Zusammenfassung
Timothy W. Mason: Zur politischen Relevanz historischer Theorien
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Timothy W. Mason: Zur politischen Relevanz historischer Theorien
Wilhelm Treue hat sich vor kurzem in dieser Zeitschrift mit einigen der wirtschaftshistorischen Arbeiten zum deutschen Imperialismus beschäftigt, die im letzten Jahrzehnt von Historikern aus der DDR vorgelegt worden sind
Diese Ideologiekritik weist nun genau dieselben Fehler und Blindheiten auf, die Prof. Treue in den rezensierten Arbeiten zu finden meint. Es muß vorweg bemerkt werden, daß der von ihm so heftig verworfene Marxismus-Leninismus Anspruch darauf erhebt, eine geschichtswissenschaftliche Methodologie zu bil-den. Angesichts der reichen, obgleich in der Qualität recht unterschiedlichen Ernte von an Marx orientierten Analysen, die in den letzten fünf Jahren auch in der Bundesrepublik erschienen sind, dürfte dieser methodische Anspruch kaum eine umstürzende Neuigkeit in der Wissenschaftsgeschichte mehr sein. Davon erfährt man in dem Aufsatz von Prof. Treue indessen nichts. Er bringt das Kunststück fertig, die Bedeutung des Marxismus-Leninismus für die Geschichtswissenschaft am Beispiel der zitierten Literatur aus der DDR zu diskreditieren, ohne sich mit den Fragestellungen der Arbeiten auch nur am Rande auseinanderzusetzen
Womit beschäftigt sich die moderne Wirtschaftsgeschichte? Nach dem Aufsatz von Prof. Treue zu urteilen, müßte sie sich in erster Linie mit der Persönlichkeit führender Wirtschaftsfiguren befassen. Daß die Historiker der DDR dieser Problematik sowenig Aufmerksamkeit schenken, daß ihre Abhandlungen sich vorwiegend auf Strukturen, Prozesse, Interessengruppen und Bewegungen konzentrieren, scheint ihm nicht ganz geheuer zu sein. War Schacht denn nicht „Deutschnationaler mit Hang zum Nationalsozialismus, kosmopolitischer Nationalist, ... unabhängig sich äußernder, mutiger Minister und Präsident“ (S. 21 des Beitrages)? Prof. Treue möchte die persönliche Rivalität zwischen Schacht und Göring in den Vordergrund der Darstellung nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik bringen. Der Leser möge für sich entscheiden, ob dieser Ansatz wichtigere Fragestellungen eröffnet als der des so arg zurechtgewiesenen Herrn Gossweiler: „Je erfolgreicher Schacht für die Aufrüstung des faschistischen Deutschland tätig war, desto mehr untergrub er seine eigene Stellung, indem er die Umstände beseitigen half, die ihn unentbehrlich gemacht hatten."
Wo sich andererseits Herr Czichon — im Gegensatz zur Mehrheit seiner Kollegen und durchaus im Sinne von Prof. Treues Kritik an ihnen — sich eben gerade mit Persönlichkeiten beschäftigt, da wird er sofort zum Ziel eines außerordentlich scharfen Angriffs, denn er hat sich herausgenommen, die frühere Laufbahn einer der wichtigsten Figuren in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik zu untersuchen
Nun liegen einige relevante Archivbestände in der DDR. Diese sozusagen archivarische Folge der Teilung Deutschlands bedeutet, daß sich führende Persönlichkeiten im westdeutschen Wirtschaftsleben ihnen unsympathische biographische Darstellungen werden gefallen lassen müssen. Eigentlich müßte es aber gerade demjenigen schwerfallen, diesen Tatbestand zu bedauern, der der Überzeugung ist, Wirtschaftsgeschichte sei die Geschichte handelnder Menschen und nicht die Aufdröselung blinder Prozesse — immer vorausgesetzt, daß auch die kritischste Biographie keine unbegründeten Diffamierungen und Verdächtigungen enthält.
Die Problematik der Rolle der Persönlichkeit bildet aber nur einen sekundären Aspekt in dem übergeordneten, von Prof. Treue sorgsam ausgelassenen Zusammenhang der geschichtswissenschaftlichen Methodologie. Die eigenartige Mischung von naivem Positivismus und oberflächlicher Polemik, die seinen Aufsatz kennzeichnet, wirft die Frage nach den Ursa-chen für die Misere der modernen Wirtschaftsgeschichte in Deutschland in der Zeit nach 1914 auf — eine Frage, die vielleicht einer detaillierten Untersuchung wert wäre. Nach den großen Arbeiten der Pioniere im 19. Jahrhundert ist diese Disziplin von den deutschen Historikern und Ökonomen bis Ende der 1950er Jahre fast völlig vernachlässigt worden. Noch immer gibt es keine fundierte deutsche Darstellung der Kriegswirtschaft 1914— 1918, der großen Inflation vom Jahr 1923 oder der Weltwirtschaftskrise. Und die in der Bundesrepublik erschienenen Arbeiten über die Wirtschaftsgeschichte des „Dritten Reiches" befassen sich in der Hauptsache mit den eher politischen Fragen der Kriegsvorbereitung und -durchführung. Selbst die brillianten Monographien von Dieter Petzina und Jörg-Johannes Jäger über die letztgenannten Fragen fußen nicht auf einem durchdachten Konzept des Wirtschaftssystems
Man mag den Historikern der DDR ideologisches Denken vorhalten wollen; daß sie gerade diese Fragen außer acht lassen, wird man wohl nicht behaupten dürfen. Wenn man überhaupt als Wirtschaftshistoriker nur einige erste Schritte mit Kollegen in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten zusammen gehen will
Diese im Marxismus wurzelnden gemeinsamen Fragestellungen, mit denen sich die Wirt-Schaftshistoriker der DDR beschäftigen, sind weder spekulativ noch uninteressant — und auch nicht als Propaganda abzutun. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten, die diese Problematik wortlos übergeht, die stillschweigend annimmt, methodologische Probleme dieser Art seien zweitrangig oder gar nicht existent, die sich letztlich damit zufrieden gibt, diese Ausdrucksform des Marxismus als reine Dienstleistung der SED gegenüber zu werten, kommt einer intellektuellen Bankrotterklärung gleich.
Prof. Treue hat es sich viel zu leicht gemacht. Seine Diskussion der von ihm ausgewählten Arbeiten
Man muß nicht selber Marxist sein, um die wissenschaftliche Bedeutung einiger in der DDR erschienenen Arbeiten zur deutschen Wirtschaftsgeschichte anzuerkennen; man muß nur an der historischen Forschung interessiert sein. So stellt etwa Kurt Gossweilers Analyse des Übergangs von der Arbeitsbeschaffung zur Rüstungskonjunktur 1933/1934 zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik dar
Handwerk richtig beherrsche, der andauernd falsch zitiere und der sich eindeutig in Berlin (Ost) beliebt machen wolle, indem er eine der führenden Figuren im westdeutschen Wirtschaftsleben angreift
schaftliches Publikum auf der Hand liegen. Man müßte sich außerdem fragen, warum es so lange nicht worden ist. aufgegriffen Diese Frage ist sicherlich schwer zu beantworten. Abgesehen vom Problem der Zugänglichkeit des Aktenmaterials dürfte aber einer der Gründe in der extremen Komplexität der in den Akten festgehaltenen Vorgänge liegen. Als Historiker bräuchte man etwa ein zweijähriges Bankpraktikum, um die Bedeutung bankpolitischer Entscheidungen immanent zu verstehen — was immer eine Voraussetzung für eine theoretisch zusammenhängende Analyse der relevanten Geschäftsverfahren sein muß. In dieser Hinsicht war ich selber von Herr Czichons Studie etwas enttäuscht, denn man erfährt daraus wenig über die Rolle der privaten Institute im Wirtschaftssystem; die Differenzierung zwischen nominellem Besitz, wirtschaftlichem Einfluß auf einzelne Unternehmen und wirtschaftspolitischer Macht wird nicht genau genug vollzogen. Die Probleme lösen sich etwas voreilig in einem Prozeß finanzieller und wirtschaftlicher Konzentration auf, dessen Konturen und Antriebskräfte verschwommen bleiben. Immerhin wirft das Buch zweifelsohne eine Reihe neuer und bedeutungsvoller Fragen für die zeitgeschichtliche Forschung auf.
Es ist vielleicht lohnenswert, die Kategorien von Treues Kritik an den Arbeiten von Czichon, Gossweiler und Eichholtz etwas genauer zu prüfen. Was sind seine Kriterien für Wissenschaftlichkeit? Welchen Bezugsrahmen für die moderne Wirtschaftsgeschichte schlägt er hier vor?
Er entrüstet sich vor allem über die unsaubere Quellenarbeit der Autoren. Läßt man einmal folgenlose Fehler in Detailfragen außer acht, so gilt dies innerhalb der Historiker-Zunft und auch darüber hinaus wohl als der schwerwiegendste Vorwurf, der von einem Kritiker erhoben werden kann. Gerade darum aber obliegt es dem Rezensenten in seiner eigenen Beweisführung, d. h. in der Begründung seiner Vorwürfe, selber ganz besonders genau zu sein. Prof. Treue ist es nicht. Für mehrere für seine Kritik zentrale Behauptungen führt er selber keine Belege an: so z. B. für die Größenordnung des Einflusses sowjetrussischer Verträge in der deutschen Wirtschaft während der Krisenjahre (S. 14); für die Rolle des Ministeriums Todt in den Jahren 1940/41 (S. 22)
Sein Aufsatz enthält außerdem mehrere Pauschalurteile, die nur dann wissenschaftlichen Wert hätten, wenn sie sich eine auf konkrete Beweisführung und Argumentation oder aber wenigstens auf die Ergebnisse der zitierten Arbeiten gestützt hätten, welche er jedoch nur isoliert als Selbstverständlichkeiten vorträgt. Ist es wirklich ohne weiteres klar, daß die Historiker der DDR „die Bedeutung . ..der IG-Farbenindustrie ... im Rahmen der Gesamtwirtschaft überbewerte(n)"?
Prof. Treue ist offensichtlich darüber empört, daß marxistisch-leninistische Historiker sich die Freiheit nehmen, Bankiers zu verunglimpfen. Er sollte aber dann konsequenterweise davon absehen, selber diese Historiker zu diffamieren. Die Passage, in der Dr. Eichholtz als „Geschichtsfälscher" bezeichnet wird, ist ein treffendes Beispiel eben der Verfahrensweisen, über die er sich bei anderen so aufzuregen vermag. Allein weil Eichholtz in einem Zitat einem Syndikus ungenaue wirtschaftstheoretische Kenntnisse zuschreibt, stellt Prof. Treue seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit radikal und wiederholt in Frage (S. 23, S. 27). Es ist aber wohl pure Vermutung, daß Eichholtz das Dokument unrichtig wieder-gibt; offensichtlich kennt Treue das Aktenstück selber nicht, denn er hätte es sonst wohl „richtig" zitiert. Die Unwahrscheinlichkeit der darin festgehaltenen Aussage ist für ihn Grund genug, seinen Gegner in der Auseinandersetzung unverblümt als „Geschichtsfälscher" abzustempeln. Schwerwiegendere For-men der Polemik lassen sich in einem wissenschaftlichen Kontext kaum vorstellen; zumindest kann Prof. Treue keinen so gravierenden Fall seitens der rezensierten Autoren vorbringen
Treues Kritik an Czichon bleibt größtenteils auf einer ähnlichen Ebene der kenntnislosen Verdächtigung. Ohne daß er die Quellengrundlage aus erster Hand kennt, fühlt er sich berufen, die schiere Existenz des gesamten von Czichon herangezogenen Aktenmaterials in Frage zu stellen. Er stellt die Tatbestände wohlgemerkt nur in Frage, er suggeriert nur, daß die Akten erfunden seien, denn ganz genau weiß er es auch wieder nicht. Das heißt, auch hier bedient er sich einer Methode der vage formulierten Unterstellung, die er bei den Historikern der DDR gerügt hat (u. a. S. 27).
Zum Sachverhalt ist folgendes zu sagen: Was die Aktenbestände der Deutschen Bank angeht, so dürfte es nicht überraschen, daß Prof. Mai in seiner Bibliographie allein von Restbeständen spricht, Herr Czichon dagegen eine umfangreiche Dokumentation ausgewertet ha-ben will: Schließlich hört Mais Interesse an dem Bestand um das Jahr 1900 auf, während sich Czichon hauptsächlich mit der Zeit nach 1937 beschäftigt. Der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Historikern aus Ostberlin ist eben nur scheinbar. Ob es „nachweislich unzutreffend" ist, daß Czichon viele der von ihm zitierten Akten der Reichskanzlei (Bundesarchiv Koblenz) tatsächlich eingesehen hat. ist zumindest fraglich: Denn es gibt inzwischen viele Mikrofilmkopien dieser Akten, und er hätte sie durch verschiedene Institute in der Bundesrepublik, in den USA und vielleicht auch in der DDR beziehen können, ohne daß das Bundesarchiv davon Kenntnis gewonnen haben müßte. Es ist ferner geradezu lächerlich, zu beanstanden, daß Herr Czichon die amtli. dien Titel von zwei Archiven falsch wiedergibt. Daß die Westberliner CDU ihm Einsicht in ihre Archivalien gewährt haben könnte möchte selbst Prof. Treue nicht glauben: Es handelt sich hier eindeutig um die CDU der DDR. Zweitens besteht eine gewisse Entschuldigung dafür, das Westberliner Geheime Staatsarchiv falsch zu benennen, in der Tatsache, daß diese Institution selber einige Zeit im unklaren gewesen zu sein scheint, wie sie sich nennen sollte. Sogar ein so genauer Wissenschaftler wie Dr. S. Aronson fand es noch 1971 ratsam, beide Titel in seiner Bibliographie aufzuführen
Durch Techniken dieser Art ist Prof. Treue bestrebt, eine Abwehrhaltung unter seinen Lesern hervorzurufen, noch ehe er den Inhalt des Buches überhaupt zur Diskussion stellt, Mit den Grundlinien von Herrn Czichons Interpretation der Wirtschaftsgeschichte des „Dritten Reiches" setzt er sich überhaupt nicht auseinander: die vorangegangene Abqualifizierung rein spekulativer Art entlastet ihn, zumindest in seiner eigenen Sicht, von dieser analytischen Arbeit. Drei Punkte folgen dann in seiner Kritik:
Zunächst führt Prof. Treue eine Reihe von Details an, die bei Herrn Czichon unrichtig sein sollen. Mangels Belegstellen aber wird es dem Leser nicht möglich gemacht, sich von der Richtigkeit der Kritik voll zu überzeugen „Die Welt am Sonntag" wird nicht jedem Dozenten und Schullehrer als die beste Quelle für derartige Behauptungen erscheinen
Die gebotene Genauigkeit ist, nach der Meinung von E. H. Carr, für den Historiker eine Pflicht, jedoch nicht an sich schon eine Tugend. Hat Czichons Studie irgendwelche Tugenden? Sie hat, so möchte man meinen, ein wesentliches Verdienst: als erste die Aufmerksamkeit auf den Fragenkomplex Banken/Wirtschaftsführung/Politik in dieser Zeit gelenkt zu haben. Diese Leistung wäre nur dann zweifelhaft, wenn die Ungenauigkeiten seiner Arbeit weitere Aktenforschung dadurch er-
würden, daß die beteiligten Personen und Institute sich genötigt fühlen würden, ihre Akten der Wissenschaft nicht mehr zugänglich zu machen. Aber vielleicht würde eine akkurate Darstellung die gleiche Wirkung haben. Es ist zweitens möglich — d. h. das Gegenteil ist noch nicht in allen Aspekten bewiesen —, daß sein Buch die Tugend hat, einen zutreffenden Umriß der Laufbahn von Herrn Abs zu bieten, eine Darstellung, die bei allen Fehlern die Meilensteine, die Wendepunkte und die politischen Umstände in etwa zutreffend schildert
Prof. Treue führt weiter zwei Stellen in Herrn Czichons Arbeit an, die es ihm erlauben, von Aktenmißbrauch zu reden. Der Fall des Berichts der amerikanischen Untersuchungskommission, die nach 1945 die Geschäftsführung der Deutschen Bank aufzuklären hatte, scheint unanfechtbar zu sein. Prof. Treue hat sich aber auch hier nicht dazu bequemt, den Fundort dieses Berichts anzugeben, damit andere Wissenschaftler den Text überprüfen können
Prof. Treues Darstellung der Details in bezug auf die Rolle der Familie Abs ist in jeder Hinsicht plausibel und beruht offensichtlich auf einer breiteren und präziseren Quellenbasis als die von Herrn Czichon zitierte. Doch enthalten seine Ausführungen in dieser Zeitschrift eine für den Laien verwirrende Unklarheit: Czichons Behauptungen über die Motive und das Verhalten von Herrn Abs betreffen allein die Hubertus Braunkohlen AG, früher ein Abs'sches Familienunternehmen, worüber die Gebrüder Petscheck 1924 die Kontrolle erwarben
Prof. Treue begründet seine Zurückhaltung und die Skizzenhaftigkeit seiner Ausführungen zu diesem Thema mit der Bemerkung: „Dieser Komplex ist Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung und soll daher hier nicht behandelt werden" (S. 28). Das ist, in dem zitierten Zusammenhang, kein überzeugendes Argument. Unter solchen Umständen sollte man entweder ganz schweigen oder aber das relevante Material in aller Ausführlichkeit veröffentlichen, damit das interessierte Publikum sich ein eigenes Urteil bilden kann. Prof. Treues Mittelweg kann nur den Effekt haben, die öffentliche Meinung schon vor dem Ende der Gerichtsverhandlungen zu beeinflussen — ohne jedoch die von ihm vertretene Position voll und unzweideutig zu dokumentieren. Es ist in diesem Kontext vielleicht nicht ohne Bedeutung, daß Prof. Treues Aufsatz in dieser Zeitschrift sofort nach Erscheinen zum Bestandteil der Anklageschrift gegen Czichon und den Pahl-Rugenstein Verlag gemacht wurde. Und gerade dieser Historiker ist es, der sich über die „politische Nutzanwendung" der in der DDR betriebenen Forschungsarbeit in zeitgeschichtlichen Fragen empören kann (S. 17).
Man darf an diesem Punkt wohl keiner Elfenbeinturm-Ideologie huldigen und bedauern, daß Wissenschaft und politisch-juristische Auseinandersetzungen auf diese Art und Weise vermengt werden. Angesichts der historischen Vorbelastungen des geteilten Deutschlands ist das wohl unausbleiblich. Es kann auch niemand Herrn Abs sein Recht nehmen, sich ge-gen Diffamierungen vor Gericht zu verteidigen. Es scheint aber unumgänglich, daß die gesamte Prozedur in allen Stadien öffentlich ist, daß die juristische Auseinandersetzung soweit wie möglich dem gegenwärtigen Stand der geschichtswissenschaftlichen Erforschung der betreffenden Sachverhalte entspricht und daß die angeführten Argumente in allen Etappen stichhaltig sind. Nur dann wird ein Prozeß dieser Art auch für die Geschichtswissenschaft ergiebig sein (— und gerade dieser könnte sicherlich sehr ergiebig sein); nur dann kann die gerichtliche Entscheidung nicht nur gerecht sein, sondern audi gerecht erscheinen. Ob Prof. Treues Beitrag in diesem Sinne wirksam gewesen ist, darf bezweifelt werden.
So wichtig diese aktuellen Fragen auch sein mögen, so ist es doch eine Erleichterung, zum Hauptthema zurückkehren zu dürfen. Wie eingangs gesagt, scheint eine rein ideologische Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Historiographie, wie die von Prof. Treue, völlig ohne Ertrag zu sein. Sie ist ferner dazu geeignet, alle methodologischen Überlegungen in der Wirtschaftsgeschichte diesseits der Elbe als überflüssig erscheinen zu lassen, die Wissenschaft hierzulande in ihrer bloßen Faktenaufzählung und in ihrem Hang zum Geschichtchen-Erzählen nur noch zu bestärken. Nicht allein aber aus diesen allgemeinen Gründen ist es notwendig, die Arbeiten der Historiker in der DDR wissenschaftlich ernst zu nehmen. Sie haben auf Grund ihrer Forschungsleistungen und ihrer Argumentation den unbestreitbaren Anspruch darauf, auf dieser Ebene gelesen und besprochen zu werden — einschließlich Herrn Czichon.
Eine Kritik an ihren Arbeiten müßte wohl immanent ansetzen und prüfen, wieweit es ihnen gelingt, den Marxismus für die neuere Wirtschaftsgeschichte fruchtbar und aufklärend einzusetzen. Die Frage kann nicht uneingeschränkt positiv beantwortet werden. Die von Prof. Treue rezensierten Arbeiten zeigen alle eine merkwürdig verkürzte Perspektive. Aus einer Wissenschaftslehre, die in ihrer klassischen Form den Ehrgeiz hat, epochale Zusammenhänge zu beleuchten, und die dem politischen Raum im Sinne des Liberalismus wenig Bedeutung beimißt, haben sie eine politische Soziologie gemacht, die in Querschnittsanalysen des modernen deutschen Herrschaftssystems und in den Prozessen politischer Willensbildung ihre Schwerpunkte hat. Das ganze erinnert stark an die Methodologie des großen konservativen Historikers Namier; riesenhafte Kapitalgesellschaften treten hier an die Stelle von Namiers Adelsfamilien, verhalten sich aber mit ihren spinnennetzartigen und rivalisierenden Einflußsphären jenen frappierend ähnlich. Wer saß an welchen Hebeln der Macht, wann und warum? — dies sind sicherlich nicht belanglose Fragen für den Historiker. Im klassischen Marxismus kommt ihnen aber gegenüber den säkular-ökonomischen Fragen der Entwicklung des Wirtschaftssystems eine zweitrangige Bedeutung zu. Lenins Imperialismus-Begriff legt zwar diese Art von Querschnittsanalyse nahe, doch ist dieses theoretische Konzept m. E. sowohl empirisch weniger solide wie auch vordergründiger als die Kategorien des historischen Materialismus bei Marx selber
Der politisch-soziologische Ansatz ist, auf den Nationalsozialismus angewendet, um so unbefriedigender, je schmaler das Interesse ist, das die Historiker der DDR für die Entwicklung des Staatsapparats im engeren Sinne aufbringen können. Die Bedeutung wirtschaftspolitischer Erwägungen in der allgemeinen politischen Willensbildung im „Dritten Reich", ja, das Ausmaß, in dem die politsche Führung einein von ihr nicht kontrollierten Wirtschaftssystem ausgeliefert war, ist wahrscheinlich von den Historikern im Westen bislang unterschätzt worden. Doch bleiben in den zur Diskussion stehenden Arbeiten die verschiedenen Varianten der marxistisch-leninistischen Thesen — zunehmende Verschmelzung von staatlichen und monopolwirtschaftlichen Interessen; Nationalsozialismus als „überbau“ im einfachen Sinne; historische Vorbestimmung nationalsozialistischer Expansion durch den deutschen Imperialismus vor 1918; entscheidende Mitwirkung der großen Kapitalgesellschaften bei den wichtigsten Etappen der Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik; dauerhafte und gegenseitig zufrieden-stellende Arbeitsteilung zwischen Monopolen und politischer Führung usw. — diese Thesen bleiben allzuoft eben Thesen, deren Überzeugungskraft unter der Unwilligkeit der betreffenden Historiker leidet, die innen-, außen-und rassenpolitische Willensbildung des Regimes genau zu untersuchen und die Ergebnisse einer solchen Untersuchung mit ihren wirtschaftshistorischen Kenntnissen in Verbindung zu bringen.
Ihre Argumentation bewegt sich zudem auf verschiedenen Ebenen, welche nicht immer ge-nau genug auseinandergehalten werden. So steht z. B. eine Betrachtungsweise, die die funktionale Bedeutung des Nationalsozialismus für das Wirtschaftssystem, die handfesten materiellen Vorteile für die großen Kapitalgesellschaften betont, einer eher ethisch-subjektiven Betrachtungsweise gegenüber, welche das Schwergewicht auf die Pläne und Absichten der Industriellen setzt. Es ist doch nicht ohne weiteres angängig, die beiden Ebenen durcheinanderzubringen oder Beweismaterial aus den beiden Kontexten so zu behandeln, als würde alles die gleiche These untermauern. Aus denselben Gründen, aus denen man darauf bestehen möchte, daß eine Klärung der subjektiven politischen Präferenzen führender Industrieller in den Jahren 1930 bis 1933 die Frage des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus nicht erschöpft, muß man ebenfalls darauf bestehen, daß z. B. programmatische Äußerungen und Denkschriften von Industriellen über wünschenswerte Annektionen usw. in den Jahren 1939 bis 1943 nur in ihrem Kontext gedeutet werden dürfen. Allein die Existenz solcher Dokumente besagt nicht, daß wirtschaftliche Interessen so spezifischer Art die Hauptantriebskräfte des Expansionskriegs waren; auch muß dann noch gefragt werden, ob diese Pläne tatsächlich verwirklicht wurden
Die gelegentliche Verschmelzung dieser beiden Ebenen der Argumentation in den Arbeiten von Historikern in der DDR führt zu einer etwas vordergründigen und leicht antiquiert anmutenden Moralisierung der Geschichte, die der Theorie des historischen Materialismus — wenn auch nicht immer seinem Urheber selber — fremd ist. Dieses moralistische Moment bildet in methodologischer Hinsicht vielleicht die notwendige Ergänzung zu den sich dem Positivismus annähernden Fragestellungen des politisch-soziologischen Marxismus. Denn wenn der epochale geschichtsphilosophische Aspekt der Marxschen Theorie nicht mehr im Vordergrund steht, so wird das Bedürfnis für eine Ethik allzu schnell spürbar. Vielleicht dürfte man die These ganz allgemein zur Diskussion stellen, daß der anklagende Ton marxistisch-leninistischer Abhandlungen über den Imperialismus seine Wurzel ebensosehr in diesem vertrackten methodologischen Problem hat wie in der von Prof. Treue stets wiederholten Behauptung, es handele sich hier bloß um zynische, gegenwartsbezogene Auftragsarbeiten. Das Problem ist deshalb so kompliziert, weil die Einordnung des Faschismus in ein differenziertes, epochales Geschichtsbild Marxscher Prägung eine denkbar schwierige wissenschaftliche Aufgabe darstellt, ist doch gerade hier die von Marx selber im unklaren gelassene Frage nach dem Verhältnis von wirtschaftlicher Basis und politisch-ideologischem überbau von ausschlaggebender Bedeutung. Versuche, wie sie neuerdings Ernest Mandel unternommen hat, das Problem rein nominalistisch zu lösen, indem er die ganze Weltgeschichte seit etwa 1750 pauschal als bürgerlich-kapitalistisch definiert — wo es sich nicht gerade um kommunistische Herrschaftsformen handelt —, zeugen zumindest von einer gewissen Ungeduld gegenüber der Arbeitsweise des Historikers
Ohne solche Postulate kommt man aber in der Wirtschafts-und Sozialgeschichte überhaupt nicht aus. Wie nutzbringend ein artikulierter theoretischer Rahmen für die Forschung sein kann, haben in letzter Zeit vor allem Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler gezeigt. Insbesondere Wehler ist bemüht, die empirisch begründeten und theoretisch fruchtbaren Elemente des Marxismus in seiner Forschung auszuwerten
fest, zwischen den Ergebnissen der Arbeiten von Fritz Klein und Peter Graf v. Kielmannsegg über den Ersten Weltkrieg bestünden nur unwesentliche Unterschiede in der Betonung
Timothy W. Mason, MA, Ph. D., geb. 2. 2. 1940; Fellow und Tutor in ModernHistory am St. Peter’s College, Oxford; 1965/66 Assistent am Institut für Politische Wissenschaft an der FU Berlin, 1972 Gastdozent im Fachbereich Geschichtswissenschaften der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands in den Zwischenkriegsjahren. Eine kritische Aktenedition zur Lage der Arbeiterklasse und zur staatlichen Sozialpolitik 1936— 1940 steht unmittelbar vor der Drucklegung.