Die parlamentarische Regierung zwischen Subordination und politischer Führung Darstellung und Kritik der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht | APuZ 38/1972 | bpb.de
Die parlamentarische Regierung zwischen Subordination und politischer Führung Darstellung und Kritik der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht
Hans-Joachim Veen
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Zusammenfassung
Die Untersuchung stellt in ihrem Tenor eine Kritik der herrschenden verfassungstheoretischen Deduktionen des parlamentarischen Regierungssystems dar. Sie versucht, neben der Sichtung der rein verfassungstheoretischen Darstellungen des parlamentarischen Systems in Verfassungslehren, Allgemeinen Staatslehren etc., auch die hinter den Kommentaren zu einschlägigen Verfassungsnormen verborgenen Parlamentarismustheorien systematisch herauszufiltern. Da die einschlägige verfassungsrechtliche Literatur seit Beginn dieses Jahrhunderts mit einbezogen wurde, fällt u. a. die Kontinuität des Verfassungsdenkens von der konstitutionellen Monarchie bis zum parlamentarischen System der BRD auf. Darüber hinaus sollte versucht werden: 1. die theoretischen und praktischen Unzulänglichkeiten des im deutschen Verfassungsdenken fast durchgängig nachweisbaren, wenn auch in seinen politischen Konsequenzen überwiegend abgelehnten, aus dem Volkssouveränitätsprinzip stufenweise deduzierten „reinen” Parlamentarismusmodells aufzuzeigen; 2. die Mäßigung und Modifizierung des reinen parlamentarischen Systems mittels tradierter, gewaltenteilender Verfassungskonstruktionen durch die gegenwärtig herrschende Lehre kritisch zu würdigen; 3.den Nachweis zu erbringen, daß weder die reine Parlamentarismustheorie noch ihre gewaltenbalancierenden Modifikationen fähig sind, eine den heutigen Erfordernissen entsprechend führungsmächtige, demokratisch legitimierte und öffentlich verantwortliche Regierungsgewalt im parlamentarischen System zu begründen. 4. Werden einige notwendige Bedingungen der politischen Handlungsfähigkeit und klaren Verantwortlichkeit der parlamentarischen Regierung zur Diskussion gestellt.
Einführung
Seit dem 27. April 1972 — dem Tag des abgeschlagenen Mißtrauensantrages der CDU/CSU-Opposition und zugleich dem Tag des Mehrheitsverlustes der SPD/FDP-Regierung im Bundestag — ist die politische Führungsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems der BRD ihrer zweiten großen Belastungsprobe ausgesetzt. Der Gleichstand im Bundestag war zwar nicht der Anlaß der vorliegenden Untersuchung über die verfassungsrechtliche und •politische Stellung der parlamentarischen Regierung im deutschen Verfassungsdenken seit Beginn dieses Jahrhunderts; die derzeitige Lage des parlamentarischen Systems des GG bietet jedoch den „besten" Anschauungsunterricht zu diesem Gegenstand. Denn die folgende kritische Darstellung der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen Verfassungsrechtsdenken versucht in ihrem Tenor nachzuweisen, daß die deutsche Verfassungstheorie fundamental unfähig ist, eine den modernen Bedingungen entsprechend führungsfähige, demokratisch legitimierte und klar verantwortliche Regierung im parlamentarischen System hervorzubringen.
In engem Zusammenhang mit dieser Kritik werden die verfassungsgeschichtlichen Gründe für das behauptete Unvermögen der deutschen (sowie der gesamten kontinental-europäischen) Verfassungstheorie herausgearbeitet: Vor allem die Ableitung der parlamentarischen Regierungsweise aus dem Revolutionsprinzip der Volkssouveränität hat die Regierung als leitendes Staatsorgan verkümmern lassen. Der Geburtsfehler des kontinentaleuropäischen Parlamentarismus ist seine ausschließliche Fixierung auf das Parlament, das Repräsentationsorgan des souveränen Volkes. Der „Wille des Volkes" ging in der französischen Revolution von 1789 und geht nach dem Lehrgrundsatz des deutschen Verfassungsrechts bis heute mit der Wahl auf die Volksvertretung über. Das Parlament wird damit zum höchsten demokratischen Verfassungsorgan erhoben und die parlamentarische Regierung zum bloßen Vollzugsausschuß der Parlamentsbeschlüsse degradiert. Dieses idealtypische, sogenannte „reine" Parlamentarismusmodell wird im ersten Abschnitt mit seinen verfassungsinstitutionellen Folgerungen kritisch gewürdigt: Dem Verfall der Regierungskompetenz entspricht der Verfall der Verantwortlichkeit für die politischen Entscheidungen. Die führungsschwachen parlamentarischen Regierungen in Frankreich von 1870 bis 1962 (dem Jahr der einschneidenden Verfassungsreform de Gaulles) und die ebenfalls führungsohnmächtigen, zerbrechlichen und häufig wechselnden parlamentarischen Regierungen der Weimarer Republik sind bekannte Beispiele für die grundsätzliche Subordination des Kabinetts in den herrschenden Parlamentarismustheorien. Das deutsche Verfassungsrechtsdenken der Nachkriegszeit zog seine Lehren aus dem Verfall der Regierung in der Weimarer Republik. Es entwickelte das sogenannte „gemäßigte" und „modifizierte" Modell parlamentarischer Regierungsweise, dem im wesentlichen das parlamentarische System des GG entspricht. In diesem Modell wird die parlamentarische Regierung gegenüber der Volksvertretung unabhängiger und stärker gemacht. Dazu werden die Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gewaltengleichgewichts betont. Doch auch dieser Konstruktionsversuch des parlamentarischen Systems der BRD hat u. E. die Führungskompetenz der Regierung nicht politisch-inhaltlich verbessern können. Die Verfassungsinstitute des GG, die die Regierung gegenüber dem Parlament stabilisieren sollen, können eine Bundesregierung zwar auch ohne parlamentarische Mehrheit im Amt halten, sie können sie aber nicht politisch handlungsfähig machen. Das sogenannte modifizierte, gleich-gewichtige Parlamentarismusmodell herrscht heute im deutschen Verfassungsrechtsdenken vor.
Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden seine Konstruktionsprinzipien kritisch durchleuchtet und auch anhand aktueller Mängel des GG seine Unzulänglichkeit herausgearbeitet, die politische Führungsfähigkeit und Verantwortungsklarheit im parlamentarischen System zu gewährleisten.
Schließlich wird in einem dritten Abschnitt versucht, einige der notwendigen Funktionsbedingungen parlamentarischer Regierungsweise aufzuzeigen, wobei nicht verheimlicht wird, daß der Verfasser sich am britischen Regierungssystem orientiert hat, dessen politi-sche Führungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit, Regierungskrisen schnell und demokratisch zu lösen, offenkundig ist.
Plädiert wird im wesentlichen für die Beseitigung des Monopols des Parlaments, das Volk zu repräsentieren, für die unmittelbare Führungslegitimierung einer parlamentarischen Regierung durch die Wählerschaft, die durch Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts zu erreichen wäre, sowie für ein uneingeschränktes parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung. Als Kehrseite des Ausbaues der Führungskompetenz der Regierung würde das Prinzip der Verantwortungsklarheit der parlamentarischen Regierung für die Gesamtstaatspolitik gestärkt werden — es könnte keine Flucht mehr aus dieser Führungsverantwortung für die Mehrheitspartei geben. Aut der anderen Seite müßten Stellung und Rechte der parlamentarischen Opposition, des entscheidenden Gegenspielers der Regierung im parlamentarischen System, ebenfalls ausgebaut werden, damit eine kritische öiientlichkeit und die Rechenschaftspflicht der Regierung weiter verstärkt werden.
Die Untersuchung beschränkt sich auf den Bereich der verfassungsrechtlichen Literatur. Auf die politikwissenschaftliche Diskussion wird also nicht eingegangen. Einige wenige Verweise auf politikwissenschaftliche Literatur sollen die Position des Verfassers nur erläutern und stützen helfen.
I. Der reine Parlamentarismus
Das britische Modell des parlamentarischen Systems und der deutsche „Gattungsbegriff“
Das deutsche Verfassungsrechtsdenken lehnt ein allgemeinverbindliches Modell des parlamentarischen Regierungssystems grundsätzlich ab. In der sogenannten „herrschenden Lehre" des Verfassungsrechts werden vielmehr „verschiedene Erscheinungsformen" 1) und Typen (D . parlamentarischer Regierungsweise aufgefächert. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zum Verständnis des parlamentarischen Regierungssystems in seinem angelsächsischen Mutterland. Dort setzte sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts Verfassungskonsensus darüber durch, daß die Hauptfunktionen des Kabinetts sind:
a. das Land verantwortlich zu regieren und b. die Parteimehrheit im Unterhaus (dem in der BRD der Bundestag entspricht) zusammenzuhalten und anzuführen
Beide Führungsaufgaben der Regierung scheinen der britischen Verfassungstheorie für das Funktionieren parlamentarischer Regierungsweise unteilbar. Den Abgeordneten der Mehrheitsfraktion kommt damit als eine wesentliche Funktion zu, durch ihre parlamentarische Gefolgschaft bei Abstimmungen über Gesetzesvorlagen und Anträgen der Regierung die Handlungsfähigkeit ihrer Parteiführer in der Regierung zu sichern. Das gilt vor allem gegenüber der parlamentarischen Minderheitsfraktion, „Her Majesty's most loyal Opposition“, die im Hinblick auf die nächste Parlamentswahl bemüht ist, die Regierungspolitik im Parlament und in der Öffentlichkeit permanent der Kritik zu unterziehen.
Dieses System wird durch das Zweiparteiensystem und das relative Mehrheitswahlrecht in Großbritannien entscheidend begünstigt, das in der Regel dazu führt, daß 1. eine Partei die Mehrheit und die andere Partei die Minderheit der Parlamentssitze besitzt, und daß 2. die siegreiche Parteiführung unmittelbar durch das Wählervotum zur Regierung und die geschlagene zur Opposition berufen werden. Verliert eine Regierung bei einer politisch bedeutsamen Frage ihre parlamentarische Mehrheit, ist sie führungsunfähig geworden und muß — nach'ungeschriebener britischer Verfassungskonvention — zurücktreten oder aber ihr Recht zur Auflösung des Unterhauses anwenden und Neuwahlen ausschreiben. Dann hat die Wählerschaft die alleinige Entscheidungskompetenz, entweder die bisherige Opposition oder erneut die alte Regierung ins Regierungsamt auf Zeit zu berufen. Die britischen Wähler üben über die Wahl von Abgeordneten hinaus also im Grunde ein Personalplebiszit für den Premierministerkandidaten und seine Ministermannschaft aus. Diese unmittelbare demokratische Berufung der parlamentarischen Regierung ist das Fundament ihrer umfassenden Führungskompetenz über den Beamtenapparat einerseits und über die Unterhausmehrheit andererseits.
Da es — wie schon ausgeführt — im britischen System in der Regel eine Einparteienregierung gibt, kann das Scheitern einer britischen Regierung folglich nicht im Zerfall von Regierungskoalitionen liegen, wie z. B. in der BRD 1966, als die CDU/CSU-FDP-Koalition zerbrach und Bundeskanzler Erhard nach einigem Zögern zurücktrat. Auch ein parlamentarisches Patt, wie es sich am 27. April 1972 im Bonner Bundestag ergab, wäre in Großbritannien äußerst unwahrscheinlich. Wenn es allerdings einmal einträte, könnte es durch die Auflösung des Unterhauses durch den amtierenden Premierminister rasch überwunden werden, da er — im Unterschied zum deutschen Bundeskanzler — nicht fürchten muß, daß sein prinzipiell uneingeschränktes Auflösungsrecht vom Parlament unterlaufen und die Wählerschaft somit ausgeschaltet werden könnte. Solange aber das Patt im Parlament andauert, ist nicht nur die Regierung, sondern die Führungsfähigkeit des politischen Systems insgesamt geschwächt.
Auch das britische System ist gegen Regierungskrisen nicht endgültig gefeit, es ist aber fähig, solche Krisen relativ schnell zu überwinden und wieder klare regierungsfähige Mehrheiten zustande zu bringen.
Die englischen Bezeichnungen verdeutlichen dieses britische Modell parlamentarischer Regierungsweise, das die Partei regierung und gerade nicht das Parlament — wie auf dem europäischen Kontinent vorherrschend — entschieden ins Zentrum des politischen Systems stellt. Der Ausdruck „Parliamentary Government" ist dementsprechend durchaus ungebräuchlich, vielmehr spricht man in auswechselbaren sinngleichen Wendungen von „Party Government", „Cabinet Government", „Responsible Government" und neuerdings auch vom „Primeminister Government", wenn das parlamentarische Regierungssystem gemeint ist.
Wenn dagegen in der deutschen Verfassungstheorie von „Parlamentarismus" oder „parlamentarischem Regierungssystem" oder auch einfach „parlamentarischer Demokratie" die Rede ist, wird damit kein spezifisches Regierungssystem bezeichnet, das sich an den klaren Funktionsbedingungen parlamentarischer Regierungsweise in England orientiert oder dem eine andere Vorstellung verbindlich zugrunde liegt.
In Deutschland stellt der Parlamentarismus-begriff einen ebenso vagen wie komplexen „Gattungsbegriff" dar. Als solcher umgreift er grundsätzlich die ganze Skala möglicher Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Parlament und Regierung, von der umfassenden und permanenten parlamentarischen Unterordnung der Regierung — so die französische Theorie des „Gouvernement parlementaire“ -bis zu einem ausgewogenen Gleichgewichtszustand zwischen Regierung und Parlament — so die vorherrschende Interpretation des Grundgesetzes im deutschen Verfassungsrecht
Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-version — auf die unten noch im einzelnen eingegangen wird — wird von der herrschenden Lehre im Verfassungsrecht vielfach aus verfassungspolitischen Gründen bevorzugt In ihr kann sich die parlamentarische Regierung aus der Subordination unter das Parlament befreien und an politischer Selbständigkeit gegenüber der Volksvertretung gewinnen. Dennoch ist selbst bei den Verfechtern des Gewaltengleichgewichts zwischen Parlament und Regierung im sogenannten „echten" parlamentarischen System die „reine" Parlamentarismustheorie als Modell-ansatz durchgängig nachweisbar, wenn auch dieses „reine Modell" nachträglich zumeist logisch gebrochen, moderiert und modifiziert wird. Im folgenden soll versucht werden, das sogenannte „reine Parlamentarismusmodell“ und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien im einzelnen nachzuweisen und herauszuarbeiten. 2. Die Ableitung aus dem Prinzip der Volks-souveränität — das Erbe der Französischen Revolution Die Bezeichnungen für den Idealtyp des parlamentarischen Systems schwanken, in der Literatur finden sich synonym „reiner", „strenger", „unverfälschter", „extremer", „ursprünglicher" Parlamentarismus. Als verfassungshistorische Modelle des idealtypischen parlamentarischen Systems auf dem europäischen Kontinent gelten die französischen Revolutionsverfassungen sowie jene der III. und IV. Französischen Republik.
Anders als im monarchischen England stand in der Französischen Revolution an der Wiege des parlamentarischen Regierungssystems das Prinzip der Volkssouveränität Dieser „Geburtsfehler" wurde mit der Ausbreitung der Revolutionsprinzipien vom kontinentaleuropäischen Verfassungsdenken übernommen.
Das folgenschwere Ergebnis war, daß die Regierung zur Funktion des Parlaments wurde, das als unmittelbare Vertretungskörperschaft des souveränen Volkes die unumstrittene Herrschaft über alle Staatsorgane gewann. Somit konnte in der französischen Theorie des „Gouvernement parlementaire", oder noch treffender „Gouvernement de 1'Assemblee" der Ministerrat zu einem bloßen Vollzugsaus7
Die grundlegende Forderung der Revolution nach der souveränen Gewalt des Volkes wurde von der französischen Verfassungstheorie umgedeutet souveräne alsbald in die Gewalt der Volksvertretung, der „Assemblee Nationale". Rousseaus Postulat von der Selbstregierung des Volkes wurde durch die Fiktion der Willensidentität von Volksvertretung und Volk aufrechterhalten schuß der Nationalversammlung herabgedrückt werden
Eng orientiert an der französischen Parlamentarismustheorie leitet auch die deutsche Verfassungstheorie das reine parlamentarische System aus dem Volkssouveränitätsprinzip ab und setzt das Parlament zum allein legitimen Sachwalter des souveränen Volkes ein So behauptet z. B. Th. Maunz verfassungshistorisch unbegründet: „Volkssouveränität und parlamentarische Regierungsweise sind eng miteinander verbunden" und O. Koellreut-ter sieht in dem „Übergang der Ausübung der Staatsgewalt vom König auf das Parlament... die Verwirklichung des demokratischen Prinzips, der Volksherrschaft" Auch der sonst eher konservative E. Forsthoff, ein Schüler Carl Schmitts, beschwört bei einer kritischen Würdigung des parlamentarischen Regierungssystems in der BRD das Rousseau'sche Postulat der „Identität von Regierenden und Regierten" Also erscheint der reine Parlamentarismus geradezu als die zwingende Konsequenz des demokratischen Gedankens: „Das parlamentarische System wird ... gerechtfertigt durch die Behauptung, daß es die reinste Form der Verwirklichung des Gedankens der Demokratie, der Volksherrschaft im großräumigen Staat sei..." H. Nawiasky spricht plastisch von einer „dreistufigen Pyramide" der Willensübertragung: Das souveräne Volk stellt die Legitimationsbasis dar, es delegiert seine souveräne Macht an die Volksvertretung, die den Willen des Volkes „in verkleinertem Maßstabe darstellt"; die Volksvertretung wiederum bedient sich der Regierung als technische „Vollzieherin des Willens des Volkes, bzw.seiner Vertretung." Dieses Delegationsschema, das zur Suprematie des Parlaments führt, findet sich auch bei Th. Maunz: „Im Staatssystem mit Volkssouveränität und Parlamentarismus besitzt das Volk die Gewalt, das Parlament zu wählen. Das Parlament hat die Gewalt. . .den Regierungschef oder die ganze Regierung zu wählen ... Eine Tendenz zur Erlangung eines Übergewichts (der sogenannten Suprematie) des Parlaments über die Exekutive ist unverkennbar... Die Ent-scheidung über die Machtverteilung fällt daher im parlamentarischen System weithin zugunsten des Parlaments." 3. Suprematie des Parlaments — Subordination der parlamentarischen Regierung Als Kennzeichen des reinen, idealtypischen parlamentarischen Systems lassen sich in der deutschen Verfassungstheorie demgemäß 1. die Suprematie des Parlaments und 2. die prinzipielle und umfassende Subordination der Regierung unter das Parlament feststellen.
Durch die Wahlen demokratisch legitimiert, gilt das Parlament allein als Verkörperung des Volkswillens. Es soll nach der Theorie die entscheidende politische Führungsinstanz im parlamentarischen Regierungssystem sein Gegenüber dieser omnipotenten Volksvertretung kann die parlamentarische Regierung keine eigene demokratische Legitimation geltend machen Ihre Amtsautorität ist also nur sekundär, vom Parlament abgeleitet. Deshalb erscheint die Regierung im idealtypischen parlamentarischen System nur als ausführendes Organ der Beschlüsse der jeweiligen Parlamentsmehrheit ohne eigene politische Handlungspotenz Als „Vollzugsausschuß der jeweiligen Parlamentsmehrheit" ist sie in Bestand und Tätigkeit vom Parlament abhängig und seinem Willen prinzipiell und permanent „unterworfen" Positiv besteht die Funktion der Regierung dann nur noch darin, den Ver-waltungsapparat so zu leiten und zu überwachen, daß die Entscheidungen des Parlaments ungeschmälert und unverfälscht in die reinen Tat umgesetzt werden Im Parlamentarismus hat also die Regierung als Staatsleitungsorgan keine eigene Substanz, diese ist von der Volksvertretung aufgesogen. Alle politische Macht ist damit in einem Organ konzentriert Deshalb wird das reine parlamentarische System von seinen Kritikern auch als ein „Parlamentsabsolutismus" bezeichnet, da das Parlament die Regierung „vollkommen beherrscht und selbst keiner Kontrolle durch andere Staatsorgane unterliegt" 4. Das Parlament als repräsentatives und als plebiszitäres Verfassungorgan Wir haben oben das dreistufige System der Willensübertragung (souveränes Volk — Parlament — Regierung) im deutschen Verfassungsdenken nachgewiesen, durch welche 1. die Fiktion der Selbstregierung des Volkes im parlamentarischen System erhalten und 2. die prinzipielle politische Subalternität der Regierung begründet wird.
Soweit herrscht Einigkeit in der gegenwärtigen Theorie des reinen Parlamentarismus. In bezug auf das Verhältnis zwischen dem souveränen Volk und der Volksvertretung gibt es im deutschen Verfassungsdenken jedoch zwei Antworten auf die Frage, wie eng denn die Beziehungen zwischen dem Volk und seinem Sachwalter gestaltet sein sollten. a) Die plebiszitäre Parlamentarismustheorie Die plebiszitäre Schule in der deutschen Verfassungstheorie will gegenüber dem Anspruch der Selbstregierung des Volkes weniger Fiktion sein als die repräsentative Theorie, welche als „undemokratisch" abgelehnt wird
Dementsprechend versucht sie, dem souveränen Volkswillen konkret zum Durchbruch in der Bestimmung der Staatspolitik zu verhelfen Die Forderung nach tatsächlicher Volksregierung richtet sich 1. auf den Charakter der Parlamentswahlen. Diese sollen stärker „gesellschaftlich-plebiszitären Abstimmungscharakter" erhalten und zu konkreten Entscheidungen über politisch-programmatische Sachfragen und nicht „nur" zur Berufung bestimmter Personen führen: „Die Wahl politischer Führer wäre keine demokratische Sachentscheidung."
Die Hauptfunktion der Wahl wird es folglich, die vielfältig differenzierten, ja, konträren Willensbekundungen und Wünsche des Volkes im Parlament in verkleinertem Abbild zum Ausdruck zu bringen, damit der Wille des Volkes für die Politik bestimmend sei.
Unter diesem Anspruch erscheint dann die uneingeschränkte Verhältniswahl „gerechter“ und „demokratischer" als das relative Mehrheitswahlrecht 2. soll durch kontinuierliche Willensbildungsprozesse von unten nach oben sowie durch Rückkoppelungsprozesse, in denen die politischen Amtsträger die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrem Tun zu überprüfen haben, sichergestellt werden, daß das Parlament und tie in ihrem Handeln ständig eng am Volkswillen orientiert bleiben und sich mit ihren Entscheidungen nicht verselbständigen können. In diesem Willensbildungsprozeß kommt den öffentlichen Meinungsmedien, Presse, Rundfunk, Fernsehen, eine bedeutende Vermittlerrolle zu
Als Ideal erscheint hier die Regierung des „Plebiscite de tous les jours" (sinngemäß: Der tagtäglich zu kontrollierenden Übereinstimmung zwischen dem Willen des Volkes und jenem der Regierung). Eine verfassungsinstitutionelle Konsequenz dafür wäre das von den Bürgern jederzeit aufkündbare, imperative Mandat für die Abgeordneten des Parlaments, um die politische Verselbständigung von Parlament und Regierung verhindern zu können
In der plebiszitären Parlamentarismustheorie ist also schon die Volksvertretung ihrer politischen Eigenständigkeit beraubt. Zwar bleibt sie der Regierung prinzipiell übergeordnet, doch ist das Parlament seinerseits imperativ an die Willensäußerungen des sich selbst regierenden Volkssouveräns gebunden. Es soll nur ein Medium im permanenten Willensbildungsprozeß von unten nach oben, nicht selbst politisch führend, sondern nur Vollzugsorgan des Volkswillens sein.
Kritik der Fiktion einer Selbstregierung des Volkes:
Der Verlust der Regierungsfunktion Die plebiszitäre Parlamentarismustheorie stellt den kontinuierlichen Willensbildungsprozeß von „unten nach oben" ins Zentrum ihres Demokratieverständnisses und fordert demgemäß die ständige Willensübereinstimmung zwischen den Regierenden und den Regierten. Sie übersieht damit grundlegend, daß der so-genannte „Volkswille" keineswegs eine reale Gegebenheit ist sondern daß in der Wirk-lichkeit eines freien Gemeinwesens eine Fülle divergierender, ja, entgegengesetzter Meinungen zu denselben Gegenständen und in derselben Zeit bestehen, die das ständige Integrationsbemühen der politischen Führungsgruppen, insbesondere in den Parteien erfordert.
Gerade insoweit, als sie möglichst breite Kreise der Bevölkerung auf ihre politischen Konzeptionen verpflichten können, erfüllen die politischen Parteien eine bedeutende Aufgabe für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese Zustimmung der Bürger ist in einem freien Gemeinwesen nicht gewaltsam zu erzwingen. Sie in wechselnden politischen Lagen immer neu zu vermitteln und freiwillig herzustellen, stellt die eigentliche Führungsleistung der politischen „opinion leaders" dar. Den „allgemeinen Willen“ a priori gibt es also in der politischen Realität nicht, die Forderung nach der Verbindlichkeit des „Plebiscite de tous les jours" für die Staatsführung ist damit irreal, ein Phantasiegespinst. Die angebliche „Einheit des Volkswillens“ hat nur Bestand entweder als beliebig interpretierbare Fiktion in den Köpfen derer, die ihre eigene Politik damit bemänteln wollen oder der „Wille des Volkes“ wird demonstriert durch bloße nachträgliche Akklamationen zu vorformulierten Entscheidungen. Die Vorformulierer, mit anderen Worten die geheimen „opinion leaders", ziehen es dabei allerdings vor, sich selber nur als „Vollzieher des Volkswillens" zu bezeichnen. Der politische Mani-_________ pulation werden damit Tür und Tor geöffnet. Eine bestimmte subjektive Vorstellung vom Gemeinwohl wird „im Namen des Volkes" absolut verbindlich gemacht und nötigenfalls gewaltsam aufrecht erhalten theoretisch gerechtfertigt durch den angeblichen „Willen des Volkes". Unter dem „Deckmantel" der Volks-regierung kann folglich die massivste und weitreichendste politische Macht ausgeübt werden, ohne daß die eigentlich Herrschenden (als angebliche „Vollzieher") dafür öffentlich verantwortlich gemacht werdep können.
Es mag absurd erscheinen, aber das Regime einer sogenannten „Volksdemokratie" verfügt aufgrund der Identitätsfiktion von Regierenden und Regierten in der Theorie über keine eigene politische Führungskompetenz, sondern gilt nur als Vollzieherin des souveränen Volkswillens. Wo aber nicht selbständig gehandelt, sondern streng genommen nur gehorcht wird, gibt es für die Regierung keine Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung mehr
So bleibt als Ergebnis festzustellen, daß das Moment des Regierens, der Staatsführung, in der plebiszitären Parlamentarismustheorie im Grunde überhaupt keinen Platz hat. Echte politische Führung muß demgegenüber u. E. ausgehen von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten. Dem Wesen der Regierung eines freiheitlichen Staates entspricht dann 1. eine ihr von den Bürgern periodisch durch Wahl zu übertragende und wieder zu nehmende selbständige politische Entscheidungskompetenz und als deren Kehrseite 2. das Prinzip öffentlicher Rechenschaftspflich-tigkeit für das Handeln der Regierung gegenüber dem demokratischen Auftraggeber, dem Volk
Diese beiden Prinzipien a) der Regierungskompetenz und b) der ihr korrespondierenden Verantwortlichkeit kennt die plebiszitäre Parlamentarismustheorie nicht. b) Die repräsentative Parlamentarismustheorie Auch diese Theorie leitet Aufgaben und Stellung von Parlament und Regierung aus der Volkssouveränitätsdoktrin in Form einer dreistufigen Pyramide ab. Sie fordert jedoch im Unterschied zur plebiszitären Theorie nicht die ständige Willensübereinstimmung zwischen Parlament und Volk. In seinem politischen Handeln ist das Parlament prinzipiell nicht mehr an die Wählermeinung gebunden, es gilt in der Theorie als betont unabhängige, „repräsentative" Körperschaft. Für die Volksvertreter wird demgemäß das ungebundene Mandat beansprucht
Im Wahlakt hat sich das Volk seiner Selbstregierungsrechte entäußert. Seine politische Herrschaftsgewalt ist damit substantiell auf die Volksvertretung übergegangen, Das Parlament wird also zum vorherrschenden Macht-Zentrum im parlamentarischen Regierungssystem, es soll alle wesentlichen Staatsführungsfunktionen unmittelbar und in eigener Verantwortung wahrnehmen Kritik der Parlamentsherrschatt Die repräsentative Parlamentarismustheorie hat die Vorstellung, daß eine 500köpfige Versammlung unabhängiger, gutwilliger, gemeinwohlverpflichteter, einsichtiger Volksvertreter in der Lage sei, staatsleitende Entscheidungen durch öffentliche Plenumsdiskussionen zu fällen.
Das Prinzip der öffentlichen Diskussion ist sicherlich für einen freien Staat von grundlegender Bedeutung, es ist aber kaum geeignet, Regierungsentscheidungen herbeizuführen. Die öffentliche Parlamentsdebatte hat ihre wesentlichen Aufgaben vielmehr darin.
1.der parlamentarischen Opposition die Möglichkeit zu geben, die Regierungspolitik vor aller Augen zu kritisieren, auf deren Unzulänglichkeiten hinzuweisen und eigene Gegenkonzepte zu entwickeln sowie 2.der Regierung die Möglichkeit zu geben, ihre Politik im Lande bekanntzumachen, zu begründen und gegen Angriffe der Opposition zu verteidigen.
Wenn das Parlament als öffentliches Forum der Nation diese Aufgaben erfüllt, leistet es viel für die Transparenz der Regierungstätigkeit. Von ihm zu verlangen, in öffentlicher Debatte ständig Entscheidungsprozesse selbst zu vollziehen, ist illusionär und sogar gefährlich. Illusionär ist sie schon deshalb, weil naturgemäß immer nur ein kleiner Kreis von Personen, nicht aber ein 500köpfiges Gremium regieren kann Die Vorbereitungen von setzen natürlich immer die Diskussion mit den potentiell Betroffenen voraus. Nur wird die Entscheidung selbst aus guten Gründen in der Vertraulichkeit kleiner Gremien, seien es parlamentarische und fraktionelle Ausschüsse oder das Kabinett, getroffen. Das gilt insbesondere für die Vorbereitung außenpolitischer Entscheidungen. Die Forderung nach öffentlicher Entscheidungsfindung kann insofern gefährliche Konsequenzen haben, weil 1. auf diese Weise integrierende Entscheidungen überhaupt unmöglich gemacht werden und weil 2. damit Maßstäbe zur Beurteilung parlamentarischer Tätigkeiten geschaffen werden, die zu einem Verdammungsurteil des Parlaments als Verfassungsinstitution führen müssen, da weder die „Öffentlichkeit des Raisonnements" noch die des Entscheidungsprozesses in der Plenumsarbeit Realitätsgehalt haben bzw. in der Verfassungsgeschichte jemals hatten.
Die Prinzipien der Diskussion und der Öffentlichkeit definierten in der Geschichte der Parlamente wohl kaum jemals ausschließlich das Selbstverständnis einer Volksvertretung.
Dennoch hat Carl Schmitt, einer der bekanntesten Verfassungsjuristen der Weimarer Republik und Gegner des repräsentativen Parlamentarismus, diese beiden Prinzipien willkürlich und vorsätzlich an den Reichstag der Weimarer Republik herangetragen, um seinen Verfall, — einerseits zu einer bloßen „Schwatzbude'', andererseits zu einem korrupten „Geheimzirkel" — feststellen und darüber hinaus die parlamentarische Regierungsweise schlechthin für historisch überholt ausgeben zu können Seine Verfassungslehre begünstigte damit den autoritären Führerstaat. Vielleicht hallt in der auch heute noch feststellbaren Parlamentsverdrossenheit etwas von diesem großangelegten systematischen Diffamierungsversuch des parlamentarischen Systems nach
Auch gegenüber der Forderung nach öffentlicher Verantwortlichkeit politischer Führung gegenüber der Gesamtbürgerschaft hält die repräsentative Parlamentarismustheorie nicht stand. Wie soll denn diese mehrhundertköpfige Versammlung von Abgeordneten praktisch zur Rechenschaft gezogen werden? Das wäre grundsätzlich nur für den einzelnen Abgeordneten in dem jeweiligen Wahlkreis durch die jeweilige Wahlkreisbürgerschaft möglich. (Nach dem gegenwärtigen personalisierten Verhältniswahlrecht der BRD werden aber nur die Hälfte aller Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis direkt gewählt, die zweite Hälfte über die Landeslisten der Parteien nach deren Zweitstimmenquoten nachgeschoben.) Eine Rechenschaftspflicht der ganzen Versammlung bzw. ihrer Mehrheit gegenüber der Gesamtbürgerschaft, die über Amts-gewinnung bzw. -erhaltung oder Amtsverlust der führenden Mehrheit des Parlaments zu entscheiden hätte, läßt sich dagegen praktisch nicht realisieren.
Nun beinhaltet die repräsentative Parlamentarismustheorie nicht nur die Herrschaft des Parlaments. Sie verlangt auch, daß die Abgeordneten der Volksvertretung das differenzierte Willensspektrum des Volkes in verkleinertem Abbild widerspiegeln. Eine solche quasi „politische Landkarte" im Parlament wird am ehesten durch das Verhältniswahlrecht erzielt, das auch in der repräsentativen Parlamentarismustheorie durchgängig als die „konsequente Anwendung des demokratischen Gedankens" (Th. Maunz) erscheint Dem rela-tiven Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster werden dagegen „aristokratische Züge" (Th. Maunz) und Ungerechtigkeiten unterstellt. In den demokratietheoretischen Voraussetzungen der Verhältniswahl liegt aber — wie oben dargelegt wurde — die Vorstellung, daß die Wähler die Abgeordneten ihrer Parteien daran messen können, wie weit sie ihren politischen Willen, bzw. ihre spezifischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen in die Beschlüsse des Parlaments einge-bracht haben.
Mit dem Hinweis auf das repräsentative Mandat ist dieses Drängen der Wählerschaft einer Partei auf spezifische Interessenvertretung wohl kaum wirksam abzuwehren, es sei denn, die Partei verzichtete auf diese Wähler. Das kann schwerlich von einer Partei verlangt werden. Die Folge ist vielmehr, daß die Ausbildung von Parteien, die jeweils nur ein relativ enges ökonomisches oder ideelles Bevölkerungsinteresse oder einen Berufsstand vertreten, sogenannte homogene „Interessenparteien", durch die Verhältniswahl tendenziell gefördert wird. Andererseits bedeutet das auch, daß die Entwicklung zur imperativen plebiszitären Aushöhlung des repräsentativen Parlamentarismus unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts ein ständiges drohendes Problem ist
Als Ergebnis bleibt also festzuhalten, daß der Repräsentationsgedanke die Rousseau’sche Theorie von der Identität von Regierenden und Regierten zwar zurückzudrängen versucht, daß sie aber letztlich nicht überwunden werden kann. Das macht das Festhalten am Verhältniswahlsystem deutlich. Auch die repräsentative Theorie des parlamentarischen Systems bleibt — wenn auch auf einer höheren Abtraktionsebene — von der Vorstellung des regierenden Volkswillens gefangen. im reinen parlamentarischen System
5. Die institutionelle Unterordnung der Regierung
Die aus dem Volkssouveränitätsprinzip abgeleitete reine Parlamentarismustheorie brachte die Regierung als Staatsorgan in die prinzipielle Abhängigkeit von der Volksvertretung, sie wurde zu einem politisch handlungsinkompetenten Vollzugsausschuß des Parlaments, In den folgenden Abschnitten sollen nun die verschiedenen verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen der Regierung und dem Parlament im einzelnen untersucht werden, wie sie sich als Konsequenz des reinen Parlamentarismusmodells ergeben. Es handelt sich dabei um folgende Verfassungseinrichtungen: Das parlamentarische Mißtrauensvotum, durch das die Regierung zum Rücktritt gezwungen werden kann; die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und ihre Konsequenzen; das Recht zur Gesetzesinitiative durch das Parlament und die Regierung; das mögliche Recht der Regierung zur Auflösung des Parlaments und das Parlamentswahlrecht. a) Parlamentarisches Mißtrauensvotum und ministerielle Einzelverantwortlichkeit DieAbhängigkeit derRegierung vom Parlament findet ihren verfassungsinstitutionellen Niederschlag in dem Recht der Volksvertreter, die Regierung zu stürzen, wenn die Regierungspolitik nicht mehr von der Mehrheit der Abgeordneten unterstützt wird. Das parlamentarische Mißtrauensvotum wird deshalb als das „typische Instrument des parlamentarischen Systems" bezeichnet
Das parlamentarische Mißtrauensvotum gilt als streng durchgeführt, wenn 1. die Regierung sich dem Mißtrauensurteil des Parlaments nicht mit verfassungsrechtlichen Mitteln entziehen kann. Jederzeit sollen der Regierungschef und jeder einzelne Minister vom Parlament abgewählt werden können, wenn die Volksvertreter mit der Gesamt-politik oder der jeweiligen Ressortpolitik oder seiner Person nicht mehr einverstanden sindund das betreffende Regierungsmitglied den Wünschen der Abgeordneten nicht nachgibt.
Jeder einzelne Minister muß also bemüht sein, sich auf „seine" parlamentarische Mehrheit stützen zu können, das Kabinett oder der Regierungschef können ihm gegen das parlamentarische Mißfallen kaum wirksamen Schutz gewähren. Es liegt auf der Hand, daß sich unter diesen Bedingungen keine Solidarität im Kabinett, kein kollegialer, auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Hilfe basierender Führungsstil der Regierung entwickeln kann. Eine Verantwortung des Kabinetts als Ganzem hat angesichts der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit keine Basis. Hinter diesem Prinzip der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit steht die Vorstellung, daß die Minister nur die Delegierten ihrer Parlamentsfraktion im Kabinett seien
Konsequent angewendet wird das parlamentarische Mißtrauensvortum, wenn 2.der Mißtrauensantrag des Parlaments keinen verfassungsrechtlichen Einschränkungen unterliegt
Das bedeutet, a) daß die Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments für die Entscheidung ausreicht, es also keiner z. B. 2/3 Mehrheit für das Mißtrauensvotum bedarf und b) daß nicht nur die ganze Regierungsmannschaft, sondern auch jeder einzelne Minister zum Rücktritt gezwungen werden kann und c) daß die Volksvertreter nicht von der Verfassung genötigt werden, mit der Abwahl von Regierungsmitgliedern zugleich auch die Nachfolger für diese Regierungsämter zu ernennen.
Dadurch wird deutlich, daß das sogenannte „konstruktive Mißtrauensvotum“ des Artikels 67 des GG eine erhebliche Einschränkung bzw. Modifizierung des parlamentarischen Systems ist Seine Beschränkung besteht in zweifacher Hinsicht: Einmal wird die Abwahl des bisherigen Regierungschefs mit der Wahl seines Nachfolgers zwingend gekoppelt, zum anderen ist das parlamentarische Mißtrauensvotum des Grundgesetzes auf den Regierungschef, den Bundeskanzler, beschränkt, die Minister sind dem Zugriff des Parlaments zumindest verfassungsrechtlich entzogen, einzelne Minister können also vom Bundestag nicht gestürzt werden Die Minister gründen ihre Berufung ins Amt vielmehr in erster Linie und verfassungsrechtlich ausschließlich auf das Vertrauen und den Vorschlag des Bundeskanzlers. Wenn allerdings dem Bundeskanzler das Mißtrauen von der gesetzlichen Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages ausgesprochen wird, endet automatisch die Amtszeit aller seiner Minister und Parlamentarischer Staatssekretäre. Der neue Bundeskanzler hat dann bei der Berufung von Ministern laut Artikel 64, I GG verfassungsrechtlich freie Hand b) Entartungen des parlamentarischen Systems: Gesetzesinitiative und parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung
Eine eigenständige politische Handlungsweise kommt der Regierung in der reinen Parlamen-tarismustheorie nicht zu. Die politische Stärkung der Regierung unter den Bedingungen des modernen Sozial-und Verwaltungsstaates und ihre Dominanz bei der Einbringung von Gesetzentwürfen im Parlament erscheinen demgemäß als „Posten auf der Minusseite der demokratischen Bilanz" (E. Forsthoff), als autoritäre Züge im parlamentarischen Regierungssystem oder gar als die „völlige Umkehrung" seiner eigentlichen Prinzipien Die vorn geschilderte Machthäufung und politische Führungspotenz beim britischen Premierminister und seinem Kabinett, die in der Regel die unbestrittenen Führer der Unterhausmehrheit sind, kann die deutsche Parlamentarismus-theorie folglich nur als oligarchische Entartung des idealtypischen parlamentarischen Systems werten. Ein wichtiges Führungsmittel des britischen Premierministers ist sein Auflösungsrecht des Unterhauses, mit dem er unter Umständen widerspenstige Abgeordnete zu disziplinieren und die notwendige Parlamentsmehrheit zusammenzuhalten vermag. Ein solches parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung gerät der deutschen Parlamentarismustheorie gar nicht in den Blick. Die Möglichkeit der Regierung, das Parlament zu lenken und gegebenenfalls die Wählerentscheidung über die Regierung herbeizuführen, der wohl sauberste demokratische Ausweg aus einer parlamentarischen Pattsituation, muß der reinen Parlamentarismustheorie geradezu total systemwidrig erscheinen c)
Verhältniswahl und Subordination der Regierung
Im reinen parlamentarischen System erhebt das Parlament für sich den Anspruch, das souveräne Volk ausschließlich zu repräsentieren Dieser Anspruch wird gestützt durch das Verhältniswahlrecht, hinter dem die Vorstellung von der Selbstregierung des Volkes steht und das nur auf die Projizierung der Interessen- und Willensvielfalt des Volkes in die Volksvertretung zielt Die Verhältnis-wähl bestellt also prinzipiell allein die Abgeordneten des Parlaments. Sie beruft keine Regierung ins Amt, die Frage der Regierungsbildung wird den Parlamentsabgeordneten und -fraktionen zur eigenen, freien Entscheidung überlassen. Regierungskoalitionen sind eine Frage des politisch-personellen Aushandelns Das hat zur Folge, daß die parlamentarische Regierung 1. keine eigene unmittelbare demokratische Legitimation durch Volkswahl geltend machen kann und demgemäß nicht den Rang eines Repräsentationsorganes des Volkes besitzt. Damit kann sie 2. auch keinen eigenständigen politischen Führungsauftrag im Regierungssystem für sich beanspruchen.
Zusammenfassend muß also festgestellt werden, daß die Unterordnung der parlamentarischen Regierung unter den Willen des ausschließlich demokratisch gewählten Parlaments und also unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts als einer verfassungsinstitutionellen Konsequenz der reinen Parlamentarismustheorie in der Tat ein zwingendes Demokratiegebot ist. 6. Der Verfall der Regierung unter der Weimarer Reichsverfassung als Konsequenz der deutschen Parlamentarismustheorie Die Folgerungen der reinen Parlamentarismus-theorie erfüllten sich in der Weimarer Verfassungspraxis Das Verhältniswahlrecht begünstigte die Parteienvielfalt im Reichstag der Weimarer Republik. Dadurch wurde einmal die Bildung tragfähiger Regierungsmehrheiten im Parlament erheblich erschwert. Darüber hinaus blieben die Koalitionsregierungen permanent führungsschwach und wechselten häu-fig In den nur 14 Jahren seiner Existenz von 1919 bis 1933 hat das parlamentarische System von Weimar 20 Regierungen und 14 Reichskanzler mit einer durchschnittlichen Amtsdauer von nur 8 Monaten verbraucht. Die Ausbildung einer kollektiven Verantwortlichkeit des Kabinetts hätte die Minister gegen die parlamentarischen Gruppeninteressen abschirmen und dem Kabinett einen größeren politischen Handlungsspielraum geben können. Diese Kabinettssolidarität, die eine wesentliche Voraussetzung für die Führungskraft einer parlamentarischen Regierung ist, wurde aber durch Artikel 54 der Reichsverfassung verhindert So konnten die Fraktionen, die die labilen Regierungskoalitionen trugen, mißtrauisch darüber wachen, daß „ihre" Minister permanent an die programmatischen Richtlinien und politischen Entschließungen ihrer Parteien gebunden blieben.
„Das lähmt und hemmt sie in ihrer Amtsführung und kann sie fast zu einem imperativ gebundenen Mandataren ihrer Fraktion machen ..."
Erhellend für die Übernahme der reinen Parlamentarismustheorie in der Weimarer Reichsverfassung war auch die parlamentarische Praxis, daß nicht die führenden Politiker ihrer Fraktionen in die Regierung eintraten, sondern nur Politiker zweiten Ranges in die Koalitionsregierungen entsandt wurden. Auf diese Weise wurde die Subordination der Regierung unter die Parlamentsfraktionen betont und die politische Autoritätslosigkeit des Kabinetts auch personell gewährleistet, eine Praxis, die der britischen parlamentarischen Regierungsweise geradezu entgegengesetzt ist. 7. Schlußfolgerung: Der Verlust des politischen Verantwortlichkeitsprinzips In dem parlamentarischen System von Weimar wurde die Regierungspolitik also praktisch in den Fraktionsführungen entschieden. Vor der Öffentlichkeit hatte sie jedoch die parlamentarische Regierung selber zu begründen und zu verteidigen, ohne daß sie darüber entscheidungskompetent war und ohne daß sie folglich eigene politische Verantwortung dafür trug Die eigentlich Regierenden und damit Verantwortlichen aber blieben in der Anonymität parlamentarischer Institutionen.
So bleibt also festzuhalten, daß die deutsche Parlamentarismustheorie die Problematik und die Bedeutung politischer Verantwortlichkeit im Regierungssystem verschüttet hat. Das Prinzip der Verantwortlichkeit in der Politik, das „Responsible Government" des britischen Verfassungsdenkens, ging dem deutschen Verfassungsdenken dadurch verloren, daß es offenbar unfähig war und ist, die theoretische Konzeption für eine führungskompetente parlamentarische Regierung zu entwickeln, die einerseits echte politische Verantwortung tra gen und andererseits von der Gesamtbürgerschaft politisch zur Verantwortung gezogen werden kann.
II. Das gewaltenbalancierende parlamentarische System
Die Theorie des gewaltenteilenden Parlamentarismus versucht, den verfassungsinstitutionellen und -politischen Konsequenzen des soeben kritisch herausgearbeiteten reinen parlamentarischen Systems zu entgehen 1). Sie tritt vornehmlich aus verfassungspolitischen Gründen vor allem für eine Stärkung und eine größere institutionelle Selbständigkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung im parlamentarischen Regierungssystem ein 2).
Der gewaltenbalancierende Parlamentarismus gilt heute als die sogenannte „herrschende Lehre" im deutschen Verfassungsrecht. Dennoch ist diese Theorie des Gleichgewichts zwischen Regierung und Parlament immer nur eine nachträgliche Modifikation oder noch genauer gesagt: eine nachträgliche Korrektur des reinen Parlamentarismus mit seiner absoluten Parlamentssuprematie und seiner Regierungssubordination. Diese Behauptung bestätigt sich bereits, wenn man die Grundgesetzkommentare zu den Artikeln des GG anschaut, die der Bundesregierung eine größere verfassungsrechtliche Selbständigkeit gegenüber dem Bundestag verschaffen sollen 3). Dort wird unter anderem von „Mäßigungen", „Beschränkungen", von „Drosselung" und „Modifikation" und schließlich von „Verbesserungen“ des parlamentarischen Regierungssystems durch diese Verfassungsbestimmungen gesprochen 4). 1. Die Aufpfropfung des Gewaltenteilungsprinzips auf die reine Parlamentarismustheorie a) Der veriassungsgeschichtliche Ort der Gewaltenteilung Die Theorie vom gewaltenbalancierenden parlamentarischen System verfolgt zwei Ziele: will sie die Parlamentsherrsch Dort wird unter anderem von „Mäßigungen", „Beschränkungen", von „Drosselung" und „Modifikation" und schließlich von „Verbesserungen“ des parlamentarischen Regierungssystems durch diese Verfassungsbestimmungen gesprochen 1. Die Aufpfropfung des Gewaltenteilungsprinzips auf die reine Parlamentarismustheorie a) Der veriassungsgeschichtliche Ort der Gewaltenteilung Die Theorie vom gewaltenbalancierenden parlamentarischen System verfolgt zwei Ziele: 1. will sie die Parlamentsherrschaft und die absolute Dominanz der Volksvertretung gegenüber der parlamentarischen Regierung einschränken und 2. will sie die, „Selbständigkeit der Regierung als das politisch leitende Exekutivorgan sicherstellen"
Zu diesem Zweck lag der Rückgriff auf den verfassungsgeschichtlich noch recht lebendigen Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung nahe. Dieser Grundsatz hat sich im Laufe vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt gegen den fürstlichen Absolutismus, die souveräne Herrschaftsgewalt des Landesherrn, in Kontinentaleuropa und in Deutschland durchgesetzt. Mit der Forderung nach Gewaltenteilung, Bürgerrechten und einer zwischen Volk und Monarch möglichst vereinbarten, geschriebenen Verfassung ging es vor allem darum, die geschichtlich vorgegebene monarchische Herrschaftsgewalt einzuschränken und Gegengewichte zu ihr zu schaffen.
Die Lehre von der Gewaltenteilung spaltet demgemäß die bislang in der Person des Monarchen vereinigte oberste Staatsgewalt in drei voneinander unabhängige „Gewalten" bzw. Staatsorgane auf, die jeweils zugleich bestimmte Staatsfunktionen wahrnehmen. Unterschieden werden also: 1. Die gesetzgebende Gewalt einschließlich der wichtigen Steuer-und Haushaltsbewilligungsrechte. Diese Funktionen werden in erster Linie dem von den Bürgern gewählten Parlament zugewiesen, wobei je nach Verfassungslage mehr-oder minderstarke Mitsprachekompetenzen des Monarchen bestehen. 2. Die extensiv zu interpretierende vollziehende des militärischen (einschl. Oberbefehls sowie der auswärtigen Gewalt), die uneingeschränkt im Besitze des Monarchen bleiben. 3. Die richterliche Gewalt, die von weisungsunabhängigen Richtern wahrgenommen wird, um in Streitfällen Recht sprechen zu können. Diese Lehre von der Dreiteilung der Staats-funktionen und Staatsorgane ist zeitgebunden. Sie ist eine politische Zwecklehre und spiegelt den erzielten Verfassungskompromiß zwischen Monarchie und Bürgertum im liberalistisch-konstitutionellen Staat des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts wider Ausgehend vom monarchischen Absolutismus ihrer Zeit konnte das politisch höchstens erreichbare Ziel der Gewaltenteilungstheorie nur sein, dem Bürgertum einen ihre Freiheit und ihr Eigentum sichernden Anteil an der Staatsgewalt neben dem Monarchen und seinem adeligen Beamten-und Offizierskorps zu verschaffen.
Deshalb übertrug man der Volksvertretung die Funktionen, allgemein verbindliche Gesetze zu beraten und zu beschließen und die Staatsfinanzen zu bewilligen, die ja Freiheitsbeschränkungen und Zahlungspflichten für die Bürger bedeuteten, und band die monarchische Regierung an diese Gesetze Mit der politisch mächtigen Realität der nicht durch Wahl legitimierten monarchischen Exekutive, deren Kompetenzen sehr weit gefaßt waren und die im übrigen eine vom Parlament und Volk streng unabhängige Existenz führte und führen konnte, fand sich die Theorie der Gewaltenteilung von vornherein ab. Die Forderung nach der demokratischen Legitimation der Regierung — entweder unmittelbar durch Volkswahl oder abgeleitet von der Volksvertretung — bleibt folglich in der liberalen Theorie der Gewaltenteilung unberücksichtigt
Die b) Verselbständigung der parlamentarischen Regierung Die gewaltenteilende Parlamentarismustheorie löst das Gewaltenteilungsschema des monar-chischen Konstitutionalismus aus seinem verfassungsgeschichtlichen Hintergrund heraus.
Sie überträgt das verselbständigte Prinzip der Unabhängigkeit zwischen Parlament und Regierung auf das reine parlamentarische System und spielt es gegen den dort herrschenden „Parlamentsabsolutismus" aus Das Gewaltenteilungsprinzip, auf das die gewalten-balancierende Theorie zurückgreift, verdrängt das parlamentarische System jedoch nicht vollständig. Sein Dreiteilungsschema wird dem reinen Parlamentarismusmodell quasi nur nachträglich aufgepfropft, um zu dem verfassungspolitisch erwünschten Effekt zu führen Dadurch kann die parlamentarische Regierung aus ihrer strengen Unterordnung unter die Volksvertretung heraus und institutionell „gleichrangig" und relativ unabhängig neben das Parlament treten 2. Das Gewaltengleichgewicht zwischen Regierung und Parlament a) Konkurrenz und wechselseitige Machtkontrolle: Mißtrauensvotum und Auflösungsrecht Die gewaltenbalancierende Theorie des parlamentarischen Systems bemüht sich, die verfassungsrechtliche Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament zu stärken. Damit gibt sie das Prinzip der politischen Homogenität zwischen der Volksvertretung und der parlamentarischen Regierung auf, das im reinen Parlamentarismus durch die unbedingte Unterordnung der Regierung unter den Willen des Parlaments garantiert wird Dagegen fordert sie, Regierung und Parlament als zwei prinzipiell gleichberechtigte und von einander unabhängige Machtträger in der Verfassung zu institutionalisieren
Dahinter steht eine Konkurrenzkonzeption, welche einerseits ein fruchtbares dualistisches Spannungsverhältnis zwischen beiden Staats-organen und andererseits ihre ständige wechselseitige Machtkontrolle bewirken will So-mit kann dann die parlamentarische Regierungsweise gar zu einem „typischen Fall von Gewaltenhemmung" in der Verfassungstheorie uminterpretiert werden
Die Gewaltenbalance realisiert sich verfassungsrechtlich vor allem in der Einschränkung des parlamentarischen Mißtrauensvotums (etwa in der Art des Artikel 67 GG) und in der Gewährung eines parlamentarischen Auflösungsrechtes an die Regierung. Auf diese Weise will die Theorie die verfassungsrechtliche und darüber hinaus die politische „Waffengleichheit" zwischen dem Parlament und der Regierung gewährleisten. „Parlamentsauflösung und Mißtrauensvotum gehören zusammen wie Kolben und Zylinder einer Maschine. Ihre potentielle Wechselseitigkeit läßt die Räder der Parlamentsmaschinerie kreisen" b) Der dualistische Ansatz bei der Interpretation des GG: Regierung ohne konstante parlamentarische Mehrheit — kein Oppositionsbegriff
Als die beiden großen Kontrahenten im Regierungssystem werden also die parlamentarische Regierung auf der einen und das Parlament als Ganzes auf der anderen Seite angesehen. Zwischen der parlamentarischen Regierung und dem Parlament bzw.seiner Mehrheitsfraktion(en) muß nach der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie folglich kein ausgeprägter, dauerhafter Zusammenhalt mehr bestehen.
Eine Einsicht dafür, daß eine parlamentarische Regierung sich auf eine konstante Mehrheit im Parlament stützen muß, um überhaupt führungsfähig sein zu können, sucht man in dieser Theorie vergeblich. Das Parlament wird grundsätzlich nur als eine eigenständige politische Handlungseinheit begriffen. Deshalb fehlt der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie nicht nur das Verständnis für die Notwendigkeit einer beständigen Regierungsmehrheit (die Parlamentsmehrheit und Kabinett umfaßt), sondern auch ein Verständnis für die spezifischen Funktionen der Opposition, der parlamentarischen Minderheit, im Regierungssystem.
Der dualistische — das Gewaltenteilungsprinzip betonende — Ansatz kommt bei der Interpretation jener GG-Artikel zum Tragen, die das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundestag bestimmen. Es geht hierbei vor allem um 1) die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Artikel 63 GG); 2) das „konstruktive Mißtrauensvotum", mit dem der Bundestag die Regierung auswech-sein kann (Artikel 67 GG); 3) das Recht des Bundeskanzlers, die Vertrauensfrage zu stellen, dessen Ablehnung von der Mehrheit der Abgeordneten ihm das Recht gibt, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen, ohne daß der Bundeskanzler sicher sein kann, daß tatsächlich aufgelöst wird (Artikel 68 GG).
In einer Reihe von GG-Kommentaren kommt demgemäß der Wahl des Bundeskanzlers durch die gesetzliche Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auch keine strukturelle Bedeutung für ein dauerhaftes und enges Vertrauensverhältnis von Parlamentsmehrheit und Regierung zu. Nur im Augenblick seiner Wahl bedarf der Regierungschef noch des Vertrauens und der aktiven Unterstützung der Mehrheitsfraktion(en). Nach der Inthronisierung des Bundeskanzlers reduziert sich die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung unter den Bedingungen des Artikels 67 GG praktisch auf ein Minimum die Mitglieder der Bundesregierung und die Mitglieder der Mehrheitsfraktion(en) im Bundestag derselben Partei bzw.denselben Parteien angehören und nach bundesdeutscher Verfassungspraxis grundsätzlich der Parteivorsitzende der siegreichen Partei bzw.des größeren Koalitionspartners von seinen Koalitionsfraktionen zum Bundeskanzler gewählt wird, bleibt weitgehend unberücksichtigt .
Eine konstante parlamentarische Regierungsgefolgschaft erscheint im parlamentarischen System des GG demzufolge für die Regierungsführung prinzipiell entbehrlich Eine Bundesregierung mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten, die sich z. B. für einen Gesetzentwurf auf eine Gelegenheitsmehrheit, für einen anderen auf eine andere stützen und sich für die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages wiederum eine Zufallsmehrheit zusammensuchen muß, da sie selbst über keine zuverlässige Mehrheit im Bundestag verfügt, widerspricht dem Systemverständnis der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie also nicht.
Eine Minderheitsregierung im parlamentarischen System des GG wird aufgrund dieser Theorie schließlich nicht nur als ein verfassungsmäßiger Behelf, als eine Übergangsregelung in einer parlamentarischen Führungskrise (z. B. durch das Zerbrechen einer Regierungskoalition wie 1966 unter Bundeskanzler Erhard), sondern als eine auch verfassungspoli-tisch mögliche Dauererscheinung dargestellt Dagegen entspricht das sogenannte „konstruktive Mißtrauensvotum" (Artikel 67 GG), das den parlamentarischen Einfluß auf die Bundesregierung in doppelter Weise reduziert, der Forderung der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie nach institutioneller Eigenständigkeit der Regierung. Seine angeblich verfassungsstabilisierende Wirkung wird dementsprechend in den Kommentaren zum Bonner Grundgesetz auch überwiegend positiv hervorgehoben c) Verfassungstechnizismus und Gewaltenverschränkungen („checks and balances“) im Grundgesetz Die Anwendung des Gewaltenteilungsschemas könnte dahin tendieren, Parlament und Regierung streng unverbunden gegeneinander zu stellen. Dieser Gefahr möchte die gewaltenbalancierende Parlamentarismustheorie durch verschiedene Gewaltenverschränkungen entgehen.
Deshalb plädiert sie über die Grundinstitute des dualistischen parlamentarischen Systems (parlamentarisches Mißtrauensvotum und Auflösungsrecht der Regierung) hinaus für ein komplexes System gegenseitiger Einwirkungsbefugnisse zwischen Parlament und Regierung. Dadurch sollen einmal das notwendige Zusammenwirken beider Staatsorgane verfassungsrechtlich gewährleistet, zugleich aber auch ihre wechselseitigen Kontrollmöglichkeiten verbessert werden „Die Träger dieser Staatsor-gane sollen sich gegenseitig kontrollieren, mäßigen, helfen.“
Der sogenannte gewaltenbalancierende Grundsatz der „checks and balances" schlägt sich im wesentlichen in folgenden Artikeln des Grundgesetzes nieder: Art. 59 (Völkerrechtliche Verträge); Art. 63 (Kanzlerwahl); Art. 67 (Parlamentarisches Mißtrauensvotum); Art. 68 (Vertrauensfrage und Bundestagsauflösung); Art. 76 (Einbringung von Gesetzesvorlagen); Art. 80 (Rechtsverordnungen); Art. 81 (Gesetzgebungsnotstand); Art. 110 (Haushaltsverabschiedung durch Bundestag und Bundesrat); Art. 111 (Ausgaben vor Verabschiedung des Etats); Art. 112 (Haushaltsüberschreitungen); Art. 113 (Zustimmung der Bundesregierung zu Gesetzen mit Ausgabenerhöhungen).
Das Verfassungsideal der gewaltenbalancierenden Theorie des parlamentarischen Systems basiert auf dem technizistischen Optimismus ihrer Wortführer, die glauben, daß klug konstruierte Verfassungsvorschriften die Arbeitsfähigkeit des Regierungssystems schon gewährleisten und die Parteienbasis für das parlamentarische System vernachlässigt werden könne.
Deutlich wird das, wenn etwa K. Löwenstein in der Art eines „Verfassungsingenieurs" die konkurrierenden Kräfte beschreibt, welche „die Räder der Parlamentsmaschinerie kreisen" lassen sollen wenn R. Redslob Parlament und Regierung mit zwei „Rennern" vergleicht, die „in gleicher Linie, Stirn an Stirn im Zaum gehalten werden" oder wenn Th. Maunz das vollkommene „kunstvolle Ausgewogensein" beider Gewalten zum Ziel der Verfassungskonstruktion erklärt d) Gewaltengleichgewicht durch Verhältniswahl und Mehrparteienparlament Es verdient ins Gedächtnis zurückgerufen zu werden, daß der heute herrschenden Lehre im Verfassungsrecht die repräsentative Parlamen-tarismustheorie zugrundeliegt, hinter der im Kern die Vorstellung von der Selbstregierung des Volkes nach wie vor besteht Schon deshalb erscheint das Verhältniswahlrecht als ein Gebot der Demokratie. Verhältniswahlsysteme begünstigen die Ausbildung von interessenhomogenen Kleinparteien und damit die Vielfalt von Fraktionen im Parlament. Das so entstehende Mehrparteienparlament (der Begriff wird hier zwecks Unterscheidung vom Zweiparteienparlament gebraucht) gewinnt nun in der Theorie des ge-waltenbalacierenden parlamentarischen Systems noch eine ganz besondere Bedeutung: Es wird zu einem wesentlichen Element im System der „checks and balances", des kunstvollen Gewaltengleichheitsgewichts zwischen dem Parlament als Ganzem und der parlamentarischen Regierung als Widerpart. Vom Mehrparteienparlament erhofft sich die Theorie einen doppelten Effekt:
Auf der einen Seite soll es der Regierung einen größeren politischen Handlungsspielraum gegenüber den Parlamentsfraktionen verschaffen; sie soll die taktische Möglichkeit erhalten, die rivalisierenden Fraktionen gegeneinander auszuspielen, um ihre Pläne leichter durchsetzen zu können.
Auf der anderen Seite soll das Mehrparteienparlament gleichzeitig verhindern, daß der Regierungschef möglicherweise als Führer der Mehrheitspartei im Parlament einen dominierenden Einfluß auf die Parlamentsentscheidungen gewinnen könnte Diese Führungspotenz des Regierungschefs ergibt sich in der Regel in einem Zweiparteiensystem bzw. Zweiparteienparlament. Die Parlamentswahl schließt hier im Grunde die direkte Berufung eines Regierungschefs ein, nämlich des Führers der einen siegreichen Partei. Auf das vorne skizzierte britische parlamentarische System, dem diese Regierungsdominanz vollauf gemäß ist, sei hier noch einmal verwiesen.
Der deutschen Theorie des gewaltenbalancierenden Systems erscheint die Dominanz der parlamentarischen Regierung in einem Zweiparteiensystem ebenso wie die Vorherrschaft des Parlaments also als ein Verstoß wider den Sinn des sogenannten „echten Parlamentarismus"
Die parlamentarische Situation von 1957 bis 1961 — nachdem Adenauer 1957 den bis heute größten Wahlerfolg bei Bundestagswahlen erzielt hatte, und die CDU/CSU trotz Verhältniswahl die absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Bundestag besaß — muß der Theorie demnach als eine ausgesprochene Systemwidrigkeit gelten. Was die gewaltenbalancierende Theorie prinzipiell zu vermeiden trachtet, trat ein: eine Partei gewann die absolute Mehrheit — allerdings gab es noch drei weitere Parteien im Bundestag: SPD, FDP und DP — und der Bundeskanzler wird praktisch durch ein Personalplebiszit der Bevölkerung gewählt, was seine Stellung gegenüber seiner Partei, seiner Bundestagsfraktion und den übrigen Regierungsmitgliedern noch verstärkte. e) Ergebnis: Keine Führungslegitimation iür die Regierung und die Gefahr des Immobilismus
Die eingehende Untersuchung der gewalten-balancierenden Theorie des parlamentarischen Systems und ihrer verfassungsinstitutionellen Konsequenzen führt uns also zu dem folgenden Ergebnis: Auch diese Theorie hat die parlamentarische Regierung als gesamtstaatsleitendes Verfassungsorgan nicht in den Vordergrund gerückt. Durch die Aufpfropfung der überkommenen Gewaltenteilungskonstruktion auf das idealtypische „reine" Parlamentarismusmodell stellt sie nur die verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit und weitgehende Unabhängigkeit der Regierung gegenüber dem Gesamtparlament her.
Auf diese Weise gewinnt die Regierung aber erstens keine eigene demokratische Führungslegitimation im politischen System; diese bleibt dem Parlament vorbehalten.
Zweitens wird dadurch ihre von der Theorie wiederholt betonte Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit höchstens formal, aber nicht inhaltlich verbessert. Das notwendige Zusammenspiel von Parlament und Regierung vor allem für die ständige Gesetzgebungstätigkeit und die alljährliche Haushaltsfeststellung in Form eines Gesetzes kann nicht durch kunstvolle „checks and balances“ sichergestellt werden.
Diese Versuche sind zu mechanistisch gedacht, um in der lebendigen politischen Auseinandersetzung praktikabel zu sein. Sie können deshalb keine Garantie gegen die Möglichkeit des politischen Immobilismus zwischen Parlament und Regierung sein.
Gerade die prinzipiell dualistische Konstruktion von Parlament und Regierung schließt den „Stellungskrieg" (G. Dahm) zwischen beiden Staatsorganen und ein politisches Patt, wie es am 27. April 1972 im modifizierten parlamentarischen System der BRD entstand, nicht aus. 3. Legitimationskritik am dualistischen parlamentarischen System a) Die obrigkeitliche Abschirmung der Regierung vom Parlament In der Konstruktion der gewaltenbalancierenden Theorie fällt auf, daß die Regierung gleichrangig und weitgehend unabhängig neben das Parlament gestellt wird, ohne daß die geforderte selbständige Handlungsfähigkeit als „politisch leitendes Exekutivorgan" (Th. Maunz) eine eigene demokratische Legitimation aufweist. Diese bleibt vielmehr wie im reinen Parlamentarismus auf das Parlament beschränkt. Der Schluß liegt nahe, daß es der dualistischen Parlamentarismustheorie um die demokratische Legitimierung der Regierungsgewalt auch im Grunde gar nicht geht.
Vor allem scheint es manchen, der Tradition der konstitutionellen Monarchie verbundenen Verfassern darauf anzukommen, die Exekutive gegen jegliche parteipolitischen Einflüsse abzuschirmen.
Die Regierung soll demzufolge nicht nur „Parteiregierung" sein, sondern Treuhänder der Gesamtinteressen und also „auch in gewisser Weise über den Parteien stehen" Dieser Vorstellung entspricht auch die Forderung nach der Unvereinbarkeit von Ministeramt und Parlamentsmitgliedschaft merkwürdigerweise „gerade im parlamentarischen Regierungssystem" sowie der Ruf nach dem parteilosen, aus der Ministerialbürokratie hervorgegangenen Fachminister Das Mißtrauen gegen den modernen pluralistischen Parteien-staat und die Klage über die angebliche, den Staat zerstörende „Herrschaft der Verbände'spiegelt eine vordemokratische und obrigkeitliche Staatsauffassung, die auf der strengen Trennung von staatlicher Hoheit und liberaler Gesellschaft beruht In dieser Staatsauffassung erhob die monarchische Exekutive mit Erfolg den Anspruch, das Gesamtstaatsinteresse zu wahren und damit praktisch auch zu bestimmen.
So konnte sie als Hüterin des „Gemeinwohls'gegenüber den vielen speziellen und „egoistischen" sozialen, wirtschaftlichen und Parteiinteressen auftreten, die in der Volksvertretung repräsentiert waren. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen gewinnt die Forderung nach möglichst strenger Gewaltenteilung einen geradezu „staatserhaltenden und disziplinierenden" Wert Sie soll das politische Einflußstreben kanalisieren und darüber hinaus das Exekutiverfordernis eines nicht politisierten, „geschlossenen, seiner staatsbezogenen Sachaufgabe verpflichteten Beamtentums" unbeschadet sichern b) Schlußfolgerungen: Die mäßigende Kraft der Gewaltenteilung als eigentliche Legitimalionsbasis vor Demokratie und Effizienz Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-theorie will die Exekutive zwar unabhängig und gleichstark neben das Parlament stellen, sie will aber keineswegs eine wirklich umfassende Machtkonzentration in der Regierung schaffen. E. Fraenkels bekannte These, die Bonner Parlamentarismustheorie sei schizophren, sie sehne sich heimlich nach einer starken Regierung und bekenne sich öffentlich zur „Herrschaft eines allmächtigen Parlaments" geht offensichtlich in zweifacher Hinsicht fehl: Die Untersuchung hat gezeigt, daß die herrschende Theorie erstens unverhüllt gegen die Parlamentsherrschaft polemisiert und zweitens keineswegs verhehlt, daß sie die tunktionale Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament herstellen will.
Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-theorie meint es ernster mit dem Prinzip der Gewaltenteilung als ihre Kritiker im allgemeinen wahr haben wollen.
Sie ist sicher konservativ, ihre Begriffe entstammen weitgehend noch dem vordemokratischen Verfassungsdenken, sie ist aber nicht „schizophren", wie Ernst Fraenkels behauptet. Die altliberale Vorstellung von der macht-mäßigenden und somit freiheitssichernden Kraft der Gewaltenteilung dominiert nach wie vor im deutschen Verfassungsdenken Das prinzipielle Mißtrauen gegen die Staatsgewalt hat die Monarchie überdauert. Demzufolge ist es das erklärte Ziel der herrschenden Parlamentarismustheorie, die „Machtergreifung" jedweder Instanz durch den verfassungsinstitutionellen Einbau ausgleichender Gegenkräfte zu verhindern Auf diese Weise glaubt sie den höchst möglichen Freiheitsspielraum für den Bürger erhalten zu können
Treffend für diesen Verfassungstechnizismus erscheint uns die Kritik Otto Küsters: „Jene Ungeschorenheit hat nicht das eigentliche große Freiheitspathos; sie hat etwas Schlaues, bürgerlich — bourgeoises, sie gleicht ... ein wenig der Sicherheit tapferen Schneiderleins, das Riesen brachte." gegeneinander
In einem kritischen Resümee lassen sich also vier Grundzüge der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie feststellen: Der altliberale Glauben, politische Freiheit durch rechtsstaatliche Gewaltenteilung sichern zu können, ist ein gefährlicher Verfassungsformalismus . Er geht an der Problematik der Freiheitssicherung im modernen Industriestaat vorbei
2) Die Verfassungstheorie richtet ihr Augenmerk vornehmlich auf die Beschränkungen und Hemmungen der Staatsmacht, nicht aber auf seine notwendige politische Handlungsfähigkeit. Dieser gewaltenhemmende Ansatz gehört also in den vordemokratischen . monarchischen Konstitutionalismus. 3) Schließlich versucht die Theorie, die Regierung dem allein demokratisch legitimierten Parlament nur mit den Mitteln des Verfassungsrechts gleichzustellen und sie zudem von ihr abzuschirmen. Diese Tendenz ist obrigkeitsstaatlich. 4) Mit der Forderung nach Trennung und Gleichgewicht der Gewalten will die Parlamentarismustheorie letztlich jede Machtkonzentration verhindern, auch wenn diese auf einem unmittelbar demokratischen, umfassenden Führungsauftrag für die Regierung nach britischem Vorbild beruhen sollte.
Das bedeutet, daß die gewaltenbalancierende Parlamentarismustheorie schließlich weder dem Grundprinzip der demokratischen Legitimation politischer Macht — durch die Abschirmung der Exekutive einerseits, durch Beschränkung der Parlamentskompetenzen andererseits — noch dem Gebot einer politisch führungseffizienten Regierung im modernen Staat gerecht wird. Beide Forderungen werden überlagert durch den überzeitlichen Eigenwert, den das Gewaltenteilungsprinzip gewinnt. Dieses stellt also am Ende die eigentliche Legitimationsbasis der gleichgewichtigen Theorie des parlamentarischen Systems dar.
III. Führungsschwächen gewaltenteilender Regierungssyteme — Bedingungen für ein handlungsmächtiges parlamentarisches System
1. Zur Notwendigkeit einer führungsfähigen Regierung im modernen Staat Die Forderung nach Parlamentarisierung der monarchischen Reichsregierung (bis 1918 galten der Kaiser und die Landesfürsten über den Bundesrat als Inhaber der Exekutivgewalt im Deutschen Reich) wurde schon 1909 von dem großen Verfassungsjuristen Georg Jellinek erhoben . Im Frühjahr 1918 wurde sie von führenden Vertretern der Staatswissenschaften in Deutschland erneuert : die Regierung sollte vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit abhängig gemacht werden. Die Minister sollten tunlichst zugleich Parlamentsmitglieder sein und politischen Einfluß in ihren Fraktionen haben. Auf diese Weise sollten die „unnötigen Reibungen und Hemmungen zwischen Regierung und Parlament", vor allem aber die gegen das Regierungshandeln gerichtete „negative Politik" (M. Weber) des Parlaments abgebaut werden. Vielmehr käme es darauf an, „feste organische Verbindungen" zwischen beiden Staatsorganen zu schaffen, die politisch am wirksamsten durch die Zugehörigkeit der Regierungsmitglieder zu den Führungskreisen der im Reichstag vertretenen Parteien zu erreichen wären. Das erklärte Ziel dieser Verbindung war schließlich die Stärkung der Regierungsgewalt dadurch, daß das Kabinett die Führungsautorität im Parlament besaß.
Dieses fundamentale Funktionserfordernis parlamentarischer Regierungsweise ist bis heute von der Verfassungstheorie weitgehend unerfüllt geblieben. Sowohl die aus dem Volkssouveränitätsprinzip stufenweise abgeleitete „reine", als auch die gewaltenbalancierende „modifizierte" Parlamentarismustheorie, sind aus ihren Ansätzen nicht in der Lage, eine wirkliche Führungskompetenz der Regierung im parlamentarischen System zu begründen. Wirkliche Führungskompetenz kann eine parlamentarische Regierung nur dann haben, wenn sie verfassungsinstitutionell und -politisch fähig ist, ihre Parlamentsmehrheit im Griff zu behalten. Der „reine" Parlamentarismus verhindert die Ausbildung einer derartigen Regierungsgewalt a priori konsequent; in ihm liegt alle Gewalt in der Volksvertretung. Die gewaltenbalancierende Lehre vom parlamentarischen System versucht zwar, die Regierung aus ihrer prinzipiellen Subordination zu lösen und ihr zu verfassungsrechtlicher Gleichrangigkeit zu verhelfen, aber auch damit kann sie keine wirkliche Führungskompetenz der parlamentarischen Regierung begründen. Diese ist auch von der Theorie gar nicht beabsichtigt.
Gegen diese Ansichten ist in jüngerer Zeit die Notwendigkeit einer handlungsmächtigen, auch im Parlament starken Regierung im Verfassungsdenken wieder stärker betont worden „Der demokratische Staat hat, zumal in der heutigen bedrohten Lage, eine starke und energische Regierungsgewalt nötig. Ihr steht in ihm die wachsame Kontrolle und die Mitwirkung der Volksvertretung zur Seite." Im Zusammenhang damit wird die dualistische Konstruktion des gewaltenbalancierenden Parlamentarismus einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Repräsentativ für diese jüngere Richtung im Verfassungsdenken mag die Feststellung Ernst Friesenhahns, eines ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, stehen, die parlamentarische Regierungsweise könne „weder nach dem Grundsatz der strengen Gewaltenteilung noch auch nur unter dem Aspekt einer Balance" verstanden und bestimmt werden a) Die positive Sicherung bürgerlicher Freiheit im Wirtschafts-und Sozialstaat Die geschilderten Versuche der deutschen Verfassungstheorie, durch tradierte, formale Gewaltenteilungskonstruktionen die freie Sphäre der Bürger garantieren zu wollen und sie ge-gen den Staat abzuschirmen, haben etwas Irreales und Illusionäres. Irreal sind sie, weil sie mit dem zeitbedingten Gewaltenteilungsschema des konstitutionellen Systems im fundamental demokratischen Staat — in dem alle staatliche Gewaltausübung sich prinzipiell auf eine demokratische Legitimation zurückführen lassen muß — weiterarbeiten.
Gefährlich illusionär sind sie überdies, weil sie glauben, daß Freiheit und Eigentum der Bürger weiterhin durch die Abschirmung der Gesellschaft gegen staatliche Eingriffe und eine möglichst schwach zu haltende Staatsgewalt am besten zu sichern wären
So hat die sich rückwärts orientierende Verfassungstheorie die moderne Staatsentwicklung in einem doppelten Sinne verschlafen. Vor allein aber verkennt sie grundlegend, daß die Sicherung politischer Freiheit im modernen Industriestaat eine Gestaltungsaulgabe ersten Ranges für die Regierung geworden ist. In dem Maße, in dem die sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Menschen wachsen, muß der moderne Staat soziale Sicherheiten für die Bürger zu schaffen bemüht sein. Die neueren Bezeichnungen des „Wirtschafts-und Sozialstaats" und des „Wohlfahrtsstaates" weisen auf diese immensen Aufgaben des Industriestaates hin, der sich in dieser Aktivität (z. B. zur Erhaltung und Regulierung des Wirtschaftspotentials und der Arbeitskraft, zum Ausbau von Alters-, Invaliden-und Krankenvorsorge, zur Schaffung von Bildungs-und Ausbildungschancen, für Raum-ordnung und Umweltschutz im weitesten Sinne) vom liberalen Staat des 19. Jahrhunderts tiefgreifend unterscheidet.
Die Mäßigung der Regierungsgewalt durch Gewaltenteilungskonstruktionen kann dem-nach keine freiheitssichernde Forderung mehr sein. Diese Einsicht ist auch im Verfassungsrecht neuerdings gewachsen Als Ausgangspunkt der neueren verfassungstheoretischen Überlegungen stellt sich also heute die positive, vorausschauende Gestaltungsaufgabe der Regierung. Die Forderung nach der umfassenden politischen Handlungs-d. h. Staatsleitungsfähigkeit der parlamentarischen Regierung erscheint folglich geradezu als ein Gebot freiheitlicher, sozial gerechter Ordnung. Diese Forderung ist mithin die realistische Folgerung aus den Wertgrundsätzen des politischen Systems des Grundgesetzes.
b) Politische Führung und Gesetzgebung Die Gesetzgebung ist heute zu einem erstrangigen Mittel zur Gestaltung und Steuerung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens geworden. Der moderne Staat führt durch „legislative Maßnahmen“ Als ein Paradebeispiel moderner Gesetzgebung dieser Art mag das alljährliche Haushaltsgesetz gelten, mit dem der Staatshaushaltsplan vom Parlament verabschiedet werden muß.
Der Staatshaushaltsplan ist praktisch das in Zahlen, in Einnahmen-und Ausgabensummen geronnene politische Programm der Regierung, denn fast alle wichtigen Vorhaben sind mit bedeutenden Ausgaben verbunden. Der Bundeshaushaltsplan wird demgemäß auch von der Bundesregierung jedes Jahr erarbeitet, zumeist nach mühevollem Tauziehen zwischen den Finanzwünschen der verschiedenen Ressorts und dem Finanzminister vom Bundeskabinett verabschiedet und dann dem Bundestag zur eingehenden Beratung und Verabschiedung in Form des Haushaltsgesetzes vorgelegt
Damit wird deutlich, daß die Bundesregierung von vornherein auf die Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit zu ihrem Programm notwendig angewiesen ist. Ein vom Bundestag abgelehnter Haushalt bedeutet für die Regierung, daß sie nur noch (gemäß Art. 111 GG) die laufenden Verwaltungsausgaben und Finanzverpflichtungen aufgrund bestehender Gesetze bestreiten darf, aber keine neuen Maßnahmen ergreifen kann, die Geld kosten. Somit ist sie praktisch gescheitert. Ein Kabinett, das wirklich politisch führen und gestalten will, muß also in der Lage sein, „mit Hilfe der Verwaltung und ihrer Mehrheit im Parlament ein Gesetzgebungsprogramm durchzubringen" sich in der BRD die Gesetzesinitiative mehr und mehr in die Bundesregierung verlagert hat (rund 90 % aller Gesetzesvorlagen entstehen in den Ministerien und in der Regel alle bedeutenden), so entspricht das nur der Forderung nach verantwortlicher Gesamtstaatsführung durch die Regierung im parlamentarischen System. Auch wenn die jüngere Richtung im Verfassungsrecht ein enges und dauerhaftes Zusammenwirken von Regierung und Parlamentsmehrheit, praktisch deren strukturelle „politische Aktionseinheit" (H. Ehmke) fordert, so ist das nur eine Konsequenz aus der Notwendigkeit umfassender Staatsleitung. c)
Das Amt der parlamentarischen Opposition In dem Maße, in dem die Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit funktionsgemäß zusammenrücken, bildet sich die neue Frontstellung im parlamentarischen System aus.
Der Regierungsmehrheit aus Kabinett und Mehrheitsfraktion(en) tritt die Opposition gegenüber. Die politische Front verläuft also quer durch das Parlament selber. Das Parlament als Ganzes wird praktisch eine historische Reminiszenz, wenngleich das deutsche Verlassungsrecht überwiegend und auch die Konzeption des Grundgesetzes selber an der Vorstellung lesthalten, daß Bundestag und Bundesregierung zwei voneinander getrennt handelnde politische Einheiten seien (vgl. vorn II, 2 b).
Unter den neuen Bedingungen ist es aber folgerichtig, wenn die traditionellen Kontrollinstrumente des Gesamtparlaments über die Regierung — wie z. B. Kleine und Große Anfragen an die Regierung, Fragestunden, Mißtrauens-und Mißbilligungsanträge, Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen — heute nur noch von der Opposition als Waffen gegen die Regierung angewendet werden. Diese Konsequenz wird in der jüngeren Parlamentarismustheorie auch zunehmend anerkannt
Allerdings kennen das deutsche Verfassungsdenken und auch das Grundgesetz spezifische parlamentarische Rechte der Opposition bislang nicht. Vom Verfassungsrecht sollte deshalb gefordert werden, die Opposition stärker als bisher in das parlamentarische System zu institutionalisieren, damit sie ihre spezifischen Funktionen als erste öffentliche Kritikerin und personelle Alternative der Regierung wirksamer wahrnehmen kann. Dazu gehört die bessere finanzielle und protokollarische Amtsausstattung des Oppositionsführers (der schließlich der „Regierungschef von morgen" ist) ebenso wie Verfahrensregelungen im Par-* lamentsrecht, die das Gegeneinander von Regierung und Opposition im Parlament klarer herausheben
Andererseits kann und darf die Regierung durch die parlamentarische Opposition in ihrer Entscheidungsfreiheit grundsätzlich nicht beschränkt werden. Die überkommene Bezeichnung „parlamentarische Kontrolle" auf die Tätigkeit der Opposition anzuwenden, ist deshalb irreführend. Kritische Öffentlichkeit im Regierungssystem zu erzeugen und die Regierung zu zwingen, ihr Handeln öffentlich einsehbar zu machen und zu rechtfertigen, ist keine Kontrolle im herkömmlichen Sinne, da kein Recht und keine Möglichkeit zur Korrektur der Regierungspolitik gegeben ist.
In unserem politischen System kann nur kontrollieren, wer die Mehrheit hat.
Die angemessenere Bezeichnung für die parlamentarische Tätigkeit der Opposition scheint u. E.deshalb Kritik-oder Öffentlich-keitsfunktion zu sein. d) Die Staatsleitungskompetenz der Regierung ist in gewaltenteilenden Systemen nicht gewährleistet
Hinsichtlich der Regierung muß es nunmehr das Ziel der Verfassungstheorie sein, die Füh-rungskompetenz der Regierung gegenüber dem Parlament sicherzustellen. Sie muß in der Lage sein, sich auf eine disziplinierte Pariamentsmehrheit dauerhaft stützen zu können. Denn nur so lange eine Regierung ihrer parlamentarischen Gefolgschaft sicher sein kann, kann das parlamentarische Regierungssystem seine besonderen machtkonzentrierenden Vorzüge entfalten In dem Moment, in dem der Regierungschef keinen wesentlichen Einfluß auf den parlamentarischen Gesetzgebungsund Geldbewilligungsapparat mehr hat, ist seine Führungskompetenz im Regierungssystem von Grund auf in Frage gestellt.
Mit Recht stellt deshalb E. Fraenkel, ein intimer Kenner des amerikanischen Regierungssystems, fest, daß der mächtigere Regierungschef nicht in Washington, sondern in London sitzt
Das amerikanische Regierungssystem baut auf der strikt durchgeführten Gewaltenteilung zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß auf, und der amerikanische Kongreß als Ganzes ist im Unterschied zum britischen Unterhaus keine Fiktion Auch das gewaltenbalancierende parlamentarische System beruht auf einem prinzipiellen, wenn auch gemäßigten Dualismus zwischen Parlament und Regierung.
Der kritische Punkt der Führungsschwäche, des politischen Immobilismus gewallenteilender bzw. -balancierender Regierungssysteme liegt also genau darin, daß die Regierung keine wirksamen Mittel hat, ihr Gesetzgebungsund Finanzprogramm im Parlament durchzusetzen.
Die entscheidende Voraussetzung für die so-eben definierte Führungsautorität der Regierung über das Parlament ist allerdings, daß die Regierung noch vor dem Parlament unmittelbar demokratisch legitimiert wird. Sie muß sich auf ein direktes Wählervotum stützen können.
Diese Aufgabe kann das bestehende personalisierte Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht leisten, da die Verhältniswahl die parlamentarische Regierung nicht erreicht, sondern seine Bildung allein in die Entscheidung der Parlamentsfraktionen stellt, wenn keine Partei die absolute Stimmenmehrheit im Parlament gewinnt. e) Zur Kritik veriassungsjuristischer Sicherungen parlamentarischer Regierungsweise (Art. 67, 68, 81 GG) — Das Wahlrecht als Schlüssel Einer parlamentarischen Regierung, die ihre positive Mehrheit im Parlament verloren hat, ist die Basis ihrer politischen Handlungsfähigkeit entzogen. Sie wird quasi in einen luft-leeren Raum versetzt, in dem sie zu weitgehender politischer Unwirksamkeit verurteilt ist Zwar ist es möglich, mittels verfassungsjuristischer Konstruktionen die Regierung auch gegen ein widerstrebendes Parlament im Amt zu halten, sie gelangt dann jedoch politisch über den Status einer blutarmen, „rein geschäftsführenden Regierung ohne politische'Existenzgrundlage" nicht*hinaus Sie kann also nurmehr die Verwaltung leiten, aber keine politischen Konzepte? mehr realisieren.
Die vielgepriesenen regierungsstabilisierenden Institute des Grundgesetzes insbesondere der Art. 67 und der Art. 68 GG, sind demzufolge in ihrem politischen Effekt sehr fragwürdig. Der Art. 67 GG fordert das Intrigen-spiel hinter dem Rücken einer noch amtierenden Bundesregierung geradezu heraus. Da der alte Bundeskanzler nur gestürzt werden kann, wenn zugleich ein neuer gewählt wird, muß der neue Kanzlerkandidat ja bereits vor der Aussprache des Mißtrauens im Bundestag insgeheim gekürt worden sein und zwar zwangs-läufig unter Mithilfe von ehemaligen Mitgliedern der alten Regierungsmehrheit. Vor allem aber wird durch den Art. 67 GG möglicherweise fortdauernd eine Regierung im Amt gehalten, die ihre parlamentarische Mehrheit zwar verloren hat, aber nicht bereit ist, die verfassungsmäßigen Konsequenzen zu ziehen, nämlich entweder die Vertrauensfrage im Parlament und den Auflösungsantrag beim Bundespräsidenten nach Art. 68 GG zu stellen oder zurückzutreten. Somit wird eine Regierung in der Agonie verfassungsrechtlich stabilisiert, die politisch nicht mehr leben kann, aber noch nicht sterben will Die stabilisierende Wirkung des Art. 67 GG ist also nur formaler Art. Tatsächlich besteht eine politische Führungskrise, es herrscht praktisch ein „Regierungsnotstand" (O. Koellreutter).
Der Art. 68 GG gewährt allein dem Bundeskanzler die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen ausschreiben zu lassen, wenn zuvor sein Antrag, der Bundestag möge ihm sein Vertrauen aussprechen — also praktisch die Überprüfung seiner parlamentarischen Gefolgschaft — keine absolute Mehrheit im Parlament erbringt. Nachdem der Auflösungsantrag des Bundeskanzlers beim Bundespräsidenten gestellt ist, kann der Bundespräsident den Bundestag binnen Tagen auflösen, wenn der Bundestag nicht zuvor mit absoluter Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählt.
Der Sinn des Art. 68 ist also ebenso wie der des Art. 67, den Bundestag zur Mehrheitsbildung zu zwingen entweder 1) durch Zustimmung zur Vertrauensfrage oder 2) durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers oder 3) durch Neuwahlen.
Die Anwendung des Art. 68 GG setzt allerdings die Entscheidung des Bundeskanzlers voraus; dieser muß 1) den Mut haben, die Vertrauensfrage zu stellen und 2) den Mut haben, den Auflösungsantrag zwecks Neuwahlen zu stellen.
Wenn dem Bundeskanzler seine parlamentarische Mehrheit schwindet und er zugleich — wie Willy Brandt seit dem 27. April 1972 — fürchten muß, daß bei der Anwendung des Art. 68 GG eine neue Mehrheit unter einem Bundeskanzler Barzel sich bilden könnte und er diese verhindern will, dann wird er den Art. 68 GG nicht anwenden. Damit entfallen also die Möglichkeiten, entweder durch Neuwahlen oder durch die Bildung einer anderen Parlamentsmehrheit den Weg für eine stabile Regierung frei zu machen.
Auch der Art. 81 GG weist keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Er erlaubt einer Minderheitsregierung nach Ablehnung der Vertrauensfrage und bei anschließender Nichtauflösung des Bundestages 6 Monate lang Gesetzentwürfe der Bundesregierung nur vom Bundesrat verabschieden zu lassen, wenn im Bundestag dafür keine Mehrheit vorhanden ist. Abgesehen davon, daß im Bundesrat — wie zur Zeit — die Opposition die Mehrheit haben kann, bringt die sechsmonatige Verlängerung der Krise kaum Vorteile. Im Gegenteil, vielleicht verschärft der Art. 81 die Regierungskrise sogar, indem die Verbitterung wächst und die politischen Fronten weiter verhärtet werden 21).
Politische Stabilität und Funktionsfähigkeit einer parlamentarischen Regierung sind also nur durch verfassungsjuristische Regelungen nicht zu erzielen Parlamentarische Regie-rungsweise beruht vielmehr grundlegend auf der Fähigkeit einer Regierung, sich ihre parlamentarische Mehrheit zu erhalten. Daher müssen die Verfassungsinstitute des konstruktiven Mißtrauensvotums und der Minderheitsregierung das Wesen des parlamentarischen Systems verfehlen
Dagegen wäre erstens ein uneingeschränktes, eindeutiges Auflösungsrecht für die Regierung systemkonform, wenn sie ihre Gefolgschaft verloren hat. Bereits die Existenz dieser Waffe in der Hand des Regierungschefs könnte eine schwindende Mehrheit disziplinieren, im übrigen würde die Auflösung zu Neuwahlen führen, durch die eine neue stabile Regierungsmehrheit möglich werden kann.
Verhältniswahlen vermögen allerdings die notwendige Mehrheitsbildung grundsätzlich nicht zu erzielen. DieVoraussetzung dafür, daß die Regierung ihren Führungsauftrag durch Parlamentsauflösung an die demokratische Wählerschaft zurückgeben kann, ist daher ein Wahlrecht, durch das der Regierungschef zuvor — zusammen mit seiner Parteimehrheit — unmittelbar zur Regierung berufen worden ist.
In der Frage des Wahlrechtes liegt schließlich der Schlüssel zu einem handlungsmächtigen parlamentarischen Regierungssystem
Das Grundgesetz hat dagegen zu verfassungsjuristischen Mitteln gegriffen, um ein angeblich „verbessertes" parlamentarisches System (so Dr. Lehr, der erste Bundesinnenminister, im Parlamentarischen Rat) zu konstituieren. Der Grund dafür liegt wohl vornehmlich darin, daß die Verfassungsväter — die überwiegend Juristen waren — zumeist mehr oder weniger stillschweigend vom „reinen" Parlamentarismusmodell ausgegangen sind. Sie hatten zudem den Verfall der parlamentarischen Regierung in der Weimarer Republik alle selbst miterlebt. Aus dieser Sicht mußten sie bemüht sein, die parlamentarische Regierung gegen die desintegrierenden Wirkungen der Verhältniswahl (dessen Einrichtung sich bereits im Parlamentarischen Rat abzeichnete) und das zu erwartende Vielparteienparlament abzuschirmen. Aus der Perspektive der Verfassungsväter bestand die Wahl folglich nur zwischen einem reinen parlamentarischen System, in dem die Regierung den herrschenden Parlamentsfraktionen schutzlos ausgeliefert wäre oder einem eingeschränkten, gewalten-balancierenden System, in dem Parlament und Regierung relativ unabhängig voneinander existieren konnten — allerdings um den Preis wirklicher Führungsfähigkeit. Die dritte Möglichkeit, ein streng gewaltenteilendes Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild zu schaffen, wurde vom Parlamentarischen Rat abgelehnt.
Das Ergebnis unserer Analyse ist also, daß die Versuche des Grundgesetzes, die Regierungsfähigkeit im parlamentarischen System mit verfassungsjuristischen Mitteln zu lösen, alles in allem untauglich sind.
In diesem Versuch äußert sich schließlich in aller Deutlichkeit das ganze Dilemma eines verfehlten Parlamentarismusansatzes, der das idealtypische parlamentarische Regierungssystem stufenweise — über die Volksvertretung — aus dem Volkssouveränitätsprinzip ableitet. 2. Das demokratische Prinzip politischer Verantwortungsklarheit a) Parlamentarische Verantwortlichkeit im Verfassungsdenken Der für das politische Leben eines freiheitlichen Staates fundamentale Zusammenhang zwischen öffentlichem Handeln und verantwortlichem Einstehen dafür verbietet es von vornherein, ein politisches System primär unter plebiszitären Willensbildungsprozessen begreifen zu können, wie die plebiszitär-demokratische Schule meint.
Einmal kann die angebliche Selbstregierung des Volkes — wie wir vorn gesehen haben — nur eine Fiktion sein, da es den Volkswillen in der Realität nicht gibt. Darüber hinaus verhindert die plebiszitäre Parlamentarismustheorie die politische Rechenschaftspflicht der tatsächlich Herrschenden a priori, da diese in der Theorie angeblich nur den „Willen des Volkes" vollziehen. Demokratische Verantwortlichkeit beruht auf einer direkten Beziehung zwischen den berufenen (gewählten) Entscheidungsträgern und der auftragggebenden (wählenden) Gesamtbürgerschaft Dieses politische Prinzip ist auch in der repräsentativen und gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie weithin unausgebildet geblieben. Soweit von politischer Verantwortung in der deutschen Parlamentarismustheorie überhaupt die Rede ist, erstreckt sie sich durchweg nur auf die Pflichten der Regierung gegenüber der Volksvertretung Immer geht es nur um die sogenannte parlamentarische Verantwortlichkeit, nach der die Regierung im parlamentarischen System dem Parlament für ihre Politik rechenschaftspflichtig ist, von dessen Vertrauen sie mehr oder weniger abhängig sein soll
Von der politischen Verantwortung der Regierung gegenüber der Gesamtbürgerschait weiß dagegen die deutsche Parlamentarismus-theorie kaum etwas.
Das liegt auch in der Logik der aus der Volks-souveränität stufenweise abgeleiteten Theorie: Auf Grund der Projizierung des Volkswillens in das Parlament fiel die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Volk von vornherein aus der verfassungstheoretischen Betrachtung heraus. b) Keine Verantwortlichkeit durch Klarheit des Funktionenbaus Die herrschende Verfassungstheorie rückt die drei klassischen Staatsfunktionen (Legislative, Exekutive, Judikative) und die Kompetenzen dieser drei „Gewalten" in den Vordergrund und sie verwendet viel Mühe darauf, Parlament und Regierung einander zuzuordnen und sie gegeneinander abzugrenzen. Als einer der ersten deutschen Nachkriegskritiker des überkommenen Gewaltenteilungsschemas hebt Otto Küster das Prinzip der Verantwortungsklarheit im demokratischen Staat hervor
Aber er glaubt Verantwortungsklarheit bereits dann verwirklicht, wenn „Klarheit des Funktionenbaus und des Funktionenspiels 1'im parlamentarischen System besteht Die Reichweiten und Grenzen der Kompetenzen von Parlament und Regierung und die wechselseitigen Einwirkungsmöglichkeiten zwischen beiden Organen sollen also klargelegt werden.
Ähnlich fordert auch Konrad Hesse, Verantwortungsklarheit dadurch zu schaffen, daß die Aufgliederungen und Zuordnungen der Funktionen von Parlament und Regierung „einsehbar und durchsichtig" gemacht werden
Durch diese Forderungen kann aber u. E. keine demokratische Verantwortungsklarheit geschaffen werden, weil die notwendige Voraussetzung dafür, eine selbständige, eindeutig zugewiesene Entscheidungskompetenz nicht konstituiert wird.
Soweit nämlich die jüngere Verfassungstheorie den „Bereich der Regierung", die Gesamtstaatsführung, dem Parlament, seinen Ausschüssen und dem Kabinett zur gemeinsamen, zusammenwirkenden Handhabungen anvertrauen können sie der Forderung nach „responsible government", nach der öffentlichen Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungsträger also, nicht gerecht werden. Die heute schon zum Teil praktizierte materielle Mitregierung von Bundestagsausschüssen, insbesondere des Haushaltsausschusses und des Verteidigungsausschusses, die nach Ansicht mancher Verfassungsjuristen dem parlamentarischen System des GG vollauf entspricht schwächt nicht nur die Entscheidungskraft der Regierung, sie ist auch gemessen an dem Anspruch öffentlicher Verantwortlichkeit sehr bedenklich.
Denn gerade durch den Ausbau verschiedener parlamentarischer Mitregierungsinstanzen wird die Lokalisierung der eigentlich Entscheidenden eher erschwert als erleichtert
Die Folge ist, daß unter vielfältigen Mitwirkungsbedingungen niemand mehr konkret für eine Regierungsentscheidung öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden kann, die Verantwortungsklarheit also verwischt und die politische Macht damit noch anonymer wird. c) Handlungskompetenz und Rechenschaftspflicht. Im politischen Bewußtsein der Bürger gelten die modernen Regierungen auch entgegen ihrer verfassungsmäßigen Standortbestimmung als die verantwortlichen Staatsleitungsgremien. Dieser Rolle können sie sich in der Öffentlichkeit nicht entziehen; dieser Rolle können unter den heutigen Anforderungen auch nur sie überhaupt gerecht werden (vgl. III, 1). Große Repräsentativversammlungen können naturgemäß nicht regieren, sie sind auch praktisch nicht von der Gesamtbürgerschaft zur Verantwortung zu ziehen (vgl. vorn I, 3 d). Sowohl im umfassenden Sinn regierungsfähig als auch klar rechenschaftspflichtig kann nur ein kleines Gremium, ein Kabinett und ein Regierungschef sein. Diese Einsicht sucht man im deutschen Verfassungsdenken weithin vergeblich.
Unsere Untersuchung hat ergeben, daß die deutsche Parlamentarismustheorie eine Diskrepanz zwischen den führungspolitischen An-forderungen an eine moderne Regierung einerseits und ihren verfassungsrechtlichen Kompetenzabgrenzungen andererseits geschaffen hat. Sie hinkt damit hinter der politischen Entwicklung her. Dieser Vorwurf gilt sowohl in bezug auf die Führungseffizienz wie auch die demokratische Verantwortlichkeit der Regierung im parlamentarischen System.
Beiden Forderungen vermag eine parlamentarische Regierung erst dann besser gerecht zu werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
1) das Parlament darf im parlamentarischen System nicht mehr den Anspruch monopolisieren, daß souveräne Volk zu repräsentieren.
2) Die Regierung braucht einen unmittelbaren und umfassenden Führungsauftrag der Gesamtbürgerschaft, damit sie voll verantwortlich für die Staatsleitung gemacht werden kann 3. Schlußfolgerung: Verantwortlichkeit und „Gewaltenteilung in der Zeit"
Ohne die Erblast der überkommenen Theorie stellt sich die Forderung nach der notwendigen Begrenzung politischer Macht in einem freiheitlichen Staat erneut, aber nun konkreter. Die von uns als ebenso notwendig erachtete Führungskompetenz und Handlungsverantwortlichkeit der Regierung muß auch tatsächlich von der Gesamtbürgerschaft kontrollierbar, d. h. einforderbar sein. Die Bürger müssen das Regierungsmandat selber direkt erteilen und sie müssen ihren Auftrag in angemessener Frist unmittelbar zurückziehen oder neu erteilen können.
Das geschieht durch die zeitliche Begrenzung der politischen Herrschaftsämter, deren Aberkennung bzw. erneute Übertragung auf Zeit Aufgabe der politischen Wahlen ist Diesem demokratischen Prinzip wird im parlamentarischen System das relative Mehrheitswahlrecht am ehesten gerecht.
So mag man also den materiell-politischen Gehalt des Gewaltenbeschränkungsgedankens im demokratischen Staat geradezu in der Periodizität des Regierungsmandates sehen^ Die spezifische Funktion der relativen Mehrheitswahl scheint demnach u. E. gar nicht mehr zu sein, nur eine klare Einparteimehrheit zu erbringen. Auf diesen — sicherlich erheblichen — Vorzug beschränken sich allerdings zumeist die Ausführungen in der verfassungsrechtlichen Literatur Unsere Überlegungen haben dagegen ergeben, daß im Vordergrund ihrer Effekte schließlich der unmittelbare verantwortliche Regierungsauftrag für einen Parteiführer stehen muß Somit kann das Regierungsverständnis in Deutschland endlich an die Funktionsbedingungen des britischen parlamentarischen Systems anknüpfen.
Hans-Joachim Veen, M. A., geb. 1944, Studium der Politischen Wissenschaft, des öffentlichen Rechts und der Neueren Geschichte an den Universitäten Hamburg und Freiburg; seit 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung in Alfter bei Bonn.
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