Veränderungen des Rüstungsgleichgewichts zwischen den USA und der Sowjetunion
Klaus Mayer
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Zusammenfassung
Eine Stabilisierung des Rüstungsstandes beider Großmächte wurde bisher durch die Unsicherheiten in der verläßlichen Abschätzung der Kampfstärke nuklearer Streitkräfte verhindert. Zu der Schwierigkeit, verläßliche Signale über die Rüstungsaktivitäten des Gegners zu empfangen, tritt das Problem der innergesellschaftlichen Signalveränderung: Das empfangene Signal wird durch rüstungspolitische Eigeninteressen gesellschaftlicher Gruppen verzerrt, indem seine Intensität verstärkt bzw. Signale, die dem rüstungspolitischen Eigenbezug entgegenstehen, unterdrückt werden. Der rüstungspolitische Eigen-bezug zeigt sich deutlich in der rüstungstechnologischen Entwicklung des eigenen Landes: Sie wird praktisch zur Meßgröße für die Bedrohung der nationalen Sicherheit. Durch die qualitativen Verbesserungen der Raketenpotentiale auf beiden Seiten ist sowohl eine Stabilisierung der nuklearen Abschreckung eingetreten wie auch eine zunehmende Entwertung von Waffensystemen, auf die sich bisher die nukleare Abschreckung gestützt hat. In beiden Großmächten gibt es sowohl Vertreter des Konzepts einer Stabilisierung der nuklearen Abschreckungsebene wie auch Anhänger einer forcierten technologischen Forschungsstrategie, die auf die Möglichkeit eines waffentechnologischen „Durchbruchs" setzen. Die waffentechnologischen Optionen für die Zukunft liegen in einer stärkeren strategischen Nutzung der Weltmeere.
I. Vorbemerkung
Das gestellte Thema bietet zwei Interpretationsmöglichkeiten, einen qualitativen und einen quantitativen Aspekt. — Die „Veränderungen" des Rüstungsgleichgewichts können sich auf die strategischen Mittel beziehen, mit denen dieses Gleichgewicht aufrechterhalten wird. Durch die Einführung neuer Waffensysteme haben sich die strategischen Mittel qualitativ gewandelt. Die Abschreckung wird auf einer waffentechnologisch höheren Ebene vollzogen, ohne dabei das Rüstungsgleichgewicht zwischen den beiden Supermächten aufzuheben. — Der quantitative Aspekt bezieht die „Veränderungen" direkt auf ein ursprünglich bestehendes Rüstungsgleichgewicht, das inzwischen zu einem Ungleichgewicht mit Vorteil für die eine bzw. Nachteil für die andere Seite geworden ist. Da in den vergangenen Jahren eine deutliche amerikanische Überlegenheit auf dem Gebiet strategischer Waffen bestand, wird unter dem zweiten Aspekt die Behauptung erörtert, daß sich das Rüstungsgleichgewicht zum Nachteil der USA verändert habe. Damit wird der Sowjetunion ein Vorsprung vor den Vereinigten Staaten zuerkannt. Läßt sich diese These rechtfertigen?
In der Sicht des amerikanischen Verteidigungsministers Laird hat die Entwicklung der strategischen Rüstung „zu einer Lage geführt, in der wir im wesentlichen an einem Kreuzungspunkt im strategischen Gleichgewicht angelangt sind" Da Laird diese Erklärung vor dem Unterausschuß für Abrüstung des amerikanischen Senats abgab, um die Entscheidung der Nixon-Administration zum Aufbau einer dritten ABM-Stellung sowie die Umrüstung von „Polaris" -und „Minuteman" -Raketen auf Mehrfachsprengköpfe (MIRV) zu rechtfertigen, kann kaum angenommen werden, der Minister habe die amerikanische Position in einem rosigeren Licht darstellen wollen, als es der wirklichen Situation entspricht. Ähnlich wie Laird hatte sich zuvor auch der Stabschef des US-Heeres, General Westmoreland, geäußert: „Die UdSSR hat ein beachtliches Raketenarsenal entwickelt. Sie nähert sich dem Gleich-stand oder hat den Gleichstand mit uns be reits erreicht. Wir haben noch die überlegen heit, soweit es Polaris-Unterseeboote betriffl doch die Russen holen schnell auf."
Westmorelands Erklärung bezieht sich auf de quantitativen Aspekt der Rüstungsstärke. Di Sowjetunion sei dabei, die Raketenlücke z den Vereinigten Staaten zu schließen. Aud Lairds Feststellung, es sei ein Kreuzungspunk im strategischen Gleichgewicht erreicht, ei innert an das Bild zweier Kurven, die die Eni Wicklung der Raketenstärke beider Groß mächte darstellen, bei der die sowjetische Kurve die amerikanische erreicht hat.
Bevor die Frage untersucht werden soll, ob der quantitative Aspekt allein ausreichend ist, um eine hinreichende Einschätzung der Rüstungs-potentiale und ihres Verhältnisses zueinander (Gleichgewicht oder Unter-bzw. Überlegenheit) zu geben, soll die Frage erörtert werden, ob Veränderungen in der Rüstungsstärke der beiden Großmächte hinreichend genau eingeschätzt werden können.
II. Das Beispiel der „Raketenlücke"
Abbildung 3
ABM ICBM MIRV Mt SALT SLMBM CSM FAZ IHT ND NZZ/FA SZ Abkürzungen Anti Ballistic Missile (Raketenabwehrrakete) Intercontinental BallisticMissile (Intercontinentalrakete) Multiple Independently Reentry Targetable Vehicle (Rakete mit Mehrfachsprengköpfen) Megatonne (entspricht einer Million Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs)
Strategie Arms Limitation Talks (Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen) Submarine Launched Ballistic Missile (U-Boot-Rakete) Christian Science Monitor Frankfurter Allgemei匐ٞ?
ABM ICBM MIRV Mt SALT SLMBM CSM FAZ IHT ND NZZ/FA SZ Abkürzungen Anti Ballistic Missile (Raketenabwehrrakete) Intercontinental BallisticMissile (Intercontinentalrakete) Multiple Independently Reentry Targetable Vehicle (Rakete mit Mehrfachsprengköpfen) Megatonne (entspricht einer Million Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs)
Strategie Arms Limitation Talks (Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen) Submarine Launched Ballistic Missile (U-Boot-Rakete) Christian Science Monitor Frankfurter Allgemei匐ٞ?
General Maxwell D. Taylor veröffentlichte 1960, nach seinem Rücktritt vom Amt des US-Heeresgeneralstabschefs, das Buch „The Uncertain Trumpet“; er übte darin scharfe Kritik an der Verteidigungspolitik der Eisenhower-Administration. Nach Taylors Ansicht waren „neue Faktoren aufgetaucht ..., die eine vollständige Überprüfung unseres militärischen Bedarfs verlangten": „Der erste Faktor ist der Verlust der technischen Überlegenheit der USA über die UdSSR auf vielen Gebieten der Waffentechnik. Obwohl es gefährlich ist zu verallgemeinern, wenn der letzte Beweis fehlt, so ist es doch unmöglich zu leugnen, daß die UdSSR heute den USA auf so wichtigen Gebieten wie Langstreckenraketen und bei bestimmten Operationen im Raum überlegen ist. Da ich einen wohlentwickelten Skeptizismus gegenüber Informationen habe, die die Neigung zeigen, die Stärke des Feindes zu übertreiben, habe ich mich nur zögernd mit der Tatsache der sogenannten , Raketen-lücke'abgefunden. Widerstrebend habe ich erkennen müssen, daß tatsächlich eine solche Lücke besteht ... Meine persönliche Schlußfolgerung ist, daß die USA wahrscheinlich bis ungefähr 1964 der UdSSR an Anzahl und Schlagkraft von Langstreckenraketen erheblich nachstehen werden ...“
Taylors Warnung wurde von Regierungsstellen bestätigt. Der amerikanische Geheimdienst CIA war 1958 zu der Auffassung gekommen, bis Mitte 1960 könne die Sowjetunion ca. 500 Interkontinentalraketen einsatzbereit haben. Verteidigungsminister McElroy erklärte im Juli 1959 vör einem Kongreßausschuß, es gäbe eine „Raketenlücke" (missile gap), die vermutlich erst nach Jahren geschlossen werden könnte Anfang 1960 erhielt der Kongreß von Regierungsstellen eine Schätzung über die Entwicklung der amerikanischen und sowjetischen Raketenstärke bis Juni 1963, die eine sowjetische Überlegenheit von 2 : 1 auswies: 1960 1961 1962 1963 USA 3 75 150200— 250 UdSSR 10 100 250 400— 500
Ende 1962 teilte Verteidigungsminister McNamara in einem Interview mit dem Publizisten Stewart Alsop mit, die Sowjets hätten gerade erst ihre 100. Fernrakete in Dienst gestellt
III. Die Aufklärung des gegnerischen Raketenpotentials
Die „Feindbild“ -Komponenten: Kapazität und Intention. Ihre Bewertung in der amerikanischen Verteidigungspolitik durch McNamara, Moorer und Laird.
Es wäre eine Entstellung der eigentlichen Problematik, wollte man die Debatte um die . Raketenlücke" einzig auf den trickreichen Versuch amerikanischer Militärs, durch Alarm-meldungen über die gegnerische Raketenent-Wicklung den eigenen Raketenausbau zu beschleunigen, reduzieren, da die amerikanische Luftwaffenführung dem Ausbau der eigenen Raketenstreitmacht reserviert gegenüberstand. Das eigentliche Problem sind nicht bewußt übertriebene Schätzungen des gegnerischen Potentials (in einem solchen Fall wäre zumin-dest den Verantwortlichen das tatsächliche Kräfteverhältnis bekanntI); es ist vielmehr die Möglichkeit, die Kräfte des Gegners realistisch einzuschätzen.
Ein realistisches „Feindbild" setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: 1. die strategischen Absichten des Gegners (Intention);
2. das ihm zu Verfügung stehende Potential (militärisch, wirtschaftlich usw.), um die materielle Basis zur Durchführung seiner Strategie zu besitzen (Kapazität).
Die Bestimmung der ersten Komponente befaßt sich mit der Beurteilung der Entscheidungen der gegnerischen Führungsspitze. Abgesehen von der technischen Schwierigkeit der verläßlichen Nachrichtenbeschaffung über diese Vorgänge, können einmal gefaßte Beschlüsse plötzlich revidiert werden. So kann beispielsweise der Produktionsausstoß einer bestimmten Waffe etwa verdoppelt oder gestoppt werden. Dieser Unsicherheitsfaktor über die Absichten des Gegners wird in der Regel durch die Kapazitätsberechnung ausgeglichen. So kann zwar der Produktionsausstoß einer bestimmten Waffe nach oben oder unten verändert werden; dies kann sich aber nur im Rahmen der gegebenen Produktionskapazitäten vollziehen.
Damit orientiert sich das „Feindbild" stärker an den vorhandenen Kapazitäten, die einer Beurteilung eher zugänglich sind, als an der Strategie des Gegners — um so mehr, wenn die Absichten des Gegners unbekannt sind. Diese These wird durch den früheren amerikanischen Verteidigungsminister Robert S. McNamara bestätigt:
„Im Jahre 1961, als ich Verteidigungsminister wurde, besaß die Sowjetunion ein sehr kleines Arsenal einsatzbereiter Interkontinental-Raketen. Aber es standen ihr sehr wohl die technischen und industriellen Möglichkeiten zu Gebote, um dieses Arsenal im Verlauf der folgenden Jahre beträchtlich zu vergrößern.
Wir hatten keine Beweise, ob die Sowjets beabsichtigten, ihre Kapazität tatsächlich in vollem Ausmaß zu nutzen. Doch man muß sich ... bei strategischen Planungen in seinen Berechnungen von konservativen Erwägungen leiten lassen. Das heißt, man muß Vorsorge für den denkbar schlechtesten Fall treffen und sich nicht damit zufriedengeben, auf den wahrscheinlichen zu hoffen.
Da wir keine Gewißheit über die sowjetischen Intentionen hatten -— wir wußten nicht, ob sie ihr Potential nicht erheblich verstärken würden —, mußten wir uns gegen eine solche Eventualität absichern, indem wir unsere eigenen Minuteman-und Polaris-Verbände wesentlich vergrößerten."
Je weniger Informationen über die Absichten des Gegners vorliegen, desto größer ist das Verlangen, für den schlimmsten Fall zu planen (overdesign). Bestehen Unklarheiten über die Absichten des Gegners, wird auch der Grad der gegnerischen Bedrohung zu einer Größe, die nicht exakt zu bestimmen ist. Der konservative Entscheidungshang zum overdesign basiert dann auf einer Größe, die bereits schon als maximal angenommen wurde — dazu McNamara: „Können wir sicher sein, daß unsere Einschätzung der Gefahren, auf der ja unsere eigene Rüstung beruht, zuverlässig ist? Meines Erachtens müssen wir immer mit Feh-lern rechnen. Das tun wir auch. Wir nehmen die Gefahr, die wir errechnet haben, bauen die nötigen Streitkräfte auf, um diese Gefahr einzudämmen — und als Sicherheitsfaktor rüsten wir dann noch etwas stärker."
Wenn die „Gefahr" auf der Grundlage der gegnerischen Kapazitäten beurteilt wird, zu denen noch ein „Sicherheitsfaktor" hinzugeschlagen wird, dann kommt es zu einem Rüstungsstand, der — wie McNamara nach seiner Amtszeit eingestand, „über unsere ursprünglichen Planungen hinaus(geht) und ebenso über unsere eigentlichen Erfordernisse" Zwar betonte McNamara, er sei der Über-zeugung, „daß die Fehlerquellen heute geringer sind als in der Vergangenheit, weil sich unsere Geheimdienst-Methoden verbessert haben" doch der Minister bot selber ein Beispiel für die Unsicherheit einer verläßlichen Analyse über die Absichten des Gegners. So erklärte McNamara 1965: „Die Sowjets haben eingesehen, daß sie mengenmäßig das Rüstungs-Rennen verloren haben und deshalb setzen sie es auch nicht fort. Nichts deutet derzeit darauf hin, daß die Russen eine der unseren vergleichbare strategische Atomstreitmacht entwickeln wollen." In seiner letzten Erklärung über das Verteidigungsbudget (für 1969) vor dem Senatskommitee für die Streitkräfte (Senate Armed Services Commite) gab McNamara dagegen bekannt, die Sowjetunion habe ihre ICBM-Streitmacht mehr als verdoppelt — von 340 im Oktober 1966 auf 720 innerhalb eines einzigen Jahres
Dasselbe Bild der Unsicherheit über die Vorgänge auf der „anderen Seite des Hügels" zeigte die ABM-Kontroverse im Jahre 1969. Während Verteidigungsminister Laird behauptete, „die Sowjets könnten bis 1975 in der Lage sein, auf dem nuklearen Überraschungsangriff zu spekulieren" hatte sein Amtskollege, Außenminister William P. Rogers, „Schwierigkeit", dies zu glauben, da „jeder Staatsmann, der bei gesundem Verstand ist, weiß, daß dies wahrscheinlich die Vernichtung der Menschheit bedeutet"
Regierungsexperten lieferten drei Haupttheorien über die sowjetischen Intentionen
Theorie 1: Innerer Druck zwingt die sowjetische Führung zum verstärkten Ausbau ihrer Raketenmacht.
Theorie 2: Die sowjetische Absicht läuft auf die Schaffung einer „first strike force" hinaus — jedoch nicht zum Zwecke eines Überraschungsangriffs, sondern als zukünftiges Druckmittel bei Konfrontationen der beiden Supermächte.
Theorie 3: Die Sowjets verstärken ihre Raketenrüstung zum Zwecke der Schadensbegrenzung im Falle eines Scheiterns der nuklearen Abschreckung.
Admiral Thomas H. Moorer, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs (chairman of the Joint Chiefs of Staff/JCS), forderte dagegen, die Intentionen der sowjetischen Seite außer acht zu lassen: „Ich denke, wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Absichten, sondern auf die Kapazitäten und die Handlungsmöglichkeiten, welche die sehr realen Kapazitäten den Sowjets einräumen, richten."
Moorers Forderung, anstelle von Theorien über die Absichten des Gegners die Verteidigungsplanung auf die beim Gegner entwickelten Angriffskapazitäten abzustimmen, gibt nur scheinbar eine von Unsicherheiten freie Lösung des Problems. Wenn die Aufmerksamkeit auf die Kapazitäten des Gegners und die daraus denkbaren Aktionsmöglichkeiten gerichtet werden soll, dann werden die beiden Größen, Intention und Kapazität, nicht mehr unabhängig gegeneinander abgewogen, sondern von der Beurteilung der Kapazität der Schluß auf die Intention des Gegners gezogen.
Wenn also der potentielle Gegner, die Sowjetunion, nach Pentagon-Schätzungen bis 1975 eine Raketenstreitmacht von 500 SS-9-Raketen in Dienst stellt, die 90 °/o der amerikanischen landgestützten ICBM-Streitmacht im Überraschungsangriff vernichten könnte folgt nach Moorer: Weil der Gegner diese Kapazität hat, wird er sie auch zum schlimmsten gebrauchen, d. h. einsetzen. Jeder amerikanische Verteidigungsminister würde wohl das Argument: da die USA eine Raketenstreitmacht aufgebaut hätten, mit der sie in der Lage seien, einen Gegner als Nation zu vernichten, folge daraus, die USA beabsichtigten, diese Raketen gegen die Sowjetunion einzusetzen, mit Empörung zurückweisen. So gehört schon ein hoher Grad an Bewußtseinsspaltung zu der Auffassung, jede amerikanische Rakete bewahre den Frieden, während jede sowjetische SS-9-Rakete den kommenden Atomschlag der Sowjets signalisiere. Dies zeigt, daß im Atomzeitalter die Intentionsbeurteilung des Gegners nach seinen Kapazitäten zwangsläufig zu der Unterstellung führen muß, vom Gegner drohe ein atomarer Uberraschungsschlag. Die dadurch ausgelösten Rüstungsanstrengungen können durch das „feedback-Prinzip“ den Gegner zu weiteren Rüstungsanstrengungen veranlassen, was wiederum als verstärkte Aggressivität gedeutet und zu weiteren Aktionen in Form einer Rüstungsspirale Anlaß gibt.
Verteidigungsminister Laird antwortete 1969 Kritikern, er schüre mit seiner Behauptung, die Sowjets zielten auf eine „first strike capa-bility", die Furcht der öffentlichen Meinung vor einem sowjetischen Überraschungsangriff, um die Rüstungsziele des Pentagons durchsetzen zu können: „Ich versuche nicht, die Leute zu erschrecken. Ich kenne nicht die russischen Absichten. Ich spreche über ihre Kapazitäten. Und da gibt es einen Unterschied." Damit räumte Laird ein, daß die Gleichsetzung Kapazität = Intention unrichtig sei, doch in der Praxis der amerikanischen Verteidigungspolitik blieb dieser Unterschied nur rhetorisch: „Mr. Laird, so führten einige Regierungsbeamten aus, habe die Verantwortung, konservative Urteile zu fällen, wenn das überleben des Landes in Frage steht.
In der öffentlichen Diskussion lieferte Laird sogar mehrere Versionen seines Kapazitätsbegriffes. Im Februar 1969 erklärte Laird, für ihn „ist die oft debattierte Frage, ob die Sowjets eine Kapazität anstrebten, die es ihnen erlauben würde, den ersten Schlag gegen die USA zu führen, von Bedeutung, doch sie sei nicht das Hauptproblem. Entscheidend sei, ob die Sowjets in Zukunft diese Fähigkeit entwickeln können" Vor europäischen Pressevertretern gab der Minister am 7. 4. 1969 folgende Version: „One has to look at this capability that is being developed ..."
Die Äußerungen zeigen, daß Laird einmal von einer in Zukunft existierenden Kapazität ausgeht während er andererseits das bereits existierende Potential des Gegners als Basis seiner eigenen Rüstungsmaßnahmen heranzieht. Der frühere Kongreßabgeordnete Melvin Laird lieferte als Kritiker der Verteidigungspolitik der Kennedy-und Johnson-Administration einen Kapazitätsbegriff, der rational schwerlich zu fassen ist: „Our military force structure should not be related to the . visible'threat but rather to the capabilities of the Communists ..."
Wenn nach Lairds Meinung die „Fähigkeiten“ der Kommunisten offensichtlich die von ihnen ausgehende „sichtbare Bedrohung" übersteigen, so bleibt offen, wie denn eine daran orientierte militärische Streitkräftestruktur beschaffen sein soll, da die „sichtbaren" Waffen des Gegners wohl weniger gefährlich sind als die „unsichtbaren Fähigkeiten" der Kommunisten. Wenn der Gegner, die Kommunisten, selber die Bedrohung darstellt und die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Bedrohung zweitrangig sind, stellt sich die Frage, ob für Laird Abschreckungspolitik überhaupt sinnvoll ist, da die Bedrohung nicht von dem möglichen Einsatz der Kampfmittel des Gegners, sondern von seiner bloßen Existenz ausgeht. Abschreckungspolitik ist aber nur dann möglich, wenn der abzuschreckende Gegner in seiner physischen Existenz toleriert wird
IV. Rüstungspolitischer Eigenbezug und „Feindbild" -Verzerrung
Die amerikanischen Raketenabwehrraketen (ABM)
Wenn der Gegner das „Böse" schlechthin verkörpert, so bildet sich die Intentionskomponete des „Feindbildes" nicht aus Informationen über den Gegner, sondern aus der Vorstellung, die man selbst vom Gegner bereits hat. Dies bedeutet, Informationen, die dieses Bild korrigieren können, werden nicht realisiert, d. h. unterdrückt.
So erklärte Laird im April 1970 vor einem Kongreßausschuß, falls Rotchina bis 1973 über Interkontinentalraketen verfüge, könne es die USA mit nuklearer Erpressung bedrohen, weil das „Safeguard" -Raketenverteidigungssystem zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig sei Zuvor hatte Lairds Stellvertreter (Deputy De-fense Secretary) David Packard am 8. 4. 1970 vor dem „House Appropriations Committee“ betont, China sei „unter der Kontrolle einer sehr kleinen Minderheit, die traditionell dem menschlichen Leben einen ziemlich geringen Wert beimißt. Es ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich für uns, präzise abzuschätzen, welcher Grad an Zerstörungen und Verlusten in ihrer Vorstellungswelt erforderlich ist, um sie vom Gebrauch atomarer Waffen, die sie haben werden, gegen uns abzuschrekken. Dies ist wahrscheinlich die Schlüsselfrage in dieser Angelegenheit."
Diese Erklärungen wurden abgegeben, obwohl sich inzwischen „offenkundig das strategische Konzept der chinesischen Führung und ihre . . . geradezu fatalistische Betrachtungsweise eines Atomkrieges gewandelt" hat. Ein im Januar 1970 von Radio Peking gesendeter Kommentar gab Anlaß zu dieser Beurteilung: „Der USA-Imperialismus und der Sozialimperialismus überschätzen die Rolle der Atomwaffen bis ins Magische. Sie haben Nuklearwaffen, aber wir haben sie auch. Wenn sie Atomwaffen dazu benutzen, um die Völker Chinas und der Welt zu bedrohen, so sind sie heute in gleichem Maße einer atomaren Bedrohung ausgesetzt."
Aus der Formulierung des Kommentars („in gleichem Maße“) geht hervor, daß auch in Peking die atomare Pattsituation ins politische Kalkül gezogen wird. In Washington wurde dies bei der Beurteilung der „rotchinesischen Bedrohung" unbeachtet gelassen; wohl aber erklärte Minister Laird im Mai 1970 vor den Senatoren des Senatsverteidigungsausschusses, durch den Start des ersten Satelliten der Volksrepublik sei eine neue Situation für die amerikanische Verteidigungsplanung entstanden; der Ausbau des „Safeguard" -Systems um sechs weitere Stellungen sei unbedingt notwendig. Dieser Vorgang zeigt den einseitigen Informationsselektionsprozeß. Informationen über den Gegner haben nicht die Funktion, sich ein möglichst realistisches Bild über seine Absichten und Möglichkeiten zu machen, sondern erfüllen den Zweck, die eigenen Absichten (die eigenen Rüstungsanstrengungen) zu rechtfertigen. Dieser Eigenbezug der Rüstung wird auch personell in den Gremien abgesichert, die für die Beurteilung des möglichen Gegners und der von ihm ausgehenden Bedrohung verantwortlich sind.
Im Zusammenhang mit seiner Entscheidung über den Beginn des „Safeguard" -Programms erklärte Präsident Nixon im Weißen Haus am 14. 3. 1969: „Das von mir befürwortete Pro-gramm basiert auf einer sorgfältigen Abschätzung der sich entwickelnden sowjetischen und chinesischen Bedrohung. Ich habe den Beratungsausschuß des Präsidenten in Fragen der Auslandsaufklärung (President's Foreign Intelligence Advisory Board), eine unparteiische Gruppe verdienter Bürger —angewiesen, eine jährliche Abschätzung der Bedrohung zu erstellen, die unsere regulären nachrichtendienstlichen Beurteilungen ergänzen wird. Jede Phase des Ausbaus wird begutachtet werden, um sicherzustellen, daß wir so viel wie nötig tun, aber auch nicht mehr als angesichts der zur betreffenden Zeit bestehenden Bedrohung notwendig erscheint."
Zu den Mitgliedern des „President’s Foreign Intelligence Advisory Board", der sich aus insgesamt zehn Persönlichkeiten der amerikanischen Wirtschaft und früheren Mitgliedern der Exekutive zusammensetzt, zählt u. a. Dr. William O. Baker, Vizepräsident der „Bell Telephone Laboratories", einer Tochtergesellschaft der „American Telephone und Telegraph Company", die das größte Fernmeldemonopol der Welt besitzt und gleichzeitig zu den 50 „top defense contractors" gehört.
Die „Bell Laboratories" sind seit langem an der Entwicklung eines amerikanischen Antiraketensystems beteiligt. Eine weitere Tochtergesellschaft der „Mutter Bell", die „Western Electric" arbeitet ebenfalls an der ABM-Entwicklung mit
Sechs Tage, nachdem Nixon seine Erklärung über den Beginn des Antiraketenprogramms abgegeben hatte, ernannte er als neues Mitglied des „President's Foreign Intelligence Advisory Board" Franklin D. Murphy, Board Chairman des kalifornischen Verlagsunternehmens Times-Mirror Corporation
Es läßt sich kaum bestreiten, daß die Interessenlage eines Verlagsunternehmens von der wirtschaftlichen Interessen-und Strukturlage des Gebietes mitbestimmt wird, in dem es ansässig ist. Nach einer Veröffentlichung des US-Verteidigungs-und Handelsministeriums vergab das Pentagon im Zeitraum eines Jahres (Ende: 30. 6. 1968) an „prime military contracts" 9 165 Mill. Dollar nach Kalifornien; diese Rüstungsaufträge machten 12, 5 °/o am Gesamteinkommen Kaliforniens aus Der Bodenbesitz des Verteidigungsministeriums in Kalifornien ist der größte von allen amerikanischen Bundesstaaten (4 335 068 acres) ebenso führt Kalifornien in der Zahl der Beschäftigten in „defense-generated jobs" (767 400 = 9, 3 °/o der gesamten Arbeitskräfte des Landes) Allein 40 ®/o der Beschäftigten Amerikas in der Luft-und Raumfahrtindustrie (= 548 000 Mann) arbeiten hier und erzielten 1965 1/3 der industriellen Produktion Dieser Industriezweig stellte ebenfalls 1965 38 °/o aller Arbeitsplätze in der Industrie Von den in Kalifornien ansässigen McDonnell-Douglas-Werken wird die dreistufige Feststoffrakete „Spartan“ gebaut, die neben der „Sprint" -Rakete das Antiraketensystem „Safeguard" bestückt.
Wenn die Wirtschaft Kaliforniens als „defenseminded" (rüstungsorientiert) gilt und durch die Auftragsvergabe eines Hauptteils des ABM-Systems vom „Safeguard" -Projekt unmittelbar betroffen ist, fällt die Vorstellung schwer, Mr. Murphy könne bei seiner Beurteilung über die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus von „Safeguard" ein Urteil abgeben, das vom wirtschaftlichen „background" seines Landes unbeeinflußt bleibt. Jedenfalls läßt das Beispiel von Ronald Reagan, Gouverneur des Staates Kalifornien, einen solchen Verdacht nicht unbegründet erscheinen: Auf einer Konferenz republikanischer Gouverneure, die im Mai 1969 stattfand, erhielt Vizepräsident Agnew bei seinem Versuch, Zustimmung zur ABM-Entscheidung des Präsidenten zu erhalten, nur Unterstützung von Reagan, der als einziger der Gouverneure forderte, die Konferenz solle eine befürwortende Resolution zur ABM-Entscheidung verabschieden — die übrigen Konferenzteilnehmer wandten ihr Interesse den innenpolitischen Problemen ihres Landes zu .
V. Interaktionshäufigkeit oder Eigendynamik des Rüstungswachstums
Dieter Senghaas kommt in seiner Studie „Zur Analyse von Drohpolitik in den internationalen Beziehungen" zu dem Schluß: „Die Rüstungskomplexe in Ost und West sind zwar lose aufeinander bezogen, doch ihr wirkliches Wachstum wird heute hier und dort autonom in den jeweiligen Abschreckungsgesellschaften bestimmt. Das mag zu Beginn der Geschichte des Kalten Krieges in der Tat anders gewesen sein. Doch heute würden wir die politische Realität verkennen, wenn wir das Abschrekkungssystem als ein System mit hoher Interaktionshäufigkeit zwischen der Sowjetunion und den USA interpretieren würden."
Konträr zu diesem Urteil sind die Aussagen der Akteure:
Verteidigungsminister McNamara: „Man muß erkennen, daß die Sowjetunion und die USA einander bei ihren strategischen Plänen bebeinflussen. Es ist gerade dieses Phänomen von Aktion und Reaktion, daß ein Wettrüsten auf Hochtouren hält."
Roswell L. Gilpatric, Vizeverteidigungsminister unter McNamara: „Einer der erschrekkendsten Aspekte des amerikanisch-sowjetischen Gleichziehens ist der unerbittliche Rhythmus, in dem Aktion und Reaktion aufeinander folgen. Ex-Verteidigungsminister Robert S. McNamara nannte es einmal die wahnsinnige Triebkraft, die neue Kernwaffensysteme mit sich bringen."
Die Feststellungen von McNamara und Gilpatric über die nach ihrer Meinung vorhandene Rüstungsinterdependenz zwischen den Supermächten erinnern an den Ablauf eines Schachspiels: Unternimmt der Gegner einen Zug, begegnet man ihm mit einem Konterzug, der wiederum einen neuen Zug des Gegners auslöst, usw.
Die Annahme, dem Wettrüsten liege ein Aktions-Reaktions-Phänomen zugrunde, führt unter dem Gesichtspunkt der Rüstungskontrolle zwangsläufig zu dem Schluß (in der Analogie des Schachspiels): Begnügt man sich, die einmal im Spiel erreichten Positionen zu stabilisieren und von weiteren Zügen abzusehen, die zu einer Niederlage des Gegners führen könnten, wird auch beim Gegner die Neigung wachsen, ebenfalls seine Positionen zu stabilisieren und von Angriffszügen abzusehen, die Konterzüge des Gegenspielers wieder herausfordern könnten, da bei einer Fortführung des Spiels sich auch für ihn die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage erhöhen würde, während bei einem „Einfrieren" des Spiels ein beiderseitiges Patt erreicht wäre, das beide Seiten vor-einer Niederlage bewahrt („If we don't do it, the Russians won't").
Nach Auffassung McNamaras hat der beiderseitige Ausbau einer gesicherten „Zweitschlagskapazität" beide Supermächte in eine Situation geführt, es ihnen unmöglich die macht, eine Erstschlagskapazität zu erreichen, da ein solcher Versuch stets durch die Gegenseite wieder vereitelt werden kann Damit war nach McNamara ein Zustand erreicht, bei dem jede neue Rüstungsanstrengung den einmal erreichten Zustand der gegenseitigen Abschreckung nur auf einer höheren, d. h. kostspieligeren Ebene wieder reproduziert, die grundlegende Abschreckungssituation aber nicht ändern kann und kein zusätzlicher Sicherheitsgewinn eintritt: „Die Neueinführung eines weiteren Waffentyps ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer Erhöhung unserer nationalen Sicherheit." Deshalb setzte McNamara als „erstes Kriterium" für die eigene Waffenentwicklung die Frage, „ob ein System auch tatsächlich zur Festigung unserer nationalen Sicherheit beiträgt. Die Vereinigten Staaten können eine umfassende Entwicklung von Waffensystemen nicht einmal ernstlich erwägen, ehe dieses grundlegende Erfordernis nicht erfüllt ist."
Diese Botschaft wurde auch dem strategischen Gegenspieler, der Sowjetunion, verdeutlicht.
In einer Rede, die John T. McNaughton, Assistant Secretary of Defense for Arms Control, im Dezember 1962 in Ann Arbor hielt, führte eru. a. aus:
»Wir müssen bei jeder Entscheidung, die wir treffen, die Stabilität und den dynamischen Effekt auf das Rüstungswettrennen berücksichtigen. Dies ist der Fall bei allen Entscheidungen, ob sie im Bereich der strategischen Doktrin, der Streitkräftestruktur oder auf dem Forschungs-und Entwicklungssektor liegen. Wenn wir vor der Notwendigkeit stehen, in irgendeinem dieser drei Schlüsselsektoren Entscheidungen zu treffen, dann sollten wir dies vor dem Hintergrund zweier Fragen tun:
Wie wird die Entscheidung die Stabilität beeinflussen — Stabilität vor technologischen Überraschungen, vor Unglücken und unerwarteten oder irrtümlich herbeigeführten Ereignissen, vor einer Haltung, durch die jede Konfrontation sich in Gewalt verwandelt? Und in welcher Weise wird die Entscheidung dazu beitragen, das Rüstungswettrennen entweder zu beschleunigen oder zu dämpfen?
Die Vereinigten Staaten sind dabei, Maßnahmen zu treffen, mit denen erreicht werden soll, daß ihre Militärmacht vernünftig zusammengesetzt und kontrolliert wird. Wir können nur hoffen, daß die Sowjetunion sich ebenfalls darauf vorbereitet, ähnliche Maßnahmen zu ihrer eigenen Sicherheit und zur Sicherheit für die gesamte Welt zu treffen."
Die „McNamara-Philosophy“ (eigentlich auch eine „McNaughton-Philosophy") erweist sich jedoch dann als unrealistisches Konzept, wenn sich die Richtigkeit der These von Senghaas, wonach von einer Interaktionshäufigkeit beider Abschreckungssysteme gar nicht die Rede sein könne, da sich das Rüstungswachstum autonom in den Gesellschaften vollziehe, herausstellt. Es ist schon dargelegt worden, daß ein wesentlicher Faktor für eine tatsächliche Interaktion die Möglichkeit ist, verläßlich die Aktionen des Gegners zu bestimmen. Nur wenn man weiß, welche Aktionen der Gegner plant, kann man in entsprechender Weise reagieren. Besteht aber in dieser Hinsicht Unsicherheit oder Ungewißheit, so wird das eigene Handeln den Charakter präsumptiver Aktion annehmen:
Man reagiert nicht auf das, was der Gegner unternimmt, sondern auf das, wovon man glaubt, daß der Gegner imstande sei, es zu tun.
Dann jedoch wird (und dies um so mehr, je weniger verläßliche Information man hat) das „Feindbild" zum eigentlichen Auslöser der Rüstungsmaßnahmen. Hinzu kommt der Zwang zur langfristigen Planung der eigenen Rüstungsaktivitäten, der wiederum eine langfristige Festlegung des „Feindbildes* impliziert — schon aus der Notwendigkeit, die einmal entwickelten Rüstungsprodukte auch absetzen zu können 44 Gerade der technologische Aspekt zeigt die Fragwürdigkeit des Aktions-Reaktions-Schemas. Die Dynamik des Wettrüstens entzündet sich nicht am Treiben in der Rüstungswerkstätte des Gegners, sondern an den eigenen Rüstungsaktivitäten. So erklärte beispielsweise Verteidigungsminister Laird in einem Presseinterview auf die Frage, ob die amerikanische Polaris-Flotte weiterhin ein unverwundbares Waffensystem bleiben werde:
„Ich kann diese Versicherung nicht für einen weitreichenden Zeitraum geben. Ich weiß, was wissenschaftlich entwickelt werden kann. Ich kenne einige der Dinge, an denen wir gerade arbeiten. Und ich unterbewerte nicht die wissenschaftliche Leistungskraft der Sowjetunion in dem Maße, daß ich sagen wollte, unsere Polarisflotte sei für alle Zeiten unverwundbar."
Lairds Antwort verdeutlicht das paradoxe Phänomen, daß die eigenen rüstungstechnischen Entwicklungen das Vertrauen in das bestehende Rüstungsgleichgewicht verunsichern. Dadurch entwickelt sich eine Eigendynamik, bei der das Ausmaß der eigenen Rüstung nicht von der Einschätzung der politischen Absichten des Gegners bzw.dessen Rüstungsaktivitäten bestimmt wird, sondern von den Möglichkeiten der eigenen Technologie-entwicklung. Die eigene rüstungstechnologische Entwicklung wird praktisch zur Meßgröße für die Bedrohung der nationalen Sicherheit: Je mehr und je besser eine Nuklearmacht im Atomzeitalter rüstet, desto größer wird in ihren Augen die Bedrohung der eigenen Sicherheit. Am Stand der eigenen Rüstung wird die Bedrohung abgelesen. Die mögliche Bedrohung durch den potentiellen Gegner in Gestalt seiner Rüstungsaktivitäten hat hier die Funktion, das Wachstum des eigenen Rüstungskomplexes nach außen (beispielsweise vor der nationalen oder internationalen Öffentlichkeit) zu rechtfertigen bzw. sicherzustellen. Alarmmeldungen über finstere Machenschaften des Kremls erhöhen die Ausgabenfreudigkeit für Rüstungsprojekte.
Hinter der Dynamik militärtechnologischer Entwicklung verbirgt sich die Forschungsinitiative der Rüstungsforscher, deren Arbeiten naturgemäß dann den reichen Segen staatlicher Finanzmittel erhalten, wenn die nationale Sicherheit als gefährdet gilt. Dies führt dazu, daß für die Beteiligten in den Forschungslaboratorien die nationale Sicherheit bereits dann gefährdet ist, wenn die Zuschußmittel des Pentagons gekürzt werden, von denen sie weitgehend abhängig sind (Jack Ruina, früherer Direktor des „Advanced Research Projects Agency" im Pentagon: „Sie können erklären, sie wollen die Laboratorien nicht mehr mit militärischen Forschungsarbeiten beschäftigen, aber wer zahlt denn die Gehälter der Wissenschaftler weiter?"
Dieser Interessenbezug der Forschungsinstitute auf die Vergabe von Forschungsmitteln durch das Pentagon bringt sie in einen Interessenkonflikt zu ihrer — nicht weniger wichtigen — Aufgabe als Lieferanten von Studien über die strategischen Kapazitäten und Entwicklungen auf der Gegenseite, denn ihre Beurteilungen über die Aktivitäten des Gegners beeinflussen den Umfang der eigenen Anstrengungen auf diesen Gebieten -— die Entscheidung also über die eigenen rüstungstechnischen Forschungsprioritäten und die damit verbundene Verteilung des Forschungsbudgets. Mit ihren Forschungsanstrengungen konterkarieren sie politische Entscheidungen der amerikanischen Regierung im Hinblick auf sowjetische Reaktionen im ABM-Entwicklungssektor. Der Entschluß Präsident Nixons, das Safeguard-System anstelle früherer Überlegungen nicht zum Schutz amerikanischer Städte, sondern zum Schutz der landgestützten ICBM-Streitmacht zu verwenden, wurde als Entscheidung gewertet, man wolle der sowjetischen Seite zeigen, daß die USA keine Erhöhung ihrer Schadensbegrenzungskapazität anstrebe — gleichbedeutend mit einer Minderung der sowjetischen Vergeltungskapazität —, sondern nur den Schutz ihrer eigenen Vergeltungskapazität: „Das Programm ist nicht provokativ. Die sowjetische Vergeltungskapazität wird durch unsere Entscheidung nicht berührt. Die Kapazität eines Überraschungsangriffs gegen unsere strategischen Streitkräfte wird vermindert. Mit anderen Worten, unser Programm bietet einen Anreiz für eine verantwortungsvolle sowjetische Rüstungspolitik und für die Vermeidung einer Eskalation des amerikanischen und sowjetischen Budgets für strategische Waffen." ABM-Konsultant Edward Teller: „Ich möchte genauso auch die Bevölkerungszentren verteidigen. Allerdings ist es sinnvoll — wie es der Präsident vorgeschlagen hat — mit der Inbetriebnahme bei den Raketenstellungen zu beginnen. Durch die Verteidigung der Raketenstellungen und die Sicherung unserer Vergeltungs-Streitmacht machen wir einen Angriff weniger wahrscheinlich und finden zugleich heraus, wie man die Bevölkerungszentren verteidigen kann, ob und wann dies möglich erscheint. Wenn ich beginne, die Städte zu verteidigen, so möchte ich sie wirkungsvoll verteidigen."
Die Versicherung des amerikanischen Präsidenten, das amerikanische ABM-System sei nicht provokativ, kann für die Verantwortlichen der sowjetischen strategischen Rüstung kaum beruhigend sein, wenn zugleich die amerikanischen ABM-Forschungen mit dem Ziel betrieben werden, herauszufinden, ob die Entwicklung einer wirksamen Städteverteidigung möglich ist.
VI. Das quantitative Kräfteverhältnis auf dem Nuklearsektor
Die bisherigen Ausführungen haben die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Veränderungen der strategischen Rüstung gezeigt. Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, diese Veränderungen im Zeitraum nach der Kuba-Krise (1962) darzustellen. Was den quantitativen Aspekt betrifft, so ist er auf amerikanischer Seite gekennzeichnet durch die Festschreibung der Zahl landgestützter ICBMs (1054) und auf Atom-U-Booten untergebrachten Raketen (656), während die sowjetische Seite die USA in der Zahl landgestützter ICBMs eingeholt und nach Angaben des Instituts für Strategische Studien in London (ISS) inzwischen sogar überholt hat. Der zahlenmäßige Vorsprung auf sowjetischer Seite gleicht sich wieder zugunsten der USA aus, faßt man den Bestand an ICBMs und SLBMs (submarine-launched ballistic missiles) zusammen, da der amerikanische Vorsprung bei den von See aus eingesetzten Trägerwaffen 3 : 1 beträgt
USA 1 054 + 656 = 1 710 UdSSR 1 300 + 205 = 1 505 Der quantitative Aspekt errechnet sich jedoch nicht allein nach der Anzahl der verfügbaren Trägermittel (Raketen und Langstreckenbomber); viel wichtiger ist das + 656 = 1 710 UdSSR 1 300 + 205 = 1 505 Der quantitative Aspekt errechnet sich jedoch nicht allein nach der Anzahl der verfügbaren Trägermittel (Raketen und Langstreckenbomber); viel wichtiger ist das Zahlenverhältnis der auf beiden Seiten einsetzbaren Nuklear-sprengköpfemit den zur Verfügung stehenden Einsatzmitteln. Hier besitzen die USA trotz der sowjetischen Anstrengungen, die Raketenlücke zu beseitigen, eine Überlegenheit von mindestens 2 : 1 (nach den Schätzungen des ISS) 51):
VII. Die amerikanische und die sowjetische „second-strike-capability"
Nun beruht die atomare Abschreckung nicht auf der Zahl der zur Verfügung stehenden Raketen, sondern auf der gesicherten Fähigkeit beider Atommächte — selbst nach Hinnahme eines atomaren Uberraschungsschlages des Gegners —, den Vergeltungsschlag zu führen, „und zwar so radikal, daß sein Gesellschaftsgefüge nach den Begriffen des 20. Jahrhunderts einfach ausgeschaltet wäre" 52).
Dies erfordert für die strategischen Streitkräfte beider Supermächte nicht nur eine ausreichende Zahl von Trägermitteln und dazugehörigen nuklearen Sprengköpfen — vielmehr müssen die Abschreckungsmittel so geschützt sein, daß ihre Funktion für den zweiten Schlag gesichert ist.
Die amerikanischen Maßnahmen zur Sicherung des überlebens ausreichender Atomstreitkräfte des zweiten Schlages nach einem feindlichen Überraschungsangriff umfassen neben einer Verminderung der Verwundbarkeit strategischer Bomber 53) und der Schaffung mobiler Raketenstreitkräfte (Polaris-U-Boote) noch die „Härtung" von Raketenstellungen durch ihre Verbunkerung. Ende April 1962 wurde der erste solcher „Raketen-Silos" für eine Staffel von „Titan" -Flüssigkeitsraketen im amerikanischen Bundesstaat Colorado in Betrieb genommen; im darauffolgenden Dezember konnten die ersten 20 in gehärteten Silos stationierten „Minuteman" -Raketen im Bundesstaat Montana Startbereitschaft melden 54). Die gesamte „Minuteman" -Streitmacht von 1000 Raketen wurde in unterirdische Silos auf sechs Großkomplexe des Strategie Air Command (SAC) über fünf Bundesstaaten der USA verteilt
Da die sowjetischen Raketenkonstrukteure bei ihren Planungen vorausgesetzt hatten, das Gewicht der Nuklearsprengköpfe könne nicht vermindert werden, geriet die erste Generation sowjetischer ICBMs zu groß, um in Bunkern untergebracht zu werden. Im Gegensatz zu den amerikanischen „Polaris" -und „Minuteman" -Raketen handelte es sich bei den sowjetischen ICBMs um Flüssigkeitsraketen, deren empfindlicher Treibstoff einen dauernden Alarmstartzustand unmöglich machte Aus Vorsichtsgründen lagerten die sowjetischen Bedienungsmannschaften die Atomsprengköpfe der Raketen fast 80 km von den Abschußbasen entfernt Erstmals am 9. Mai 1966 wurde bei der traditionellen Militärparade eine Drei-Stufen-Rakete mit festem Brennstoffantrieb gezeigt Zur Jubiläums-parade im November 1967 führten die sowjetischen Raketenkonstrukteure eine „in ihren Ausmaßen verblüffend" kleine Rakete mit „interkontinentaler Reichweite" vor. („Bei dieser strategischen Waffe sind deutlich die gegenwärtigen Tendenzen im sowjetischen Raketenbau zu erkennen: Neuartige Treibstoffe und modernste elektronische Systeme lassen eine wesentliche Verkleinerung der Flugkörper zu." Ein aus dem gleichen Anlaß in-und ausländischen Journalisten in Moskau gezeigter Dokumentarfilm bot das Bild eines großen Holzstoßes irgendwo in den sibirischen Wäldern, der plötzlich lautlos zur Seite rollte und den Blick auf die Öffnung eines Raketensilos freigab Marschall N. I. Krylow, Befehlshaber der sowjetischen Raketentruppen, erklärte einem Prawda-Korrespondenten 1968 (zum Tag der sowjetischen Raketen-und Artillerie-truppen): „Die Abschußbasen in unterirdischen Silos besitzen zuverlässigen Schutz, der sie vor Angriffsschlägen des Feindes sichert."
Analog zum amerikanischen Bemühen unternahmen die Sowjets Schritte zurMobilmachung ihrer Raketenstreitkräfte — soweit sie nicht in gehärteten Silos untergebracht wurden und beseitigten damit eine weitere Schwäche ihrer Raketentruppen.
Durch Fotos von U-2-Aufklärungsmaschinen, an deren Stelle 1961 Aufklärungssatelliten getreten sind, hatte die CIA erkunden können, daß sämtliche Abschußrampen sowjetischer ICBMs entlang der Transsibirischen Eisenbahn in Stellung gebracht worden waren. Schuld an dieser relativen Unbeweglichkeit der sowjetischen Raketenmacht war der Umstand, daß Raketen, Treibstoff und Zusatzgeräte von den Russen nur auf dem Schienenweg transportiert werden konnten und es daher notwendig war, die Raketenstellungen in Schienennähe aufzubauen Mängel des Funkleitverfahrens verhinderten ebenfalls die Auseinanderziehung der Raketen
Im November 1965 erklärte Generaloberst Tolubkow, stellvertretender Befehlshaber der Raketentruppen, die Sowjetunion sei angesichts der Möglichkeiten der Luft-und Satellitenaufklärung dazu übergegangen, ihre ICBMs auf bewegliche Abschußrampen zu montieren auf der Moskauer Jubiläums-parade wurden 1967 fahrbare Abschußrampen auf außerordentlich geländegängigen Fahrzeugen vorgeführt, von denen die sowjetische Armeezeitung „Krasnaja Swesda" (Roter Stern)
schrieb, sie seien „für den Gegner unver-wundbar. Er ist nicht in der Lage, sie auszumachen und zu vernichten."
Die Sowjetunion hat aber nicht nur Schritte unternommen, ihre Raketenstreitkräfte zu Lande beweglich zu machen — ähnlich der amerikanischen Polarisstreitmacht entwickelte sie Einsatzsysteme ballistischer Raketen zur See. Bei einem Amerikabesuch hatte der damalige Erste stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Frol Koslow in einem Gespräch mit Vizeadmiral Hyman Rickover, Chef der AEC-Naval Reactors Branch, erklärt: „Es ist besser, nukleare Uberwasserschiffe zu bauen, anstatt Atom-U-Boote, die dem Zwecke der Zerstörung dienen." Noch 1967 urteilte der Chef der U-Boot-Abwehrstreitkräfte der US-Marine, Vizeadmiral Charles B. Martell, folgendermaßen: „Wir haben es mit Gentlemen zu tun. Dort, wo wir sie nicht haben wollen — vor der Küste von Vietnam und den USA — lassen sie sich nicht blicken."
Im April des vorigen Jahres erklärte ein Pressesprecher des Pentagons, man würde im Verteidigungsministerium nicht „überrascht" sein, wenn nicht mindestens ein sowjetisches Atom-U-Boot der Y-Klasse vor der amerikanischen Atlantikküste auf „effektiver Patrouille“ sei Am 10. 6. 1970 gab das Pentagon die Existenz einer Patrouillenzone sowjetischer U-Boote der Y-Klasse vor der Küste Grönlands bekannt und Marineminister Chaffee enthüllte einige Zeit später, daß vor der amerikanischen Küste regelmäßig sowjetische U-Boote, die dem Polaris-Typ vergleichbar seien, patrouillierten Bei dem im April 1970 durchgeführten Mannöver „Ozean" der sowjetischen Kriegsmarine wurden nach einer TASS-Meldung Raketenschießversuche von getauchten sowjetischen Atom-U-Booten unternommen
Die gegenwärtige Feuerkraft aller sowjetischen U-Boote wird auf ca. 200 ballistische Raketen geschätzt
Neben den Anstrengungen, die sowjetischen Raketenstreitkräfte zu härten und ihre Mobilität zu erhöhen, mußten die sowjetischen Nuklearstrategen das Problem der Treffsicherheit ihrer Raketen lösen.
Der Oberbefehlshaber der sowjetischen Luft-streitkräfte, Marschall der Luftwaffe Werschi-nin, hatte einem Korrespondenten der „Prawda" am 8. 9. 1957 erklärt: „Bei den modernen Zerstörungsmitteln der Kriegsführung braucht man Flugzeuge oder Raketen nicht genau auf ein militärisches Ziel zu richten."
Der bei der Explosion thermonuklearer Waffen entsprechende radioaktive Fallout bewirkt eine flächendeckende Vernichtung, die die Anforderung an die Zielgenauigkeit der atomaren Trägerwaffen mindert. Diese Überlegung läßt sich auch aus folgender Äußerung des Generalmajors N. Gorjainow entnehmen: „Die radioaktive Verseuchung des Geländes durch Sprengkörper im Megatonnen-Bereich kann ein entscheidender Kampffaktor sein . . . Unserer Ansicht nach sind nukleare Sprengkörper starker Intensität vor allem ein Mittel zur radioaktiven Verseuchung weiter Landstriche mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen."
Erstmals im Oktober 1962 wurde von den Sowjets bei ihren Raketentestschüssen nach dem Pazifik ein quadratisches Zielgebiet verwendet. Zuvor hatten die Zielgebiete rechteckige Form — ein Anzeichen dafür, daß in der Flug-weite größere Abweichungen als in der Flug-richtung erwartet wurden.
Verbunkerte Raketen stellen einen Angreifer vor technisch schwierige Probleme. Die Erfolgsmöglichkeit eines Angriffs auf gehärtete Raketenstellungen hängt zunächst von der Zielgenauigkeit der angreifenden Raketen ab. Berechnungen lassen erkennen, daß sich die „Zahl der für die Vernichtung einer hinreichend geschützten Trägerwaffe notwendigen Waffen innerhalb der üblichen Grenzen im Quadrat der Zielgenauigkeit (verändert)": „Bei Verdoppelung der Ungenauigkeit vervielfacht sich die Zahl der zum Angriff erforderlichen Trägerwaffen, bei Verdreifachung werden fast zehnmal soviel Waffen benötigt." die Widerstandsfähigkeit eines Bunkers beeinflußt ebenfalls die Zahl der zu seiner Vernichtung notwendigen Raketen.
Schätzungen einiger Fachleute rechnen mit der Notwendigkeit, gegen stark eingebunkerte Raketen 18— 24 Raketen mit einer Sprengkraft von je 10 Mt einzusetzen Im Pentagon schätzte man 1962, daß 8 sowjetische Raketen erforderlich seien, um eine verbunkerte Feuerstellung des SAC zu vernichten Ein Jahr später reduzierte McNamara die Zahl auf 4; diese Annahme basierte auf der Schätzung einer sowjetischen ICBM-Treffergenauigkeit, bei der ein CEP (Circular Error Probality) von 1, 6 km kalkuliert wurde
VIII. Die „Mirvisierung" der Raketenpotentiale
Die verbesserte Zielgenauigkeit sowjetischer Raketen vereinfacht das sowjetische Zielproblem (targeting problem). Je treffsicherer die sowjetischen Raketen werden, um so geringer wird die Zahl der zur Vernichtung eines amerikanischen Raketensilos notwendigen Raketen — die Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen wirkt in die gleiche Richtung.
Dr. Forster äußerte 1967, als er die amerikanischen Aktivitäten auf dem Gebiet nuklearer Mehrfachkampfspitzen enthüllte („a major breakthrough in missile technology"), MIRV „will multiply the capabilities of our missile Systems manyfold"
Verteidigungsminister McNamara kommentierte die MIRV-EntWicklung mit dem Satz: „It is not the number of missiles which is important, but rather the character of the payloads they carry; the missile is simply the delivery vehicle." Nach McNamaras Angaben konnten die strategischen Streitkräfte der USA 1967 drei-bis viermal so viel nukleare Sprengköpfe gegen die UdSSR einsetzen, als die Sowjets gegen Ziele in den USA.
Durch die „Mirvisierung" ihrer Raketen hofften die Vereinigten Staaten, jede sowjetische ABM-Anstrengung, di möglicherweise die Offensivkraft der amerikanischen „second strike capability" herabgemindert hätte, wirkungsvoll parieren zu können — andererseits mußte auf sowjetischer Seite die „Mirvisierung" den Anstoß zum weiteren Ausbau der eigenen Offensivkapazitäten über die Schwelle der gesicherten Zweitschlagskapazität hinaus geben, da nun die Offensivkapazität nicht nur von der Zahl der Trägermittel, sondern von der Menge der einsetzbaren Sprengkörper abhängt.
Während die Minuteman-Rakete einen Sprengkopf von 1 Mt befördern kann, trägt die sowjetische SS-9-Rakete einen nuklearen Sprengkopf von 25 Mt (ungefähr das fünffache der stärksten amerikanischen Nuklearsprengladung): „Die neue SS-9 könnte — mindestens theoretisch — mit 10 oder mehr einzelgeleiteten Sprengköpfen bestückt werden. In der einen oder anderen Art ist mit MIRV eine neue Art der Raketenmathematik eingeführt worden — ein relativ preiswertes Mittel für die UdSSR, rasch in der Zahl abschußbereiter Megatonnage mit den USA gleichzuziehen oder sie zu überholen."
Bei einer Stabilisierung der amerikanischen Raketenstreitmacht in der Zahl der Träger-mittel konnten die Sowjets hoffen, in der verfügbaren Zahl an Sprengköpfen mit den USA durch die Entwicklung ihrer SS-9 gleichzuziehen — einer Rakete, die nach Ansicht von Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt zu einer neuen Situation in der strategischen Machtbalance geführt hat, wie er dies vor dem Bundeskabinett anschaulich erläuterte: „Alle Zigaretten hier auf dem Kabinettstisch, ob nun kingsize, ob mit oder ohne Mundstück, sind im Grunde gleich. So verhält es sich gegenwärtig auch mit den Interkontinental-Raketen." Mit der SS-9 seien die Russen jedoch „jetzt dabei, dicke Zigarren darunterzumischen"
Zweifellos ist die größere Nutzlastkapazität auf sowjetischer Seite vorhanden, doch besitzen die USA ebenfalls Möglichkeiten, die atomare „Nutzlast" ihrer Raketen zu erhöhen. Während die sowjetischen SS-9 und SS-ll-Raketen bei ihren Tests im Pazifik bisher jeweils drei einzelne Sprengköpfe trugen die nur eineMIRV-Kapazität (Multiple Re-Entry Vehicles-Raketen mit mehreren Sprengköpfen) besitzen, verfügen die USA mit dem Poseidon-System über eine Rakete mit zehn Sprengköpfen, die MIRV-Kapazität besitzt.
IX. Die sowjetische Nuklearstrategie
Für die sowjetische Nuklearstrategie ist die Lösung ihres Zielproblems gegen die Minute-man-Raketen zwar die Voraussetzung zu einer „Counterforce" -Strategie. Dies ist für die nukleare Abschreckungssituation, in der sich beide Großmächte befinden, jedoch solange bedeutungslos, wie die Vereinigten Staaten weiterhin über eine genügende Zweitschlagskapazität verfügen, die selbst bei einem überraschenden Entwaffnungsschlag gegen die Minuteman-Verbände die UdSSR mit ihrer Vernichtung als lebensfähige Nation bedrohen kann.
An dieser Stelle könnte die Frage auftauchen: wenn bereits 108 sowjetische Raketen genügen, um den in 54 Städten der USA konzentrierten Anteil von 60 °/o an der amerikanischen Bevölkerung zu vernichten wenn bereits 1963 die Sowjets in der Lage waren, nach einem angenommen Trägerwaffenausfall von 50 % pro 100 000 Einwohner der USA 2, 9 Mt abzufeuern (ein „Overkill“ -Faktor von 145!) — weshalb dann die sowjetischen Anstrengungen, ihre Raketenstreitmacht quantitativ auf das sechsfache des Standes von 1964 wachsen zu lassen und gleichzeitig weitere qualitative Verbesserungen ihrer Schlagkraft vorzunehmen und dazu noch die See-Komponente ihrer Nuklearstreitmacht zu verstärken. Deutet dies nicht auf das Bestreben, von einer bloßen minimalen Abschreckung zu einem strategischen Konzept überzugehen, bei dem durch eine „Counterforce" -Strategie in Verbindung mit Anstrengungen zur Schadensbegrenzung (ABM) der Wille, den Nuklearkrieg unter bestimmten Bedingungen zu führen, größer ist, als der Wille, ihn unter allen Umständen zu verhindern? Verfolgt die UdSSR ein offensives Konzept mit ihrer Raketenrüstung, bei dem als Ziel gilt, das atomare Patt zugunsten der sowjetischen Position zu durchbrechen?
Unterstellt man der UdSSR ein defensives Konzept, so impliziert dies einen hohen Grad von Bezogenheit auf die amerikanische Nuklearstrategie; dies würde die Richtigkeit des Aktions-Reaktions-Schemas für die sowjetische Seite bedeuten. Ein Beweis für diese These soll jedoch an dieser Stelle nicht erbracht werden — die Fragestellung ist vielmehr die, ob die amerikanische Nuklearstrategie für die sowjetische Seite als Bedrohung aufgefaßt werden kann.
Hierbei soll der Begriff „Bedrohung" nicht im akuten Sinne aufgefaßt werden — etwa im Sinne sowjetischer Propagandaanschuldigungen, der Westen plane einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion —, sondern eher latent: Ist das amerikanische Nuklearkonzept in seiner Anlage eine Strategie, die den Atomkrieg „rationalisiert" und damit das eigene Atompotential nicht nur unter dem Gesichtspunkt der bloßen Abschreckung betrachtet, sondern über den Punkt der Abschreckung hinausgeht im Sinne von „Thinking about the Unthinkable" (Herman Kahn) und den Atomkrieg zu operationalisieren sucht; einen Versuch, den der sowjetische General Nikolaij Talenskij scharf kritisiert hat: „Es gibt keine gefährlichere Illusion als die Vorstellung, daß der thermonukleare Krieg als Instrument der Politik dienen könne; daß es möglich sei, politische Zwecke durch den Einsatz nuklearer Waffen zu erreichen und dabei zu überleben; daß es möglich sei, annehmbare Formen des Nuklearkrieges zu finden."
In seiner Ann Arbor-Rede hatte der amerikanische Verteidigungsminister McNamara am 16. 6. 1962 erklärt: „Die Stärke unserer Waffen macht es möglich, eine Strategie zu entwerfen, die auch im Falle eines Krieges den Organismus unserer Gesellschaft erhalten könnte. Die Vereinigten Staaten sind zu der Erkenntnis gekommen, daß das wesentliche Ziel der Kriegführung nach Möglichkeit darin bestehen sollte, die Zerstörung der Militärmacht des Gegners herbeizuführen, nicht aber die Vernichtung seinerZivilbevölkerung."
Hier hatte McNamara als Ziel der amerikanischen Strategie die Erhaltung des „Organismus" der amerikanischen Gesellschaft („a strategy designed to preserve the fabric of our societies if war should occur genannt. D mit zielte McNamara auf den Nerv der atom ren Abschreckung, die gerade dadurch siche gestellt wird, daß die beiden atomaren Wei mächte eine Nuklearkapazität besitzen, d den nuklearen Angreifer als lebensfähige N tion vernichten kann.
Die amerikanische Nuklearstrategie, wie s von McNamara konzipiert wurde, beruht a zwei Fähigkeiten (capabilities):
1. auf der Fähigkeit der gesicherten Zerst rung (assured destruction) (Voraussetzur ist die Existenz unverwundbarer Kernwa fen, der „second strike capability", die de Gegner auch dann noch vernichten könne:
wenn er zuvor selbst den ersten Schla geführt hat);
2. auf der Fähigkeit der Schadensbegrenzun (damage limiting): „die Fähigkeit, das Gwicht des gegnerischen Angriffs durch swohl offensive wie defensive Maßnahme abzuschwächen, sowie der Bevölkerun einen Grad an Schutz gegen die Wirkur gen nuklearer Explosionen zu bieten"
Während die erste Fähigkeit die nukleare Al schreckung stabilisiert, wirkt die zweite Fi higkeit der Schadensbegrenzung antistabilisie rend, da sie darauf abzielt, die Wucht de atomaren Gegenschlags zu vermindern. De Ausbau einer „damage limiting capability zielt tendenziell auf die Aufhebung de nuklearen Gleichgewichts. Wenn McNamar versicherte, durch die Schaffung einer „siche ren Fähigkeit" zum zweiten Schlag gäbe es fü die Vereinigten Staaten keinen Zwang, „voi sorglich einzugreifen" und damit den erste: Schlag zu führen, so besaßen andererseits di USA nach McNamaras Worten die Fähigkeit „unsere Vergeltungsstreitkräfte einzusetzer um den Schaden, der uns und unsere Alliierte! trifft, durch das Ausschalten der gegnerische! Basen, bevor er Zeit, seine zweite Raketen salve zu starken, zu begrenzen"
Die Vereinigten Staaten besaßen also di Möglichkeit, die Raketenbasen der Sowjet Union in einem zweiten Schlag zu vernichten Ein Land, das über eine Kapazität verfügt, un im zweiten Schlag die feindliche Raketenmach zu vernichten, kann — gemessen am Potentia seiner Kräfte — auch zum ersten Schlag fähig sein. Die Entscheidung, seine Raketenmacht, erst im zweiten Schlag einzusetzen, um die Basen des Gegners zu zerstören, beruht nicht auf dem Zwang ungenügender Kapazitäten, die einen Erstschlag unmöglich erscheinen lassen, sondern auf der politischen Entscheidung, die eigenen Raketen erst nach Hinnahme eines gegnerischen Atomschlags einzusetzen, die jedoch umgestoßen werden kann, was in sowjetischen Augen keine echte Sicherheit bedeutet.
Mit der amerikanischen „Counterforce" -Strategie, die als Ziel die gegnerischen Nuklear-streitkräfte auffaßte, bestand in sowjetischer Sicht die Gefahr, die Amerikaner könnten unter bestimmten Umständen zur Führung eines Nuklearkriegs bereit sein und dementsprechende politische Risiken in Konfrontationen mit der UdSSR eingehen (die eigentliche akute Gefahr für die UdSSR), wenn sie zu dem Ergebnis kämen, die Wucht ihrer nuklearen Angriffskapazität könne unter Ausnutzung des Überraschungsmoments den sowjetischen Gegenschlag wenn nicht gar unmöglich machen, so doch so weit reduzieren, daß er für die USA hinnehmbar sei. In diesem Sinne polemisiert auch die zweite Ausgabe der sowjetischen „Militärstrategie" gegen das amerikanische Counterforce-Konzept: „Eine Strategie, die die Erreichung des Sieges durch die Zerstörung der Streitkräfte (des Gegners) ins Auge faßt, kann nicht von der Idee eines . Vergeltungsschlages'
herrühren; sie basiert auf präventivem Handeln und dem Gewinnen des Überraschungsmoments."
Diese Furcht war wegen der Verwundbarkeit der eigenen Raketenstreitmacht in Zahl und Einsatzbereitschaft verständlich — um so mehr, als auch in den USA die Strategie des . Zweiten Schlages" nicht allgemeiner strategischer Konsensus wurde, „besonders in der Luftwaffe, wo man die ganze Theorie der , Counterforce-Vergeltung'mit Skepsis verfolgt und sie für die unrealistische Erfindung von Verteidigungs-Intellektuellen hält"
General Thomas D. White kritisierte nach seinem Rücktritt als Generalstabschef der amerikanischen Luftwaffe öffentlich das Zweit-
schlagskonzept: dm Zeitalter atomarer Waffen, Raketen und des Weltraums, in einer Zeit mit großen technologischen Fortschritten, in einer Ära voller militärischer Ungewißheiten erscheint es als eine gefährliche Politik, dem ersten Schlag unter allen Umständen feierlich zu entsagen.
Das folgende ist zwar eine extreme Annahme, aber sie ist für die Zukunft vorstellbar: Nehmen wir an, daß wir durch verläßliche Nachrichtendienst-Informationen wissen, daß der Gegner beabsichtigt, morgen einen umfassenden Angriff (all-out attack) gegen uns zu führen; daß wir auch wissen, falls wir zuerst angreifen, daß damit ungefähr 30 Millionen Amerikaner weniger sterben, als wenn wir den ersten Schlag hinnähmen. Würden wir unsere erklärte Politik durchhalten? Politik läßt sich durch ein bloßes Kopfnicken des Präsidenten verändern, und wahrscheinlich würde das der Fall sein."
Es mag für sowjetische Ohren nicht besonders beruhigend klingen, wenn in dem 1961 erschienenen Buch „A Forward Strategy for America“ von R. Strauß-Hupe, W. R. Kintner u. S. T. Possony u. a. Ausführungen der folgenden Art zu hören sind:
„Das erste Ziel jeder strategischen Planung Amerikas ist mit großem Abstand noch vor der Aufrechterhaltung des Friedens die Bewahrung und Förderung unserer politischen Ordnung ... Das bloße Vorhandensein einer so aggressiven und dynamischen Macht, wie es der Kommunismus ist, gefährdet den Fortbestand der Demokratie allenthalten . . . Zumal die amerikanische Ordnung kann nur in einer Welt bestehen und wachsen, in der die Erfüllung friedlicher Aufgaben gewährleistet ist. Auf diese Voraussetzung muß die amerikanische Strategie gegründet werden. ... Strategie ist untrennbar mit der Bereitschaft verbunden, Risiken einzugehen und dem Feind nicht die Sicherheit zu gewähren, daß ihm nichts geschehen werde, falls er von einer bestimmten Angriffshandlung absieht. Ist es unsere Absicht, den Kommunismus zu bekämpfen, so folgt daraus, daß unser alles überragendes Ziel nicht die Bewahrung des Friedens um jeden Preis ist, sondern die Zerstörung der Angriffskraft des Kommunismus . .. Unsere Politik muß, bar aller ideologischen Vorstellungen, auf die Voraussetzung gegründet werden, daß wir nicht den Fortbestand eines politischen Systems dulden können, das in wachsendem Maße fähig und rücksichtslos entschlossen ist, uns zu vernichten." Wenn es das Postulat der amerikanischen Außenpolitik ist, die Sicherung der eigenen Gesellschaftsordnung nur dadurch erreichen zu können, daß die USA global für die Aufrechterhaltung eines „environments" von Nationen sorgen, deren Gesellschaftsordnung mit der amerikanischen vereinbar ist, so setzt dies die Notwendigkeit einer Nuklearstreitmacht voraus, die nicht nur von der Absicht eines Angriffs auf das eigene Territorium abschreckt. Eine solche „minimum deterrence" (etwa durch einige 100 unverwundbare Raketen, deren (Ziel die gegnerischen Bevölkerungszentren wären = Countervalue-force), die abschreckungsstabilisierend ist, reicht nicht aus, um Aktionen zu decken, die die Interessen der gegnerischen Großmacht tangieren oder gar beeinträchtigen. Daraus folgt für die Sowjetunion, daß in dem Maße die „Aggressivität" der USA im weltweiten Maßstab, d. h. die Bereitschaft zum globalen Engagement, abnimmt, wie die Sowjetunion in der Lage ist, ein nukleares Kräfteverhältnis herzustellen, • bei dem der „Nuklearknüppel" der USA nicht mehr in der Lage ist, begrenzte Aktionen der USA gegen mögliche sowjetische Gegenaktionen abzuschirmen. Aus sowjetischer Sicht ist der zahlenmäßige Ausbau der eigenen Raketenstreitkräfte plus Härtung und Mobilisierung (auch zur See) eine Maßnahme, die die amerikanische Counterforce capability mit ihrer Verlockung zum first strike unterläuft, da eine nukleare Offensivstrategie keinen Nutzen mehr hat, wenn de eigene Angriff (selbst im Uberraschungsschlag nur einen Teil der gegnerischen Nuklearstreit kräfte treffen kann: „A very large increasi in the number of fully hard Soviet ICBM's an nuclear powered ballistic missile-launchin submarines would considerably detract fron our ability to destroy completely the Sovie Strategie nuclear forces.
It will become increasingly difficult, regard less of the form of the attack, to destroy , sufficiently large proportion of the Soviet'Strategie nuclear forces to preclude major da mage to the United States, regardless of hov large or what kind of Strategie forces wi build. Even if we were to double and triple ou forces we would not be able to destroy quickl all or almost all of the hardened ICBM sites And even if we could do that, we know nway to destroy the enemy’s missile-launchin: submarines at the same time." (McNamara)
Die sowjetischen „checkmate" -Anstrengungei im Hinblick auf die amerikanische „Counter force" -Strategie wurden begünstigt durch die Entwicklung von MIRV-Raketen (durch die die nukleare Schlagkraft erhöht werden kann ohne die Zahl der Abschlußrampen zu vermeh ren), die amerikanische „slow-down" -Philoso phie bei den Bemühungen um Rüstungskon trollverhandlungen mit der Sowjetunion unc vor allem durch das amerikanische Engage ment in Vietnam
X. Die qualitativen Verbesserungen des sowjetischen Raketenpotentials
Mit der Schaffung unverwundbarer Nuklear-streitkräfte wächst der Sowjetunion ein Sicherheitsgewinn zu, der in gleichem Maße auch dem Westen zugute kommt. Der Grad der Verwundbarkeit der eigenen Nuklearstreitkräfte ist ausschlaggebend für die Zielwahl und Feuerrate im Nuklearkrieg. Sind die eigenen Nuklearstreitkräfte äußerst verwundbar, so müssen sie eingesetzt werden, bevor ein überraschender Schlag des Gegners sie treffen kann, da sonst die Gefahr besteht, keinen Vergeltungsschlag mehr führen zu können. Dieser Zwang zum frühzeitigen Losschlagen kann in einer Krisensituation verschärfend wirken: Wenn der eine Kontrahent weiß, daß der Gegner sich zum frühzeitigen Losschlagen gezwungen sieht, wird er sich gedrängt fühlen, selbst den überraschenden Entwaffnungsschlag zu führen — dies wiederum treibt den Gegner dazu, bei dem geringsten Verdacht einer gegnerischen Eskalation seinerseits zuvorzukommen und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Angriffskapazitäten den Nu klearkrieg zu führen, da durch die Verwund barkeit der eigenen Nuklearstreitkräfte eir zweiter Schlag für ihn nicht mehr möglich ist Damit ist für ihn auch die Zielwahl vorgegeben. Angesichts der eigenen Verwundbarkeit die es ihm verbietet, nukleare Angriffsmittel in Reserve zu halten, muß er sein Angriffspotential im ersten Schlag vollständig gegen die Städte des Gegners richten.
Besitzen beide Nuklearmächte dagegen unverwundbare Zweitschlagkapazitäten, so ist für sie die Versuchung gering, 1. einen Präventivschlag zu führen, da der Gegner auch noch durch einen zweiten Schlag vernichtet werden kann;
2. im ersten Schlag die Städte des Gegner anzugreifen (Countervalue-Targeting), da die „sure second-strike capability" diesen Schlag auch zu einem späteren Zeitpunkt der nuklearen Auseinandersetzung gestattet. Der nukleare „Schlagabtausch" konzentriert sich deshalb auf die Nuklearstreitkräfte der beiden Atommächte und vermeidet den Angriff gegen die Bevölkerung. Dieser Vorteil wird eingeschränkt durch die Tatsache, daß bei einer nukleargeführten Auseinandersetzung, bei der nur militärische Ziele angegriffen werden, immer noch die Bevölkerung durch radioaktiven Fallout betroffen wird — allerdings wird sie der Sprengwirkung entzogen. Werden die strategischen Waffensysteme in Zukunft auf See verlegt, gewinnt dieser Tatbestand eine größere Bedeutung.
So ist die in einem Bericht des „Joint Atomic Committee" an den Kongreß enthaltene Feststellung: „a number of these submarines (nuclear powered submarines similar to our Polaris types) are completed and have begun operating at sea. We know they are patrolling in areas off the coast of the United States, presumably with each battery of 16 missiles targeted on our cities" weniger alarmierend, als die Verfasser dies glauben machen wollen, denn ein sowjetisches Atom-U-Boot ist ein weniger verwundbares Waffensystem als eine landgestützte sowjetische Flüssigkeitsrakete (die erst nach Stunden startklar gemacht werden kann), weil es eher einen nuklearen Schlagabtausch gefechtsbereit überstehen kann. Damit ist die potentielle Bedrohung, die von einem sowjetischen Atom-U-Boot ausgeht, geringer, als die einer in der UdSSR stationierten (verwundbaren) Land-rakete. In diesem Sinne wird die Erwiderung auf die Frage eines Journalisten an Minister McNamara, ob nicht die Sowjets die Fähigkeit des zweiten Schlags erlangen könnten, verständlich — McNamara hatte geantwortet: „Je schneller, desto besser."
Während die Sowjets in der Periode der Unterlegenheit ihrer Nuklearstreitkräfte die amerikanische Konzeption der Streitkräfte-Taktik (Counterforce-Targeting) und kontrollierten Erwiderung (Coontrolled Response) als den Versuch, der Sowjetunion „Regeln für die Führung eines Nuklearkrieges" aufzuzwingen strikt ablehnten und statt dessen darauf beharrten, daß der „massive Einsatz von nuklearen und zumal thermonuklearen Waffen dem Krieg einen beispiellos zerstörenden und verwüstenden Charakter verleihen" wird, enthält die 1969 erschienene 3. Auflage der sowjetischen „Militärstrategie" die folgenden Ausführungen: „Unter den Bedingungen des hemmungslosen Wettrüstens besteht die ernste Gefahr, daß schon eine geringere Fehlkalkulation der Staatsmänner irgendeines Landes die Auslösung eines neuen Krieges zur Folge haben kann.
Kernwaffen können nicht nur auf Befehl der einen oder anderen bürgerlichen Regierung, sondern auch nach dem Willen einzelner Personen, die am Schaltpult dieser Waffen stehen, zum Einsatz kommen.
Mangelnde Präzision im Betrieb des Radar-systems kann zu einer falschen Auswertung der von den Geräten gelieferten Daten führen, und dadurch können Kriegshandlungen ausgelöst werden. Ein Mißverständnis beim Befehlsempfang oder eine Nervenstörung des amerikanischen Piloten eines einsatzbereiten Bombers mit nuklearen Kernwaffen an Bord kann den Abwurf der Bomben auf das Gebiet eines anderen Staates zur Folge haben. Ebenso können Defekte in den elektronischen Geräten der Raketen-und Kernwaffensysteme zum Krieg führen. All das verlangt von unseren Streitkräften höchste Wachsamkeit und von der staatlichen, politischen und militärischen Führung ein hohes Maß an Klugheit und Umsicht, um den Ausbruch eines Krieges, der das Ergebnis irgendeines solchen Zufalls wäre, zu verhindern."
Da technische Defekte amerikanischer Waffensysteme sich der sowjetischen Kontrolle entziehen, kann die sowjetische Führung „durch Klugheit und Umsicht" den Ausbruch eines Atomkrieges nur verhindern, wenn ein durch die USA ausgelöster Zufallsschlag ohne sofortige sowjetische Gegenreaktion bleibt. Solange die sowjetischen Raketenstreitkräfte einen hohen Verwundbarkeitsgrad besaßen, mußte bereits das Auftauchen amerikanischer Raketen auf sowjetischen Radarschirmen das Signal zum Abschießen der eigenen Raketen bedeuten, da durch die Verwundbarkeit der eigenen Waffen die Frage, ob Zufall oder Absicht, für die Auslösung des eigenen Atom-schlages nebensächlich war. Den Russen bliebe keine andere Wahl, als erst zu schießen und dann zu fragen, während geschützte Nuklearwaffen es ermöglichen, zunächst zu fragen, ohne sofort zu schießen.
Auch auf dem Gebiet der Rüstungsverminderung ist die zahlenmäßige Verstärkung der sowjetischen Nuklearwaffen ein Schritt — so paradox dies klingen mag — zu möglichen positiven Ergebnissen von Rüstungskontrollverhandlungen beider Supermächte. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Verstärkung des sowjetischen Nuklearwaffenpotentials die Bereitschaft Moskaus wiederspiegelt, zu solchen Verhandlungen mit dem Westen zu kommen; es kann aber ausgesagt werden, daß die zahlenmäßige Verstärkung eher in eine solche Richtung wirkt, als eine strategische Inferiorität der Sowjetunion.
Geht man beispielsweise von einem angenon menen Zahlenbeispiel aus, bei dem eine Grol macht eine Kapazität von 100 °/o besitzt, wäl rend die andere nur ein Potential von 60° hat, so besteht ein Kräfteverhältnis von 5: oder als absolute Differenz: 40. Wenn beic Seiten nun Übereinkommen, eine Rüstung Senkung um 20 °/o vorzunehmen, wäre das E gebnis (80 bzw. 48 °/o) wieder das gleich Kräfteverhältnis (5: 3) — die schwächere Pa tei hätte sogar gegenüber der anderen Grol macht aufgeholt (absoluter Unterschied vor de Rüstungssenkung: ± 40, danach ± 32). Nimn man jedoch ein Abschreckungsminimum vo 50 an, so ergibt sich, daß die schwächere Pa: tei nach der Rüstungsverminderung trotz Be behaltung des Kräfteverhältnisses von 5: unter das Abschreckungsminimum gesunke ist.
Diese theoretische Überlegung wird durch di Äußerung eines polnischen UNO-Beamten ge stützt, der den im September 1961 der UN(durch die amerikanische Regierung gemachte Vorschlag einer 30prozentigen Rüstungsvei minderung als unrealistisch bezeichnete, we „eine 30prozentige Herabsetzung der weit ge ringeren russischen nuklearen Kräfte diese soviel Schlagkraft rauben würde, daß sie fü einen zweiten Schlag nicht mehr ausreich ten"
XI. Die „blue-water-solution"
Der quantitative Aspekt der sowjetischen Rüstungsanstrengungen auf dem Gebiet interkontinentaler Raketen blockiert zwar die ausreichende Wirksamkeit einer amerikanischen Counterforce-Capability, ändert jedoch nichts an der „second strike capability" der USA. Auch die Verbesserung der Zielgenauigkeit sowjetischer Raketen hebt das Gleichgewicht des Schreckens nicht auf, da sich die amerikanische Abschreckungsmacht aus drei Komponenten zusammensetzt: 1. die landgestützte ICBM-Macht, 2. die strategischen Luftstreitkräfte (airborne deterence) und 3. die Polaris-Streitmacht. Die verbesserte Zielgenauigkeit sowjetischer Raketen erhöht nur die Verwundbarkeit der ersten beiden Abschreckungskomponenten — die Atom-U-Boote behalten ihre Unverwundbarkeit durch Mobilität und Deckung und stellen, für sich genommen, bereits einen entscheidenden Abschreckungsfaktor dar:
Nach einer Computerstatistik des amerikanischen Verteidigungsministeriums benötigen die USA für einen atomaren Vergeltungsschlag 200 nukleare Sprengköpfe, um 52 Mill. Russe; (21 % der Gesamtbevölkerung) und 72 % de industriellen Kapazität zu zerstören 3. Ver teidigungsminister McNamara erklärte 1965 es gäbe in der Sowjetunion „ungefähr 254 DGZ’s (Defense Ground Zeros), jene Haupt Zielpunkte, in denen die Masse der städti sehen Bevölkerung und Industrie angesie delt" sei.
Von den insgesamt 41 Polaris-U-Booten be finden sich gewöhnlich 21 oder 22 auf Unter wasserpatrouille, der Rest befindet sich in den Stützpunkten der Polaris-Flotte Nimmt man die Zahl der auf Unterwasserpatrouille befindlichen Boote, von denen jedes 16 Raketen an Bord hat, so ergibt dies eine Zahl von 436 ständig einsatzbereiten Atomraketen, die nicht durch einen sowjetischen first-strike überrascht werden können — ungefähr das doppelte der zur Vernichtung von 21 °/o des Bevölkerungs-und 72 % des Industriepotentials der Sowjetunion notwendigen Nuklear-kapazität. Anfang August 1969 wurde aus dem Pentagon bekannt, daß bereits 28 Polaris-Boote (ca. 2/3 der Atom-U-Bootflotte) Raketen mit 3 Sprengköpfen an Bord haben Nimmt man nun an, daß von den 21 auf Kriegsfahrt befindlichen Booten 2/3 Raketen mit Mehrfachsprengköpfen tragen, so beträgt die Zahl der ständig abschußbereiten Nuklearsprengköpfe knapp das dreifache der oben angeführten Vernichtungskapazität (insgesamt 784 einsatzbereite Sprengköpfe). Durch die Installierung von MIRVs besitzt die Polarisflotte eine steigende Angriffskapazität: 2/3 der amerikanischen Atom-U-Boote verfügen allein über insgesamt 1344 Nuklearsprengköpfe und übertreffen damit die Zahl der landgestützten ICBMs (1054).
Durch die Umrüstung von 31 Atom-U-Booten der Polarisflotte auf die „Poseidon" -Rakete, die 10 unabhängig voneinander zielbare atomare MIRVs besitzt, werden Mitte der siebziger Jahre die USA mindestens 4960 MIRVs auf ihrer Atom-U-Bootflotte besitzen
Wegen dieser stärkeren Akzentverlagerung auf die Seekomponente der nuklearen Abschreckung taucht die Frage auf, ob die Polarisboote in der Zukunft ihre Unverwundbarkeit erhalten können, weil sich naturgemäß das Interesse des Gegners (also der Sowjetunion) auf dasjenige Waffensystem konzentriert, von dem ihm am meisten Schaden droht. So werden in der sowjetischen Kriegsmarine jedes Jahr Übungswettkämpfe durchgeführt, „in denen die U-Boot-Jäger im Aufspüren, in der Verfolgung und in der . Außergefechtsetzung'von U-Booten ausgebildet werden"
Der strategische Sachzwang, die relative Un-verwundbarkeit des eigenen Nuklearpotentials zu sichern, weist auf eine stärkere Nutzung der strategischen Möglichkeiten des Meeres hin, da dort die waffentechnologischen Optionen für die Zukunft größer sind, als die Chancen, weiterhin das nukleare Offensiv-potential zu Lande gegenüber qualitativen Verbesserungen der nuklearen Angriffstechnik (verbesserte Zielgenauigkeit und MIRVs) wirksam zu schützen.
In seiner Erklärung über das ABM-Programm hatte Präsident Nixon die wachsende Verbundbarkeit der Landbasen anerkannt: „our studies show that hardening by itself is not adequate protection against foreseeable advances in the accuracy of Soviet offensive forces"
Auch die Pläne für eine Mobilmachung der Minuteman-Verbände haben geringe Aussicht auf Verwirklichung. So beschäftigte sich die amerikanische Luftwaffe mit dem Projekt, Minuteman-Raketen auf Eisenbahnschienen zu transportieren: Im Falle eines Angriffsschlags des Gegners würden die Raketen ihren „Zentralsilo" auf dem Schienenweg verlassen und in weit entfernte „Garagen" rollen. Da diese „Garagen" jedoch ebenfalls stationär sind, können durch den Einsatz von MIRVs nicht nur die Zentralsilos abgedeckt werden, sondern auch die Garagen. Außerdem würde dieses Projekt erhebliche Kosten verursachen; man schätzt die notwendigen Ausgaben für die Transporter, um alle Raketen mobil zu machen, auf 25 Mrd. Dollar und höher Während Foster noch im Juli 1970 vor der Presse ein Verzicht auf Minuteman-Stellungen mit ABM-Schutz zugunsten einer Verlagerung der strategischen Abschreckung aufs Meer ablehnte, „weil damit die Gefahr wachse, daß sowjetische Superwaffen gegen Bevölkerungsziele in den Vereinigten Staaten statt gegen die amerikanischen Vergeltungswaffen gerichtet werden können" erklärte er einige Zeit später: „Wir sind nicht sicher, ob die Probleme des überlebens landgestützter Raketen (nach einem gegnerischen Atomschlag) gelöst werden können. Als Ausweg bietet sich die größere Gewichtsverlagerung auf Raketen, die auf den Meeren stationiert werden, an." Der Trend zur „blue-water-solution" durch die zunehmende Verwundbarkeit zu Lande stationierter Abschreckungssysteme bedroht nicht die Abschreckungskapazität der Vereinigten Staaten insgesamt — vielmehr ist die Stellung der amerikanischen Luftwaffe und ihre Kontrolle über das nukleare Abschreckungspotential bedroht.
Ein Plan des unter der Leitung von Konteradmiral George H. Miller stehenden „U. S. Navy's Office of Strategie Offensive and Defensive Systems", der dem amerikanischen Kongreß vorliegt, fordert die Verlegung von mindestens 75 °/o der nuklearen Abschrekkungsmacht der USA auf See durch Schaffung einer Flotte von ca, 20— 30 Raketenfrachtern, die, mit insgesamt 600 Raketen bestückt als Handelsschiffe getarnt, eine schwer zu lösendes Zielproblem für den Gegner darstellen und nach Schätzungen der Marine wenig mehr als die Hälfte der Kosten verursachen, die für eine entsprechende Vermehrung von ICBM-Raketen zu Lande oder auf Atom-U-Booten entstehen würden und auch in kürzerer Zeit einsatzfähig wären
Eloquenter Verfechter von Marineinteressen im Kongreß ist Vizeadmiral Hyman G. Rickover („the nation's top authority on nuclear ships" Leiter der Marinereaktor-Abteilung der Atomenergiekommission, die naturgemäß die Unterstützung des Atomenergieausschusses beider Häuser des Kongresses genießt 4. Im Juli 1970 forderten in einem 150-Seiten-Bericht 28 Mitglieder beider Häuser eine radikale Änderung der strategischen Raketenkonzeption: Es sei falsch, „strategische Nuklear-waffen auf dem Land zu stationieren, da sie dort bei Präventivschlägen außer Gefecht gesetzt werden könnten und deshalb kostspielige Raketenabwehrsysteme und sichere Silos zu ihrem Schutt benötigen. Statt dessen forderten die Abgeordneten, die Geldmittel sollten in Zukunft im wesentlichen für die Weiterentwicklung der U-Boot-Raketenstreitmadit ausgegeben werden. Das Programm, Atom-U-Boote mit Raketen mit Mehrfachsprengköpfen auszurüsten, solle fortgeführt und die Entwicklung einer U-Boot-Waffe, mit der Interkontinentalraketen eingesetzt werden könnten, solle beschleunigt werden." 116a)
Die Marine kann auf eine positive Wirkung ihrer Pläne in der amerikanischen Öffentlichkeit hoffen, da sie nicht nur geringere Kosten ihrer Waffensysteme im Vergleich zur Luftwaffe verspricht, sondern für ihre strategischen Pläne das publikumswirksame Argument hat, durch die Verlagerung der Nuklearwaffen auf See werde das Gebiet der USA von potentiellen Angriffszielen sowjetischer Raketen befreit. Die Pläne der amerikanischen Marine finden außerdem ihren starken Rückhalt bei den größten Rüstungsfirmen der USA.
XII. Die ABM-Entwicklung
Bis hierher ist in der Untersuchung der Einfluß der Antiraketenentwicklung auf die strategische Machtbalance unberücksichtigt geblieben, doch erscheint in der strategischen Diskussion gerade die ABM als ein Faktor, der die Balance der Kräfte zu verändern droht.
Mit der Installierung von ABM-Raketen steigert sich — allgemein gesprochen, ohne konkret die Effektivität des jeweiligen ballistischen Abwehrsystems zu untersuchen — die Fähigkeit der Schadensbegrenzung (damage limitung), während umgekehrt die Fähigkeit des Gegners zur gesicherten Zerstörung (assured destruction) gemindert wird. Damit taucht die Gefahr auf, eine Nuklearmacht könnte versucht sein, durch einen nuklearen überraschungsangriff das gegnerische Raketenpotential im Offensivschlag zu vernichten und den derart geschwächten Vergeltungsschlag des überraschend Angegriffenen durch den Einsatz von Abwehrraketen in einem Maße zu reduzieren, der für den Angreifer akzeptabel ist. Die ABM würde dergestalt die nukleare Abschreckung „enthemmen" und eine Erstschlagstrategie geringer, wenn nicht gar erträglicher eigener Verluste anziehend machen
Diese Überlegungen lassen ein Raketenabwehrsystem nicht als ein Verteidigungssystem erscheinen, sondern als ein offensives Waffensystem, das die Gefahr einer nuklearen Vergeltung weitgehend ausschalten soll. Dieser Tatbestand beeinflußte die amerikanische Entscheidung, das Abwehrsystem „Safeguard“ entgegen ursprünglichen Planungen nur zum Schutze der Minuteman-Stellungen (die ein Teil der amerikanischen „second strike forces" sind) aufzubauen, dagegen keine Stellung zum Schutze amerikanischer Städte zu bauen Im Gegensatz zu den USA hat nach Angaben von Minister Laird die Sowjetunion um Mos-kau herum vier von insgesamt acht Stellungen eines Raketenabwehrsystems installiert
Dr. Foster teilte im Juli 1970 der Presse mit, es gäbe in der Sowjetunion sechs Vorwarnradaranlagen, von denen eine zum Schutze der sowjetischen Hauptstadt bestimmt sei, während die übrigen an der Peripherie des Landes aufgebaut worden seien. Diese Radarinstallationen sind nach Fosters Ansicht die Vorläufer eines dichten Abwehmetzes, das später durch Stationierung der dazugehörigen Abfangraketen operationsfähig würde Die sowjetischen Anlagen (so Foster) „provide the same radar coverage which we will have some eight years from now if all the Safeguard program is completed" Die Russen besäßen ebenfalls Geräte mit sogenannten phasen-gesteuerten Vielzellenantennen
Da alle amerikanischen ICBMs ihre Flugbahn über den Pol nehmen, haben die sowjetischen Installierung in den USA Befürchtungen geweckt, die Russen wollten durch den Aufbau eines Abwehrriegels in Nordwestrußland und rund um Moskau die schmale „Gefahrenschneise" (nur 9 °/o des gesamten sowjetischen Verteidigungsgürtels) absichern. Sollte dies tatsächlich die Absicht Moskaus sein, so könnte dieses Vorhaben leicht durch die amerikanische Abschreckungskomponente zur See nutzlos gemacht werden, da von Atom-U-Booten bzw. Raketenfrachtern abgefeuerte Raketen die Sowjetunion aus allen Richtungen anzugreifen vermögen, was die Abwehrprobleme für die Sowjets gewaltig komplizieren würde, da sie ihre Aufmerksamkeit nicht mehr allein einem schmalen Korridor zuwenden könnten. Neben der Zersplitterung der gegnerischen Abwehr durch den Angriff von allen Seiten kann der Gegner durch die Verwendung von „Radar-Ködern" (Radarreflektoren mit dem Radarquerschnitt einer ICBM) getäuscht werden. Erst nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre, in der die leichten Köder stärker abgebremst werden, läßt sich die Unterscheidung von echten Sprengköpfen und Ködern vornehmen. Dies läßt eine Bekämpfung des anfliegenden Sprengkopfes erst kurz vor seinem Ziel zu. Das Zielgebiet müßte also nicht nur gegen Fallout, sondern auch gegen den Hitzeblitz der Explosionen geschützt werden
Bei der Bekämpfung des gegnerischen Gefechtskopfes bedient man sich des sogenannten Röntgeneffekts. Im Vakuum oberhalb der Erdatmosphäre können sich Röntgenstrahlen, die durch eine Kernexplosion freiwerden, mehrere Kilometer fortpflanzen. Bei ihrem Auftreffen auf den ICBM-Gefechtskopf wird die elektromagnetische Energie in Wärmeenergie umgewandelt, durch die der Hitzepanzer der Rakete frühzeitig zum Schmelzen gebracht wird, so daß die Gefechtsspitze bei ihrem Wieder-eintritt in die Erdatmosphäre verbrennt Inzwischen ist man in den USA dabei, diese Strahlungswirkungen durch einen Hitzeschutzmantel aus besonderen Kunststoffen abzufangen Nach einer Meldung der „Aviation Week" werden in der Sowjetunion auch. Abwehrmethoden erprobt, bei denen nicht-nukleare Abwehrmittel (Asphaltpartikel) in großer Konzentration in die Flugbahn der angreifenden Rakete geschleudert werden, um den Hitzepanzer zu zerstören Sollte diese Meldung zutreffen, so wären die sowjetischen Tests ein Nachvollziehen ähnlicher Abwehrmethoden der Amerikaner
Im übrigen ist auch die Treffgenauigkeit der ABM keineswegs optimal. Bei der Erprobung der amerikanischen „Sprint" -und „Spartan" -Rakete konnten nur 56 % der ausgeführten Versuche als „erfolgreich" (Vernichtung der Angriffsrakete) bezeichnet werden
Trotz aller technologischer Mängel der ABM, die einen optimalen Abwehrerfolg (was immer darunter zu verstehen ist!) kaum denkbar machen, hat die ABM bereits das strategische Kräftegleichgewicht in psychologischer Hinsicht instabilisiert. ABM und MIRV bieten eine „Prämie" für ein frühes Losschlagen. Eine ICBM mit MIRV-Kapazität am Boden bietet nur ein Ziel, während sie nach ihrem Abschuß durch Ausstößen ihrer Sprengköpfe je nach MIRV-Ladung entsprechend viele Ziele darstellt, bzw. erreicht.
Nach Schätzungen würde bei einem sowjetischen „First-strike" in einer Krisensituation die sowjetische Verlustrate auf 40— 60 Mill., die amerikanische beim Erstschlag der USA auf 60— 75 Mill. Tote reduziert werden
Diese . Prämienrechnungen“ könnte man als strategische Sandkastenspiele abwerten, würde nicht in der strategischen Diskussion das Argument von einer angeblich größeren Verlust-toleranz sowjetischer Staatsführer gebraucht werden. So verwies der amerikanische Kolumnist Joseph Alsop in diesem Zusammenhang auf Stalins Säuberungen, bei denen rd. 20 Mill.
Russen (ca. 1/1 der damaligen sowjetischen Bevölkerung) umgebracht worden seien
Alsops Argumentation erinnert an Senghaas'
Bemerkung, die Verteidiger von Abschrekkungspolitik neigten dazu, . immer dann furchterregende Feindbilder neu zu propagieren, sobald die Rationalität ihrer Politik in Frage gestellt wird oder eine neue mögliche Stufe des Rüstungswettlaufes abzusehen ist
Man kann eine politische Säuberungsaktion selbst wenn sie 1 10 der eigenen Bevölkerung verschlingt, nicht als Beweis für die These ins Feld führen, solche Skrupellosigkeit einer Staatsführung zeige, daß sie auch bereit sei, entsprechende Verluste in einem Atomkrieg hinzunehmen, da die Folgen eines Atomkriegs (auch in sowjetischer Einschätzung) durch den Faktor Radioaktivitt bestimmt werden. Nach Angaben des sowjetischen Wissenschaftlers A. Kusin entsteht in einem Atomkrieg, in dem die beiden Atommächte insgesamt eine Vemichtungskapazität von 125 000 Mt einsetzen. eine radioaktive Verseuchung mit tödlicher Strahlungsdosis auf einer Bodenfläche von 62. 5 Mill, km 2: . Man braucht sich nur daran zu erinnern, daß die USA ein Territorium von 7, 8 Millionen km 2 haben, und ganz Europa eine Bodenfläche von 11, 6 Millionen km* einnimmt, damit es klar wird, welche katastrophalen Folgen ein totaler Kernwaffen-krieg haben muß.
1
Kusin weist auf die Strahlenkrankheit hin durch die ein vollständiger Verlust der Immunität gegen ansteckende Krankheiten entsteht so daß die überlebenden eines Atomkriegs . unerhörten Seuchen ausgesetzt sein werden die unter diesen Umständen sofort und überall ausbrechen müssen. Man braucht woh kaum daran zu erinnern, daß gewaltige Zerstörungen, Brände, die ganze Städte erfassen werden, sowie die Ausbreitung der Krankheiten jede ärztliche Hilfe und jegliche Vorbeugungsmaßnahmen ungemein erschweren werden.
Für den überlebenden Teil der Menschheit rechnet Kusin mit . schweren Erbkrankheiten*, da durch eine Strahlungsdosis von 10— 100 rem je Generation eine Verdoppelung der Mutationsfrequenz entsteht, was . zu einer genetischen Degeneration der Menschheit führen muß
Die von Kusin beschriebenen Atomkriegsfolgen sind der sowjetischen Staatsführung bekannt und können auch von ihr nicht ignoriert werden, denn, so N. S. Chruschtschow: . Man kann die Fragen von Krieg und Frieden nicht ohne Rücksicht auf die realen Verhältnisse lösen. Man muß den Mut haben, den realen Gegebenheiten nüchtern gegenüberzustehen und mit wissenschaftlicher Exaktheit abzuwägen, wozu ein moderner Krieg führen würde, wenn es nicht gelänge, ihn abzuwenden ... Alle großen Städte, nicht nur in den USA und der UdSSR als den beiden führenden Kern-mächten, sondern auch in Frankreich. England, Deutschland, Italien, China, Japan und vielen anderen Ländern würden vom Erdboden hinweggefegt und zerstört werden. Die Folgen eines Atom-und Wasserstoffkrieges würden sich während der Lebensdauer vieler Menschengenerationen geltend machen, sie würden Krankheit und Tod verursachen, zur Verkrüppelung des Menschengeschlechtes fuhren. Es ist bezeichnend für die Selbstbezogenheit des amerikanischen Rüstungskomplexes, daß gerade die Befürworter für den schnellen Ausbau eures ABM-Systems in den Vereinigten Staaten in ihren eigenen Erklärungen dem Verdacht Nahrung geben, daß ihre 'Warnungen vor einer größeren Verlusttoleranz der sowjetischen Staatsführung nur die Projektion ihrer eigenen Denkkategorien auf den nuklearen Widerpart darstellen. Beispielsweise erklärte General Earle G. Wheeler für die Vereinigten Stabschefs vor einem Kongreßaus-schuß am 6. 3. 1967: „Trotz allem wird eine Nation wahrscheinlich einen nuklearen Schlagabtausch gut überstehen. Die 30, 40 oder 50 Millionen amerikanischer Menschenleben, die durch die Nike-X-Rakete gerettet werden können, sind deshalb bedeutungsvoll, wie wir glauben, in jeder Beziehung dieses Wortes."
In einer „executive session" des Senats vom 2. 10. 1968 entspann sich folgender Redeaustausch zwischen den Senatoren Clark und Russel. Mr. Clark: „There commes a time when the tens of millions of casualties are so enormous that civilization is destroyed, and if there are a few people living in caves after that, it does not make much difference."
Mr. Russel: „If we have to Start all over again with another Adam and Eve then I want them onthis continent and not in Europe."
Senator Russel, der in einem „dünnen" ABM-System nur den „Grundstein" eines „dicken"
Abwehrsystems sieht, erklärte auf Clarks Vorhaltung, ein Atomangriff auf die USA würde 120 Mill. Tote bedeuten: „While it would be a tremendous building job, eighty million Americans could rebuild this nation in a relatively short while ..
Minister Laird schrieb in seinem 1962 erschienenen Buch „A House Divided: America’s Strategy Gap", es gäbe für ihn eine „Überzeugung, daß es jenseits der biologischen Existenz eine Qualität des Lebens, ein moralisches Gesetz und eine göttliche Schöpfung gäbe, daß die Gefahr des Todes, verglichen mit der Todesgefahr dieser Werte und des Glaubens an sie, zweitrangig sei." Und weiter: „Einst marschierten Millionen von Amerikanern unter dem Schlachtgesang der Republik —, , So wie er starb, um uns Menschen heilig zu machen, laßt uns sterben, um die Menschen frei zu machen'. Dieser Geist, zurückgeholt in unsere Zeit, in der die ganze Welt halb versklavt und zur anderen Hälfte frei ist, könnte die Zukunft einer freien Menschheit formen."
XIII. Die sowjetische Nuklearstrategie und SALT
Die Debatte um das künftige Stadium der sowjetischen Verteidigungspolitik Solche Bekundungen müssen psychologisch auf den nuklearen Gegenspieler im Kreml provokativ wirken, da sich aus Wheelers und Russells Erklärungen als Ziel amerikanischer Rüstungspolitik ergibt, nicht Maßnahmen zur Stabilisierung der nuklearen Abschreckung zu treffen, sondern solche Rüstungsprojekte voranzutreiben, die die amerikanische Verlust-rate bei Ausbruch eines nuklearen Krieges herabdrücken sollen. Daraus ergibt sich für die sowjetische Abschreckungspolitik die Frage, ob die Rüstungsanstrengungen Amerikas zu tolerieren sind oder durch entsprechende Maßnahmen konterkariert werden müssen, denn — so die „Prawda" vom 7. 3. 1970 zum Beginn der zweiten Verhandlungsrunde der SALT-Gespräche: „Ein unbegrenzter Wettlauf der strategischen Rüstungen würde aber die aggressiven Kreise des Imperialismus aufs neue zu der Illussion verleiten, sie seien in der Lage, militärische Vorteile zu erzielen. Sie könnten leicht in Versuchung geraten, einen thermonuklearen Krieg vom Zaune zu brechen."
Während der Verfasser des „Prawda" -Artikels von einer „Versuchung" spricht, in die die „aggressiven Kreise des Imperialismus" bei Fortführung eines „unbegrenzten Wettlaufs der strategischen Rüstungen“ geraten könnten (!), hatte Sowjetmarschall Krylow, Befehlshaber der sowjetischen Raketentruppen und stellvertretender Verteidigungsminister, vor Beginn der ersten SALT-Verhandlungsrunde in Helsinki am 1. 9. 1969 im ZK-Organ „Sowjetskaja Rossija" das „Weltkapital mit den Monopolisten der USA an der Spitze" beschuldigt, „ein schreckliches Verbrechen, vor dem alle bisherigen blutigen Missetaten verblassen" zu planen: „Sie bereiten sich vor, die Menschheit in einen Raketen-und Atomkrieg zu stürzen, der unendlich mehr unheilvolle soziale, biologische, psychische und moralische Folgen in sich birgt als die früheren Kriege." Einige Monate zuvor hatte im April-Heft des theoretischen Parteiorgans „Kommunist" der Leiter der politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Streitkräfte, Armeegeneral Jepischew, die Feststellung getroffen, daß „gegenwärtig die führenden Kreise der imperialistischen Staaten sich fieberhaft auf einen neuen Weltkrieg vorbereiten ..."
Der Unterschied zwischen den Presseäußerungen sowjetischer Militärs und der Formulierung des Prawda-Artikels ist signifikant: Während die Militärs den „Imperialisten" konkrete Angriffsvorbereitungen zur Führung eines Nuklearkrieges gegen die SU unterstellen (Jepischew charakterisiert sie sogar als „fieberhaft"), spricht die Prawda nur von einer „Versuchung", in die die „aggressiven imperialistischen Kreise" bei Fortführung des Rüstungswettlaufs geraten könnten (eine Gefahr also, die erst in der Zukunft für die UdSSR entstehen kann!).
Auch Parteichef Breschnew vermochte in seiner Rede auf der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau am 7. 6. 1969 keine Angriffsabsichten der „Imperialisten“ zu entdecken: „.. . die imperialistischen Regierungen arbeiten jetzt an neuen Plänen zur Steigerung der Rüstungen, die auf ganze Jahrzehnte im voraus berechnet werden. Ihre Verwirklichung wird eine neue schwere Last für die Werktätigen sein und die Gefahr des Ausbruchs eines neuen Weltkrieges vergrößern." Für Breschnew macht die „Tatsache, daß die imperialistischen Hauptmächte Massenvernichtungswaffen horten, den Imperialismus unserer Zeit zu einer ständigen Gefahr für den Weltfrieden, zu einer Gefahr für das Leben von vielen Millionen Menschen, für die Existenz ganzer Völker" Damit ist für den Parteichef die Gefahr eines Nuklearkriegs zwar latent vorhanden, doch hat sie keinen akuten Charakter — sie resultiert aus dem ständigen Wettrüsten. Breschnew vermeidet es konsequenterweise, die Rüstungssteigerungen der „Imperialisten" als konkrete Angriffsvorbereitungen auf die UdSSR zu deuten. Dies deckt sich mit seiner Rede auf der Festsitzung des ZK der KPdSU und der Obersten Sowjets der UdSSR in Moskau am 3. 11. 1967 (anläßlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution): „Wir berücksichtigen die Lehren der Vergangenheit und tun alles, damit uns niemand überrascht. Sollten sich aber Wahnsinnige finden, die es wagen, die Sicherheit des Sowjetlandes und unserer Verbündeten anzutasten, so wird das Sowjetvolk nicht erzittern. Von wo auch ein solcher Anschlag ausgehen sollte — vom Norden oder Süden, vom Westen oder Osten —, der Aggressor wird auf die alles zerschmetternde Macht unserer ruhmreichen Streitkräfte stoßen."
Folglich müßten die Verantwortlichen der USA „Wahnsinnige" sein, wenn sie beabsichtigten, die UdSSR in einen Nuklearkrieg zu verwickeln (wie dies Krylow und Jepischew behaupten) — Verhandlungen mit einer solchen Regierung wären ohne Zweifel aussichtslos. Dies jedoch ist nicht die Auffassung der sowjetischen Regierung. Zwei Wochen nach Eröffnung der SALT-Vorgespräche in Helsinki wertete die sowjetische Regierungszeitung „Iswestia" in einem Leitartikel mit der Über-schrift „Ein bedeutender Schritt" den Rüstungsdialog der Großmächte so: „Schon die Tatsache selber, daß Diskussionen und Verhandlungen stattfinden, däß Vereinbarungen auf dem Gebiet der Abrüstung erzielt worden sind, läßt die Hoffnung und das Vertrauen auf ein Herabdrücken der Rüstungsspirale wachsen, wie darauf, daß die Gefahr eines Atom-krieges abgewendet werden kann." Audi die Prawda hatte den Verhandlungsbeginn durch einen Artikel von „ungewöhnlicher Länge" hervorgehoben — im Gegensatz zur Armee-Zeitung „Roter Stern", die sich damit begnügte, den Verhandlungsbeginn nur mit einem einzigen Satz zu vermerken
Diese Indizien sprechen für eine Machtauseinandersetzung der Führungsgruppe im Kreml über die Frage einer Rüstungsbegrenzung mit den Vereinigten Staaten. Indirekt wird dies durch den erwähnten Artikel Jepischews bestätigt: „Leninismus und die Lehren Lenins über den Krieg und die Armee dienen als eine mächtige ideologische und politische Waffe im Kampf gegen die Ideologien der Bourgeoisie und jene, die die Militärgeschichte und die Probleme der Kriegsführung verfälschen."
Da jene, die die Militärgeschichte und die Probleme der Kriegsführung „verfälschen“ nicht identisch mit den „bourgeoisen Ideologen" des Westens sein können, müssen sie sich innerhalb der Sowjetunion befinden. Der Gegenstand der Kontroverse läßt sich aus dem Artikel von Jepischew ablesen, der sich gegen den Standpunkt wendet, im Atomkrieg sei ein „Sieg" unmöglich (wie er von dem sowjetischen Atomphysiker Prof. Andrej D. Sacharow vertreten wird: „Ein Atomkrieg kann nicht mehr im Sinne von Clausewitz als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet werden. Ein Atomkrieg wäre der allgemeine Selbstmord."
Demgegenüber verwahrte sich Marschall Krylow gegen die Behauptung, „in einem zukünftigen Krieg gäbe es keine Sieger", eine Behauptung, die er eine „Lüge" und einen „propagandistischen Trick" nannte: „Auch in einem zukünftigen Krieg gäbe es einen Sieg — und den würde die sozialistische Welt erringen."
Mit ihren Presseangriffen offenbaren die sowjetischen Militärs deutliche Meinungsverschiedenheiten zur politischen Führung ihres Landes. Breschnews Rede auf der Festsitzung vom 3. 11. 1967 hatte zwar die Versicherung enthalten: „Mögen alle wissen, daß das Sowjetland in einer Auseinandersetzung mit jedem beliebigen Aggressor den Sieg erringen wird, der unseres großen Volkes, der Heimat des Oktober, würdig ist!" — aber an anderer Stelle seiner Rede hatte Breschnew erklärt: „Wachsamkeit gegenüber imperialistischen ist Provokationen und Abenteuern um so notwendiger, als unter den heutigen Verhältnissen ein Weltkrieg unter Einsatz von Raketen-kernwaffen zum Untergang von Hunderten Millionen Menschen, zur Vernichtung ganzer Länder, zur Verseuchung der Erdoberfläche und der Erdatmosphäre führen könnte. Die Kommunisten müssen daraus die ernstesten politischen Schlußfolgerungen ziehen. Heute ist der Kampf für die Abwendung der Gefahr eines neuen Weltkrieges zu einer wichtigen Voraussetzung der erfolgreichen Lösung der Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus, zur Entwicklung des gesamten revolutionären Prozesses in der Welt geworden."
Der Parteizeitung Prawda blieb es Vorbehalten, in ihrem Artikel vom 7. 3. 1970 (zum Beginn der Zweiten SALT-Runde) die „Ein-Sieg-imNuklearkrieg-ist-möglich" -These der Militärs zurückzuweisen, indem sie eine Äußerung des Kennedy-Beraters Bundy zitierte, deren Wortlaut dem sowjetischen Prawda-Leser die Schlußfolgerung nahelegte, die Zeitung habe das Bundy-Zitat für den internen Hausgebrauch benutzt:
„Zahlreiche bürgerliche Politiker des Westens, die über die wirkliche Sachlage im Bilde sind, geben häufig zu, daß das Wettrüsten von Jahr zu Jahr aussichtsloser wird. So schrieb kürzlich McGeorge Bundy, der ehemalige Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson in Fragen der Sicherheit und der Militärstrategie: , Ein strategischer nuklearer Waffengang kann weder vom Standpunkt einer Ideologie, noch vom persönlichen politischen Standpunkt des führenden Staatsmannes des einen oder anderen Landes irgendwie gewinnbringend sein. An dieser Tatsache vermag auch kein Waffensystem etwas zu ändern, dessen Entwicklung heute für die eine oder andere Seite erreichbar erscheint'."
Da die Prawda Bundys Feststellung, ein nuklearer Waffengang könne für beide Groß-mächte nicht gewinnbringend sein und die Entwicklung neuer Waffensysteme vermöge an diesem Zustand auch nichts zu ändern, ohne einschränkende Bemerkung für die Sowjetunion wiedergibt, erhält der Leser den Eindruck, die Prawda akzeptiere uneingestanden Bundys Ansicht auch für die Sowjetunion.
Die Debatte über den „Sieg" im Nuklearkrieg wird nicht aus ideologischen Gründen geführt, um das Dogma von der Überlegenheit des sozialistischen Lagers auch angesichts der heute bestehenden nuklearen Zerstörungskapazitäten in den Arsenalen beider Weltmächte zu rechtfertigen. In ihr spiegelt sich eine Auseinandersetzung um den zukünftigen Kurs der sowjetischen Verteidigungspolitik und der damit zusammenhängende sowjetische Standpunkt zu etwaigen Rüstungskontrollvereinbarungen mit den USA wieder.
Für die Verfechter des „Ein-Sieg-ist-möglich“ -Standpunktes ist die McNamara-Philosophie, ein nukleares Wettrüsten über die Marge einer gesicherten Zerstörungskapazität hinaus sei strategisch nutzlos und für die Bewahrung des Weltfriedens gefährlich, unakzeptabel. Ihre Hoffnung zielt auf die Möglichkeiten neuer Mittel der Kriegsführung, durch die die strategische Machtbalance zu eigenen Gunsten verändert werden kann. Demzufolge sind sie entschiedene Gegner jeder „slow-down" -Philosophie. Indiz dafür ist die Einschätzung des Rüstungsstandes, der nach Ansicht der Prawda die Sicherheit des Sowjetstaates ermöglicht: „Die Sowjetunion besitzt moderne Waf-fen, die völlig ausreichen, um die Sicherheit der UdSSR und ihrer Verbündeten zu gewährleisten." Die Stimmen der Militärs legen im Gegensatz zur Betonung der Prawda-Versicherung, man besitze alles, was zur Sicherheit der SU nötig sei, die Betonung auf eine unverminderte Fortsetzung der Rüstungsanstrengungen. Marschall N. I. Krylow bestätigte zwar einem Prawda-Korrespondenten am 19. 11. 69 die gewachsene Kampfstärke seiner Einheiten, erinnerte jedoch gleichzeitig die Parteiführung an die Forderungen des Militärs: „Die Raketentruppen sind der Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit auf Seiten der Kommunistischen Partei und der sowjetischen Regierung." Das Objekt der besonderen Aufmerksamkeit von Partei und Regierung definierte Krylow unter Berufung auf Lenins Autorität dann so: „Wie Lenin ausführte, sind Technologie und die Fähigkeit, sie dem Kampfe gegen den Feind nutzbar zu machen, die Hauptvoraussetzungen für den Sieg im Kriege. In einer bewaffneten Auseinandersetzung, so sagt er, wird die Seite siegen, die die fortschrittlichste Technologie, die größte Organisation und Disziplin und die besten Maschinen hat". ... Militärische Angelegenheiten vertragen keine Stagnation. Solange die Ge-fahr eines Angriffs durch die Imperialisten existiert, wird es unsere bedeutungsvollste Aufgabe sein, einen hohen Grad an ständiger Kampfbereitschaft zu unterhalten."
Vor Krylow hatte Generalmajor Prof. Lagowski im „Roten Stern" ebenfalls mit der Autorität Lenins die Wünsche des Militärs angemeldet: Wladimir Iljitsch lehrte, man müsse die schärfste Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten des Feindes richten, seine starken und schwachen Punkte studieren und sorgfältig die Balance der Kräfte abwägen. . Jedermann wird mir darin zustimmen', schrieb Lenin, , daß sich die Armee, die es versäumt, sich in der Beherrschung aller Waffenarten, aller Mittel und Methoden des Kampfes, die der Feind besitzt oder haben könnte, zu üben, unvernünftig, ja sogar verbrecherisch verhält'... Hier sollte die besondere Aufmerksamkeit auf die Wort , haben könnte'gerichtet werden. Dies bedeutet: Es; ist notwendig, die militärische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Macht eines möglichen Gegners auf der Basis einer sorgfältigen Studie der bestehenden Situation und ihrer realistischen Entwicklungsmöglichkeiten abzuschätzen. Nur durch solch einen nüchternen und wissenschaftlichen Ansatz läßt sich der richtige Weg zur Erreichung der Überlegenheit über den Gegner in der Balance der Kräfte festlegen."
Die vorliegende Darstellung zeigt, daß es in beiden Abschreckungsgesellschaften Tendenzen gibt, deren Streben auf ein Nuklearpotential abzielt, das die Kapazität einer bloßen second-strike-capability übersteigt.
Diese Tendenzen werden bestimmt durch die nicht stagnierende waffentechnische Entwicklung auf dem nuklearen Sektor, dessen Intensität immer durch die Gefahr eines möglichen „technologischen Durchbruchs" auf Seiten des Gegners genährt wird. Damit steht dem politischen Willen, eine einmal erreichte Stabilisierung der nuklearen Abschreckungsebene durch sichere Zweitschlagskapazitäten zu sichern, die langfristige technologische Tendenz entgegen, an der Entwicklung von Waffensystemen zu arbeiten, die in die Richtung einer Aufhebung eben jenes Gleichgewichts des Schreckens zielt.
Klaus Mayer, geb. 22. April 1947, kauf männische Lehre von 1963— 1966, Abitur in 2. Bildungsweg am Hessenkolleg Frankfur 1968, seit 1969 Studium der Politischen Wis.senschaften am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, seit 1. April 1971 studentische Hilfs, kraft am John-F. -Kennedy-Institut für Ame, rikastudien der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Südamerika — Revolution in der Sackgasse?, in: Hessische Jugend, Zeitschrift des Hess. Jugendrings, Heft 5/1971; Das jugoslawische Modell, ebenda Heft 6/1971.
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