Vom Unbehagen in der Kulturpolitik Frag-würdigkeiten, Bedenk-lichkeiten, neue Perspektiven
Hermann Glaser
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Zusammenfassung
Kulturpolitik ist bislang — im Gegensatz zur Schulpolitik — kaum in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Zwar unterstützt oder trägt die . öffentliche Hand'kulturelle Institutionen und Organisationen; aber dies geschieht — sieht man von den Theatern ab — auf mehr periphere Weise und zudem häufig mit „schlechtem Gewissen" angesichts der vielen anderen Prioritäten (den Theatern etwa wird oft genug der Mangel an Krankenbetten vorgehalten). Im Bildungssektor beziehen sich die Forderungen auf umfangreiche Expansion (der Einrichtungen wie der Etats) sowieso fast ausschließlich auf den Erziehungsbereich. Der Grund für die vorherrschende Disproportion ist wohl vor allem darin zu suchen, daß die gesellschaftliche Relevanz von Kultur vom allgemeinen Bewußtsein noch nicht erkannt und akzeptiert wird; auch die verantwortlichen Kräfte haben meist keine klare Vorstellung vom Rollenspiel der Kultur und Kulturpolitik in unserem Staate. Man ist zwar überzeugt, daß der Mensch nicht vom Brot alleine lebt, doch ist der Weg zu einer neuen Theorie von Kultur und Kulturverwaltung, über die affirmativen Metaphern hinaus, weit. „Beschleunigung" im Nachdenken tut not, damit geistige Versteppung vermieden und gesellschaftliche Sublimierung ermöglicht wird. „Kultur" wird im besonderen eine große Rolle bei der Stadtplanung und Stadtentwicklung zu spielen haben; die „nachökonomische Stadt“, also die Stadt, die von Profitopolis und Megalopolis zu Metropolis zurückfindet, muß sich auch und vorwiegend als „Kulturlandschaft" begreifen — wobei Kultur in einem neuen Sinne zu interpretieren und zu präsentieren wäre: als hervorragendes Medium für Kommunikation und Sozialisation. — Dieser Beitrag versucht, zum Problemkreis Kultur-politik, zum Entwurf eines „kulturellen Curriculums", Prolegomena beizusteuern.
I. Was heißt Kulturpolitik?
Er würde nie in einer Stadt ohne Theater leben wollen, meinte H., Chefmanager, bei einer Party. In den letzten Jahren sei er allerdings nicht zum regulären Theaterbesuch gekommen. Gelegentlich Salzburg; jedes Jahr Bayreuth.
Die meisten Heiratsanzeigen, soweit sie nicht nur „einsilbig" Naturliebe und äußeres (= sportliches) Aussehen ansprechen, „mögen“ Kultur: „Bach, Braque, Dvorak, Klimt, Dostojewski, Kafka sehr liebend, Kubelik und Casals verehrend, gregorianischen Chören und Requiems lauschend." — „In den menschlichen Beziehungen hält er für besonders wichtig das ernste Gespräch zwischen nicht mehr als zwei Personen (Zuhören ist entscheidend). Bei dem Wort . Humor'denkt er etwa an die Oper , Die Meistersinger'oder Einzelheiten aus dem Roman , Der Zauberberg', nicht dagegen an das, was täglich im Fernsehen als Belustigung geboten wird, (übrigens hat ihm das Fernsehen immerhin einige starke Erlebnisse vermittelt, so durch die Aufführung des Dramas , Professor Bernardi'.) Musik und Dichtung bedeuten ihm sehr viel. Der Komponist, den er am meisten verehrt, ein deutscher Romantiker des 19. und 20. Jahrhunderts, ist leider absolut unpopulär, und irgendwie mag es damit Zusammenhängen, daß der Inserent kontaktarm ist. Im Urlaub reist er in die Berge; auf Wandern und Spazierengehen würde er nicht gern verzichten.“
Diese beiden Impressionen, von . scheinbaren Oberflächenphänomenen ausgehend, markieren Eckwerte des privaten Kulturkonsums: Die Betonung des kulturellen Prestiges; die Internalisierung der Kulturboutique. Ähnliches kann man auch beim offiziellen Kulturverständnis feststellen: Ein Rühmen „jener" Kulturwerte (welcher?); erbaulicher Stoff für Sonntags-und Feierlichkeitsreden, im besonderen von Politikern und Kulturfunktionären. Und wie steht es mit dem Selbstverständnis der Kulturverwalter, die in Bund, Land und Gemeinden ihren „Auftrag“ erfüllen? Welchen Auftrag? Von wem? Für wen? „Wofür" wird Kultur verwaltet, was „will" Kulturpolitik heute? Was erwartet die Gesellschaft von der Kulturpolitik? Der Fragenkatalog läßt sich erweitern.
Die Selbstverständlichkeit, mit der man Kultur als — eben selbstverständlich bezeichnete, ist ins Wanken geraten. Um Schichtunterricht zu vermeiden (um Gelder aus dem Kultur-in den Schuletat zu transferieren), wären Elternbeiräte gerne bereit, „ihr" Stadttheater aufzugeben. Wird in einem philharmonischen Konzert ein Neutöner (vorsorglich in der Mitte des Programms, vor der Pause; danach Beethoven) eingefügt, können sich die Empörungsschreie („Was machen die mit unseren Steuer-geldern!") kaum mehr beruhigen.
Und wenn der Kulturverwalter bislang aus dem „Unverständnis der Masse" sein Charisma ableitete, er seine Verwaltungsfrustration dadurch kompensierte, daß er sich als Bahnbrecher für die Kunst von morgen und übermorgen fühlte, so ist neuerdings die Woge der Problematisierung auch über ihn selbst hereingebrochen. Die Auseinandersetzung um eine neue Ästhetik, um eine gesellschaftsrelevante Ästhetik, wirkt sich zunächst als allgemeine Malaise aus; da der Kulturverwalter zu sehr in der KulturVerwaltung steckt, ist es ihm häufig noch nicht gelungen, den Boden neuer theoretischer Fundierung unter seinen Füßen zu gewinnen. Immerhin nehmen die Kongresse und Tagungen über „Prioritäten kommunaler Kulturpolitik" zu; die Urbanistik fordert unter Bezug auf die . nachökonomische'Stadt Kultur als integrativen Bestandteil der Stadtlandschaft. Der Begriff „Kulturpolitik" ist verhältnismäßig jungen Ursprungs. Er taucht zwar bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf, fand jedoch keine weitere Verbreitung und auch keine Aufnahme in den politischen Wortschatz. In den Konversationslexika und den Staatshandbüchem fehlt das Stichwort „Kulturpolitik" bis 1927. 1929 führt das bei Herder erschienene Staatslexikon aus: „Kulturpolitik ist der Einsatz geistiger Mittel und kultureller Mittel durch den Staat." — Auch in unserer Zeit ist in den Nachschlagewerken „Kulturpolitik" selten anzutreffen. „Kulturpolitik" ist noch kaum Lehr-und Forschungsgegenstand der Universitäten, im Gegensatz etwa zur Finanz-, Sozial-und Verkehrspolitik, die längst ihren Platz unter den Forschungsdisziplinen gefunden haben.
Nach Manfred Abelein, dem ich hier folge, sind die Wurzeln der Kulturpolitik in der Kulturpolizei, der protestantischen Staatsidee, im Kulturkampf und in der Kulturkritik zu sehen. „Das Wesen des modernen Staates wurde dadurch bestimmt, daß die staatliche Gewalt in der Hand des Fürsten konzentriert wurde und dadurch einen einheitlichen Charakter erhielt. Die politische und staatsrechtliche Basis bildete für den entstehenden modernen Staat der Gedanke der Polizeigewalt, der sich mit und aus der Idee des modernen Staates zu seiner besonderen Bedeutung entwickelt hat. Nach dem ursprünglichen Sinngehalt bedeutet Polizei, Politeia, nichts anderes als die Ordnung des Staatswesens. Die Polizei bildete einfach den Gegensatz zu dem Zustand mangelnder autoritativer Ordnung des öffentlichen Lebens. Inhaltlich bedeutete sie den Gegensatz zu der bestehenden Ohnmacht staatlicher Gewalt gegenüber der Vielzahl geschichtlich fundierter subjektiver Rechte und Privilegien, die sich • als Folge der Zersplitterung der Verfassung durch den Feudalismus und die ständische Verfassung ergeben haben. Infolge dieses Zusammenhangs übertrug sich der Begriff der Polizei aus dem immer stärker sich entwickelnden Gedanken des modernen Staats, wo der Vielheit der subjektiven Interessen der zahlreichen staatlichen Untergewalten und der Staatsbürger das objektive Interesse der Gesamtheit beherrschend gegenüberstehen mußte." Während zunächst „Polizei“ den Zweck hatte, die Sicherheit des Bürgers zu garantieren, wurde später dem Begriff die „Förderung der allgemeinen Wohlfahrt" subsumiert; zu dieser „Wohlfahrt“ gehörten auch die geistigen und sittlichen Belange. Das Tugendsystem war dabei verordnet; von Staats wegen wurde festgelegt, was schädlich und was gut war.
„-Kulturpolizei” kehrt in den Staatslehren des 19. Jahrhunderts regelmäßig wieder. So teilt z. B. K. H. L. Poelitz in seiner Staatslehre die angewandte Staatslehre in Nationalökonomie, Staatswirtschaft und Polizeiwissenschaft ein, wobei die letztere Sicherheits-, Ordnungspolizei und Kulturpolizei umfaßt Als Gebiete der Kulturpolizei werden genannt: Bevölkerungspolizei, Industriepolizei, Sittenpolizei, Religions-und Kirchenpolizei, Polizei der Aufklärung, Erziehungspolizei. Poelitz definierte „Kulturpolizei" als „Inbegriff aller der Anstalten der Polizei, wodurch die Kultur der Staatsbürger nach ihrem ganzen Umfange begründet, befördert, erhalten und erhöht wird".
Die „Sorge" für das geistige Gedeihen der Staatsbürger ließ wenig Freiraum für individuelle Entfaltung. Die Kulturpflege des Staates, „die anregende, belehrende, schirmende und fördernde Tätigkeit des Staates", war inhaltlich und formal der jeweils herrschenden Ideologie integriert. In engem Verbund mit der Kirche wurde „Geschmack" so festgelegt, daß revolutionäre, die bestehenden Verhältnisse kritisierende Tendenzen von vornherein ausgeschaltet blieben.
Die protestantische Staatsidee forderte, daß alle Maßnahmen der Staatsgewalt der christlich-sittlichen Ordnung dienten. Bürgerliche Eigenschaften mußten zugleich christliche Tugenden, der letzte Zweck aller menschlichen Handlungen und Taten sollte die Ehre Gottes sein. Die Ehrfurcht vor Gott, der Gehorsam gegenüber den Gesetzen, die Treue dem Staat gegenüber und sittlich-gute Gesinnung gegenüber den Mitbürgern wurden als Einheit gesehen.
Der Kulturkampf, als Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem preußischen Staat um die Herrschaft über bestimmte Kulturbereiche, im besonderen die Erziehung, machte deutlich, welches Gewicht nun das Herrschaftsinteresse der „Kultur" zumaß. Mit der Übernahme der Schulaufsicht durch den Staat konnte dieser insgesamt seine Einflußnahme verstärken, so daß man das Wort „Kulturkampf" als den eigentlichen Vorläufer des Begriffs „Kulturpolitik" bezeichnen kann.
Auch die Kulturkritik, die den Niedergang der Kultur im 19. Jahrhundert, die Erstarrung „edlen Bildung" beklagte, stärkte die Bereitschaft zur politischen Intervention. Nur durch staatliche Lenkung glaubte man die hohen Ideen und Ideale vor der Profanierung retten zu können. Die deutsche Jugendbewegung inspirierte dabei Tendenzen, welche die Rettung der Kultur in der Rückkehr zu einem romantisch eingefärbten antizivilisatorischen Zustand, einem ästhetisch-fantastischen Lebensstil, zu vitaler Körperfreude, Wanderlust, Seelengemeinschaft und Volkstümlichkeit sahen.
Nadi den Erfahrungen des Nationalsozialismus, der in Anknüpfung an die repressive Kulturpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts die totale Gleichschaltung aller kulturellen Bereiche bewirkte und mit großem propagandistischen Geschick die Regression in die Barbarei mit einer Kulturfassade umstellte, ist seit 1945 die staatliche Kulturpolitik sehr zurückhaltend ausgeübt worden. An Stelle von Indoktrination will Kulturpolitik heute die freie Entfaltung von Kunst, Wissenschaft und Religion garantieren, und diese Freiheit im materiellen Sinne durch entsprechende Subventionen abstützen helfen. Der Kulturföderalismus sucht die Monopolisierung von Zuständigkeiten im kulturellen Bereich auszuschließen.
Das Grundgesetz geht auf die Bedeutung von Kunst und Kultur für die Gesellschaft kaum ein. Während ansonsten durchaus Details ausgenommen sind (etwa in Artikel 48 festgelegt wird, daß die Abgeordneten das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel haben), verzichtet man auf eine genauere Standortbestimmung im kulturellen Bereich. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder befassen sich deren Verfassungsbestimmungen näher mit Kultur, z. B.der dritte Hauptteil der Bayerischen Verfassung, der dem Gemeinschaftsleben gewidmet ist. Angesprochen werden Ehe und Familie, Bildung und Schule, Religion und Religionsgemeinschaften. Artikel 131 besagt: „(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden. (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne. (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völker-versöhnung zu erziehen. (4) Die Mädchen sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.“
Auch wenn man unterstellt, daß 1946, in den Trümmerjähren, angesichts der durch den Nationalsozialismus bewirkten Zerstörung des deutschen Geistes, eine spätexpressionistische Aufbruchstimmung vorherrschte, so ist es doch erstaunlich und beunruhigend zu sehen, wie traditionell man damals sein „Kulturverständnis" artikulierte. Es dominiert die Mentalität des späten 19. Jahrhunderts, wobei Absatz 4 die konservative Auffassung vom Rollenspiel der Frau in der Gesellschaft widerspiegelt. Der Wertekosmos wird hier tradiert, aber nicht reflektiert; Kultur bleibt . unbedacht': Zwischen Herzensbildung und Säuglingspflege, Gottesfurcht und Bayernliebe, Selbstbeherrschung und Hauswirtschaft erstreckt sich die ungegliederte, aber besonnte Landschaft der heilen Welt.
II. Kultur und Politik
Ehe über das Verhältnis des Kulturpolitikers und Kulturverwalters zu den ihn bestimmenden Kräften und Mächten nachgedacht wird, ist es sinnvoll, einige geistige Positionen anzusprechen, die das Umdenken, das nun auch die Kulturverwaltungen erreicht, zu charakterisieren vermögen. Ich beziehe mich dabei auf drei Traktate, die verhältnismäßig früh verfaßt wurden, aber eigentlich erst heute die Praxis zu beeinflussen bzw. indirekt zu bestimmen beginnen.
In einem Aufsatz aus dem Jahre 1939 hat Thomas Mann das Verhältnis von Kultur und Politik zu bestimmen versucht; auf eine Weise, die zwar nicht im Detail, wohl aber dem Tenor nach bereits vieles von dem enthält, was heute im Mittelpunkt der ästhetischen und kulturpolitischen Diskussion steht oder stehen sollte. Thomas Mann stellt fest, daß sein persönliches Bekenntnis zur Demokratie aus einer Einsicht hervorgehe, die seiner deutsch-bürgerlich-geistigen Herkunft und Erziehung ursprünglich fremd war: „der Einsicht, daß das Politische und Soziale ein Teilgebiet des Menschlichen ausmacht, daß es der Totalität des humanen Problems angehört, vom Geiste in sie einzu-beziehen ist, und daß diese Totalität eine gefährliche, die Kultur gefährdende Lücke aufweist, wenn es ihr an dem politischen, dem sozialen Elemente gebricht"
Desiderat ist in der Tat eine Soziokultur, welche die Trennung zwischen der „reinen" Welt des Geistes und den Niederungen der Realität (eben der politischen und sozialen Verhältnisse) durchbricht, um auf diese Weise die deutschbürgerliche Mentalität in eine staatsbürgerliche umzuwandeln, welche die Integration von Kultur in den gesellschaftlichen Gesamtraum bejaht.
Thomas Mann hatte selbst auf profilierte Weise in den „Betrachtungen eines Unpolitischen", — und in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1939 nimmt er kritisch darauf Bezug — im Namen der Kultur und der geistigen Freiheit der Politisierung des Geistes mit allen Kräften sich widersetzt. „Ich sage: sogar im Namen der Freiheit; denn unter dieser verstand ich dem Gepräge meines Denkens gemäß sittliche Freiheit — von deren Beziehung zur bürgerlichen Freiheit ich wenig wußte und wenig wissen wollte" Genau aber darum gehe es heute: die Trennung zwischen sittlicher Freiheit und bürgerlichen Freiheit aufzuheben. Kultur ist nicht der Raum, in den sich der Geist zurückziehen oder in dem er sich, abgelöst von den Realitäten, unbekümmert bewegen kann, sondern der gemeinsame Bereich von Reflexion und Tätigkeit. Thomas Mann stellt mit Nachdruck fest, daß es ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit gewesen war zu glauben, man könnte ein unpolitischer Kulturmensch sein. Er weiß, daß die Kultur in schwerste Gefahr gerät, wenn es ihr am politischen Instinkt und Willen mangelt; „kurzum das demokratische Bekenntnis drängte sich auf die Lippen und wollte trotz allen Hemmungen antipolitischer Tradition abgelegt sein"
In Hinblick auf die heute vorherrschende Bewußtseinslage wird man konstatieren müssen, daß nach wie vor der Irrtum deutscher Bürgerlichkeit, ein unpolitischer Kulturmensch sein zu können, vorherrscht. Man sollte dieses Faktum nicht allein auf ein eventuell tiefsitzendes Ressentiment gegenüber der Politik zurückführen, sondern vielmehr auf die Tatsache, daß es bis heute nicht gelungen ist, Modelle von Soziokultur so überzeugend anzubieten, daß sie das Bewußtsein entsprechend zu verändern vermögen. Manche Kräfte, die eine Politisierung der Kultur anstreben, verwechseln dies mit Agitation und erreichen damit genau das Gegenteil. Der Lernprozeß findet nicht statt, die deutsche Bürgerlichkeit fühlt sich im Gegenteil in ihrem Irrtum bestätigt: daß eben der unpolitische Kulturmensch letztlich doch der eigentliche Kulturmensch sei. Soziokultur heißt weder Agitation noch Ideologisierung. Soziokultur ist der Versuch, vorrangig, neben anderen Aspekten, Kunst als Kommunikationsmedium zu begreifen — als eine und zwar sehr gewichtige Möglichkeit, die plurale (und damit auch in vielfältige Einzelinteressen, Interessenskonflikte, Verständigungsbarrieren zerklüftete) Gesellschaft auf die „kommunikative Ebene" zu bringen. Kunst vermittelt dabei weniger Inhalte für Kommunikation, wohl auch diese; sie stellt vor allem kommunikative Strukturen her. Darunter ist zu verstehen: 1. Die Bereitschaft, aus sogenannten Selbstverständlichkeiten herauszutreten und damit Befragungssituationen, Frag-würdigkeiten und Bedenk-lichkeiten herzustellen. 2. Überwindung der (psychosomatisch mitbedingten) immer wieder sich einstellenden Denkträgheit durch Denkanstöße (bis zur Provokation), um auf diese Weise den dialektischen Prozeß von Kommunikation einzuleiten. 3. Vermittlung vielfältiger Wahrnehmungsweisen, wobei die Pluralität der Apperzeption auch zu einem Plural der Standpunkte und Denkpositionen hinführt.
Mit anderen Worten: Kunst ist in besonderem Maße in der Lage, jene „Auflockerung" zu erreichen, welche die Voraussetzung kommunikativer Prozesse darstellt. Erst wenn diese Auflockerung (Aleatorik) erreicht ist, wird Kommunikation aus dem Mißverständnis befreit, sie sei Aneinanderreihung stereotypisierter (unbeweglicher und unbewegbarer), aus der jeweiligen Ideologie und Position heraus entwickelter Affirmationen. Sie soll vielmehr sein: Rückkoppelungsprozeß, gegenseitige, durch Argumentation bewirkte geistige Annäherung bzw. gemeinsames Bemühen um Wahrheit, was selbstverständlich Widersprüchlichkeit einschließt. Kunst kann die für Kommunikation wichtige Einsicht vermitteln, daß Wahrheit immer wieder weiterentwickelt, „fortgeschrieben" werden muß. Wahrheit als Weg und nicht als Besitz.
Bei der Erfüllung ihrer kommunikativen Aufgabe spielt die Plausibilität von Kunst eine besondere Rolle. Kunst ist „direkt" eingängig, ein Medium, das aufgrund seiner semiotischen Möglichkeiten die Heterogenität unterschiedlicher gesellschaftlicher Bewußtheit zu überwinden oder auszugleichen vermag. Diese idealtypisch angenommene Plausibilität von Kunst findet freilich „Widerstand" — einmal auf seifen der Kunst und einmal auf seiten des Publikums. Kunst, die ihre gesellschaftskommunikative Aufgabe ablehnt, sich völlig in private Mythen oder privatistischen Formalismus zurückzieht, entäußert sich ihrer Plausibilität. Es ist freilich sehr schwer zu bestimmen, wann dieser Umschlag aus dem kommunikativen in den hermetischen Bereich stattfindet. Vieles, was durchaus plausibel ist, wird als privatistisch verschrien, weil die Rezeptionsbereitschaft des Publikums durch Ideologie zerstört ist. Damit ist das zweite Hindernis für Plausibilität angesprochen, nämlich die Aufnahmesperre des Publikums. Wenn die Menschen nicht daran gewöhnt sind, sich der unkonventionellen, variablen, axiomatisch pluralen Artikulation der Kunst zu öffnen, liegt deren Plausibilität brach; es handelt sich dann sozusagen um eine „Plausibilität zweiten Grads".
Als didaktische Folgerung ergibt sich daraus: nicht positivistischer Unterricht in Kunst-, Literatur-und Kulturgeschichte, sondern Versuch, die Strukturen künstlerischer Kommunikation zu vermitteln; vor allem auch durch ein Lernen im Tun, d. h. durch die Förderung kreativer Tätigkeit, die in eigener Aktivität die Eigenart künstlerischer Kommunikationsprozesse erleben läßt. Zu einer modernen ästhetischen Erziehung gehört im Bereich der visuellen Kommunikation: die Fähigkeit, durch Einsicht in die „Bildgrammatik" und „Bildsemantik" die optische Codierung decodieren zu können; im literarischen Bereich: die Einsicht in die Funktion von Metaphorik und Symbolik sowie die spielerische Funktion von Sprache. Im besonderen muß angesichts der Eigenart moderner Kunst eine Sensibilisierung dahin gehend erfolgen, daß die „direkten" Signale der Kunst adäquat ausgenommen werden. T. S. Eliot spricht von dem „evokativen Äquivalent" als einem Zentralbegriff moderner Ästhetik. Er meint damit, daß Kunst ein „äquivalentes", ein latentes seelisch-geistiges Potential zu wecken vermag: die Erregung von Gefühlen und Empfindungen, die im einzelnen oder in einer gesellschaftlichen Gruppe zwar angelegt sind, aber erst durch die Kunst in Bewegung gesetzt werden — auf einen Weg, auf dem sie sich zum Gedanken, zum Problem und zum Handeln entwickeln.
Was heute die Misere und Malaise des modernen Bewußtseins ausmacht, besteht vielfach darin, daß im Rahmen der Informationsüberfütterung bzw. Informationsverschmutzung zwar ein großes Potential von Empfindungen und Gefühlen vorhanden ist, diese jedoch nicht mehr reflektiert werden. Hier hat Kunst eine Auslösefunktion: sie entbindet, was der allgemeinen Diffusion verhaftet ist, ermöglicht so die „Auskristallisation" von Bewußtheit.
III. Affirmative Kultur
Thomas Manns Aufsatz aus dem Jahre 1939 steht dem Gedankengang nahe, der Herbert Marcuses Aufsatz „Uber den affirmativen Charakter der Kultur" (1937) bestimmt Was Thomas Mann die „Frucht eines ästhetizistischen Kulturbürgertums" nennt, den Barbarismus der Gesinnung, Mittel und Ziele (er bezieht sich dabei auf den Nationalsozialismus), wird bei Marcuse in differenzierenderer und umfassenderer Art unter dem Begriff der „affirmativen Kultur" gedeutet. Marcuse geht davon aus, daß in der bürgerlichen Epoche die Theorie des Verhältnisses zwischen Notwendigem und Schönem, Arbeit und Genuß entscheidende Veränderungen erfahren hat. Die Ansicht, nach der die Beschäftigung mit höchsten Werten an bestimmte gesellschaftliche Schichten als Beruf gebunden sei, verschwinde, und an ihre Stelle trete die These von der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit der Kultur. Die antike Theorie habe mit gutem Gewissen ausgesprochen, daß die meisten Menschen ihr Dasein mit der Besorgung der Lebensnotwendigkeiten verbringen müssen, während ein kleiner Teil sich dem Genuß und der Wahrheit widmen könne. So wenig sich der Sachverhalt geändert habe: das gute Gewissen sei aber nun verlorengegangen. „Es soll nicht mehr wahr sein, daß die einen geboren und würdig sind für die Arbeit, die anderen für die Muße, die einen für das Notwendige, die anderen für das Schöne."
Zugleich jedoch wird Kultur von Zivilisation unterschieden und vom Gesellschaftsprozeß soziologisch und wertmäßig entfernt. Dies bezeichnet Marcuse als affirmative Kultur. „Unter affirmativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur verstanden, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung da-zu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum, , von innen'her, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann. Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag empor-gesteigerte Würde: ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung."
An anderer Stelle stellt Marcuse fest, daß die affirmative Kultur in ihren Grundzügen idealistisch sei. „Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der bloßen rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums."
Eine solche Feststellung wird verifiziert durch den Gang der deutschen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Die nicht-affirmativen Strömungen verliefen gegen die Vorstellungen von Kulturpolitik und Kulturverwaltung. Diese förderten die affirmative Kultur, d. h.den epigonalen Konformismus, die Ja-Sager-Kunst. Klassik, Romantik, Realismus, Naturalismus, Expressionismus, Surrealismus, um einige Stilrichtungen herauszugreifen, befanden sich jeweils in Opposition zu dem, was offiziell gebilligt wurde. Es dominierten der Romantizismus und Klassizismus, speziell die Heimatkunst, die sich zunehmend völkisch gerierte und in der nationalistischen (später nationalsozialistischen) Blut-und Boden-Kunst endete. Das Trias des Schönen, Guten und Wahren, Begriffe, die zu Mythen geworden waren, implizierte keinen rationalen Auftrag mehr, sondern stellte Wirklichkeitsersatz dar, Illusion einer besseren Welt. Die im Wilhel-minismus einen ersten Höhepunkt erreichende, und dann im Nationalsozialismus kulminierende Zerstörung des deutschen Geistes ist mit das Werk einer Kulturpolitik gewesen, die in leerer Gestik sich selbst beweihräucherte.
Eine wichtige Aufgabe der Kulturpolitik und Kulturverwaltung von heute muß es sein, Kultur in einem nicht-affirmativen Sinne zu vermitteln. Kultur muß so artikuliert, angeboten und dargeboten werden, daß der Rezipient nicht von vornherein in eine „Weihestunde des Geistes" versetzt wird, sondern er Kultur, nicht zuletzt aufgrund der Syntax, Semantik und Pragmatik von „Kulturwerbung", als alltägliche Angelegenheit begreift. Kunst ist keine Walhalla, der sich der Geist devot zu nähern hätte; Kultur ist etwas, das man wie soziale oder politische Probleme „ungeniert" anpacken kann und soll. Erst wenn diese „unbekümmerte" (und spielerische) Haltung den kulturellen Gegenständen gegenüber erreicht ist, eingeübt vom Kindergarten an, kann die emanzipatorische Vision, daß die Beschäftigung mit den kulturellen Werten nicht mehr an bestimmte gesellschaftliche Schichten geknüpft sein darf, verwirklicht werden. Ästhetische Erziehung muß dabei alle Bereiche berücksichtigen, die früher als „Zivilisation" eingestuft wurden — insbesondere die Gestaltung der Umwelt, der Städte, der Wohnungen.
Affirmative Kultur — dies ist vielfach das Mißverständnis einer aktionistischen „Linken" —, wird nicht dadurch nicht-affirmativ, daß man ihr Demonstrationen und Unterschriftensammlungen anhängt. Es ist kein revolutionärer Akt, neben dem im Frack gekleideten Orchester die rote Fahne aufzuziehen, oder bei der Verbeugung auf der Opernbühne im Rollkragenpullover zu erscheinen. Die Accessoires, die der Revolutionsmode entstammen, also direkt aus den linken Boutiquen geliefert werden, demonstrieren eine lediglich reziproke affirmative Kultur.
Nicht-affirmative Kultur ist eine Kultur, die das Bewußtsein des Menschen aus seinem gesellschaftlichen Sein heraus begreift, also nicht mit „freischwebender" Seelenschönheit sich begnügt. Marcuse meint, daß das Medium der Schönheit die Wahrheit „entgifte" und sie von der Gegenwart abrücke. Was in der Kunst geschehe, verpflichte zu nichts. Sofern eine solche schöne Welt nicht überhaupt als eine längst vergangene erscheine, werde sie durch den Zauber der Schönheit entaktualisiert. Nur im Medium der Schönheit durften die Menschen am Glück teilhaben.
Von hier aus ist in der Tat Skepsis der Schönheit gegenüber angebracht. Freilich ist „Schönheit" erst zu definieren, damit Mißverständnisse vermieden werden: kritisch gemeint ist der formale Glanz, die irisierende Glasur, die im besonderen die epigonale Kunst charakterisieren, der Kitsch, der eine große Verführungskraft ausübt. Die Bekämpfung des Kitsches ist eine wichtige kulturpolitische Aufgabe, nicht weil ein geschmacklicher Rigorismus sich durchsetzen soll, sondern weil der Kitsch-Mensch total dem schönen Schein sich ausliefert: hinweggezaubert durch Sinnlichkeit, wird Gedanklichkeit dispensiert.
Kulturpolitik sollte bei der Bekämpfung von „Kitsch" sich an Hermann Broch orientieren „Das Wesen des Kitsches ist die Verwechselung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie, er will nicht , gut', sondern , schön'arbeiten, es kommt ihm auf den schönen Effekt an. . . . wenn er seiner konservativen Anlage gemäß den Menschen die Sicherheit des Seienden zur Rettung aus drohender Dunkelheit zu vermitteln sucht, so ist der Kitsch, weil er Imitationssystem ist, doch nur reaktionär, und so wie er, zum Beispiel als utopische Tendenz-kunst, den Blick in die Zukunft verkürzt und sich begnügt, die irdisch-endliche Wirklichkeit zu verfälschen, ebenso ist sein Blick in die Vergangenheit zu kurz geraten.“
IV. Die technische Reproduzierbarkeit von Kunst
Walter Benjamin stellte in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936) fest, daß sich die Reproduktion, wie sie illustrierte Zeitungen in Bereitschaft halten, vom Bilde dadurch unterscheidet, daß in diesem Einmaligkeit und Dauer, und in jenem Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit eng miteinander verschränkt seien. Die Reproduktionstechnik löse das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. „Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für das Gleichartige in der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt." Die Aura (Einzigkeit und Wirkungskraft) der Kunst sei an ein Hier und Jetzt gebunden. Es gäbe kein Abbild von ihr. „Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum und den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darsteller ist, fortfallen — und damit zugleich die um den Dargestellten." Durch ihre technische Reproduzierbarkeit werde die autonome Kunst aufgehoben. Der Anspruch auf Echtheit und Unantastbarkeit vergehe.
Aufgrund der veränderten Struktur des Kunstwerks verändern sich die Organisation der Wahrnehmung und die Rezeption von Kunst. An die Stelle des individuellen Kunstgenusses trete die Massenrezeption, bei der Genuß und Kritik eine Einheit bilden können. Das „entauratisierte“ Kunstwerk setze durch Schocks Erfahrungen frei (etwa durch den Assoziationsablauf der Filmbilder), und diese Schocks lösten den esoterisch-kultischen Bann auf, mit dem die bürgerliche Kultur den einsamen Betrachter kraft ihres affirmativen Charakters belege Es erfolge die Politisierung der Kunst; ihre Fundierung aufs Ritual werde durch ihre Fundierung auf Politik ersetzt. In der faschistischen Massenkunst freilich, die mit dem Anspruch einer politischen Kunst auftrete, ergäbe sich die Gefahr einer falschen Aufhebung autonomer Kunst. Die Kunst als autonomer Bereich werde durch diese Propaganda-kunst zwar liquidiert, aber hinter dem Schleier der Politisierung diene sie in Wahrheit der Ästhetisierung nackter politischer Gewalt. Der Kult-Wert der bürgerlichen Kunst werde durch den manipulativ-hergestellten ersetzt, der kultische Bann gebrochen, um auf andere Weise erneuert zu werden. Die Massenrezeption erweise sich als Massensuggestion.
Die technische Reproduzierbarkeit hat durch das Fernsehen ein Ausmaß erreicht, wie es zum Zeitpunkt, als Benjamin seinen Aufsatz schrieb, noch nicht vorstellbar war. Die Gefahr, daß die durch die technische Reproduzierbarkeit ermöglichte Massenrezeption, der wegen der Zerstörung der Aura des Kunstwerks und seiner kultischen Fundierung eine emanzipatorische Tendenz zugrunde liegt, durch Massensuggestion ersetzt wird, nimmt zu. Die Folge von Schocks, welche die technische Reproduktionskunst kennzeichnet, ist derart massiv, daß eine Abstumpfung eintritt. Was Benjamin bei der Schockwirkung des Films festzustellen glaubte: daß nämlich jede Schockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen wird, schlägt ins Gegenteil um. Die Geistesgegenwart verliert sich; der Informationsfülle gegenüber rettet sich überforderte Sensibilität in den leeren Genuß von „Bildhüllen". Die Schockimpulse werden nicht verarbeitet, sondern hingenommen. Diese Gefahr ist um so größer, als Kulturpolitik und Kulturverwaltung bislang wenig für audiovisuelle Medienpädagogik sich engagiert haben. Erst in letzter Zeit hat man, etwa durch die Planung kommunaler Kinos und audiovisueller Zentren, begonnen, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Daß durch technische Reproduktion (als Destruktion des schönen Scheins zugunsten der dokumentarischen Faktizität) Kunst wieder gesellschaftlicher Wirklichkeit integriert werde, ist nur dann richtig, wenn die Massen-rezeption in die Lage versetzt wird, die Codierung der technischen Reproduktionskunst wieder zu decodieren. Das Problem besteht darin, daß die „Bilder" der technischen Medien weitgehend mit Wirklichkeit gleichgesetzt werden und somit nicht begriffen wird, daß es sich auch hier „nur" um eine Zeichensprache handelt, die durch ihre Syntax (das Bezugssystem ihrer Elemente), ihre Semantik (die überlieferten Bedeutungen), ihre Sigmatik (die Beziehung zwischen den Zeichen und dem, was sie bezeichnen) und ihre Pragmatik (die Beziehung der Zeichen zur Sende-oder Empfangs-person) bestimmt ist. Damit visuelle Kommunikation nicht zur Suggestion wird, muß Mediendidaktik am Werk sein. Sonst tritt genau das ein, was Benjamin angesichts der faschistischen Propagandakunst erkannte: nämlich die Ersetzung des zerstörten Kult-Werts durch den manipulativ-hergestellten.
V. Festival-Kultur
Eine Analyse der in den drei Abhandlungen über das Verhältnis von Kultur und Politik, über die affirmative Kultur sowie über die Folgen der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst gemachten Überlegungen ergibt, daß hier Aussagen vorliegen, die über die Kritik am vorherrschenden Kulturbegriff hinaus eine neue Vorstellung und Praxis von Kultur ermöglichen könnten. Daneben, d. h. neben solchen, eine Reflexion über Kultur initiierenden, motivierenden Tendenzen, läuft der breite Strom des allgemeinen Kulturpessimismus weiter; ein meist ziemlich substanzloses Geseire über die „bedrohte Kultur", das sich bereitwillig (gegen gutes Honorar) dem Kulturbetrieb amalgamiert. Jüngst hat Eugene Ionesco in Salzburg eine entsprechende „Mahnung" ausgesprochen. „Ein Theater-und Musikfestival scheint eine Art Herausforderung an die universelle Angst zu sein. Ich fühle mich auf einer Insel inmitten sturmgepeitschter Wogen. Einige wenige europäische Länder, also nur ein kleiner Flecken auf unserer Erde, bieten uns noch zweifelhaften Schutz. Darüber hinaus herrscht das Inferno. Wird dieses Festival in einem oder in zwei Jahren noch stattfinden? Jegliche Katastrophe kann schon morgen eintreffen. Unsere sogenannte Kultur scheint nur noch ein Kartenhaus ..."
Ein solcher Text macht eigentlich nur deutlich, daß ein Dichter, ohne zu denken, nicht sprechen sollte. Was an Gefährdungen vorhanden und zuhanden ist, wird zusammengequirlt und metaphernreich beschworen. Es fehlen Hinweise auf die Gründe der sich andeutenden „Katastrophe“ genauso wie auf die Möglichkeiten einer Therapie. Die große Pose dominiert, so daß das, was vom Inhalt „aufrütteln“ könnte, von der Form her wieder neutralisiert wird. In der Euphorie abendländischer Katastrophenstimmung zeigt sich das „Rettende" doch: als eitle Selbstbespiegelung im Inferno. Man genießt den Kulturkonsum, den man denunziert.
Die Mythe des Kulturkonsums (kulinarischer Kultur, der Kultur der leisure dass) ist das Festival. Es repräsentiert, in den Augen seiner Kritiker, unreflektierte, affirmative Kulturpolitik. Die snobiety goutiert alles: Abendland und Zerstörung des Abendlands; Komödie und Tragödie; Rausch und Schock — nur muß es „schön" sein und darf nicht politisch werden. Als Götz Friedrich 1972 in Bayreuth den „Tristan“ inszenierte und dabei den rebellischen Wagner hervorkehrte (in einer dennoch sehr kulinarischen und zugleich zurückhaltenden Weise), empörte sich die anwesende Hautevolee im tiefsten Herzensgründe. Franz Josef Strauß schrieb an die „Welt am Sonntag"; „Es erschienen Figuren auf der Bühne, von denen man nicht wußte, ob es sich um Mitglieder des SSD in Ausgehuniformen handelte oder um eine infolge des . Endsieges'dem Publikum damals nicht mehr gezeigte Variante der SS-Uniform . . . Tannhäuser war nicht mehr der Held eines Weihespiels, der zwischen irdischer und himmlicher Liebe hin-und hergerissen wurde, sondern ein Gesellschaftsrevolutionär."
„Meine letzte Erinnerung an Salzburg ist alpdrückerisch", meinte Siegfried Melchinger in einer tour d'horizon der Festspiellandschaft, „Menschenmauern hinterm Polizeikordon, vor dem Festspielhaus unter Regenschirmen; Wagenauffahrt, Scheinwerfer und Blitzlichter, weiße Smokings und Haute Couture. Curd Jürgens, die Begum, Minister, Millionäre, die große Gala in den Couloirs, bis dann im Saal die Lampen verlöschen und der Maestro am Pult erscheint." Solche Gala-Äußerlichkeiten signalisieren die Brüchigkeit von Kulturinstituteh und -institutionen, die immer noch so tun, als sei der welke Charme eines Hofmannsthal für unsere Zeit weiter gültig; als ob die Stützen und Spitzen der Gesellschaft eine Kultur zu tragen vermöchten, die ohne radikale Besinnung auf die Notwendigkeit einer Massenkultur (ohne Anführungszeichen!) lediglich die Euphorie ihrer Agonie hinauszuzögern vermag. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Es geht nicht darum, gegen Kleider-Moden zu polemisieren und in den Irrtum vieler Linken zu verfallen, die sich durch Gebraudit-Kleider-Tracht schon sozialisiert vorkommen. Einer aus der Gruppe derer mit Revoluzzer-Look sagte kürzlich bei einer Tagung zu einem Unterprivilegierten (einem Fahrer, mit Anzug und Krawatte): er, als Professor, trage Hosen mit aufgesetzten Flecken, damit nicht der Anschein einer sozialen Kluft zwischen den Intellektuellen und der Arbeiterschaft entstünde. Viele schreiben links und dinieren rechts. Man wähnt sie auf der Straße und trifft sie im Feinschmeckerlokal.
Die Festivalkultur — rechter wie linker Provenienz —-hat noch nicht erkannt, wie notwendig es wäre, sich zu „öffnen", nicht nur in Hinblick auf die finanziellen Barrieren, wie sie eben die Galakultur, zumindest psychologisch, aufrichtet; sondern in Form geistiger Öffnung, wodurch affirmative Selbstbestätigung zurückgedrängt und Problematisierung wie Verunsicherung eingelassen würden. Es gibt Beispiele für diese Öffnung, etwa die Uraufführung von Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige" in Salzburg 1972; zu fragen Ist freilich, ob das Festival-Publikum überhaupt in der Lage ist, solche Provokation zu verstehen. Bernhard hat ein Stück geschrieben, das sich dem Opernbetrieb zuwendet. Sein Grundgedanke: Der Mensch ist „Präparat"; einmal ein Gesangsmechanismus, Theater-puppe, perfekte Kunstfigur; ein andermal Objekt der Wissenschaft, Kadaver, Hülse für nichts. Wenn die Sängerin ihre Arie „abgezogen" hat, ist Kultur „geschehen" und zugleich „erledigt". Kunst erweist sich als Schein; nichts, — aber darüber Glasur. Bernhard nennt — drastischer als Benn, für den ja Form zugleich „Rettung" war („Unsere Ordnung ist der Geist, sein Gesetz heißt Ausdruck, Prägung, Stil") — die Kultur einen Misthaufen. Die Entfremdung zwischen Mensch und Kultur sei total, da gerade diejenigen, die sich als „Kulturträger" fühlen, im Kulturkonsum nichts anderes tun, als Kultur zu deformieren und zu vernichten.
Wenn man in der Kunst auch und vor allem das Bestreben sieht, Tod und Vergängnis das „bleibende" Bild zu entreißen, den Augen-blick zu fixieren, Wahrnehmung über die Zeiten hinweg zu ermöglichen, so hat sich durch die technische Reproduzierbarkeit von Bildern eine neue Form der Wahrnehmung entwickelt, die auf Sogkraft und nicht auf Bewußtwerdung vertraut. Die Reklame-Mythen (als Trivial-mythen) versuchen Eindimensionalität zu stabilisieren, also den der wahren Kunst immanenten Widerspruch von Wahrheit und Realität, Idee und Erscheinung zu verschleiern. Die in den Reklametopoi vorgelegten Glanzbilder vom schöneren Leben sind weder durch den Als-ob-Charakter des Idylls noch durch utopische Sehnsucht bestimmt; sie substituieren Tagträume durch Wirklichkeitsbehauptung, tun also so, als ob der Mensch das besitze, wonach er letztlich nur streben kann. Die Mythen der Reklamewelt, die den Menschen zurückbringen auf eine Frühphase seiner Entwicklung, nämlich auf die der Absättigung durch sensualistischen Reiz, machen Kunst als sentimentalische Betätigung (im Sinne Schillers) scheinbar überflüssig. Angesichts der Regression ins Eindimensionale ist jedoch Kunst notwendiger denn je: Gegenkraft zu den Trivialmythen, Chance der Progression.
In einem Beitrag in dieser Zeitschrift hat Karin Thomas kürzlich die Wandlung der Kunst vom Kulinarismus zur Problemvisualisierung beschrieben. Wenn sie feststellt, daß immer noch das künstlerische Objekt bzw. die künstleri-sehe Idee in der Vorstellung breiter Schichten als zweckunabhängiges, kulinarisches Freizeit-vergnügen privilegierter Bildungsbürger gelte, die Beschäftigung und der Handel mit den Produkten der Kunst eben nur auf Grund größeren Wissens möglich sei, so ist damit indirekt auch ein Vorwurf gegenüber einer Kulturpolitik und Kulturverwaltung erhoben, die dieses Mißverständnis gegenüber moderner Kunst bislang nicht genügend abbauen konnten. Aufgabe von Kulturverwaltung und Kulturpolitik sollte es dagegen sein, die hermetische Aura von Kunst zu durchbrechen und den Kommunikationsprozeß zwischen Kunst und Publikum als gesellschaftspolitische Priorität zu begreifen. „Die Tradition einer kulinarisch konzipierten Ästhetik ist endgültig zu Grabe getragen, die Kunst hat sich in der Kommunikation der realen Zeitsituation ein neues Wirkungsfeld erobert, sie wird zum experimentellen Modellentwurf, zur Visuellen Demonstration von Zuständlichkeit und Veränderung, sie wandelt sich vom kulinarischen Vergnügen zur experimentellen Problemerforschung der Umwelt."
Während Festival-Kultur, kultureller Jargon und die Mythologisierung Bewußt-losigkeit verbreiten, ist Kunst längst auf dem Wege, kritisches Bewußtsein zu mobilisieren; Kunst ist also nicht mehr dazu verdammt, Kunst zu bleiben. Daß sich dabei neue Probleme auftun, ist unbestreitbar.
VI. Mentalitätsmuster des Kulturverständnisses
Kehren wir zurück zum Rollenspiel des Kultur-verwalters. Die „Stichworte" für die Problematisierung seines Selbstverständnisses werden ihm somit geliefert: 1. durch neue, bisherige Ästhetik und bisheriges Kulturverständnis in Frage stellende theoretische Überlegungen; 2. durch kulturpessimistische oder kulturaffirmative Verlautbarungen, die das Gute, Schöne und Wahre unbefragt lassen; 3. vom Kulturjargon, der „beliebig" aus dem imaginären Museum der Denksysteme und Denkpositionen immer wieder allerlei ä la mode zusammencollagiert; 4. vom Kulturskeptizismus, der den kulturellen Bemühungen absolute Hoffnungslosigkeit bescheinigt, ehe nicht die Gesellschaft revolutioniert sei; (und dann: Warten auf die nächste Revolution!).
Der Kulturverwalter hat also einige Schwierigkeiten, zu einem neuen Selbstverständnis zu kommen und sein Verhältnis zu den ihm umgebenden Kräften und Mächten zu klären. Er muß sich zurechtfinden, sich „einrichten" in einem Problemfeld, das bestimmt ist durch völlig neue Wertungsmuster. Die so entstehende Verunsicherung muß nicht zur Unsicherheit führen; im Gegenteil: eine Kulturverwaltung, die ihre Tätigkeit selbst problematisiert, ohne deshalb in Verwirrung zu geraten, wird erfolgreicher (d. h. dynamischer) arbeiten als eine Kulturverwaltung, die allein aus der Pseudosicherheit der Überlieferung heraus tätig ist.
Was nun die Wertungsmuster der politischen und gesellschaftlichen Kräfte betrifft, deren Erwartenshaltungen und Forderungen Kulturverwaltung sich heute gegenübersieht, so stelle ich folgende, an Hand von Auffälligkeitsmerkmalen erkennbare Positionen fest:
Ein Mentalitätsmuster, für das die Beschäftigung mit kulturellen Fragen lediglich an einigen peripheren Stellen aufgesetzt ist: Man weiß zwar nicht, zu was Kulturarbeit notwendig oder nützlich sein soll, gesteht sich dies jedoch (wohl aufgrund eines durch Erziehung injizierten Baedeker-Bewußtseins) nicht ein und kompensiert den Mangel an Unsicherheit durch Affirmation: Kultur ist nicht überflüssig; ein Staat oder ein Volk kann ohne Kultur nicht auskommen, wir sind stolz auf unsere Kulturgüter; der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Ein anderes Mentalitätsmuster kann man den kulturpolitischen Agnostizismus nennen. Man ist weder lur Kultur, noch dagegen; man „bemerkt" Kultur überhaupt nicht. — Theater, Ausstellungen, Literatur etc. finden unter Ausschluß dieses Teils der Öffentlichkeit statt. Das Verhältnis zur Kultur ist hier weder aggressiv noch affirmativ, es ist indifferent. Die geistigen Bedürfnisse werden „abgesättigt'1 durch Fernsehen, Illustrierte und Konsum. Was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn — wie es hier der Fall ist — der größte Teil seiner Bürger kulturell agnostisch sich verhält, ist sozialpsychologisch noch nicht ergründet. Natürlich war zu früheren Zeiten, prozentual gesehen, der kulturelle Agnostizismus noch viel größer, da Kunst und Kultur lediglich von einer kleinen Schicht (eben derjenigen, die zur leisure dass gehörten) konsumiert werden konnten; allerdings hat auch der Triebstau zugenommen; der hohe Pegelstand kollektiver Frustrationsaggressivität in der Industriegesellschaft könnte durch ästhetische Sublimierung reduziert werden.
Ein drittes Mentalitätsmuster verkörpern diejenigen, die Kultur „echt" rezipieren. Was heißt in diesem Zusammenhang „echt"? Wie lassen sich diejenigen, die damit gemeint sind, erkennen? Wer von denjenigen, die an der Kultur partizipieren, gehört dazu? Wer von den Museums-und Ausstellungsbesuchern, wer von den regelmäßigen oder sporadischen Theaterbesuchern, wer von den Besuchern einer Volkshochschule? Akzeptiert man die Axiomatik affirmativer Kultur, dann sind diejenigen als „echt" -kulturell interessiert einzustufen, die sich durch Kultur in eine transzendierende Stimmungslage versetzen lassen, die sich durch Kultur eine Zeitlang entrückt fühlen in eine bessere, schönere, freiere Welt; die sich durch Kultur zumindest partiell überzeugen lassen, daß eben die Welt des Geistes unerschüttert weiterbesteht. Man sollte eine solche Überzeugung nicht nur ironisieren. Sie kann in der Tat Kraft dazu geben, Probleme des individuellen wie kollektiven Daseins zu bewältigen. Manches von dem, was im Konjunktiv der Kunst erfühlt und erlebt wird, wirkt sich dann doch „irgendwie" im Indikativ der Realität aus.
Mißt man „echt" an der Axiomatik der nicht-affirmativen, also der dialektischen Kultur, so sind damit vor allem diejenigen gemeint, die jenseits der Moden und gesellschaftlichen Zwängen Kunstwerke internalisieren, sich auf diese Weise in eine kreative und kritische Unruhe versetzen lassen, aus der heraus sie ihr alltägliches wie berufliches Leben verändert ansehen und gestalten. Die Vokabel „Lebenshilfe“ ist zwar verbraucht; daß Kunst jedoch, indem sie Geist und Empfinden „bewegt", im Leben „hilft", wird durch verbale Abnutzungserscheinungen nicht tangiert.
Schließlich sei eine vor allem in den letzten Jahren immer stärker werdende Mentalität erwähnt, die, indem sie den Funktionswert Von Kultur allein nach deren Gesellschaftsrelevanz beurteilt, am stärksten vom „gängigen" Kulturverständnis sich unterscheidet. Kultur ist, von dieser Position aus, die man nur sehr pauschal als „links" bezeichnen kann, alles, was systemüberwindende oder systemübergreifende Reform bzw. Revolution initiiert und absichert. Solche Demonstrations-und Protest-kulturverschiebt die Beurteilung von Mitteln und Formen auf die Ziele; „schön" ist, was die Gesellschaft weiterbringt; was sie weiterbringt, ist die Überwindung des Spätkapitalismus, denn die Herrschaft des Menschen über den Menschen muß aufgehoben werden — dem hat Kunst zu dienen.
Dieses Kulturverständnis attackiert vor allem die Form als leeren Schein; was z. B. bei Gottfried Benn als heroisch empfunden wurde: daß der Mensch seiner Existenz als Existenz im Nichts durch Formalität einen Sinn zu geben vermag („Nichts, aber darüber Glasur"), erscheint hier als spätbürgerlicher Ästhetizismus, der mit dem Alibi der Schönheit über sein humanitäres und soziales Versagen hinwegzutäuschen sucht. Die hedonistische Linke fixiert demgegenüber ihre Position wie folgt: „Ästhetische Erziehung, Erziehung zur Genußfähigkeit, zu bewußter Sensibilität kann zwar keine Breschen in die Mauer der Unmenschlichkeit schlagen, aber sie kann den Klassenkampf stimulieren und zu Daseins-und Bewußtseinserweiterung führen. Vergessen wir nicht: Bewußte Sensibilität ist potenzierte Sensibilität. Wer nicht fühlen will, will auch nicht denken und umgekehrt. Sensibilität macht nicht nur für Lust, sondern auch für Leid empfänglich. So gehörten die Hedoniker ins Lager der Aufklärung und auf Seiten der Unterdrückten, es sei denn, sie begnügen sich damit, Armut als einen . schönen Glanz von innen’ zu verklären und die zerbrochenen Steine der Vergangenheit zu bewundern und zu beweinen. Ästhetische Erziehung wird freilich folgenlos bleiben, wenn sie sich nicht solidarisiert mit den Befreiungskämpfen der Unterdrückten und das wiederum geht nicht ohne Opfer und Risiken."
Natürlich treten diese Wertungs-und Mentalitätsmuster dem Kulturverwalter in vielfältiger individueller Ausprägung entgegen, in immer neuen „Mischformen" — als Stadtrat, Hausfrau, Bürgerversammlungssprecher, Leserbrief-schreiber, Student, Theater-und Konzertbesucher; als Verwaltungsvermerk, Feuilleton, Volkesstimme; als direkter und versteckter Angriff, als Intrige und Belobigung. — Geht man mit Kunst auf die Straße, hat man die Musentempler gegen sich; akzeptiert man, daß eine Gesellschaft ohne gewisse Rituale nicht auskommen kann, so erregt dies die Informalisten und Happening-Aktivisten. Bei seinem Amtsantritt in Frankfurt hat Hilmar Hoffmann gefordert, daß verantwortliche Kulturpolitik sich selbst neu definieren müsse: „Nicht nur auf der Folie einer angeblich bewährten Bildungsnomenklatur, sondern auf dem Prospekt dessen, was der einzelne braucht, um sein Leben selbständig zu gestalten und entsprechend seinem so gewonnenen besseren Verständnis zu handeln. Damit ihre gegenüber jedem einzelnen der Gesellschaft übernommene Verpflichtung keine angemaßte sei, muß ihm das Optimum an Information verschafft werden, um ihn schließlich zu selektiven Entscheidungen darüber zu befähigen, was er sich vom kulturellen Fortschritt aneignen will, wobei Fortschritt keinen Wert an sich darstellt. Diese Aufgabe kann sich nicht erschöpfen in einer die breiteste Teilnahme sichernden Administration. Vielmehr müssen die Inhalte dessen, was vermittelt und wie sie vermittelt werden sollen, neu artikuliert werden. Moderne Kulturpolitik hat ihren öffentlichen Auftrag so zu verstehen, daß sie im Katalog der Erfordernisse für das Einrichten der Zukunft auch alle (gesellschaftlich relevanten) Zu-leistungen zum kommunalen Kulturleben, oder was dies idealerweise sein könnte, berücksichtigt. Ferner wird sie gegen das nicht selten altertümliche kulturelle Repräsentationsbedürfnis der Gemeinden Alternativen entwickeln." Transponiert man diese vernünftigen Zielsetzungen in die Alltagspraxis, z. B. einer Bürgerversammlung, wird man auf weitgehendes Mißverständnis oder Unverständnis stoßen. Man will dort gar nicht die Demokratisierung und Dynamisierung der Kultur, da geistige und seelische Unruhe dem eigenen Idi ein Stück Saturiertheit wegnimmt; den meisten genügt, wenn die Kultur „da droben" (irgendwo) vorhanden ist.
Wenn man Kultur subventioniert, muß man sich fragen, wen und was man damit subventioniert. Aus dem Potpourri der Argumente pro und contra: Pluralistisches Programm — Warenhaus bürgerlicher Kultur! Revolutionäre Sensibilisierung — Verfassungsfeindlichkeit! Förderung der Avantgarde — Verschleuderung der Steuergelder! Fortführung der Tradition — Stillstand im Fortschritt! Unterstützung neuer Strömungen — Konkurrenz und „natürliche Auslese"! Volkspädagogischer Auftrag — Vergnügen kleiner Minderheiten! Was kann, soll, muß, darf man subventionieren! Und was nicht? Ist nur ernste Kunst subventionsfähig, muß sich das Heitere selbst finanzieren? Wo endet „Erbauung", und wo beginnt das Amüsement?
VII. Kunst — Arbeit oder Spiel?
Wer in all dem Fragen und Probleme sieht, wurde kürzlich von Bazon Brock eines Besseren belehrt Der „hoffnungsfroh gestimmten Klientel der Kulturpolitiker" sei zu sagen, daß sie auch im Bereich kultureller Hervorbringungen nichts anderes erwarte als Arbeit. Statt dessen würde die Kulturpolitik vor allem den Sprachdruck der Öffentlichkeit verstärken. Mit dem Sprachdruck der Öffentlichkeit werde z. B. gefordert, daß jeder mitbeteiligt sein solle — mitbeteiligt an Kunst und Literatur, an Schauspiel und Oper, an Musik und Tanz. Was das aber sei, werde entweder mit dem alten öffentlichen Sprachdruck als das Schöpferische oder in einem neuen Sprachdruck als Selbstentfaltung des Menschen gepriesen. Jede praktische Durchführung kulturpolitisch ermöglichten Mitmachens lasse aber gerade diese Bestimmungen zu Klischees werden, da eigene Selbstverwirklichung eben nicht die von Künstlern sein kann.
Ein Kulturpolitiker wolle jedoch etwas zu bieten haben, das Spaß mache, Entlastung bringe, Bereicherung, Verschönerung und Befreiung, was nun gerade aus den Produktionen von nicht ganz verblödeten Künstlern beim besten Willen nicht herauszuholen wäre. Kulturpolitiker wagten es nicht, der arbeitenden Bevölkerung zu ihrem Tagesgeschäft auch noch die Anstrengung des kulturellen Feierabends zuzumuten. Kultur sei nicht zum Vergnügen da. Doch praktiziere man den Betrug mit dem schönen Schein. Lediglich in der Kunst rücke man vom Leistungsprinzip ab.
Bazon Brock, der nicht-normative Ästhetik lehrt, stärkt damit den Rücken einer Kultur-verwaltung, die es den Kulturkonsumenten nicht leicht macht. Wie viele Operetten verträgt ein Spielplan im subventionierten Theater? Darf man sich noch an Tafelbildern erfreuen? — Kunst ist, was schwer ist und schwerfällt. Kunst ist überflüssig, wenn sie vergnügt. Die weitgehend humorlosen Kultur-Rigoristen sind freilich auch, in anderer Form, hedonistisch. Sie vergnügen sich an ihrem Nichtvergnügen; sie genießen ihre Genußlosig-keit. — Wenn Bazon Brock in seinem audiovisuellen Vorwort zur „documenta 72" Aufklärungsarbeit leistet, seine Ästhetik im Konzentrat optisch aufblättert, die den Zugang zur modernen Kunst erleichtern will, so legt er es darauf an, es den „Schülern“ schwer zu machen. Plausibilität gilt nicht. Der Kommentar ist alles. Wären die Orientierungshilfen eingängig, würde man den Zugang erleichtern, verfiele man der kulturverwalterischen Leichtfertigkeit. Also muß man das, was als Verständnishilfe gedacht ist, „beschweren", damit dadurch die Seriosität der Kunst, eben Arbeit zu sein, nicht leidet.
Dagegen kann man schon in Friedrich Schillers Ästhetik nachlesen, daß es die besondere Leistung eben der Kunst ist, die Schwerkraft der Arbeit, die durchaus den Entstehungsprozeß von Kunst kennzeichnet, im Produkt aufzuheben, so daß derjenige, der das Produkt entgegennimmt, bereits den befreiten Zustand des Objektes zu erleben und zu genießen vermag. Im Spielerischen der Kunst ist die Erinnerung an den Arbeitsprozeß „aufgehoben“ — in dem Sinne, die Hegel diesem Begriff gegeben hat: als Erhaltung, Enthebung und Emporhebung. Wer also in der Kunst das qualitativ Andere (etwas anderes als Arbeit zu sein) sieht, verfällt nicht dem Schein, sondern ergreift (begreift) die Eigenart der Sublimierung. „Spiel" wird häufig als Kontrastbegriff zu Leistung empfunden. Der Leistungsbegriff ist dabei a priori mit negativen Vorzeichen versehen: Leistung gilt als Repression, als Zwang, als eine Last, die der eigentlichen menschlichen Entwicklungslinie zuwiderlaufe; Spiel dagegen als eine in Freiheit und mit Lust sich vollziehende Betätigung, als Befreiung von Schwerkraft und Wahrung von Identität. Arbeit sei Entfremdungsprozeß, das Spiel die Rückkehr zum Erlebnis der Nicht-Entfremdung. Die Faszination des Spielbegriffs für unsere Zeit besteht vor allem darin, daß mit ihm innerhalb der sehr stark leistungsorientierten Industriegesellschaft die Zwänge aufgehoben scheinen. In der Tat ließe sich in vielen Bereichen und Fällen Arbeit spielerischer als bisher gestalten, mit stärkerer Lustbesetzung und größerer Zwanglosigkeit durchführen. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Schule, die im Augenblick vorwiegend auf zwanghaftes Lernen ausgerichtet ist. Die Entwicklung einer Spieldidaktik, die Bereitschaft, Lernen durch Gratifikationen zu fördern und nicht mit Sanktionen zu belegen, würde viele der Frustrationen überflüssig machen, die heute durch Erziehungsprozesse hervorgerufen werden.
Spiel ist nur möglich, wenn Spielregeln akzeptiert werden und ein Spielraum besteht. Der Spielbegriff ersetzt nicht Leistung durch Anarchie, sondern Autorität (und Charisma) durch Kompetenz; wobei unter Kompetenz die befragte und befragbare Autorität verstanden werden soll. Der Lehrer etwa, als Spielregler, Moderator, könnte aus solchem neuen Rollen-verhältnis heraus wesentlich dazu beitragen, daß die negativen Aspekte des Leistungsbegriffs zurückgedrängt würden.
Die anderen Bereiche der modernen Gesellschaft wären gleichermaßen unter dem Vorzeichen des Spielerischen neu zu strukturieren und zu revidieren; etwa die Verwaltung, die Wirtschaft, die Politik. Das Arbeiten im Team gehört genauso dazu wie die Bereitschaft, Wahrheit als „Redaktionsschluß" zu begreifen, als eine Kombination von augenblicklich gegebenen Daten, die fortgeschrieben und neu kombiniert werden können und müssen. Solche Relativierung darf selbstverständlich nicht die axiomatischen Setzungen und Sätze aufheben, die Spiel, spielerische Haltung und Spielraum bestimmen: daß nämlich der Mensch ein soziabel-kommunikatives Wesen ist; ein sich fortschreibendes, fortentwerfendes, sich verunsicherndes Wesen; ein sich informierendes, sich aufklärendes, sich aus der Unmündigkeit befreiendes Wesen; ein sich entfaltendes, Zwängen entgegenstehendes, nicht-repressives Wesen. Solche Soll-Setzungen sind dem pluralistischen Konsens durchaus zugänglich. Man kann sie als „urban" bezeichnen, da sie im besonderen den Monostrukturen der Provinz (des Provinzialismus), der Stereotypie und Ideologie der Hinterwelt, entgegenstehen. Spiel und Spielraum sind demnach nichts „Unverbindliches", „Beliebiges", sondern eine der demokratischen Gesellschaft besonders entsprechende moralische Haltung, von der Schiller meint: „Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen und ihn, so weit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, well nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann. ... Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen." Organisierte Zwänge schaffen sich gerne die „Kunstform" des Rituals. Nach Diethardt Kerbs ist das Ritual erkennbar: 1. an seinem Handlungscharakter, an seiner mehr oder minder ausgeprägten Dramatik; 2. an seiner Regelhaftigkeit, d. h. an den standardisierten Formen, die eine Wiederholung des gleichen Handlungsablaufs ermöglichen; 3. an seinem Inszeniertsein und d. h. auch daran, daß es stets eine Instanz gibt, die das rituelle Geschehen und seinen „würdigen" Verlauf kontrollierend in der Hand hat: den Regisseur oder Zeremonienmeister (der freilich auch ein von den Teilnehmern verinnerlichter sein kann);
4. an dem seelischen Druck, den es auf seine Teilnehmer ausübt, der sich je nachdem als Angst oder auch nur als Befangenheit aktualisiert, woraus dann der Drang resultiert, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun; 5. an seinem integrativen Sog, der alle Teilnehmer in das Ritual hineinziehen, d. h. in die rituelle Gemeinschaft einbeziehen will; 6. an der sozialen Resonanz, die sich z. B. im Zuweisen von Rollen oder im Verhängen von Sanktionen äußert, und schließlich 7. daran, daß es Konflikte zwischen den Teilnehmern neutralisiert, verdeckt und verschiebt. Rituale lassen sich besonders bei solchen Gesellschaften oder sozialen Gruppen finden, die unter direktem oder indirektem äußeren Druck stehen, die einer Bedrohung standhalten müssen, die — was häufig damit verbunden ist — Mangel leiden und Entbehrung auf sich nehmen, die sich der Erfüllung vitaler Bedürfnisse versagen müssen oder wollen (also häufig auch unter innerem Druck stehen), und die kein besonders hohes Reflexionsniveau haben (über kein hinreichend kritisches Denken verfügen, deren „Intellektualitätsspiegel" relativ niedrig ist).
Das Spiel und das Spielerische prägen die Gegenposition zum Ritual. Spiel ist zwar auch ein nach Regeln ablaufendes, wiederholbares, inszeniertes Geschehen, aber anders als das Ritual hat es seinen Zweck nicht außerhalb, sondern in sich selbst. Während das Ritual der Umfunktionierung von psychischem Druck dient, wird im Spiel die Entlastung von psychischem Druck realisiert. Im Ritual werden die Teilnehmer gebunden, gebannt, verpflichtet; im Spiel werden sie gelockert, befreit, erlöst. „Spielerische" Ironie etwa zerstört nicht das Gefühl, wohl aber den Absolutheitsanspruch der Emotion.
Schließlich impliziert der Begriff des Spiels eine bestimmte Form der Aktion — einer Aktion, die, kybernetisch gesprochen, als Folge-regelung sich vollzieht, die aus sich selbst heraus immer wieder ihre Zielsetzungen produziert, also nicht als außen-gesteuerte Betätigung abläuft. Diese spielerische Aktion erleichtert Simulationen: das „Durchspielen" alternativer Denk-, Empfindungs-und Handlungsmuster. Spielerische Haltung entzieht sich dem Konformitätsdruck, indem sie Variabilität von vornherein postuliert. Da das Spiel das „Zufällige", Aleatorische essentiell enthält, stellt es ein starkes Gegengewicht zur Stereo-typisierung dar.
Eine Didaktik der Aktion, die den Postulaten des Spielerischen entspringt und nicht in ritualisierten Aktivismus abgeleitet, dient auch dazu, nicht-affirmative Kultur zu internalisieren. Kultur wird dann empfunden als etwas, das man tut, und nicht als etwas, das man den Menschen antut. Die in der spielerischen Aktion sich vollziehende Entideologisierung und Entmythologisierung bedient sich der Provokation, um Lernprozesse hervorzurufen. Der Reflex (die Reaktion auf Vorgegebenes) soll in Reflexion, in das Bedenken neuer Möglichkeiten, übergeleitet werden. Die unter dem Druck von Systemzwängen sich aufbauende Aggressivität soll sublimiert und durch Sozialisation, durch die Freude am anderen, ersetzt werden.
Kulturpolitik und Kulturverwaltung sollten in diesem Sinne spielerisch-aktiv sich verhalten, also für stete Provokationen (zur Einleitung von Lernprozessen), für Reflexion, für Spielräume der freien Entfaltung jenseits vorgegebener Zwänge und für Kommunikation sowie Sozialisation sorgen. Die einzelnen kulturellen Einrichtungen wären nach diesen Kriterien zu prüfen und entsprechend zu verbessern. Dabei sollte man sich leiten lassen von experimenteller Sensibilität — auf der Basis aleatorischen „Probierens"; von der Bereitschaft zur Veränderung anstelle der Perpetuierung des „Unwandelbaren", sei es als Tradition oder Mythos oder Stereotypie.
Im vorherrschenden Bewußtsein sind Problem-erforschung und Problemvisualisierung mit dem Odium des Schwierigen und Schweren behaftet. Das Kulinarische gilt uns als das „Leichte", während es gerade wegen seines „Absättigungscharakters“ den Menschen belastet. Denkkraft und Denkaufwand gelten als lustlos und mühevoll, der Geist erscheint als Widersacher der Seele. Eine Auffassung, die das Spielerische als geistiges Vergnügen an der Dialektik begreift, da eben der Mensch erst ganz Mensch ist, wenn er in der Motorik von Widersprüchen sich bewegt, wird somit in einer Kunst, die der Problemvisualisierung dient und das Kulinarische überwindet, eine durchaus spielerische Kunst empfinden können. Bazon Brock irrt, wenn er Kunst und Arbeit miteinander verknüpft; Kunst und Spiel lautet die Losung!
VIII. Die Stadt als Kulturlandschaft
Kulturarbeit hat ihren Schwerpunkt in der Stadt. In welcher Stadt? Für welche Stadt? — Stadtluft macht nicht mehr frei! Ein solcher Pessimismus ist heute bei Soziologen, Sozial-psychologen und Urbanistikem weit verbreitet. Alexander Mitscherlich gab diesem Unbehagen Ausdruck, in dem er von der „Unwirtlichkeit unserer Städte" sprach. Die Ballungsräume verdichten sich weiter; die Umweltverschmutzung verschlechtert die Lebensbedingungen; die Entfernung von sinnvoller Arbeit wächst; die beruflichen und institutioneilen Zwänge verschärfen sich; die abnehmende Identifikation mit der beruflichen Tätigkeit bei zunehmender Freizeit bewirken Frustrationen; die Überfütterung mit Information überfordert den einzelnen, es wachsen die Möglichkeiten der Manipulation.
In einem Vortrag hat kürzlich John Kenneth Galbraith die Misere der Stadt zurückgeführt auf ihre Ökonomisierung: „Mit der industriellen Revolution wurde die Städteplanung, insbesondere in Großbritannien und den USA, liberalisiert, dezentralisiert, säkularisiert. Aus der patriarchalischen Stadt wurde die ökonomische Stadt. Diese Art von Stadt reflektierte nicht mehr eine Person, eine Dynastie oder ein Gemeinwesen; sie wurde zur Arena der industriellen Entfaltung. Die Bodennutzung vollzog sich nicht mehr, nicht einmal ansatzweise, im Rahmen eines Gesamtplanes; und die Architektur ordnete sich nicht länger ganzheitlichen Entwürfen unter. Beider Stellenwert bemaß sich nur noch danach, ob sie der ökonomischen Funktion dienten und welchen wirtschaftlichen Nutzen sie stifteten. Kriterium war nicht mehr Schönheit, sondern Zweckmäßigkeit. Privates Eigentum an Grund und Boden wurde zur Selbstverständlichkeit; ebenso selbstverständlich wurde, daß der Eigentümer seinen Grund in der Weise verwendete, die den höchsten ökonomischen Nutzen erbrachte. Maximaler Profit wurde zum Maßstab aller Dinge. Wer dieses Prinzip in Frage stellte, hatte sehr bald das Gesetz gegen sich. In den meisten durch die Industrie bestimmten Städten reichten die gesetzlichen Handhaben nicht einmal aus, die Anlieger vor Belästigungen zu schüt-zen, die sich aus der gewinnbringendsten Tätigkeit ergaben......... Erfolg und Ansehen einer Gemeinde waren Erfolg und Ansehen ihrer Industrie. Die beste Stadt war die, die am fleißigsten war, am schnellsten wuchs, den größten Zuwachs an Bankabrechnungen, Wagenladungen oder — mit wachsendem sozialen Bewußtsein — in der Entwicklung ihres Arbeitsmarktes vorweisen konnte. Es wäre geradezu exzentrisch gewesen, auch noch Ansprüche an ihre Schönheit zu stellen. Diese Schönheit fand ihren zureichenden Ausdruck ... in hohen Bürotürmen, in neuen Bauprojekten und dampfenden Zügen. ... In der ökonomischen Stadt finden wir somit die Ursprünge nahezu aller Probleme, die die moderne urbane Existenz heute kennzeichnen."
Eine Stadt, in der sich der Mensch wieder wohl fühlt, nämlich wohl fühlt als kommunikatives, sich sozialisierendes Wesen, bezeichnet Galbraith als „nachökonomische Stadt". Der Weg von Profitopolis zu Metropolis darf nicht ein Weg der Regression sein, eines Zurückfallens auf die feudal-ästhetische Stadt (Beispiele Venedig, Florenz); die Errungenschaften und Erkenntnisse einer demokratisierten Gesellschaft sind einzubringen und zu verbinden mit ästhetischer Erziehung, die aus der Stadt eine „Spielstadt“ macht. Die „gerettete Stadt" ist die wirtliche Stadt, die Arbeit, Freizeit und Wohnen zu verbinden und damit industrielle und urbane Ziele zu vereinigen weiß. Die Stofflichkeit des ökonomischen läßt sich nicht verdrängen, da man sonst der Stadt die Basis ihrer Existenz entziehen würde. Es kommt jedoch darauf an, diese Stofflichkeit zu sublimieren und eine organische Stadt in einem modernen Industriesystem zu schaffen. Wachstum und Erfolg einer Stadt werden in Zukunft entscheidend vom Wohlbefinden und Behagen der Bürger abhängen. Die nachökonomische Stadt ist eine ästhetische Stadt. Damit der Mensch in der Stadt sich selbst ver-wirklichen kann, muß er „Umgebungen" (Topographien) vorfinden, die eine menschen-gerechte Entwicklung ermöglichen. Organische Stadtkerne statt unstrukturierter Zonen baulicher Verdichtung, Kommunikation statt Vereinzelung, Spielraum statt Zwängen, Reflexion statt bloßer Anpassung und oberflächlicher Ablenkung — mit solchen programmatischen Sätzen hat jüngst ein Arbeitsausschuß des „Deutschen Städtetags" eine Standortbestimmung von Kulturpolitik in der nachökonomischen Stadt versucht. Programmatische Sätze sind wichtig, da nach Kant die Praxis häufig deswegen so schlecht ist, weil die Theorie fehlt. Programmatische Sätze sind gefährlich, da durch sie häufig die Bereitschaft zum Handeln in den Theoriehimmel hinwegkatapultiert wird und alles beim alten, bei der alten Praxis, bleibt. Der „Kompromiß" zwischen Theorie und Praxis sollte in ständigem Feedback bestehen: als ein allmähliches Verfertigen der Konzeption beim Handeln. Gefordert wird damit die futurologische Vernunft, die auch im kulturellen Bereich durch das Experiment immer ein Stück Zukunft voraus aufklärt und damit den Menschen von dem Drude entlastet, nicht zu wissen, wohin die Reise geht.
Eine Topographie urbaner Kultur, d. h. einer Kultur, die sich gesellschaftsrelevanter Ästhetik verpflichtet fühlt, sollte als Orts-und Lage-beschreibung in einem konkreten und übertragenen Sinne verstanden werden. Es geht sowohl um den topogenen wie strukturellen Aspekt. 1. Kultur in Zentren Die Vokabel „Kulturzentrum" übt eine geradezu magische Wirkung aus. Vordergründig geht es um organisatorische Zusammenfügung; die kulturellen Institutionen liegen dicht beieinander; es können sich so günstige Formen der Kooperation zwischen Ausstellung und Theater, Bibliothek und Museum ergeben. Mit örtlicher Zuordnung ist es jedoch nicht getan; häufig bleiben in den Kulturzentren die einzelnen Sparten säuberlich voneinander getrennt: Wenn die Bibliotheken schließen, öffnen die Theater. Immerhin „beruhigt" der „Insel" -Charakter: eingesprengt in die Unrast und Hektik der modernen kommerzialisierten Stadt „atmet" man im Zentrum kulturell auf, glücklich darüber, daß hier andere Gesetze als in Profitopolis gelten. In diesem Sinne hat die Zentrumsidee in den USA bis zu einem bestimmten Umfange Alibifunktion; sie täuscht vor, was die Riesenstädte kaum mehr zu bieten vermögen: Sozialisation und Kommunikation. Die Zentren sind Tabuzonen; sie werden in der Tat weitgehend als solche beachtet und geachtet, selbst in Stadtgebieten, die „verslumt" und kriminalisiert sind.
Was heute in der Kulturpolitik unter dem Begriff „Zentrum" diskutiert wird, meint nicht Addition, sondern Integration —-interdisziplinäre Zusammenarbeit, die zu neuen Formen der Kreativität zu führen vermag. In Zentren können die audiovisuellen Medien bildungsökonomisch rentabel zur Verfügung gestellt werden; diese sind im besonderen Maße dazu prädestiniert, die elitären Schranken im Bildungsbereich abbauen zu helfen. Hilmar Hoffmann, der sich für die Einrichtung von Kommunikations-bzw. Medienzentren besonders engagiert, stellt zur theoretischen Fundierung der Zentwenidee fest: „Verantwortliche Kultur-politik kann sich konsequenterweise nur mehr in Initiativen beglaubigen, die im Entwurf langfristiger Bildungsplanungen die totale Verfügbarkeit alles dessen — und dies für alle Bürger — gewährleistet, was unter der Güte-marke Kultur für die Bildungsarbeit wesentlich ist, und daß heißt: Alles, was den Prozeß kritischer Meinungsbildung vorantreiben hilft, die Übereignung von Wissen und das Erkennen von Informationswerten, um in deren Summe Zusammenhänge und Kausalitäten zu begreifen. ... Insbesondere die audiovisuellen Medien sind methodisch für Lehrende und Lernende so differenziert wie möglich zu entwikkeln, und zwar für jede der voneinander qualitativ und tendenziell unterschiedenen Institutionen und innerhalb dieser für unterschiedliche Voraussetzungen sowohl der Lernpflichtigen wie der freiwillig Lernenden. In der Attraktion medienspezifischer Aufbereitung haben sie über das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Rezipienten die größere Chance, alles für den Lernprozeß notwendige Material nachhaltig wirksam ins Bewußtsein zu bringen. Das , audiovisuelle Kommunikations-Zentrum empfiehlt sich für die Optimierung dieser Forderung als Lösung, aber sie ist keineswegs die einzig mögliche."
Im Medienzentrum sollten u. a. zur Verfügung stehen: „externes" und internes Fernsehen (closed-circuit-system), Mediotheken mit einem reichhaltigen Angebot an Schallplatten, Tonbändern, Dias, Filmen, Kassetten, ferner Sprachlabors, Lehr-und Lernmaschinen, Studios für Selbstproduktion, Spiel-und Aktionsräume, Workshops, , art-labs'für medien-und kunstexperimentelle Tätigkeit; außerdem sollte auch der Anschluß an Datenbänke gegeben sein.
Mit Recht weist Hoffmann darauf hin, daß die Medienzentren der Zukunft nicht als Supermarkt audiovisueller Bildungsmittel gedacht sind. Sie wollen vielmehr den ständig kumulierenden Wissensstoff und das tägliche Mehr-an Information auf möglichst anschauliche, d. h. „lernbequeme“ Weise vermitteln, die Aufnahmebereitschaft und Aufnahmekapazität steigern und so einen Sublimierungszuwachs ermöglichen. 2. Kultur als Spielort Einige theoretische Hinweise zu Spiel und Spielraum wurden bereits gegeben. In Zusammenhang mit dem „aktiven Lernen" sei auf die Bedeutung von Simulationsverfahren hingewiesen. Im topogenen Sinne meint „Spielort" vor allem Einrichtungen, die eine informelle Begegnung ermöglichen und Kreativität, ein „Mitmachen" bewirken. Die Einrichtung von Spiel-und Aktionsräumen, der „Spielstraße" bei den Olympischen Spielen und anderer ähnlicher Versuche (z. B.der „Fabrik“ in Hamburg-Altona) zielt darauf, die Trennung von Produzent und Rezipient im künstlerisch-kulturellen Bereich zu überwinden. Die traditionellen Kultureinrichtungen sind häufig zu sehr ritualisiert, somit kaum in der Lage, die gewünschte Aktivierung hervorzurufen. Freilich besteht die Gefahr, daß kulturelle „Spielorte" zum Rummelplatz werden und statt einer Didaktik aktiver Rezeption „Aktionistis" vorherrscht, die nicht „psychosomatische Reflexion", sondern lediglich Abreaktion fördert. Geistige Aktivierung muß zudem nicht jeweils gleich von physischer Motorik begleitet sein. Das „epische Theater“ Brechts z. B. versucht ebenfalls die Passivität (das zurücklehnende Genießen) zugunsten aktiven Mitdenkens zu überwinden, ohne daß deshalb Gruppen-eurythmie notwendig wäre. Dennoch dürfte feststehen, daß Kulturpolitik viel mehr als bislang ihr Augenmerk auf die Entwicklung und Strukturierung von Spielorten zu richten hätte, die in Gegensteuerung zum sowohl rituellen als auch musealen Kulturkonsum Partizipation ermöglichen.
Aufs Theater bezogen, ist es dabei sicher leichter, das Schauspiel zu entritualisieren (wie es etwa der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin mit Hilfe der Konzeption eines totalen Raumtheaters gelungen ist), als die Oper, die als Kunstgattung besonders hoffnungslos affirmativer Kultur verflochten ist, „aufzulockern". — Neugeburt des Theaters aus dem Geiste des „Informellen"? Nach einer weltweiten Krise kann man feststellen, daß das „Spielerische" in seiner ganzen Wirkungskraft sich wieder durchzusetzen beginnt. Ob dabei weiterführende Impulse aus den verbürokratisierten und subventionierten Stadttheatern kommen können, muß abgewartet werden. Bislang vollzieht sich eine Erneuerung vor allem dort, wo Ensembles sich als „Truppe" begreifen, Starkult und Showbusiness, aber auch die Subventionstheaterroutine abgelöst sind durch den Impetus kollektiver Leistung. — Dem Subventionstheater wird deshalb keineswegs die Berechtigung abgesprochen; nur durch Subventionen sind beim augenblicklichen Stand des Bewußtseins und Geschmacks auf breiter Basis künstlerische und kulturelle Innovationen möglich; fielen sie völlig weg, grassierte die Produktion kulinarischer Geistlosigkeit. Kulturpolitik und Kulturverwaltung sollten jedoch mehr als bislang die Aktivitäten stützen und unterstützen, die dem Charakter der „Truppe" sich annähern und den Mut zur Improvisation und informeller Arbeit haben. In dieser Hinsicht, nicht was die ökonomischen Implikationen betrifft, kann das System des Off-und Off-off-Broadway-Theaters kulturpolitische Anregungen vermitteln.
Kultur als Spielort: ein solcher Topos wird auch von großer Bedeutung für die Lösung der Freizeitproblematik sein — gilt es doch, das Vakuum sinnentleerten Genusses mit spielerischem Vergnügen zu „erfüllen", damit die Entfremdung, zumindest im Bereich „freier" Zeit, zurückgenommen werden kann. Die Fragen, die durch die „Freizeitgesellschaft“ aufgeworfen werden, sind in der Praxis von Kultur-verwaltung bislang verhältnismäßig wenig beachtet worden. Neuerdings beginnt man in großen Städten damit, eigene Freizeitreferate zu bilden bzw. Dienststellen mit entsprechenden koordinierenden Aufgaben zu betrauen.
Freizeitgesellschaft bedeutet: Verkürzung der Arbeitszeit zugunsten von freier Zeit; Verteilung von Freizeit auf alle Bereiche und Schichten. Freizeit erfährt eine Sozialisierung und Demokratisierung. Die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit tritt jedoch häufig nicht ein, da entfremdete Arbeit auch Freizeit mit strukturiert, so daß von einer „freien“ Zeit nicht gesprochen werden kann. Kulturpolitik und Kulturverwaltung müssen überlegen, welches kulturelle „Angebot“ dem Menschen dazu verhelfen kann, Freizeit in Freiheit zu nützen. Im besonderen kommt es darauf an, im „Kreativitätstraining" die schöpferische Kraft und Phantasie des Menschen anzuspre-dien und zu aktivieren. Freizeit in diesem freiheitlichen Sinne würde bedeuten, daß der Mensch mit der Loslösung von der Arbeit den Bereich der Notwendigkeiten und Reglementierungen, der Zwänge und Pflichten verläßt und im „Spielort" zu sich findet. Wieweit eine Gesellschaft der Gesamtheit ihrer Mitglieder solchen „Spielraum" zu geben vermag — auf der Basis einer gerechten Verteilung der Güter —, bestimmt auch das Maß der in ihr sich ereignenden Freiheit. Der autoritäre bzw. totalitäre Staat muß die Freizeit manipulieren, um Freiheit zu verhindern; mit dem Griff nach der Freiheit wird zwangsläufig auch der Spielraum der Freizeit usurpiert.
Die Gefahr freiheitlicher Freizeit besteht darin, daß mit ihr evtl, ein Alibi für die Repressionen der Arbeitswelt geschaffen wird. Eine Gesellschaft, die Freizeit und Arbeitszeit radikal trennt, so daß die Tugenden, die den „Freizeitmenschen" charakterisieren, im Arbeitsprozeß nicht nur keine Rolle spielen, sondern als hinderlich sich erweisen, fördert eine gesellschaftspolitische Schizophrenie, die weder das Freizeit-, noch das Arbeitszeitverhalten humanisieren kann. Das emanzipatorische Fernziel wäre somit, die in der Leistungsgesellschaft sich ergebende Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit wieder aufzuheben, so daß der Mensch sowohl im Arbeits-wie im Freizeit-bereich gleichermaßen als Mensch sich artikulieren und betätigen könnte — im Zeichen einer „libidinösen Moral“.
Wie Sebastian de Grazia in einer Studie feststellt, sind Frieden und Wohlstand gefährdet, wenn ein Land nicht weiß, was es mit seiner Muße anfangen soll. Während früher Muße zwangsläufig aufgrund der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung mit der elitären Schicht (leisure dass) Verknüpft war, ermöglichen es der Demokratisierungs-und Sozialisierungsprozeß, vor allem auch die Automation, Demokratie und Muße zu vereinen. Während früher „Freiheit von der Notwendigkeit“ dem industriellen System, das in Hinblick auf seine Produktionsziele der Arbeitsideologie bedurfte, widersprach, ist heute Public Happiness, ein neues „goldenes Zeitalter" im Rahmen einer Überflußgesellschaft, möglich. Grundlage hierfür ist der „ästhetische Staat", der all die Sublimierungsmöglichkeiten, die eine Freizeit-gesellschaft zu ihrer Humanisierung bedarf, zu schaffen bereit und in der Lage ist. Solche Zukunftshoffnung darf nicht mit einem Paradies ä la Tahiti, in das sich die durch Neurosen und Psychosen geplagte Menschheit gerne hinein-projiziert, verwechselt werden. Der „ästheti-sehe Staat" basiert auf einer education permanente; er bedient sich des dialogischen Prinzips; er bedarf einer Architektur, die mit Hilfe offener Strukturen Mobilität ermöglicht, die nicht mit Hilfe von Funktionalismus und Perfektionismus die Wirtlichkeit und Heimeligkeit aus dem Leben und dem „Hausen" des Menschen vertreibt. Eine dynamische Gesellschaft, die das Leinen des Lernens anstrebt, statt etablierte Bildungsstoffe sich oktroyieren zu lassen; die Ordnungen schaffen will, statt in Ordnungen sich zu fügen; die Verhaltensweisen praktiziert, statt feste Verhältnisse zu akzeptieren; die also nicht „affirmativ" sich verhält, nicht bestehende Zustände bejaht, sondern dialektisch sich weiterentwickelt; die der Autorität mißtraut und dafür die Kompetenz einsetzt — eine solche Gesellschaft wird, indem sie Freizeit schafft, auch Freiheit im humanen Sinne ermöglichen.
Wer heute die Forderung nach einer „ästhetischen Erziehung des Menschen" aufstellt, die auf vielfältige Weise methodisch, didaktisch und etatmäßig zu verwirklichen wäre, wird von den Manipulatoren und Managern der Macht genausowenig ernstgenommen, wie von dem überwiegenden Teil der öffentlichen Meinung. Man begreift nicht oder zu wenig, daß es z. B. eine Pflichtaufgabe des Staates zu sein hat, die Bürger für den Gebrauch der Freizeit vorzubereiten, weil sie auf diese Weise wiederum zu „besseren Bürgern" werden und damit auch einen besseren Staat schaffen helfen. Soziologen und Psychologen, Pädagogen und Politologen, Anthropologen, Künstler, Architekten, Formgestalter, Städte-planer — interdisziplinäre Teams — sind aufgerufen, Konzeptionen zu erarbeiten, deren Ziel ein doppeltes zu sein hat: einerseits sind „Gefäße" zu schaffen, in denen Freizeit Form gewinnen kann; andererseits ist der Spielort (Spielraum) vor dem Konsumdruck zu schützen, da sonst Zwangshaftigkeit, wenn auch auf sanfte, verführerische Weise, wieder einzieht. 3. Kulturelle Ubiquität Kulturelle „Allgegenwart", bzw. — realistischer formuliert — „Gegenwärtigkeit an vielen Orten": diese Feststellung scheint zunächst der Zentren-Idee zu widersprechen. Es handelt sich jedoch um ein komplementäres Prinzip. So wie in bestimmten Bereichen Zentralisation notwendig ist, muß in anderen dezentralisiert werden. „Kultur an vielen Orten“ — das heißt „Straßenkunst" (in einem konkreten wie übertragenen Sinne): Künstler, die auf der Straße arbeiten und agieren, etwa Plastiken öffent-lieh anfertigen; künstlerisch orientierte Stadt-feste (wie sie zum Beispiel Hannover und Wuppertal versuchten);. Straßentheater. Wir sind daran gewöhnt, daß Menschen sich Fernsehübertragungen, etwa von sportlichen Ereignissen, auf der Straße vor einem Fernsehschirm ansehen, und daß aller Orten Werbung betrieben wird. Warum sollte man nicht in Analogie dazu auch eine kulturelle Ubiquität anstreben? Warum sollen nur Plakate über Konsumgüter aufgehängt werden, warum nicht auch künstlerische Siebdrücke? Sicherlich wirkt bei solchen Überlegungen eine gewisse romantische Vorstellung von Urbanität mit, doch haben einige Experimente gezeigt, daß „Straßenkunst" durchaus „ankommt", wenn sie mit „Sympathiewerbung" verknüpft ist und nicht aus elitärem Hochmut heraus das Straßenpublikum attackiert. Bands, die „mitten" auf Straßen und Plätzen spielen, Theatergruppen, die ihre Kleinbühne auf dem Marktplatz aufschlagen oder wie das Bread-and-puppet-Theater in New York durch die Straßen ziehen, haben spektakulären Erfolg. Sicherlich werden solche Aktivitäten nur gelegentlich vonstatten gehen können, ihre Ausstrahlungskraft wird somit begrenzt bleiben, sie können jedoch einen Beitrag zur Wirtlichkeit der Städte leisten. Zwischen der Monotonie der Betonsilos und dem Rummel des Volksfestplatzes gibt es vielerlei Zwischenformen, vielerlei Möglichkeiten einer urbanen Sublimierung.
Was die bildende Kunst betrifft, so wird sie ihren Ubiquitätsanspruch nur durchsetzen können, wenn sie auf Plausibilität vertraut, d. h. auf die Direktwirkung des Gestalteten und Gestalterischen. Werden Künstler zu Philosophen und Wissenschaftlern, so wird der Kultur eine wichtige Dimension amputiert; der Rückzug aus der Bildersprache ist somit nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Problem. Mit der Verarmung der visuellen Kommunikation schrumpfen die Kommunikationsmöglichkeiten insgesamt — ein Faktum, das auch dann gegeben ist, wenn die Bildersprache zwar beibehalten wird, aber vor allem zur Illustration individueller Mythen dient. Die Verarbeitung des individuell Unbewußten und seine Umprägung in Bilder ist, wenn auch künstlerisch, so doch privat bzw. privatistisch. Zum Politikum kann eine derartige Kunst freilich werden, wenn durch totale Politisierung der individuelle und private Bereich völlig beschnitten oder gar liquidiert wird; individuelle Mythen erhalten dann Protestcharakter, da sie etwas ganz anderes als das politisch und gesellschaftlich Gewollte darstellen. Auch in der nicht-totalitären Gesellschaft ist die Präsentation weitgehend unzugänglicher Individualität bedeutsam, da sich darin ein Stück „Verweigerung“ gegenüber konformistischen und nivellierenden Tendenzen ausdrückt. Werden die privaten Mythen jedoch zum modischen Trend, entzieht sich Kunst ihrer gesellschaftlichen Aufgabe, kann Kulturpolitik und Kulturverwaltung daran nicht unberührt vorbeisehen.
Vorrangig wird eine Kunst zu fördern sein, die sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewußt ist; Subventionen sind nicht vorrangig dafür gedacht, individualpsychische Binnenräume auszustaffieren. Wenn die Kunst der Gesellschaft gegenüber den Anspruch erhebt, im doppelten Wortsinne „frei-gehalten" zu werden, so impliziert dies auch eine Verpflichtung der Kunst dieser Gesellschaft gegenüber. Es ist sicherlich eine der schwierigsten Aufgaben von Kulturpolitik und Kulturverwaltung, zwischen privatistischer und gesellschaftsrelevanter Kunst unterscheiden zu können. Dies ist um so schwieriger, da der Massengeschmack mit seiner Neigung zum Realismus und Naturalismus keineswegs eine Entscheidungshilfe darstellen kann und darf. Gesellschaftsrelevanz ist zudem keine Angelegenheit von Ideologie, sondern der Versuch, durch Kunst den denkenden und handelnden Menschen in einer gesellschaftlichen Verflochtenheit „voran" zubringen — das heißt: im Sinne einer demokratischen Anthropologie zu einem sozialeren, kommunikativeren Wesen zu machen — zu einem Wesen, das mehr nachdenkt, das sich und die Welt als fragwürdig begreift.
He rmann Gl aser, Dr. phil., geboren 1928 in Nürnberg; Studium der Germanistik, Anglistik, Geschichte und Philosophie in Erlangen und Bristol; Lehramt; seit 1964 Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Weltliteratur der Gegenwart 19709; Spießer-Ideologie, 1964; Eros in der Politik — Eine sozialpathologische Untersuchung, 1967; Das öffentliche Deutsch, 1972; Jenseits von Parkinson — Ein kybernetisches Modell für Verwaltung und Wirtschaft, 1972.
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