maße durchsetzen Rainer Barzel wurde im Interaktionsfeld der Gruppen immer mehr zu einem eigenständigen Machtfaktor. In seinen Aktionen konnte er sich auf einen wesentlichen Teil der Fraktion stützen. Jedoch verlor er nach seiner pointierten New Yorker Stellungnahme zur Deutschlandfrage anläßlich des 17. Juni 1966 die Unterstützung der Gruppe um Adenauer. Sein Führungsanspruch brachte ihn im außenpolitischen Bereich in einen scharfen Gegensatz zu Erhard, Schröder und Strauß
Die starke Polarisierung der Kräftegruppen und der Einfluß Westricks schwächten die Position des Außenministers. Zur Gruppe um Schröder zählten — zum Teil nur zeitweise — die beiden Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, Rolf Lahr und Karl Carstens, sowie der Evangelische Arbeitskreis, Kai-Uwe von Hassel, Erik Blumenfeld, Kurt Birrenbach, Ernst Majonica und partiell auch Hermann Kopf
Da sich das Subsystem im Bereich der Koalitionspartner auf zwei eindeutig herausgehobene konträre Dreiecke — Erhard/Schröder/Mende contra Barzel/Adenauer/Strauß — reduzierte, nahm die SPD im Gegensatz zur vorausgegangenen Phase nunmehr eine quasi neutrale Stellung zu den beiden sich gegenüberstehenden Gruppierungen ein. Die Übereinstimmung mit Erhard war nur noch partiell, über die Fraktionsebene liefen aber auch partiell gegen das Entscheidungszentrum gerichtete Kontakte zwischen der SPD und Rainer Barzel Die SPD war die einzige Gruppe, die zu allen anderen kooperative Beziehungen besaß. In der parlamentarischen Auseinandersetzung kritisierte sie Erhard mehr als bisher und verstärkte ebenso ihre Angriffe auf Schröder, zumal er als Gegner einer Großen Koalition galt Unabhängig von den Gruppenauseinandersetzungen trieben der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr die . Politik der kleinen Schritte'weiter voran. Diese vom Entscheidungszentrum weitgehend losgelöste Politik auf der Basis der amtsbezogenen Eigenständigkeit des Berliner Bürgermeisters wurde allerdings von Gruppen der CDU/CSU gestört. Der zunehmende Einfluß der Gruppierung Adenauer/Strauß über Westrick bewirkte, daß die Passierscheinvereinbarungen in der vorliegenden Form im Juli 1966 abgelehnt wurden 9. Aus innenpolitischen Gründen versuchte die Führungsspitze der SPD-Fraktion unter Herbert Wehner, Helmut Schmidt und und Fritz Erler sich in außenpolitischen Fragen dennoch mit den Gruppen um Adenauer, Strauß und Barzel zu arrangieren Denn nur diese Gruppen waren in der Lage, eine Konstellation herbeizuführen, in der die SPD ihr politisches Gewicht einbringen konnte. 8. Koalitionsbedingte Zweiteilung des Systems (1966— 1969)
Das System Außenpolitische Führungselite -er fuhr durch die Bildung der Großen Koalition eine erneute strukturelle Wandlung. Von 1949 bis 1961 war es stark zentralisiert; die Mehrzahl der Interaktionslinien ging sternförmig vom Entscheidungszentrum aus. Von 1961 bis 1966 bestand ein relativ vollständiges Netz dezentraler Interaktionslinien; es entsprach weitgehend dem Typ der Vollstruktur. Nach 1966 wird eine Zweiteilung des Systems immer stärker erkennbar. Dennoch bleiben alle Gruppen direkt mit dem Entscheidungszentrum verbunden. Die zur SPD bzw. die zur CDU/CSU gehörenden Gruppen bilden jeweils in sich relativ geschlossene Subsysteme.
Die Stellung des Bundeskanzlers im außenpolitischen Entscheidungsprozeß war schwächer als zuvor, weil wegen der etwa gleichen Stärke der Koalitionspartner auch für ihn eine amtsbezogene Abhängigkeit entstand. Kurt Georg Kiesinger gelang es als Bundeskanzler nicht, sich einen ausschließlich auf ihn zugeordneten Beraterstab zu errichten. Im Kräfte-feld der Gruppen stellte er allerdings einen integrierenden Faktor dar. Mit der Berufung Guttenbergs als parlamentarischen Staatssekretär im Bundeskanzleramt hatte die CSU einen institutionalisierten personellen Einfluß auf außenpolitische Entscheidungen. In eine außenpolitisch relevante Beraterfunktion rückte der Bundespressechef Günther Diehl auf Günther Diehl und sein Stellvertreter Conrad Ahlers, als Vertreter der CDU bzw, SPD, hatten Zugang zu den Fraktions-und Kabinettssitzungen. Sie nahmen an den täglichen Beratungen mit dem Bundeskanzler teil. Außenpolitische Entscheidungen konnte Kiesinger nicht ohne die SPD treffen, zumal sie den Außenminister stellte. Die meisten Entscheidungen wurden in informellen Beratungen Kiesingers mit Herbert Wehner und Bruno Heck abgesprochen und vorformuliert Auf diese Weise wurde in außenpolitischen Fragen ein Konsensus erreicht. Dabei wurden die Vorschläge der SPD weitgehend berücksichtigt
Ein wichtiges Entscheidungsgremium bildete sich mit dem „Kreßbronner Kreis", dessen Teilnehmer je nach den behandelten Problembereichen wechselten. Zu den ständigen Teilnehmern zählten Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Herbert Wehner, Bruno Heck, Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt Der Handlungsspielraum Kiesingers im außenpolitischen Bereich war durch die an der Regierung beteiligten Gruppen stark eingeschränkt. Da Kiesinger keine Kräftegruppe repräsentierte, die mehr politisches Gewicht besaß als alle anderen am Entscheidungsprozeß beteiligten, war er bei politischen Entscheidungen auf eine mehrheitsbildende Kräftekonstellation angewiesen. Die Gruppen konnten ihrerseits aber auch keine Entscheidungen ohne ihn treffen; so versuchten sie, den Bundeskanzler auf jeweils bestimmte Richtungsentscheidungen festzulegen. Weil die divergierenden Gruppen aber unterschiedliche Zielvorstellungen verfolgten und bestimmte parteipolitische Prioritäten nicht aufgegeben werden konnten, kam es teilweise zu Konstellationen, in denen keine weiterführende Entscheidung gefällt werden konnte
Die Gruppe um Franz Josef Strauß stellte ein potentielles innerparteiliches Gegengewicht zu Kiesinger dar. Außenpolitische Entscheidungen beruhten im wesentlichen auf einer Kompromißformel zwischen der CDU und der SPD. Diese Konstellation benutzte Strauß, um sich außerhalb der Entscheidungsgremien durch dezidierte Äußerungen als personelle Alternative zu profilieren. Da Kiesinger aber im Gegensatz zum CSU-Vorsitzenden nur bedingt gegen die SPD handeln konnte, wurden seine Entscheidungen indirekt von allen innerparteilithen Kräftegruppen der CDU/CSU beeinflußt. Der Bundeskanzler mußte sich daher an eine von Strauß in der Öffentlichkeit und in der Partei mitgeprägte außenpolitische Linie annähern
Rainer Barzel repräsentierte die Fraktion der CDU/CSU als politische Kräftegruppe im Interaktionssystem. Er übernahm damit die Funktion einer politischen Koordinationsstelle, die für den Willensbildungsprozeß eine zentrale Bedeutung besaß. Zwischen Rainer Barzel und Helmut Schmidt bestanden enge kooperative Beziehungen, die insgesamt die politische Bedeutung der beiden Fraktionsführungen vergrößerten. Sie beeinflußten indirekt das Regierungshandeln, da sie durch die Fähigkeit, entweder Dissens oder Konsens für eine außenpolitische Entscheidung auf der parla-mentarischen Ebene herbeizuführen, bestimmte Gruppen in der Regierung schwächen oder stärken konnten
Das direkte Zusammenspiel von Schmidt und Barzel mit den wichtigsten Mitgliedern des Kabinetts verstärkte die Tendenz zu einer Führungsoligarchie einzelner Persönlichkeiten. Die Heterogenität der Fraktionen konnte nur durch eine derartige Oligarchie überbrückt werden; damit verloren aber auch die Fraktionsexperten an Einfluß. Die SPD-Fraktionsexperten traten nicht mehr als Gruppe in der Außenpolitischen Führungselite in Erscheinung, weil die wichtigsten außenpolitischen Repräsentanten der SPD im Kabinett saßen 9. Denn die . SPD stellte nicht nur den Außenminister, sondern auch die Minister für gesamtdeutsche Fragen und für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, ferner den Wirtschaftsminister, der für den außenpolitischen Entscheidungsprozeß in zunehmendem Maße an Bedeutung gewann Der CDU/CSU war hingegen nur ein außenpolitisch wichtiges Ressort zugefallen: das mit Gerhard Schröder besetzte Verteidigungsministerium. Schröder war nach der erfolglosen Kanzlerkandidatur gegen Kiesinger inzwischen im Kabinett und in der CDU/CSU-Fraktion in eine Außenseiterrolle geraten Für die außenpolitischen Exper-ten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion blieb vor allem die Funktion, die parteispezifische Komponente gegenüber den Fraktionen der SPD und FDP deutlicher zu umreißen.
Unter den außenpolitischen Akteuren der SPD nahm neben Willy Brandt als Außenminister und Helmut Schmidt als Fraktionsvorsitzendem Herbert Wehner eine Sonderstellung ein. Er koordinierte die Kontakte als Minister für gesamtdeutsche Fragen in der Deutschlandpolitik, besonders durch die informellen Beratungen mit Kiesinger und Heck Die dabei ausgehandelten Kompromißformeln bildeten die Grundlagen außenpolitischer Entscheidungen. Als politische Kräftegruppe hatte die SPD gerade auf außenpolitische Entscheidungen den stärksten Einfluß. Nur sie konnte als geschlossen handelnde Gruppe auftreten und ihren Handlungsspielraum erweitern. Herbert Wehner steuerte auch indirekt die Partei-und Fraktionsarbeit und begrenzte dadurch den Einfluß Helmut Schmidts
Um Willy Brandt gruppierte sich ein von den Kräftegruppen unabhängiger Beraterstab, zu dem Klaus Schütz, Ferdinand Duckwitz, Egon Bahr, Gerhard Jahn, Rolf Lahr und Günther Harkort gehörten. Ferdinand Duckwitz bereitete die diplomatischen Kontakte mit den osteuropäischen Staaten vor Egon Bahr war der engste Berater Willy Brandts in außenpolitischen Fragen. Bahr führte als Sonderbotschafter eine Reihe von vertraulichen Gesprächen mit Vertretern der DDR und anderen Diplomaten der osteuropäischen Staaten Willy Brandt besaß nur geringe kooperative Beziehungen zu Kurt Georg Kiesinger. In seinem Ressortbereich betrieb er die Außenpolitik so, als sei sie weitgehend von der CDU unabhängig. Basis dafür war die Tatsache, daß Brandts Position im Kräftefeld der Gruppen von Herbert Wehner abgesichert wurde
Die FDP spielte im außenpolitischen Bereich nur eine untergeordnete Rolle. Zu den außen-politischen Akteuren gehörten Erich Mende, Walter Scheel, Wolfgang Mischnick und Ernst Achenbach. Zwischen Erich Mende und Gerhard Schröder bestanden Berührungspunkte in außenpolitischen Fragen. Innerhalb der FDP strukturierten sich zwei Gruppen, wobei die eine, repräsentiert durch Walter Scheel und Wolfgang Mischnick, sich im außenpolitischen Bereich der SPD näherte
Die Zahl der Gruppen hatte sich gegenüber der vorausgegangenen Phase zwar nur um eine erhöht, aber die Zusammensetzung hatte sich hinsichtlich der führenden Personen und der Positionen im Regierungssystem erheblich verändert. Ausgeschieden war außer Adenauer und Erhard auch die Berliner CDU, deren spe-16610 zifische Interessen von anderen Gruppen abgedeckt wurden. Sie hatte ursprünglich ihren besonderen Platz im System als Bindeglied zur Berliner SPD und damit zur SPD überhaupt. Diese Funktion entfiel nach dem Eintritt der SPD in die Regierung. In die Außenpolitische Führungselite als Gruppenrepräsentant neu eingetreten waren außer Kiesinger und dem Bundeswirtschaftsminister der Generalsekretär der CDU, Bruno Heck, und als Berliner Bürgermeister Albertz und später Schütz 9. Erneute Tendenz zur Zentralisierung (ab 1969)
Der Regierungswechsel von 1969 veränderte die Struktur der Außenpolitischen Führungselite, aber diese Wandlungen waren in der vorausgegangenen Phase schon angelegt. Willy Brandt, der nunmehr als Bundeskanzler zum Entscheidungszentrum wurde, hatte bereits als Außenminister keine oder nur geringe kooperative Beziehungen zu den Gruppen, die nach 1969 seine stärksten Gegenkräfte darstellten. Erstmals seit Ende der fünfziger Jahre kam es wieder zu antagonistischem Verhalten einzelner Oppositionsgruppen der Außenpolitischen Führungselite gegen die Regierung. Brandt weist im Gegensatz zu den Kanzlern der Jahre 1957 bis 1969 nicht zu allen Gruppen kooperative Beziehungen auf; die Gruppen Strauß und — an diese eng angelehnt — die Vertriebenen stehen in hohem Dissens zum Entscheidungszentrum. Dieser starke Gegensatz wirkt sich, auf die CDU/CSU-Fraktion und ihren Vorsitzenden Rainer Barzel aus, denen aber immerhin ein geringer Konsens zugeordnet werden kann, insofern sie sich gelegentlich um ein Mininum an Kooperation bemühen und nicht permanent auf Kollisionskurs gehen. Dem starken Druck der Opposition auf das Entscheidungszentrum entspricht innerhalb der Regierungskoalition der geschlossene überwiegende Konsens. Brandt ist nach Adenauer wieder der erste Bundeskanzler, auf den mehr als fünf Gruppen in erster Linie fixiert sind. Ähnlich wie Adenauer besitzt Brandt einen vorwiegend außenpolitisch orientierten Beraterstab. Er besteht aus dem Chef des Bundeskanzleramtes, Horst Ehmke, dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr, der parlamentarischen Staatssekretärin Katharina Focke und dem Bundespressechef, Conrad Ahlers. Egon Bahr dürfte wohl der einflußreichste außenpolitische Berater Willy Brandts sein, insbesondere in der Ost-und Deutschlandpolitik. Bundesminister Horst Ehmke hat als Chef des Bundeskanzleramtes einen wesentlichen Einfluß auf die Personalpolitik der Regierung. Er hat ferner die Aufgabe, engen Kontakt mit Herbert Wehner und dem SPD-Fraktionsvorstand zu halten. Auf der Regierungsebene läuft die Koordinierung über die täglichen Besprechungen der beamteten Staatskekretäre. Bis zum Mai 1970 bestand eine enge Verflechtung des Entscheidungszentrums mit dem Auswärtigen Amt. Georg Ferdinand Duckwitz, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, war an den täglichen Beratungen im Bundeskanzleramt beteiligt, während Ministerialdirektor Ulrich Sahm vom Bundeskanzleramt bei den täglichen Besprechungen im Auswärtigen Amt anwesend war
Die Vertreter der Kräftegruppen von SPD und FDP beeinflussen den Entscheidungsprozeß vor allem in zwei Gremien. Zu informellen Gesprächen treffen sich Minister, Fraktionsvorsitzende und Staatssekretäre der Regierungskoalition wöchentlich bei Willy Brandt Im Kabinett werden diejenigen Entscheidungen getroffen und Verhandlungspositionen festgelegt, für die ein Konsens von SPD und FDP erst hergestellt werden muß Auf dieser Basis der informellen und institutionellen Verflechtung vollzieht sich die Entscheidungssanktionierung in außenpolitischen Fragen. Die Beteiligung des Parlaments an diesen Entscheidungen erfolgt vor allem über die Fraktionsvorsitzenden. Der Bundeskanzler informiert Herbert Wehner, Rainer Barzel und Wolfgang Mischnick teilweise vorab, teilweise auch nachträglich gemeinsam über außenpolitische Entscheidungen Daneben konsultiert Willy Brandt zeitweilig Rainer Barzel in vertraulichen Gesprächen separat
Außer Brandt werden in Gruppenfunktion von den Sozialdemokraten Herbert Wehner, Karl Schiller und Helmut Schmidt getrennt aufgeführt. Schiller wird wie auch in der vorausgegangenen Phase als besondere Einheit im System der Außenpolitischen Führungselite berücksichtigt, weil er als Wirtschafts-und Fi-nanzminister eine partielle amtsbezogene Kompetenz in außenpolitischen Fragen hat, zumal Aspekte der Wirtschafts-und Finanz-politik in den Problembereichen Europäische Integration und deutsch-amerikanische Beziehungen häufig im Vordergrund stehen.
Helmut Schmidt gehört nicht nur wegen seiner partiellen amtsbezogenen Kompetenz als Verteidigungsminister zu den Gruppenrepräsentanten, sondern vielmehr wegen seiner partei-bezogenen Eigenständigkeit, insofern er innerhalb der SPD für einen — wenn auch nicht immer scharf abgegrenzten — Parteiflügel steht Auswirkungen dieser Stellung waren bisher in außenpolitischen Fragen selten sichtbar; es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß sie bei Verschärfung innerparteilicher Gegensätze stärker werden.
Herbert Wehner gehört als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion schon institutionell zu den Gruppen, die an der Entscheidungssanktionierung beteiligt sind. Sein Positionsindex zeigt an, daß er eine Schlüsselstellung im Kräftefeld der Gruppen einnimmt, so daß neben ihm und dem Bundeskanzler für außen-politische Experten der Fraktion kein Spielraum mehr bleibt. Wehner steht in einem engen persönlichen Kontakt zu Willy Brandt und wird zu wichtigen Kabinettssitzungen hinzugezogen. Ihm fällt vor allem die Aufgabe der Koordinierung mit der FDP-Fraktion zu. In den politischen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition sichert er durch seine Stellungnahmen außenpolitische Entscheidungen ab. Er beeinflußt Form und Inhalt der Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit in starkem Maße
Erstmals ist die FDP dreifach in der Außenpolitischen Führungselite vertreten, und zwar mit Walter Scheel als Außenminister, mit Hans-Dietrich Genscher als Kabinettsmitglied mit besonderer parteibezogener Eigenständigkeit und Wolfgang Mischnick als Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion. Der generellen amts-bezogenen Kompetenz und der parteibezogenen Eigenständigkeit Walter Scheels steht eine amtsbezogene Abhängigkeit gegenüber, die vor allem in den ersten Monaten der Regierung nach außen hin spürbar war. Scheel konnte nach einer personellen Umstrukturierung im Auswärtigen Amt und der Vereinbarung, daß die Beratungen zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt über ihn persönlich erfolgen, seine Einflußmöglichkeiten verbessern. Zur Leitung des außenpolitischen Apparates berief Scheel am 1. Juni 1970 Paul Frank und Sigismund von Braun zu Staatssekretären ins Auswärtige Amt. Karl Moersch löste Ralf Dahrendorf als parlamentarischer Staatssekretär ab. Damit bildete Scheel sich allmählich einen eigenen Berater-stab, der seine Position im außenpolitischen Entscheidungsprozeß stärkte
Die außenpolitischen Akteure der Opposition lassen sich fünf Gruppen — einschließlich der Vertriebenen — zuordnen. Rainer Barzel repräsentiert die Fraktion der CDU/CSU im Kräftefeld der Gruppen. Er koordiniert die Kontakte innerhalb der Fraktion und gegenüber der Regierungskoalition. Innerhalb der CDU/CSU bestimmt er entscheidend die Aktionen gegenüber der Regierung. Barzel versuchte zunächst durch Hervorhebung von Gemeinsamkeiten in außenpolitischen Fragen zwischen Regierung und Opposition Einfluß auf Regierungsentscheidungen zu gewinnen. Die zunehmende Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition und die Annäherung an Strauß bewirkte aber zeitweise eine prinzipielle Strategie auf allen Ebenen der politischen Auseinandersetzung Franz Josef Strauß repräsentiert eine Gruppe innerhalb der CDU/CSU, die auf prinzipielle Entscheidungen drängt und bestimmt im wesentlichen den Konfrontationskurs der Opposition. Er greift aber vor allem die Regierung in der Öffentlichkeit und weniger im Parlament an. Durch seine dezidierte Haltung versucht er, die Gruppe der Vertriebenen an die CDU/CSU zu binden. Da es in der CDU/CSU noch eine Reihe von unentschiedenen Kräfte-konstellationen gibt, ist er bemüht, durch eine entschiedene Haltung seinen Einflußbereich zu vergrößern. Strauß beeinflußt nicht nur das Verhalten Barzels, sondern auch Kurt Georg Kiesingers, der sich schließlich immer mehr an die außenpolitische Linie von Strauß annäherte
Konzeptionell und taktisch stellt Gerhard Schröder einen Gegenpol zu Strauß innerhalb der CDU/CSU dar. Im Gegensatz zu Strauß, Barzel und Kiesinger befürwortete er partiell das außenpolitische Konzept der Regierung. Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses wird er von Willy Brandt über wichtige außenpolitische Entscheidungen informiert. Da das parlamentarische Vorgehen der CDU/CSU überwiegend von Strauß und Barzel festgelegt wird, versucht er gelegentlich über Interviews und öffentliche Stellungnahmen seine Vorstellungen zu verdeutlichen Die Zweiteilung des Systems hat sich gegenüber der vorausgegangenen Phase verstärkt. Nur acht der insgesamt 27 Interaktionslinien laufen zwischen Regierung und Opposition, obwohl die Regierung aus acht und die Opposition aus fünf Gruppen besteht und damit die bisher höchste Gruppenzahl erreicht ist. Von den acht Linien zwischen Regierung und Opposition gehen drei vom Kanzler und zwei vom Außenminister sowie jeweils eine von Genscher, Schiller und Wehner aus. Vier dieser Linien laufen in der CDU/CSU-Fraktion zusammen und jeweils zwei bei Barzel und Schröder. Die Kontaktlinien häufen sich also an bestimmten Stellen, eine Tatsache, die die Polarisierung des Systems unterstreicht.
IV. Führungsgruppenstruktur und politischer Wandel
Abbildung 4
Tabelle 3 Abhängigkeitsskala
Tabelle 3 Abhängigkeitsskala
1. Drei Systemtypen Der Wandel der Führungsgruppenstruktur seit 1949 ergibt sich aus einem Vergleich der Interaktionsgraphiken, die drei Grundmuster erkennen lassen. In den ersten drei Phasen war das Subsystem Außenpolitische Führungselite durch eine hohe Zentralität geprägt. In den vier Phasen von 1957 bis 1966 entwickelte sich eine Vollstruktur, die auf eine relativ hohe Dezentralität hindeutet. Auf dieser Entwicklung basiert seit 1966 eine Tendenz zur Zweiteilung bzw. Zweipoligkeit, mit der aber — seit 1970 erkennbar — offensichtlich ein Trend zur erneuten Zentralität einhergeht. Wir können also als Grundmuster unterscheiden:
1. das zentralisierte System (1949— 1957), 2. das dezentralisierte System (1957— 1966)
und 3. das polarisierte System (seit 1966).
Die in Klammern gesetzten Jahreszahlen geben selbstverständlich nur einen ungefähren Anhaltspunkt, insofern die drei genannten Grundmuster jeweils nur über einen kurzen Zeitraum idealtypisch vorliegen. Von größerem analytischem Interesse sind hingegen die diversen übergangsformen, die sich zwischenzeitlich bildeten. Denn diese weisen auf die Ursachen und Prozesse der Wandlungen hin. Dem Idealtyp des zentralisierten Systems kommt das in Interaktionsgraphik 1 (1949— 1953) dargestellte System am nächsten, dem des dezentralisierten Systems entspricht vor allem Interaktionsgraphik 5 (1961— 1963) und dem des polarisierten Systems Interaktionsgraphik 9 (ab 1969)
Ein Vergleich der Verteilung von Konsens-und Dissensformen bei den einzelnen Grundmustern unterstreicht die Diskrepanz der Strukturformen. „Hoher Konsens" und „kein Konsens" kommen nur in zentralisierten und polarisierten Systemen vor. „Partieller Konsens" ist eine typische Erscheinungsform dezentralisierter Systeme. In den Phasen des zentralisierten Systems war die Mehrzahl der Gruppen eindeutig auf das Entscheidungszentrum fixiert. Hoher/überwiegender, partieller sowie geringer/kein Konsens traten in den Relationen 5: 2: 1 bzw. 7: 2: 1 und 8: 1: 2 auf Gruppen, die institutionell zur Opposition gehörten, standen bestenfalls in partiellem Konsens zum Entscheidungszentrum.
In den Phasen des dezentralisierten Systems betrugen die entsprechenden Relationen 6: 2: 2 (1957/61), 3: 4: 3 (1961/63), 5: 3: 3 (1963/65) und 2: 4: 4 (1965/66). Von der Ubergangs-phase 1957— 1961 abgesehen befand sich etwa ein Drittel aller Gruppen in partiellem Konsens zum Entscheidungszentrum, ein typisches Zeichen für die Instabilität. Bei Kanzlerwechsel wurden die neuen Kanzler jeweils von Gruppen favorisiert, die der regierungsinternen Gegengruppe zum Entscheidungszentrum angehört hatten. Die institutionelle Zugehörigkeit zur Opposition oder Regierung spielt generell bei dezentralisierten Systemen nur eine untergeordnete Rolle.
Auch die Phase der Großen Koalition war eine typische Übergangsphase. Die Relation von überwiegendem, partiellem und geringem Konsens betrug 2: 5: 5. Seit 1969 liegt sie hingegen bei 7: 1 : 4; dabei stehen zwei der vier letztgenannten Gruppen sogar in „keinem Konsens" zum Entscheidungszentrum. Diese Relation ähnelt somit stark denen, die wir bei zentralisierten Systemen festgestellt haben. Ähnlich deutliche Unterschiede lassen sich für die drei Grundmuster hinsichtlich der durchschnittlichen Kooperationsfähigkeit feststellen, zumal diese weitgehend von dem Ausmaß der dezentralen, sich tendenziell gegen das Entscheidungszentrum richtenden, Interaktionsbeziehungen abhängt. In den drei Phasen des zentralisierten Systems lag die durchschnittliche Kooperationsfähigkeit nahezu gleichbleibend bei 0, 25, bei 0, 27 und ebenfalls bei 0, 27 Punkten. In der Umstrukturierungsphase von 1957 bis 1961 schnellte sie auf 0, 49 empor, erreichte 1961— 1963 mit 0, 54 ihren Höhepunkt und hielt sich in den beiden letzten Phasen des dezentralisierten Systems mit 0, 49 und 0, 51 in dieser Größenordnung. In der Phase der Großen Koalition verringerte sich die durchschnittliche Kooperationsfähigkeit auf 0, 40 und unter dem gegenwärtigen polarisierten System sogar auf 0, 35, dem niedrigsten Wert seit 1957. Je niedriger also die Kooperationsfähigkeit ist, desto stärker tendiert das System zur Zentralität. Von besonderer Bedeutung aber sind die Wandlungsprozesse von einem Strukturtyp zum anderen. 2. Faktoren der Wandlungsprozesse Für die Wandlung vom zentralisierten zum dezentralisierten System waren in erster Linie die folgenden Faktoren entscheidend:
a) hinsichtlich der Struktur der Außenpolitischen Führungselite 1. Positionsverluste der kleineren bürgerlichen Parteien in der Außenpolitischen Führungselite, die das Gewicht der diversen CDU/CSU-Gruppen verstärkten.
2. Die zunehmende Differenzierung des Subsystems innerhalb der CDU/CSU, die schon in der zweiten Phase einsetzte.
3. Ansätze einer Differenzierung des Subsystems innerhalb der SPD, die partiell in der Umstrukturierung der Außenpolitischen Führungselite sichtbar wurden, insbesondere durch den wachsenden Einfluß der Berliner SPD unter Willy Brandt. Dieser SPD-Führungsgruppenwandel war eine notwendige Voraussetzung für erhöhte Kooperation mit anderen Parteien.
4. Der zunehmende Dissens zwischen Adenauer und den anderen Gruppen der CDU/
CSU. Er erlaubte der SPD, den Dissens zum Entscheidungszentrum, auf das die bisherige sozialdemokratische Außenpolitik ausgerichtet war, zunächst noch aufrechtzuerhalten und gleichzeitig über andere Gruppen der CDU/CSU eine neue Ausgangsposition zu schaffen.
5. Die Diskrepanz zwischen Bundeskanzler und Außenminister, die allen Gruppen die Möglichkeit gab, auf Kabinettsebene differenziert anzusetzen.
6. Die dadurch bedingte Verbesserung der Informationschancen oppositioneller Gruppen, die über den Außenminister das Informationsmonopol des Kanzlers umgehen konnten. b) hinsichtlich der äußeren Bedingungen 1. Die Umstrukturierung des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland nach der mit dem Godesberger Programm verkündeten Umorientierung der SPD.
2. Der Strukturwandel des Internationalen Systems infolge Kooperation der Weltmächte USA und UdSSR in begrenzten Be-reichen sowie der Differenzierung innerhalb der politischen und militärischen Machtblöcke.
3. Daraus resultierende Ansätze zu politischen Alternativen, die von den divergierenden Gruppen innerhalb der Außenpolitischen Führungselite der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen werden konnten.
Für die Wandlung vom dezentralisierten zum polarisierten System waren vor allem die folgenden Faktoren entscheidend:
a) hinsichtlich der Struktur der Außenpolitischen Führungselite 1. Die Polarisierung hatte ihren Ursprung innerhalb der CDU/CSU in der Konfrontation Schröder/Strauß Anfang der sechziger Jahre.
2. Diese Konfrontation war eine unerläßliche Basis für den Erfolg der sogenannten Anpassungsstrategie der SPD, die teilweise den außenpolitischen Kurs der Regierung Erhard/Schröder gegen deren innerparteiliche Opposition stützte.
3. Die Polarisierung manifestierte sich durch die Bildung konkurrierender Dreiecksbeziehungen innerhalb der Regierungskoalition. 4. Mit Bildung der Großen Koalition löste Willy Brandt nicht nur Gerhard Schröder als Außenminister ab, sondern setzte — zumindest konzeptionell — dessen Konfrontation mit Strauß fort. Diese Polarisierung wurde nach außen wenig sichtbar, weil Strauß durch das Finanzressort kompetenzmäßig gebunden wurde bzw. als Bundesminister in amtsbezogener Abhängigkeit stand und weil andererseits Brandt mit Hilfe anderer Gruppen der SPD — insbesondere Wehner — in eine geschützte Randlage des Konfrontationsfeldes gesetzt wurde.
5. Die Tatsache, daß erstmals zwei etwa gleichstarke Partner die Koalition bildeten, begünstigte den ohnehin schon vorhandenen Trend zur Polarisierung. Infolge der Ressortverteilung bildete sich gerade im Bereich der Außenpolitik ein Subsystem aus sozialdemokratischen Gruppen heraus.
Bundeskanzler Kiesinger stand aufgrund dieser Kräfteverteilung im Schnittpunkt der Interessen.
6. Die Pole des Konfrontationsfeldes bildeten von 1963 bis 1969 zwei Gruppen, von denen keine im Entscheidungszentrum stand.
Als 1969 mit Brandt eine dieser Gruppen zum Entscheidungszentrum wurde und sich dadurch die Polarität noch verstärkte, führte dieser Positionswechsel automatisch zu einer erneuten Zentralisierung des Systems. b) hinsichtlich der äußeren Bedingungen 1. Der Trend zum Zweiparteiensystem, der zu einem Zweiparteienkonkurrenzsystem führte, war die strukturelle Basis dieses Wandlungsprozesses der Außenpolitischen Führungselite.
2. Die Eigendynamik der Interdependenz der wirtschaftlichen und militärischen Bündnis-systeme veränderte die Gewichtung des außenpolitischen Problemhaushaltes. Diese Veränderungen begünstigten neue Führungsgruppen, die weniger mit traditionellen Prioritäten belastet waren.
Betrachtet man die dargestellten Faktorenketten im Gesamtzusammenhang, so zeichnet sich folgender Ansatz zu einer Kreislauftheorie des Strukturwandels außenpolitischer Führungseliten ab: Ein zentrales System tendiert nach Verwirklichung der Primärziele zur Dezentralität. Ein dezentrales System tendiert bei Verschärfung der politischen Gegensätze zur Polarisierung. Ein polarisiertes System tendiert, sobald das Entscheidungszentrum direkt in die Polarisierung einbezogen ist, zur Zentralität. Außenpolitische Innovation ist vor allem mit der Entwicklung von der Polarisierung zur Zentralität verbunden. Die Eliten-zirkulation erfolgt hingegen in erster Linie in der Phase der Dezentralität.
Heino Kaack, Dr. phil., geb. 1940 in Kiel, Reinhold Roth, geb. 1941 in Kleinost 1960— 1964 Studium der Politikwissenschaft, heim/Aschaffenburg, Studium der Politischei Soziologie, Geschichte und Rechtswissenschaft Wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und So an der Universität Kiel, 1964 dort Wissenschaftlicher ziologie an der Freien Universität Berlin unc Angestellter, 1965 Verlagslektor, der Universität Hamburg, Assistent am Semi 1967 Wiss. Assistent Universität Hamburg, nar für Sozialwissenschaften der Universitä 1969 Wiss. Rat, 1971 Wiss. Oberrat, 1971 Habilitation, Hamburg. venia legendi für Politische Wissenschaft. Veröffentlichungen: Ostpolitik als Mittel de Deutschlandpolitik, in: Aus Politik und Zeit Veröffentlichungen u. a.: Die Parteien in der geschichte, B 43/1969; Parteiensystem unc Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, außenpolitischer Entscheidungsprozeß in de Bonn 19642; Das Problem einer außenpolitischen BRD, Diplom-Arbeit, Hamburg 1971. Alternative für Deutschland, Phil. Diss. Kiel 1965; Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, Opladen 1967; Wahlkreisgeographie und Kandidatenauslese, Köln und Opladen 1969; Opposition und Außenpolitik, in: PVS-Sonderheft 1, 1969; Wer kommt in den Bundestag?, Opladen 1969; Jungwählerverhalten in Hamburg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1970 (zus. mit Klaus G. Troitzsch); Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971; Die Basis der Parteien, in: Zeitschrift für Parlaments-fragen, 1971, H. 1; Personelle Mobilität des Deutschen Bundestages 1949— 1969, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1971, H. 4.
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