Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie die beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierung (MBFR) ist seit längerem, insbesondere seit Beginn der Vorkonferenz in Helsinki (22. November 1972), stark in den Vordergrund der politischen Diskussion gerückt. Die KSZE hat eine lange Vorgeschichte. Sie entspringt, sowjetischen Vorstellungen aus dem Jahre 1954. Während es sich bei diesem Projekt zunächst vor allem um sicherheitspolitische Fragen und deren Regelung in Europa handelte, tritt seit etwa 1968/69 das Interesse des Ostblocks an wirtschaftlicher, wissenschaftlich-technologischer und kultureller Zusammenarbeit im Rahmen einer solchen Konferenz stärker hervor. Die NATO ging auf den Konferenzvorschlag des Warschauer Paktes erstmals im Juni 1968 indirekt ein, indem sie ihrerseits die Anregung zu einer beiderseitigen ausgewogenen Truppenreduzierung (MBFR) gab. Der sich seit etwa 1970 anbahnende Kommunique-Dialog zwischen NATO und den Staaten des Warschauer Paktes mündet ein in die in Helsinki begonnenen Vorgespräche, denen im Januar 1973 Explorationsgespräche über die MBFR folgen sollen.
Entwicklung von 1954 bis 1972
A. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Nach dem Inkrafttreten der Ostverträge und der Berlin-Regelung ist der Weg zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa frei Das Geflecht von Junktims, das noch zu Beginn des Jahres 1972 von deutscher, von westlicher und zuletzt von sowjetischer Seite um den Vertragskomplex wechselseitig geschlungen war, hat sich entwirrt.
Am 30. und 31. Mai 1972 gab der NATO-Ministerrat in Bonn die Bereitschaft zu erkennen, in multilaterale Gespräche zur Vorbereitung der Konferenz einzutreten. Im Kommunique vom 31. Mai 1972 erklärten die Außenminister der NATO, „daß das Ziel der verbündeten Regierungen während der multilateralen Vorbereitungsgespräche darin bestehe, zu gewährleisten, daß ihre Vorschläge auf einer Konferenz ausführlich erörtert würden, und festzustellen, daß unter den Teilnehmern eine genügende Gemeinsamkeit der Auffassungen besteht, um in angemessener Weise die Erwartung zu rechtfertigen, daß auf einer Konferenz befriedigende Ergebnisse erzielt werden. Eine so vorbereitete Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sollte ein bedeutsamer Faktor im Entspannungsprozeß sein. Sie sollte dazu beitragen, Hindernisse auf dem Wege zu besseren Beziehungen und engerer Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmern bei gleichzeitiger Wahrung der Sicherheit aller zu beseitigen. Die verbündeten Regierungen sehen einer ernsthaften Prüfung der wirklichen Probleme und einer Konferenz mit praktischen Ergebnissen entgegen."
Die Ministerrats-Erklärung schloß den Kommunique-Dialog bezüglich der Konferenz-Thematik zwischen NATO und Warschauer Pakt ab. Er war auf Block-Ebene — zwölf Jahre nach einem ersten Konferenzvorschlag der Sowjetunion im Jahre 1954 — vom War-schauer Pakt im Juli 1966 in Bukarest mit der Vorlage des Plans einer Sicherheitskonferenz eingeleitet und von der NATO erstmals im Juni 1968 in Reykjavik mit dem Vorschlag ge-genseitiger und ausgewogener Truppenreduzierungen auf indirekte Weise erwidert worden. Seit dem Jahre 1970 haben sich in West und Ost sowie bei neutralen Staaten die Vorstellungen hinsichtlich der auf einer Konferenz zu behandelnden Themen angenähert. Einigkeit besteht insbesondere über den Grundsatz einer intensiven Vorbereitung der Konferenz.
Am 22. November 1972 wurde durch die Vertreter von 34 Staaten in Helsinki die Vorkonferenz auf Botschafterebene eröffnet. Außer Albanien nahmen sämtliche europäischen Staaten sowie die Vereinigten Staaten und Kanada teil. Der Zweck der Vorkonferenz ist die Aufstellung der Geschäfts-und Tagesordnung für die ab Mitte des Jahres 1973 vorgesehene Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
I. Entstehungsgeschichte
Das ursprüngliche sowjetische Konferenzprojekt
Die Formel der „kollektiven Sicherheit" spielte schon im Konzept der sowjetischen Außenpolitik der 20er und 30er Jahre eine wichtige Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichtete die Sowjetunion fast zehn Jahre lang auf entsprechende Vorschläge und Parolen. Erst im Jahre 1954, als der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO zu erwarten war, griff die Sowjetunion den Gedanken der „kollektiven Sicherheit" wieder auf und verband ihn mit Vertrags-bzw. Konferenzprojekten, die auf die Gesamtheit der europäischen Staaten bezogen waren. Auf der Berliner Außenminister-Konferenz forderte der sowjetische Außenminister, Wjatscheslaw M. Molotow, am 10. Februar 1954, die vier Mächte sollten unverzüglich Maßnahmen treffen, „um den Abschluß eines Vertrages zwischen den europäischen Staaten über die kollektive Sicherheit zu fördern" und „die Initiative zur Einberufung einer entsprechenden Konferenz der europäischen Staaten zu ergreifen" Partner des „Gesamteuropäischen Vertrages" sollten alle europäischen Staaten sein können. Der sowjetische Vorschlag sah weiter vor, daß „die Vertragspartner die Regierungen der Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China auffordern, ihre Vertreter als Beobachter in die gemäß dem Vertrag zu schaffenden Organe zu entsenden"
Der sowjetische Vorschlag wurde von den Westmächten abgelehnt. In der Note vom 31. März 1954 an die Westmächte erblickte die Sowjetregierung ihrerseits keine Hindernisse in der Teilnahme der Vereinigten Staaten an einem gesamteuropäischen Vertrag Durch die sowjetische Note vom 24. Juli 1954 erfuhr Molotows Plan eine Ergänzung dahin gehend, „daß der Entwurf zum Gesamteuropäischen Vertrag für die kollektive Sicherheit in Europa durch eine neue Bestimmung über die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet vervollständigt werde"
Das sowjetische Konferenzprojekt fand auf westlicher Seite kaum Beachtung, da die Stoßrichtung des sowjetischen Vorschlages unmittelbar auf die Loslösung der europäischen Staaten von den Vereinigten Staaten und gegen den Zusammenhalt der NATO gerichtet war. Auch war die Absicht der Sowjetunion nicht zu verkennen, über vermehrten politischen Einfluß eine hegemoniale Stellung über Europa zu erlangen.
Sowjetische Vorschläge zur Abhaltung einer gesamteuropäischen Konferenz erfolgten erneut am 4. August sowie am 23. Oktober 1954 als unmittelbare Antwort auf die Konferenzen der Westmächte in London und Paris, welche die Neufassung des Deutschlandvertrags, den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Westeuropäischen Union und ihre Aufnahme in die NATO zum Gegenstand hatten.
• Am 13. November 1954 forderte die Sowjetunion in einer Note an 23 europäische Staaten und an die Vereinigten Staaten nochmals die Einberufung einer „gesamteuropäischen Konferenz zur Frage der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa"; die Konferenz sollte binnen zwei Wochen in Moskau oder Paris stattfinden Die Westmächte folgten dieser Einladung nicht. Daraufhin veranstaltete die Sowjetunion mit Polen, der Tschechoslowakei, der DDR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien vom 29. November bis 2. Dezember 1954 die Moskauer „Konferenz europäischer Länder zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa". China nahm als Beobachter teil. Die Konferenz endete mit dem Beschluß, im Falle der Ratifizierung der Pariser Abkommen gemeinsame Maßnahmen bei der Organisation der Streitkräfte des Ostblocks und ihres Kommandos durchzuführen. Die Linien für einen Militärpakt unter Moskaus Führung wurden damit vorgezeichnet.
Nach der Ratifizierung der Pariser Verträge und der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO (8. Mai 1955) wurde am 14. Mai 1955 der Warschauer Pakt gegründet. Aufgrund Art. 11, Satz 2, verliert der War-schauer Vertrag „im Falle der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa und des Abschlusses eines diesem Ziele dienenden gesamteuropäischen Vertrages über kollektive Sicherheit, den die vertragschließenden Seiten unentwegt anstreben werden, ... am Tage des Inkrafttretens des Gesamteuropäischen Vertrages seine Gültigkeit".
Moskau gab auch nach der Gründung des War-schauer Paktes die Bemühungen um eine gesamteuropäische Konferenz nicht auf.
Bei der Genfer der Regierungschefs Konferenz der vier Mächte legte der sowjetische Ministerpräsident, Nikolaj A. Bulganin, am 20. Juli 1955 einen Entwurf für einen „gesamteuropäischen Vertrag über die kollektive Sicherheit in Europa" für alle europäischen Staaten und die Vereinigten Staaten von Amerika vor. Dieser Vertragsentwurf sah neben einer ausgedehnten wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit auch Sicherheitsvereinbarungen vor. Er sollte 50 Jahre gültig sein und nach einer gewissen Zeit die Auflösung der östlichen und westlichen Militärbündnisse zur Folge haben
Auf der Genfer Außenministerkonferenz brachte der sowjetische Außenminister Molotow am 28. Oktober 1955 den Vorschlag vom 20. Juli erneut in die Diskussion ein. Der hoffnungsvolle „Geist von Genf" beflügelte zunächst die öffentliche Meinung im Westen; er erlosch jedoch, als das Beharren Moskaus auf der Teilung Deutschlands erkenntlich wurde.
Die im Februar 1958 vom sowjetischen Regierungschef, Nikita S. Chruschtschow, geforderte Gipfelkonferenz kam nicht zustande, weil die Westmächte den sowjetischen Wünschen zuwider damit die Erörterung der deutschen Wiedervereinigung verbunden sehen wollten.
Schließlich scheiterte auch der am 27. Mai und 15. Juli 1958 von den Sowjets den europäischen Staaten und der Vereinigten Staaten angebotene Nichtangriffspakt zwischen den Teilnehmerstaaten der NATO und des Warschauer Paktes Das Angebot glich auf sicherheitsund wirtschaftspolitischem Gebiet weitgehend den sowjetischen Vorschlägen vom Jahre 1955. Zu weiteren Initiativen, die Einberufung einer europäischen Konferenz zu fordern, sah sich die Sowjetunion angesichts der nun folgenden Konsolidierung der Blöcke und bei der gleich-bleibenden Haltung der Westmächte zunächst nicht veranlaßt. Deutlich zeichneten sich zwei verschiedene Standpunkte ab: Der Westen beharrte auf einer vorausgehenden Bereinigung der „eigentlichen Spannungsherde", insbesondere der Teilung Deutschlands, um danach zu einer dauerhaften Friedensordnung in ganz Europa zu kommen. Der Osten sah demgegenüber die gesamteuropäische Konferenz als Instrument zur Schaffung eines „Klimas der Entspannung" und der „Normalisierung" in Europa an.
Polnische Entspannungspläne
In der Phase zwischen dem ursprünglichen sowjetischen Konferenzprojekt und dem Aufgreifen des Konferenzgedankens durch den Warschauer Pakt 1965/66 unterbreitete die polnische Regierung in den Jahren 1957 bis 1964 mehrere Entspannungsvorschläge.
Ihre Grundlage bildete die Denuklearisierung Deutschlands, Polens und der Tschechoslowakei. Die vier für Deutschland als Ganzes zuständigen Mächte — Frankreich, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion — sollten sich verpflichten, in dieser Zone weder Kernwaffen zu lagern noch Abschußvorrichtungen zu unterhalten. Darüber hinaus sollten sie garantieren, keine Atomwaffen auf diesem Gebiet einzusetzen.
Gestützt auf diese Grundüberlegungen schlug der polnische Außenminister, Adam Rapacki, in vier Plänen, die jeweils modifiziert wurden, die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa vor und forderte betroffene und interessierte Staaten zur Aufnahme von Gesprächen auf. Neben regionalen Sicherheitsmaßnahmen, die nach Rapackis Vorstellungen von 1957 die Sicherheit bis zu dem Zeitpunkt gewährleisten sollten, „in dem ein wirkungsvolles System der kollektiven Sicherheit an Stelle der gegenwärtigen Spaltung in Europa errichtet worden ist", sollten in Abkommen zwischen den Staaten des Ostseeraumes auch wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Fragen im Sinne „nachbarlicher Zusammenarbeit" gelöst werden und eine „konkrete Illu5 stration der friedlichen, konstruktiven Koexistenz" geben (Erster Rapacki-Plan)
Die späteren Rapacki-Pläne befaßten sich insbesondere mit der Realisierung der Abrüstungsmaßnahmen, die stufenweise — erst durch Einfrieren des vorhandenen Nuklear-potentials und dann durch dessen Abbau — erfolgen sollten. Auch die Fragen der Kontrolle und der Garantien wurden erörtert. Polens Parteichef, Wladyslaw Gomulka, regte am 28. Dezember 1963 in einer Rede in Plock an, „den Weg zur Abrüstung durch Vereinbarungen über partielle Maßnahmen (zu) öffnen, mit deren Hilfe — neben Maßnahmen in Mitteleuropa — die Sicherheitszone in anderen Regionen der Welt erweitert wird". Er sagte ferner, daß Polen und alle sozialistischen Länder „großes Gewicht auf eine entsprechende internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit" legten (Gomulka-Plan)
Die Vermutung, daß die polnischen Vorschläge nicht ausschließlich der Eigeninitiative Polens entsprungen waren, läßt es verständlich erscheinen, daß die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und die DDR dem von Polen angeregten Denuklearisierungsprojekt in Mitteleuropa zustimmten. Ein nicht übersehbares Phänomen ist dennoch das große Interesse, das die Entspannungsvorschläge in der politischen Diskussion des Westens fanden.
Nach eingehender Prüfung verwarfen die westlichen Regierungen und der NATO-Rat die Pläne Rapackis und Gomulkas. Ausschlaggebend war dabei vor allem die Auffassung der Vereinigten Staaten, die im Falle einer militärischen Verdünnung in Mitteleuropa und der dann fehlenden ungenügenden räumlichen Tiefe zum Aufbau einer wirksamen konventionellen Verteidigung und nuklearen Abschreckung in Westeuropa keinen Sinn mehr in der Beibehaltung ihrer Truppenpräsenz auf dem europäischen Kontinent sahen.
Der polnische Außenminister Rapacki, der mit seinen Vorschlägen jahrelang Weltpolitik betrieben hatte, brachte schließlich am 14. Dezember 1964 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zum Ausdruck, daß der „Moment zur Erörterung des gesamten Problems der Sicherheit in Europa" herangereift sei. Er griff auf die alte sowjetische Konferenzvokabel zurück und erklärte: „Unserer Meinung nach wäre es zweckmäßig, in dieser Frage eine Konferenz aller europäischen Staaten einzuberufen, an der selbstverständlich sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten teilnehmen würden. Eine solche Konferenz könnte im Bedarfsfälle durch Vertreter des Warschauer Vertrags und der NATO und, falls erwünscht, auch durch Vertreter europäischer Staaten, die keinen Gruppierungen angehören, vorbereitet werden."
II. Entwicklung des Konferenzgedankens
Bukarest und Karlsbad
Rapackis Vorschlag vom 14. Dezember 1964 vor den Vereinten Nationen zur Einberufung einer Konferenz aller europäischer Staaten zur Erörterung der kollektiven Sicherheit fand bereits fünf Wochen später auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes in Warschau ein Echo. Er wurde hier zum ersten Male in einem Kommunique (20. Januar 1965) erwähnt
Die sowjetische Regierung gab nun dem Plan einer Sicherheitskonferenz in ihrer Politik großes Gewicht. Auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU machte sich Parteichef Leonid Breschnjew in seinem Rechenschaftsbericht vom 29. März 1966 den Gedanken der Denuklearisierung zu eigen und empfahl, über die europäische Sicherheit auf einer internationalen Konferenz zu verhandeln
Der Vorschlag über die Einberufung einer europäischen Konferenz zur Erörterung von Fragen der Gewährleistung der Sicherheit in Europa und zur Anbahnung der europäischen Zusammenarbeit wurde auf Paktebene detailliert in der Erklärung der Teilnehmerstaa-ten des Warschauer Vertrages vom 6. Juli 1966 in Bukarest formuliert
Die Bukarester Deklaration enthielt neben Polemiken gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten eine umfangreiche Desideratenliste. Für Europa wurde angestrebt: gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der Prinzipien der Unabhängigkeit und nationalen Souveränität, der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die Warschauer Paktstaaten traten für die Verstärkung der wirtschaftlichen Beziehungen und Handels-verbindungen sowie für eine Erweiterung der Kontakte und Formen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft, Technik, Kultur und Kunst ein.
Angesichts der bestehenden militärischen Block-Situation zwischen Ost und West wurde die „Auflösung der Militärbündnisse" zur Diskussion gestellt. Es folgte der Hinweis, „daß, falls der Nordatlantikpakt seine Gültigkeit verliert, auch der Warschauer Pakt außer Kraft treten wird und daß ihren Platz ein System der europäischen Sicherheit einnehmen muß".
Als Teilmaßnahmen zur militärischen Entspannung in Europa wurden vorgeschlagen: Beseitigung der ausländischen Militärstützpunkte, Abzug aller ausländischen Truppen von fremden Territorien bis hinter ihre nationalen Grenzen, Verminderung der Streitkräfte beider deutscher Staaten, Bildung atomwaffenfreier Zonen, Einstellung von Flügen ausländischer Flugzeuge mit Atom-und Wasserstoffbomben über Europa.
Ferner wurden die Unantastbarkeit der Grenzen und die Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten gefordert
Der Bukarester Deklaration folgte neun Monate später das Aktionsprogramm, das die Kommunistischen und Arbeiterparteien Europas auf der Karlsbader Konferenz beschlossen und in einer Erklärung vom 26. April 1967 veröffentlichten. Die Forderungen betrafen u. a. die Anerkennung der Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen in Europa, insbesondere der Grenze an Oder und Neiße sowie zur DDR, Anerkennung der DDR, Verhinderung des Zutritts der Bundesrepublik zu Kernwaffen in jeglicher Form und Ungültigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Anfang an.
Als erreichbare Ziele wurden in dem Aktionsprogramm proklamiert: Gewaltverzichtsvertrag, Normalisierung der Beziehungen zwischen allen Staaten und der DDR sowie zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen der „besonderen politischen Einheit Westberlin" und der DDR, Verteidigung und Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik (Verbot der NPD, Legalisierung der KPD usw.), Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, Liquidierung der künstlich errichteten Hindernisse in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Ländern Europas und — wohl im Hinblick auf die im Jahre 1969 mögliche Kündbarkeit des NATO-Vertrags durch Mitgliedstaaten — die gleichzeitige Auflösung der beiden Bündnisse;
Gemäß den Beschlüssen der Karlsbader Konferenz sollten diese Ziele erreicht werden durch Aktivierung der kommunistischen Parteien des Westens und möglichst in Zusammenarbeit mit den Kräften der Bauernschaft und der Mittelschichten, der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, der Gewerkschaften, der christlichen und anderer Religionsgemeinschaften, der Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, der „jungen Generation Europas" und der Frauen. Sie alle wurden aufgefordert, mit ihrer „Energie die Einberufung einer Konferenz der europäischen Staaten zu unterstützen"
Die Haltung des Westens
Bereits am 9. September 1965 erklärte der französische Staatspräsident, Charles de Gaulle, auf einer Pressekonferenz: „Wir sehen ohne Zaudern dem Tag entgegen, an dem Europa im Interesse einer konstruktiven Verständigung vom Atlantik bis zum Ural ganz seine eigenen Probleme selbst regelt und vor allem das Deutschland-Problem, auf dem einzigen dafür möglichen Weg, dem eines allgemeinen Übereinkommens."
Die Bundesrepublik Deutschland unterbreitete am 25. März 1966 in der sogenannten FriedensnoteVorschläge zur Abrüstung und Friedenssicherung in Europa. Sie empfahl Maßnah-men zur Verhütung der Weiterverbreitung von Kernwaffen und bekannte sich zum Verzicht auf Gewaltanwendung
Eine weitere Initiative entfaltete der dänische Außenminister, Per Haekkerup, auf der NATO-Tagung am 7. /8. Juni 1966 in Brüssel. Er regte die Einberufung einer „europäischen Entspannungskonferenz" zwischen NATO und Warschauer Pakt an.
Haekkerups Vorschlag stieß auf Skepsis. Die Sprecher im Ministerrat bekannten sich zwar zur Politik der Entspannung; sie wollten die Sicherheit des Westens aber dadurch nicht gefährdet sehen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland hielten ein Höchstmaß an westlicher Geschlossenheit für die wichtigste Voraussetzung bei den Entspannungsbemühungen. Frankreich sprach sich für individuelle Annäherungsschritte an den Osten aus.
Zwar ohne Bezug auf das Konferenzprojekt, aber in unverkennbarer Reaktion auf die in Gang gekommene Diskussion der sowjetischen Vorschläge erklärte am 7. Oktober 1966 Präsident Lyndon B. Johnson die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, gemeinsam mit anderen westlichen Ländern an der Heilung der Spaltung Europas mitzuwirken und einen „Brükkenschlag" einzuleiten. Durch gegenseitiges Vertrauen sollten beide Seiten zu einer wahren europäischen Versöhnung finden Weichenstellungen erfolgten auf westlicher Seite durch die Verabschiedung des Harmel-Berichts im Dezember 1967 und durch das sog. Signal von Reykjavik im Juni 1968. Durch die Annahme des Harmel-Reports erfuhr die bisherige Aufgabenstellung des NATO-Bündnisses insofern eine Erweiterung, als neben die Verteidigung nunmehr eine aktive Entspannungspolitik treten sollte. In dem sechs Monate später folgenden Dokument von Reykjavik unterbreitete der NATO-Rat ein Entspannungsangebot mit dem Vorschlag beiderseitiger, ausgewogener Truppenreduzierungen in Europa.
Die westlichen Offerten sollten ebenso wie die offiziösen und akademischen Modellstudien zum Thema „Sicherheit in Europa", die 1968/69 entstanden, das sowjetische Interesse auf den Aspekt der Truppenreduzierung lenken. Der Einmarsch der Truppen von fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 machte allerdings zunächst alle Ansätze zunichte.
III. Akzentverlagerung des Konferenzgedankens
Budapester und Prager Deklarationen
Die Tonart des Appells, den die Vertreter des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes am 17. März 1969 von Budapest aus an alle europäischen Staaten richteten, unterschied sich wesentlich von früheren Deklarationen des Ostblocks. Die polemischen Töne gegenüber den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik wurden leiser.
Nach Auffassung der Warschauer-Pakt-Staaten bot eine „gesamteuropäische Konferenz" die Chance, „gemeinsam Mittel und Wege zu finden, die zur Beseitigung der Spaltung Europas in Militärgruppierungen und zur Verwirklichung der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und Völkern führen" Genauere Vorstellungen für die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems wurden nicht angedeutet.
Die Warschauer-Pakt-Staaten zählten zu den grundlegenden Voraussetzungen der Gewährleistung der europäischen Sicherheit u. a. die Unberührbarkeit der europäischen Grenzen, die Anerkennung der Existenz der DDR, die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches und den Verzicht auf Kernwaffen seitens der Bundesrepublik Deutschland.
Die Tagesordnungspunkte für die Konferenz wurden auf den Bereich der Zusammenarbeit ausgedehnt, d. h. auf gemeinsame große europäische „Projekte auf dem Gebiet der Energetik, des Verkehrswesens, der Wasserwirtschaft, der Luft und des Gesundheitswesens"
Die stärkere Betonung des Nutzens einer Zusammenarbeit, insbesondere auf den Gebieten der Wirtschaft, des Handels und der Kultur, wurde begleitet von der Zurückstellung, ja beinahe Ausklammerung der Fragen der militärischen Sicherheit.
Der Budapester Appell wurde auf der Prager Außenministerkonlerenz des Warschauer Pak-tes vom 31. Oktober 1969 konkretisiert. In einer Erklärung wurde Helsinki als Tagungsort erwähnt. Gesprächsthemen sollten sein:
— Gewährleistung der europäischen Sicherheit und Verzicht auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten.
— Erweiterung der gleichberechtigten Handels-, Wirtschafts-und wissenschaftlich-technischen Beziehungen mit dem Ziel, die politische Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten zu entwickeln
Die Akzentverlagerung des Konferenzgedandens trug nicht zuletzt den wirtschaftspolitischen Interessen der Ostblockstaaten Rechnung.
Finnlands Offerte und die Haltung der Neutralen/Blockfreien
Die Außenminister der NATO-Staaten gingen am 10. /11. April 1969 auf der Konferenz in Washington erstmals auf die Thematik des Budapester Appells ein, ohne ihn im Kommunique jedoch direkt zu erwähnen. Sie kündigten an, „durch Kontakte weiterhin echte Fortschritte . . . anzustreben und alle geeigneten Verhandlungsmöglichkeiten zu untersuchen"
Trotz verstärkten Drängens der Warschauer-Pakt-Staaten übten die NATO-Staaten Zurückhaltung. Sie argumentierten weiterhin, eine derartige Konferenz müsse, um erfolgreich zu sein, sehr sorgfältig vorbereitet werden. Auch vertraten sie unverändert die Auffassung, daß die Teilnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas an dieser Konferenz sichergestellt sein müßte.
In einem Memorandum vom 5. Mai 1969 an dreißig europäische Staaten sowie an die Vereinigten Staaten und an Kanada erklärte die finnische Regierung ihre Bereitschaft, „die Rolle des Gastgebers sowohl der Sicherheitskonferenz als auch des Vorbereitungstreffens zu übernehmen"
Auf das finnische Schreiben antworteten bis Ende Oktober 1969 fünfundzwanzig Staaten grundsätzlich positiv, nämlich — die sieben Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes;
— die NATO-Staaten Dänemark, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Norwegen, Portugal, die Niederlande, Island, Kanada und die Bundesrepublik Deutschland — die neutralen bzw. blockfreien Staaten Irland, Österreich, Jugoslawien, Schweden, Spanien, die Schweiz, der Vatikan und San Marino.
Italien sah sich nicht gleich zu einer positiven Stellungnahme imstande, die Vereinigten Staaten verhielten sich sehr reserviert, und Albanien nahm als einziger Staat eine ablehnende Haltung ein.
Als sich Ergebnisse der deutsch-sowjetischen und der deutsch-polnischen Verhandlungen des Jahres 1970 abzeichneten, setzte die finnische Regierung ihre Bemühungen um das Zustandekommen einer europäischen Konferenz fort. In einem Aide-memoire vom 24. November 1970 lud sie zu multilateralen Ost-West-Beratungen nach Helsinki ein, in denen die Konferenz vorbereitet werden sollte. Die Wünsche der NATO-Verbündeten fanden weitgehende Berücksichtigung. Die Teilnahme an dem Treffen sollte nicht die „Anerkennung der bestehenden politischen Verhältnisse in Europa" bedeuten; die Vorbereitung müßte des Konferenzerfolges wegen gründlich sein und auch Sachfragen einschließen
Auf Seiten der neutralen Staaten zeigte sich neben Finnland besonders Österreich am Konferenzprojekt interessiert. Aber auch Jugoslawien, Schweden und die Schweiz bekundeten ihr Interesse daran. Sie alle legten Wert auf eine Lösung der Sicherheitsprobleme in Europa und befürworteten zugleich eine Intensivierung der Zusammenarbeit.
Kommunique-Dialog
In der Brüsseler Erklärung zu Fragen der europäischen Sicherheit vom 5. Dezember 1969 bekundete der NATO-Ministerrat seine Bereitschaft zu Gesprächen und Verhandlungen mit der Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas über Themen des Zusammenlebens der Staaten, der Rüstungskontrolle und der Abrüstung, des wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Austausches; denn „auf diesen Gebieten könnte durch eine größere Freizügigkeit Ideen und für Informationen zwischen den Ländern des Ostens und des Westens mehr als bisher erreicht werden". Auch „der Nutzen der Tätigkeit der Allianz auf dem Gebiet der menschlichen Umwelt könnte gesteigert werden, wenn sie zur Basis einer umfassenderen Zusammenarbeit würde" Mit der Forderung nach mehr Freizügigkeit auf verschiedenen Gebieten wurde vom Westen ein Thema unterbreitet, auf dessen Behandlung er großen Wert legt und beharrt.
Seit der Brüsseler Tagung widmete die NATO einen erheblichen Teil ihrer halbjährlich stattfindenden Begegnungen der Koordinierung und Präzisierung der Standpunkte ihrer Mitglieder zur Abhaltung einer KSZE. Die Entwicklung gestattete, mit Einschränkungen von einem Dialog der Bündnisse zu sprechen. Am 26. und 27. Mai 1970 legte der NATO-Ministerrat in Rom vier Prinzipien für eine beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung fest Hinsichtlich der bereits begonnenen bilateralen Ost-West-Gespräche (SALT-Gespräche über eine Begrenzung strategischer Rüstungen, deutsch-sowjetische und deutsch-polnische Verhandlungen) versicherten die Minister, daß sie, nach erzielten Fortschritten mit dem Osten in den laufenden Verhandlungen, insbesondere bezüglich der Deutschland-und Berlinfrage, bereit seien, multilaterale Kontakte mit allen interessierten Staaten zu beginnen, um zu erkunden, „wann die Einberufung einer Konferenz oder einer Reihe von Konferenzen" möglich wäre
Als Hauptthemen für die Erkundung wurden genannt:
— die Grundsätze, die für die Beziehungen zwischen Staaten maßgebend sein sollten, einschließlich des Gewaltverzichts;
— die Entwicklung von internationalen Beziehungen mit dem Ziel, zu einer größeren Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Informationen sowie zur Förderung der Zusammenarbeit im kulturellen, wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Bereich und auf dem Gebiet der menschlichen Umwelt beizutragen
Die Staaten des Warschauer Paktes nahmen im Budapester Memorandum vom 21. /22. Juni 1970 auf die in Rom genannten Kriterien keinen direkten Bezug. Sie maßen dem Umweltschutz als Konferenzthema besondere Bedeutung zu. Neu brachten sie in Vorschlag, „das Problem der Bildung eines Organs zu Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in die Tagesordnung einzubeziehen"
Aus dem Kommunique über die Gespräche zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und Parteichef Leonid Breschnjew in Oreanda (Krim) vom 18. September 1971 ist eine gewisse Übereinstimmung hinsichtlich der Themen-gestaltung herauszulesen. Beide Politiker kündigten auf bi-und multilateraler Ebene Konsultationen an, „um die Abhaltung einer solchen Konferenz zu beschleunigen"
Im Rhythmus der Tagungen des NATO-Ministerrats und der Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten kam es zwar zu keiner völligen Deckungsgleichheit der Wünsche für die Tagesordnung einer KSZE. Die Vorstellungen über die zu behandelnden Themen erfuhren jedoch eine Annäherung, wie die Kommuniques bzw. Erklärungen der Tagungen von Berlin (Ost) und Brüssel (2. bzw. 3. /4. Dezember 1970), Warschau (1. Dezember 1971), Brüssel (10. Dezember 1971), Prag (26. Januar 1972) und Bonn (31. Mai 1972) zeigten. Die Verabschiedung der Ostverträge und das Inkrafttreten der Berlin-Regelung setzten schließlich den Weg frei für die Aufnahme multilateraler Vorbereitungsgespräche, die am 22. November 1972 in Helsinki begonnen haben.
Themenkatalog einer KSZE
Seit Ende 1970 haben sich vier Hauptthemen herauskristallisiert, die auf einer Konferenz Gegenstand der Verhandlungen werden könnten:
— Grundsätze für die zwischenstaatlichen Beziehungen, Gewaltverzicht, — größere Freizügigkeit für Menschen, Meinungen, Informationen und Verkehr sowie kulturelle Beziehungen, — Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und des Umweltschutzes, — Probleme der Sicherheit, Grundsätze und Kriterien einer Verminderung von Truppen und Rüstungen im Osten und Westen Europas, flankierende oder symbolische Sicherheitsmaßnahmen.
B. beiderseitige, ausgewogene Truppenreduzierungen in Europa (mbfr)
I. Der Beginn der Diskussion (1967— 1970)
Der Gedanke an MBFR taucht im NATO-Bereich zunächst in der programmatischen Rede des amerikanischen Präsidenten, Lyndon B.
Johnson, am 7. Oktober 1966 auf, in der es hieß: „Die atlantischen Verbündeten werden weiterhin gemeinsam prüfen, welche Stärke die NATO angesichts der sich ändernden Technologie und der bestehenden Bedrohung braucht. Eine Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte in Mitteleuropa würde sich natürlich auch auf das Ausmaß dieser Bedrohung auswirken. Sollten ändernde Umstände zu einer schrittweisen und ausgewogenen Revision der Stärke der Streitkräfte auf beiden Seiten führen, dann könnte eine solche Revision . . . dazu beitragen, allmählich ein neues politisches Klima zu schaffen."
Im Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrats am 15. und 16. Dezember 1966 in Paris wurde auf das Reduzierungsproblem erneut hingewiesen: „Die Minister .. . hoffen, daß . . . Bedingungen zustande kommen, die eine stufenweise und ausgewogene Änderung des Streitkräfteniveaus auf beiden Seiten zulassen könnten."
Die jetzige Definition von MBFR geht auf das Jahr 1967 zurück. Nach der Aufgabe der Doktrin der „massiven Vergeltung" und der Hin-wendung zur Strategie der „angemessenen Reaktion" ergab sich für die NATO die Notwendigkeit, nicht nur militärisch präsent zu sein, sondern auch das Ausgleichsgespräch mit der Sowjetunion zu suchen. Sicherheit und Entspannung gehörten fortan in gleicher Weise zu den Aufgaben der NATO. Diese Doppelstrategie basiert auf der sogenannten Harmel-Studie, die der Nordatlantikrat im Dezember 1967 auf seiner Tagung in Brüssel als Bericht des Rates über die künftigen Aufgaben der Allianz verabschiedete. Als Ziel wurde „eine gerechte und dauerhafte Ordnung in Europa" herausgestellt; auch sollten „Maßnahmen zur Abrüstung und praktischen Rüstungskontrolle einschließlich der Möglichkeit ausgewogener Truppenverminderungen" geprüft werden
Am 24. und 25. Juni 1968 bekundeten die Außenminister der NATO-Staaten ihre grundlegende Bereitschaft zu Verhandlungen über die Frage von MBFR auf der Ministertagung des Nordatlantikrats in Reykjavik. Im Kommunique sowie in einer besonderen Erklärung, der die französische Delegation nur zum Teil zustimmte, behandelten die Minister die Fragen von MBFR. Sie legten dabei u. a. grundsätzlich fest:
— Beiderseitige Truppenverminderungen sollten auf Gegenseitigkeit beruhen und nach Umfang und zeitlichem Ablauf ausgewogen sein;
— beiderseitige Verminderungen dürften nicht so geartet sein, daß sie eine nachteilige Veränderung der Lage in Europa zur Folge haben könnten.
Die Erklärung enthielt auch das sogenannte Signal von Reykjavik (Ziffer 7) an die War-schauer-Pakt-Staaten, an dem die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wesentlich mitgewirkt hatte. Danach sollten Vorbereitungen für eine Erörterung von MBFR mit der Sowjetunion und anderen Staaten Osteuropas in diesem Sinne getroffen werden. Die Ostblockstaaten wurden aufgerufen, „sich dieser Suche nach Fortschritt auf dem Wege zum Frieden anzuschließen"
Am 21. August 1968 erfolgte die militärische Intervention von fünf Staaten des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei. Wie es im Kommunique über die vorgezogene Minister-tagung des Nordatlantikrats am 15. und 16. November 1968 in Brüssel hieß, erlitten dadurch „die Aussichten auf ausgewogene gegenseitige Truppenverminderungen einen schweren Rückschlag" Auch in den Kommuniques über die Ministertagungen des Nordatlantikrats am 10. und 11. April 1969 in Washington sowie am 4. und 5. Dezember 1969 in Brüssel fand MBFR auf Grund der tschechischen Ereignisse nur kurze Erwähnung.
Erst auf der Ministertagung des Nordatlantik-rats in Rom am 26. und 27. Mai 1970 spielte MBFR wieder eine besondere Rolle. Es erfolgte ein Angebot an die östliche Seite zu Diskussionen über MBFR in Form einer Erklärung, die von allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs unterzeichnet wurde. Die Erklärung enthielt u. a. die Aufforderung zur Aufnahme exploratorischer Gespräche sowie die Präzisierung der Grundsätze von Reykjavik.
Die Kriterien von Rom lauteten: — „Beiderseitige Truppenreduzierungen müßten mit den lebenswichtigen Sicherheitsinteressen des Bündnisses vereinbar sein" und sollten sich nicht zum militärischen Nachteil auswirken, „wobei Unterschiede, die aus geographischen und sonstigen Umständen erwachsen, zu berücksichtigen sind."
— „Truppenreduzierungen müßten auf Gegenseitigkeit beruhen und nach Umfang und zeitlichem Ablauf abgestuft und ausgewogen sein."
— Sie müßten ausländische Stationierungsund einheimische Streitkräfte sowie ihre Waffensysteme umfassen.
— Für eine vereinbarte Truppenverminderung müßten ausreichende Kontrollen vorgesehen werden.
Schließlich wurde der gastgebende italienische Außenminister beauftragt, die Erklärung allen interessierten Regierungen, einschließlich neutraler und ungebundener Regierungen, zuzuleiten
II. Die Reaktion aus dem Ostblock (1970— 1971)
Das vermehrte Interesse, welches das Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz seit der Prager Erklärung vom Oktober 1969 gefunden hatte, bewirkte, daß die NATO ihre MBFR-Initiative stärker in den Vordergrund rückte. Die Erklärung von Rom war so nachdrücklich, daß die Staaten des Warschauer Paktes schließlich, wenn auch zögernd, reagierten. Ihre Außenminister gingen auf der Konferenz in Budapest am 21. und 22. Juni 1970 nur vorsichtig und kurz auf die Frage einer Reduzierung der in europäischen Staaten stationierten ausländischen Truppen ein. In dem Budapester Memorandum hieß es auch, daß dieses Thema nach Meinung der Warschauer-Pakt-Staaten durch ein auf der gesamteuropäischen Konferenz zu bildendes Organ behandelt werden könnte, „oder es sollte in einem anderen, für die interessierten Staaten annehmbaren Verfahren zur Sprache kommen" Auf die Erklärung von Rom wurde nicht direkt Bezug genommen.
Es verstrich eine Reihe von Monaten, ohne daß etwas Wesentliches von östlicher Seite zu MBFR gesagt wurde. Erst auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU war wieder von einer Truppenreduzierung die Rede. Der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Leonid Breshnjew, befürwortete (30. März 1971) in allgemeinen Formulierungen eine Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen Eine Gesprächsbereitschaft deutete Breshnjew eineinhalb Monate später erstmals in seiner Rede in Tiflis am 14. Mai 1971 an Er beschränkte die Erörterung nicht mehr auf die Reduzierung ausländischer Truppen, gab aber keine genaueren Vorstellungen zu dem Problem zu erkennen. Offensichtlich hatten die Überlegungen im Kreml und innerhalb des Warschauer Paktes noch nicht zu einer abschließenden Meinung geführt.
III. Die weitere Entwicklung (1971-1972)
Die Äußerungen Breshnjews in Tiflis waren der amerikanischen Regierung ein willkommener Anlaß, Sondierungen unmittelbar einzuleiten; denn Washington sah sich schon seit längerer Zeit parlamentarischem Druck und der Forderung ausgesetzt, einseitig Truppen aus Europa abzuziehen. Im Senat stand gerade eine Abstimmung über den Antrag des Senators Mike Mansfield bevor, die finanziellen Mittel für den Unterhalt einer über 150 000 Mann hinausgehenden Streitmacht ab 31. Dezember 1971 zu sperren.
Der amerikanische Botschafter in Moskau, Jacob Beam, erkundigte sich am 16. Mai 1971 — also schon zwei Tage nach der Tiflis-Rede Breshnjews — beim sowjetischen Außenminister, Andrej A. Gromyko, nach der Bedeutung der Äußerungen des Generalsekretärs der KPdSU. Wie aus einer Erklärung des amerikanischen Außenministers vom 17. Mai 1971 hervorging, bestätigte Gromyko dabei, daß die sowjetische Regierung bereit sei, über Truppenverminderungen zu sprechen Daraufhin setzte sich die Regierung in Washington sofort mit den NATO-Verbündeten in Verbindung. Das von sowjetischer Seite bekundete Interesse an einem weiteren Meinungsaustausch über die Frage der Truppenreduzierungen verschaffte der amerikanischen Regierung auch ein Argument gegen Senator Mansfields Antrag, der am 19. Mai 1971 vom Senat abgelehnt wurde.
Die Verlautbarungen der sowjetischen Führer dürften zeitlich auf die NATO-Frühjahrstagung in Lissabon ausgerichtet gewesen sein. Auf der Lissaboner Ministerkonferenz des Nordatlantikrats am 3. und 4. Juni 1971 diskutierten die Außenminister erneut ausführlich über MBFR. Sie beschlossen, die Sondierungen mit der Sowjetunion sowie mit anderen interessierten Regierungen zu verstärken, und kamen überein, sobald wie möglich zu Verhandlungen überzugehen. Minister-Stellvertreter oder hohe Beamte sollten in Brüssel zusammentreten, „um die Ergebnisse der exploratorischen Kontakte zu prüfen und um Sach-und Verfahrensfragen ... zu beraten"
Generalsekretär Breshnjew äußerte sich auf einer Wahlkundgebung am 11. Juni 1971 in Moskau zu den NATO-Beschlüssen von Lissabon. Zwar vermißte er seinerseits „eine klare Antwort" in der Abrüstungsfrage; er bestätigte aber, daß sich die Gesprächsbereitschaft Moskaus nicht nur auf die ausländischen, sondern auch auf die nationalen Streitkräfte erstrecke
Im Kommunique über die Gespräche zwischen Bundeskanzler Brandt und Generalsekretär Breshnjew vom 16. — 18. September 1971 in Oreanda (Krim) hieß es:
„Beide Seiten haben ihre Auffassungen zur Frage der Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa — ohne Nachteile für die Beteiligten — dargelegt. Dabei stellten sich übereinstimmende Elemente in ihren Positionen heraus. Sie sind überzeugt, daß die Lösung dieses schwierigen Problems die Grundlagen des europäischen und internationalen Friedens wirksam festigen würde. Die Zukunft in Europa ebenso wie in anderen Gebieten der Welt soll nicht auf militärischer Konfrontation, sondern auf der Grundlage gleichberechtigter Zusammenarbeit und Gewährleistung der Sicherheit für jeden einzelnen sowie für alle Staaten zusammen gebaut werden"
In Ausführung der Beschlüsse der Minister-tagung des Nordatlantikrats in Lissabon kamen die Außenminister-Stellvertreter der 14 in der gemeinsamen Verteidigungsorganisation integrierten NATO-Mitglieder (d. h. ohne Frankreich, das aus verschiedenen Gründen Gespräche über MBFR ablehnt) auf ihrer Brüsseler Tagung am 5. und 6. Oktober 1971 überein, den ehemaligen Generalsekretär der NATO, Manlio ßrosio, zu Erkundungsgesprächen über die Möglichkeit eines gegenseitigen und ausgewogenen Truppenabbaus in Europa nach Moskau und in andere interessierte Hauptstädte zu entsenden. Sie hofften, auf diese Weise feststellen zu können, ob eine gemeinsame Grundlage mit der Sowjetunion für MBFR-Verhandlungen vorhanden sei.
Der für die Ministertagung des Nordatlantik-rats im Dezember vorgesehene Brosio-Bericht konnte nicht vorgelegt werden, da Brosio eine Einladung in die Sowjetunion versagt blieb, über die Gründe können nur Mutmaßungen angestellt werden. Es ist möglich, daß sich die Staaten des Warschauer Paktes noch keine einheitlichen Vorstellungen über MBFR machen konnten; möglich ist aber auch, daß sich Moskau eher einen Vorteil versprach aus Truppenreduzierungsverhandlungen, die möglichst bilateral zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten geführt würden, oder aber annahm, daß die Vereinigten Staaten auf Grund innenpolitischen Drucks den Überlegungen nach einseitigen Truppenreduzierungen in Europa, wie dies bereits in den Jahren 1965 bis 1968 der Fall gewesen war wieder vermehrt Aufmerksamkeit zuwenden würden.
Auch die Ministertagung des Nordatlantikrats am 9. und 10. Dezember 1971 in Brüssel rückte sicherheitspolitische Probleme in Europa — KSZE und MBFR — in den Mittelpunkt der Erörterungen. Die Minister der am integrierten Verteidigungsprogramm der NATO teilnehmenden Staaten „unterstrichen die Bedeutung, die sie Maßnahmen beimessen, die die Gefahren einer militärischen Konfrontation verringern und dadurch die Sicherheit in Europa verstärken würden. Sie stellten fest, daß eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa diese Aspekte in geeigneter Weise behandeln sollte". Sie bedauerten, „daß die sowjetische Regierung es bis jetzt unterlassen hat, auf die alliierte Initiative auf diesem wichtigen Gebiet der Ost-West-Beziehungen zu antworten, nachdem sie zuvor Interesse daran bekundet hatte"
Es fiel auf, daß die Außenminister der Staaten des Warschauer Vertrages auf ihrer Tagung am 30. November und 1. Dezember 1971 in Warschau laut Kommunique zwar ausführlich über die KSZE beraten hatten, daß aber jegliches Wort zum MBFR-Vorschlag des Westens fehlte. Auch in der „Deklaration über Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", die der Politische Beratende Ausschuß der Staaten des Warschauer Vertrages auf seiner Tagung am 25. und 26. Januar 1972 in Prag verabschiedete, fanden sich keine präzisen Formulierungen zum Problem der Truppenreduzierung. Es hieß lediglich: „Die Erörterung und Festlegung der Wege zur Lösung dieser Frage dürfen nicht Vorrecht der in Europa bestehenden militärisch-politischen Bündnisse sein." Wenn auf der Budapester Konferenz Mitte 1970 Anzeichen darauf hingedeutet hatten, daß mittlerweile auch die Sowjetunion sich für Verhandlungen über beiderseitigen Truppenabbau in Europa interessieren würde, so fand der mehrfach wiederholte Appell der NATO östlicherseits noch immer nicht das vom Westen erwartete Echo.
IV. Parallelität zwischen KSZE und MBFR?
Im Westen und im Osten ist die Erkenntnis gewachsen, daß Fragen der Abrüstung und des Gleichgewichts sich unmittelbar auf die Sicherheit in Europa auswirken. MBFR ist als Diskussionsthema über Entspannung, Sicherheit und Stabilität in Europa nicht mehr wegzudenken.
Auf ihrer Frühjahrstagung am 30. und 31. Mai 1972 in Bonn behandelten die Minister des Nordatlantikrats im wesentlichen Fragen der Truppenreduzierung und die geplante Sicherheitskonferenz. Die Minister versuchten zu klären, inwieweit „bestimmte militärische Maßnahmen" bei einer KSZE eine Rolle spielen sollten
Auf der Tagung unterrichtete der amerikanische Außenminister, William P. Rogers, den Rat über die unmittelbar vorher stattgefundenen Verhandlungen des Präsidenten Richard M. Nixon in Moskau (22. — 30. 5. 1972). Er teilte mit, daß die Sowjetunion Erörterungen über MBFR von Block zu Block ablehne. Nach amerikanischer Ansicht sollten multilaterale Sondierungen über eine beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierung parallel zu den multilateralen Vorbereitungsgesprächen für eine KSZE durchgeführt werden. Diese Gedanken schlugen sich auch im Schlußkommunique der Tagung nieder, in dem es u. a. hieß: „Die Minister der am integrierten Verteidigungsprogramm der NATO beteiligten Staaten . . . schlagen daher nunmehr vor, daß multilaterale Sondierungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen sobald wie möglich entweder vor oder parallel zu den multilateralen Vorbereitungsgesprächen über eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durchgeführt werden." Es ist nunmehr vorgesehen, daß parallel zu den multilateralen KSZE-Vorbereitungsgesprächen in Helsinki auch multilaterale MBFR-Explorationen an einem Ort in der Schweiz stattfinden. Zwischen beiden Projekten besteht zwar kein Junktim; ein sachlicher Zusammenhang läßt sich jedoch aus Ziff. 14 des Kommuniques der NATO-Ministerratstagung vom 31. Mai 1972 in Bonn herauslesen.
Auch das Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrats vom 8. Dezember 1972 in Brüssel legt erneut Wert auf die Behandlung der MBFR-Fragen
Das langfristige Ziel der NATO im Hinblick auf Truppen-und Rüstungsabbau bleibt „ein auf Vereinbarungen beruhendes ausgewogenes Streitkräfteniveau in Europa auf niedrigerer Ebene"
Alois Friedel, Dr. phil., geb. 1924, Studium an den Universitäten München, Marburg, Bonn und Heidelberg. Nach Truppen-und Stabsdienst in der Bundeswehr sowie einer Referenten-Tätigkeit am Institut für Wissenschaft und Politik in Eggen-berg seit 1971 Gutachter für Militär-und Sicherheitspolitik beim Deutschen Bundestag. Veröffentlichungen: Unsere Symbole, 1963; Deutsche Staatssymbole, 1968; Mitherausgeber von: Sicherheitskonferenz in Europa, 1972; Studien und Aufsätze über zeit-und kriegs-geschichtliche, militärische und sicherheitspolitische Themen.
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