Das Splitting — ein wahltaktisches Medium der Liberalen?
Michael Harscheidt
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Zusammenfassung
Aus der amerikanischen Wahlforschung stammt der Terminus „Splitting", den man auf das ganz anders geartete Wahlsystem der Bundesrepublik zu übertragen oder mit Begriffen wie „gemischte Stimmabgabe", „Uber-Kreuz-Wählen" und „Stimmenspaltung" zu übersetzen versuchte. Eine Analyse dieses Wahlverhaltens führt heute unweigerlich in die neuere Geschichte des politischen Liberalismus, nämlich in das wahlrechtliche Dilemma der Liberalen. Denn in der gegenwärtigen politischen Situation, in der die Liberalen wenig Aussicht auf den Sieg eines eigenen Wahlkreiskandidaten haben können, gewinnt ihre Erststimme eine neu zu definierende Funktion. Die Tatsache, daß die FDP-Wähler in Bundestagswahlen seit 1953 ihre Erststimme zunehmend dem Kandidaten einer bevorzugten Konkurrenzpartei gaben, bezeugt eine zunehmende Bewußtseinsveränderung der liberalen Wähler in dieser Grundsatzfrage. Diese Entwicklung hat für die FDP Konsequenzen. In der zunehmend erkannten geringer werdenden Bedeutung eines . parteitreuen'Einsatzes liberaler Erststimmen liegt aber nicht nur eine Schwäche, sondern hier können den Liberalen neue Kräfte zuwachsen: Die „uneigentliche" liberale Erststimme kann, je nach den politischen Verhältnissen am Tage der Wahl, verschiedene Funktionen ausüben: Neben ihrer Einflußnahme auf den Erfolg direkt oder indirekt gewählter Kandidaten der konkurrierenden Parteien kann sie angekündigte Koalitionsaussagen ratifizieren oder bei einer völlig offenen Koalitionsfrage bestimmte Kombinationen plebiszitär begünstigen oder knappe Mehrheitsverhältnisse durch erhofften Überhang stabilisieren. Solche und ähnliche Motivationen konnten auch praktisch am Wahlkampf der Liberalen 1972 beobachtet werden. Der dabei sichtbar gewordene Konflikt wurde als ein Dualismus von puristischer Zurückhaltung und pragmatischer Öffnung begriffen. Aus historischer Sicht spiegelt sich darin zugleich das klassisch gewordene, prinzipielle Dilemma der Liberalen wieder: die Alternative zwischen Ideal-und Real-politik, zwischen Gesinnungs-und Verantwortungsethik.
I. Zur Marktanalyse der liberalen Erststimmen
Die Liberalen im Wahlkampf
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Tab. III: Bundeswahlkreise, in denen 1972 eine Partei eine stabile Burghoheit erringen konnte
Tab. III: Bundeswahlkreise, in denen 1972 eine Partei eine stabile Burghoheit erringen konnte
„Wir müssen uns daran gewöhnen, mit kleinen oder sogar knappsten Mehrheiten zu regieren." 1) Mit diesen Worten kennzeichnete der Vorsitzende der Freien Demokraten, Walter Scheel, die parlamentarischen Erwartungen vor dem eigentlichen Beginn des Bundestagswahlkampfes 1972, den alle Seiten als die härteste politische Auseinandersetzung seit dem Bestehen der Bundesrepublik bewerteten. Eine ähnliche Beurteilung der zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse spiegelte sich in der Bereitschaft des sozialdemokratischen Vorsitzenden Willy Brandt wieder, die bisherige Regierungskoalition nach einem Wahlsieg mit notfalls nur einer Stimme Mehrheit fortzusetzen. In einer fortgeschrittenen Phase des Wahlkampfes — in den Medien häuften sich bereits Nachrichten und Kommentare zu der Tatsache, daß allein die Zweitstimmen über die künftige Zusammensetzung des Bundestags entscheiden würden — hatte sich das natürliche Konkurrenzverhältnis zwischen den Koalitionspartnern verschärft, wie aus den Erklärungen der Parteiführer deutlich wurde: Auf Brandts an liberal präferierende SPD-Wähler gerichtete Wendung auf dem SPD-Parteitag in Dortmund — „Wir haben keine Stimme zu verschenken" — folgte ein ähnlicher, an CDU-Wähler adressierter Appell Scheels auf dem F. D. P. -Parteitag in Freiburg. Es hieß in einem Kommentar: „So dringlich erscheint dem Parteichef die Suche nach mehr Stimmen, daß er sogar den Anhängern der zuvor immer wieder hart attackierten CDU allen Ernstes zu erwägen gab, ihre Zweitstimmen der F. D. P. zukommen zu lassen"
Abbildung 9
Tab. IV: Bundeswahlkreise, in denen 1972 eine Partei eine labile Burghoheit erringen konnte
Tab. IV: Bundeswahlkreise, in denen 1972 eine Partei eine labile Burghoheit erringen konnte
Damit schienen die Positionen zunächst „geklärt": Die Sozialdemokraten waren aufgerufen, ihre beiden Stimmen geschlossen der SPD zu geben (Brandt), während die F. D. P. über ihre Stammwähler hinaus zusätzlich auf christdemokratische Wechselwähler „mit liberaler Note" spekulierte, die zumindest mit ihrer Zweitstimme die liberale Bundestagsfraktion verstärken sollten (Scheel).
Abbildung 10
Tab. V: Gewonnene Direktmandate 1972
Tab. V: Gewonnene Direktmandate 1972
Ungeklärt, ja ausgesprochen diffus waren dagegen die Positionen, die die Liberalen in bezug auf ihre Erststimmen-Erwartung gegenüber dem von ihnen für mündig erklärten Wahlbürger einnahmen. Dies soll am Wahlkampfgeschehen in Nordrhein-Westfalen, besonders in den Wahlkreisen 69 und 70 veranschaulicht werden. Die dort erkennbar gewordene Behandlung der Erststimmen wie eine Ware, die man für diesen Interessenten oder für jenen Konkurrenten oder aber überhaupt nicht zum Angebot bringt, lassen die politische Landschaft — zumindest optisch — in einer marktwirtschaftlichen Dimension erscheinen und rechtfertigen den Begriff einer „Marktanalyse" der liberalen Erststimmen.
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Tab. VI: CDU/CSU-Überhangmandate durch liberale Erststimmen?
Tab. VI: CDU/CSU-Überhangmandate durch liberale Erststimmen?
Hier lassen sich gleich vier, wenn nicht fünf verschiedene wahltaktische Grundeinstellungen beobachten. Nach einer einheitlichen Strategie beim Umgang mit liberalen Erststimmen wird man vergeblich suchen: (1) Zunächst die Selbstdarstellung der Liberalen im offiziellen Rahmen als Partei: Hier dominierte konsequent der traditionelle Wahl-aufruf: „Ihre Erststimme und Ihre Zweitstimme für den F. D. P. -Kandidaten" — besonders massiv in den letzten Tagen vor der Wahl: Am Donnerstag eine ganzseitige Anzeige zugunsten beider Direkt-Kandidaten am Freitag die Wiederholung derselben Anzeige und in der großen Samstag-Ausgabe unmittelbar vor dem Wahltag noch einmal zwei ganzseitige und eine viertelseitige Anzeige mit demselben Appell: „Sie haben zwei Stimmen. Geben Sie Ihre Erststimme Hans-Dietrich Genscher . . Konform mit dieser Erststim-men-Verwendung ging ein Flugblatt des örtlichen F. D. P. -Kreisverbands aus demselben Zeitraum. Die sich hinter dieser Position (1) verbergende Absicht ist eindeutig: Durch den vollen (d. h. auf dem Stimmzettel beiderseitigen) Einsatz der Stimmabgabe ohne ein differenziertes Abwägen der einen gegen die andere Stimme sollte in traditioneller Weise das Gros des liberalen Wählerpotentials, insbesondere die Zielgruppe der altliberalen Wähler, angesprochen werden. (2) Eine Variante zu dieser konventionellen Konzeption präsentierte sich in jenen offiziellen Parteianzeigen, die in überregionalen Zeitungen erschienen und sich offensichtlich an eine aufgeklärtere Schicht von liberalen Bürgern richteten. Entgegen der lokalen Konzeption wurde hier in diesen überregionalen Wahl-Anzeigen eine informative Erläuterung zur wichtigsten Bedeutung der Erststimme mitgegeben: „... Der, der in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, kommt in den Bundestag. Die Stimmen für die anderen fallen unter den Tisch .. Gleichzeitig wurde hier dem Leser — im Text der Anzeige — durchaus das Recht zugestanden, die Erststimme dem Kandidaten einer anderen Partei zu geben: „Falls Sie Ihre Erststimme einem Kandidaten der CDU oder CSU geben . . ." bzw. „Falls Sie Ihre Erststimme einem Kandidaten der SPD geben .. Der Wahlaufruf beschränkte sich hier allein auf die Vergabe der Zweitstimme: „Nur Ihre Zweitstimme für die F. D. P." (3) „Liberaler" gaben sich die Initiatoren der „Aktion Blaues Dreieck" (Liberale Wähler-initiative, Sitz Köln). Im Mittelpunkt ihrer Wahlinformationen stand unausgesprochen die realistische Einsicht, daß die F. D. P. in der gegenwärtigen politischen Situation und bei der momentanen Sozialstruktur der Bevölkerung kein Direktmandat bei Bundestagswahlen erringen kann. Entsprechend wurde die puristische Abschirmung der Erststimme (1) oder die abwägende Nennung dieser oder jener konkurrierenden Partei (2) hier völlig aufgegeben. Zur Erststimmen-Beurteilung heißt es lakonisch: „Mit der Erststimme wählen Sie jenen Kandidaten, dem Sie Ihre politischen Wünsche anvertrauen wollen, egal, welcher Partei er angehört" (4) Die völlige Aufgabe der puristischen Position und eine nun ganz pragmatische Verwendung der Erststimme demonstrierte die „Liberale Wählerinitiative N. R. W." (Sitz Düsseldorf) — ein wahltaktischer Schritt, der offensichtlich um so leichter fiel, je weiter die Initiatoren von der eigentlichen Parteiorganisation entfernt waren. In den Wahl-Anzeigen dieser Gruppe heißt es unmißverständlich: „. . . geben Sie Ihre Erststimme dem SPD-Kandidaten Ihres Wahlkreises und Ihre Zweit-stimme der Landesliste der F. D. P." Der Aufruf zum Splitting war ausschließlich von Akademikern unterschrieben, darunter allein 14 Professoren. Auf einer Pressekonferenz in Bonn wurde die in dieser Gruppe beschlosse. ne Wahlstrategie erläutert: Die SPD sollte zu zusätzlichen Überhangmandaten gelangen, die F. D. P. sollte sicher die Fünf-Prozent-Hürde überspringen
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Tab. VI: CDU/CSU-Überhangmandate durch liberale Erststimmen?
Tab. VI: CDU/CSU-Überhangmandate durch liberale Erststimmen?
(5) Schließlich kann eine fünfte, individuelle Position angenommen werden: In der letzten Woche vor der Wahl hatte die Diskussion um die liberalen Erststimmen ihren Höhepunkt erreicht. Dieser Diskussion konnten sich auch die Parteirepräsentanten und sogar die Direkt-kandidaten nicht mehr entziehen. Hier zeigte sich eine partielle Aufweichung der traditionellen Position (1), mit der man — „Erstund Zweitstimme für die F. D. P." — in den Wahlkampf gegangen war. Als charakteristisch sei hier deshalb die in einer Lokalzeitung publizierte Erklärung des Direktkandidaten der F. D. P. im Wahlkreis 70 zitiert: „Allerdings halte ich es als Kandidat der F. D. P. für legitim, wenn liberale Wähler in meinem Wahlkreis die Erststimme nicht mir, sondern dem Kandidaten des Koalitionspartners geben ..." In diesen persönlichen Äußerungen eines Kandidaten wird man noch keine pragmatische Aussage oder gar einen Aufruf zum Splitting (4) erkennen können, doch ein erster Schritt auf dem Weg einer Abkehr von der puristischen Abgrenzung wurde hier zweifellos getan.
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Tab. VIII: Erststimmen-Verhältnis in WK 246 und 247
Tab. VIII: Erststimmen-Verhältnis in WK 246 und 247
2. Die Funktionen gemischter Stimmabgabe
Abbildung 14
Tab. IX: Parlamentarische Sitzverteilung bei SPD-Erfolgen im WK 246 und 247
Tab. IX: Parlamentarische Sitzverteilung bei SPD-Erfolgen im WK 246 und 247
Der mit einigen Werbeaktionen der Liberalen im Wahlkampf 1972 erneut zutage getretene Appell für ein sozialdemokratisches Erststimmen-Votum durch liberal präferierende Wähler wird erst dann ganz verständlich, wenn Begriff und Funktionen des Phänomens „Splitting" in ihrer ganzen Tragweite durchleuchtet sind.
Zunächst der Begriff: In Kommentaren und Analysen zu Bundes-und Landtagswahlen scheint sich der Terminus „Splitting" eingebürgert zu haben, obwohl es sich bekanntlich um eine Vokabel handelt, die in der amerikanischen Wahlforschung beheimatet ist und spezifische Entscheidungsmodalitäten des dortigen Wahlsystems beschreibt Einem breiteren Publikum dürfte deshalb der etwas ältere Begriff der „gemischten Stimmabgabe" — bei häufigerem Gebrauch durch die meinungsbildenden Medien — verständlicher sein. Daneben kursieren die etwas abstrakte Behelfskonstruktion des „Über-Kreuz-Wählens" und die für , vote Splitting'gebildete Lehnübersetzung „Stimmenspaltung"
Welche Wirkungen hat. nun die gemischte Stimmabgabe für die personalisierte Verhältniswahl in der Bundesrepublik? Nach dem Gesetz — BWG § 4 — hat jeder Wähler zwei Stimmen: „... eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweit-stimme für die Wahl einer Landesliste". Nach der mehrheitswahlrechtlichen Konstruktion bei der Bewertung der in einem Wahlkreis abgegebenen gültigen Erststimmen hat aber die Erststimme nicht jene Bedeutung, welche der Zweitstimme in allen drei (vier) demokratischen Parteien zukommt. Und darin begründet sich die — auch jetzt wieder in ihrem Wahlkampf sichtbar gewordene — wahlsystematische Problematik der Liberalen — von der 5 %-Sperrklausel und dem die kleineren Parteien leicht benachteiliegenden d'Hondt’schen Anrechnungsverfahren einmal abgesehen: In keinem der 248 Einmannwahlkreise des Wahl-gebiets kann z. Z. ein F. D. P. -Kandidat die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen
Aus der zunehmenden Kenntnis dieses politischen Sachverhalts resultiert auch die stetige Abnahme von abgegebenen Erststimmen für freidemokratische Direktkandidaten: In den Bundestagswahlen von 1953, 1957 und 1961 gaben nur noch rund 85 % FDP-Wähler ihre Erststimme dem freidemokratischen Wahlkreiskandidaten 1965 sank die Zahl sogar auf etwa 70°/0 In einer wahlsoziologischen Studie wurden abweichend noch eklatantere Werte ermittelt: Danach betrug die Zahl der puristisch eingestellten FDP-Wähler 1961 75%, 1965 56% und 1969 nur noch 43 0/0 1
Mit Interesse wird diese Entwicklung bei den zu erwartenden Analysen der Wahl vom 19. November 1972 weiterzuverfolgen sein.
Zur Funktionsbestimmung der gemischten Stimmabgabe sind vor allem zwei wahlsystematische Wirkungen hervorzuheben: (1) Nach § 6 BWG wird die Zahl der je Land mit Erstimmen gewählten Wahlkreisbewerber einer Partei von den nach Zweitstimmen einer Partei je Land zustehenden Mandaten abgezogen; die (248) direkt Gewählten ziehen in den Bundestag ein. Die je Land übrig bleibenden Mandate werden anschließend nach Landeslisten nominell besetzt; die (248) Nominierten ziehen ebenfalls als gewählte Abgeordnete in den Bundestag ein.
Diesen Ausgleichsprozeß von WK-Bewerbern und LL-Kandidaten zwischen zwei konkurrierenden Massenparteien A und B kann nun eine kleinere Partei G beeinflussen, Wenn ihre Direktkandidaten in den Einmannwahlkreisen nicht „ernst" genommen werden:, Indem ein Anteil der Erststimmen von den Parteigängern C z. B.der Partei A zufließt, kann diese (A) eine größere Zahl von WK-Mandaten gewinnen, was allerdings zu Lasten der Zahl ihrer LL-Kandidaten geht. Umgekehrt ist dadurch die Partei B mit weniger WK-Kandidaten, aber dafür mit mehr LL-Abgeordneten im neu gewählten Parlament vertreten. Eine erste elementare Bedeutung des Splittings zeichnet sich also in der Einflußnahme auf den Wahlerfolg örtlich (WK) oder regional (LL) siegender Kandidaten von konkurrierenden Massenparteien ab. 1969 gewann die SPD zum ersten-mal in der Geschichte der Bundesrepublik mehr Direktmandate (127) als die CDU/CSU (121). An dieser Zunahme der von den Sozialdemokraten gewonnenen WK-Mandate waren die Wähler der F. D. P. nicht unbeteiligt, wie festgestellt worden ist, „denn ein erheblicher Teil von ihnen, etwa ein Drittel, gab seine Erststimme den Kandidaten der SPD, Während nur noch 16% der F. D. P. -Wähler mit ihrer Erststimme einen CDU/CSU-Kandidaten wählten" (2) Die gemischte Stimmabgabe beeinflußt aber nicht nur die personale Qualität des Parlaments, sondern sie kann sogar auf seine arithmetische Quantität und damit — bei ohnehin knappen Mehrheitsverhältnissen oder gar einem Patt — auf die Regierungsbildung entscheidenden Einfluß nehmen. Denn nach § 6 Abs. 3 BWG verbleiben die in Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei selbst dann, wenn ihr — aufgrund der für sie abgegebenen Zweitstimmen — in diesem Land weniger Mandate zustehen. Nach dem Prinzip „Vorrang der Mehrheitswahl" bleiben diese, die zustehende Mandatszahl übersteigenden Sitze erhalten und ziehen als zusätzliche „Überhangmandate" in den Bundestag ein. Die Zahl der bei Bundestagswahlen bisher erworbenen Überhangmandate betrug 1949: 2, 1953: 3, 1957: 3 und 1961 sogar: 5; 1965 und 1969 kam kein Überhang zustande
Die Ursachen für solche Überhangmandate sind sehr verschieden und wurden bereits ausführlich erörtert Die wahlsystemtechnischen Voraussetzungen seien deshalb hier nur stichwortartig wiederholt: (a) überdurchschnittlich kleinere Wahlkreise eines Landes; (b) überdurchschnittlich geringe Wahlbeteiligung in einem Land; (c) eine beachtlich große Anzahl knapper Wahlkreismehrheiten für eine Partei A in einem Land; (d) starke, aber in bezug auf Wahlkreismandate erfolglos gebliebene Drittparteien (C, D . . . usw.) in einem Land Da die Wahlentscheidung vom 19. November 1972 in manchen Ländern einerseits zu sehr knappen Ergebnissen (c) führte und da die gemischte Stimmabgabe z. T. mit dem erklärten Ziel zusätzlicher Mandatsgewinne (4) zu-gunsten der bisherigen sozialliberalen Koalition propagiert wurde, erhält die Frage nach der Beziehung von Splitting und Überhangmandaten eine ganz besondere Bedeutung.
II. Wahlergebnisse und Splitting-Analyse
Abbildung 6
Tab. I: Bundestagswahlen im WK 28: Hoya (NiSa.)
Tab. I: Bundestagswahlen im WK 28: Hoya (NiSa.)
1. Wechsel im Wahlkreis Hoya
Daß die gemischte Stimmabgabe der Liberalen im Bundestagswahlkampf 1972 tatsächlich zu einem „Machtwechsel" in vielen Wahlkreisen geführt hat, sei an einem Beispiel erläutert. Ausgehend von der Struktur der Wählerschaft konnte der Wahlkreis 28: Hoya (Niedersachsen) stets als ein sicheres Sprungbrett für einen christdemokratischen Kandidaten angesehen werden. Die überlegene Stärke der CDU-Wähler zeigt sich an der hohen Zahl der Zweitstimmen, die in den vorausgegangenen Legislaturperioden der CDU als stärkste Partei in diesem Wahlkreis zuflossen und auch heute noch mit 46, 4 0/0 über dem Bundes-durchschnitt (CDU 4-CSU: 44, 8 %) liegen. Beachtlich ist auch der souveräne Anteil liberaler Voten in diesem Wahlkreis. Mit 17, 3 °/o 1965, 10, 3 % 1969 und 9, 2% 1972 lagen auch die für die F. D. P. abgegebenen Zweitstimmen über dem durchschnittlichen Anteil im übrigen Bundeswahlgebiet (12, 8%; 5, 8 %; 8, 4 %). Im gleichen Zeitraum blieben die So-zialdemokraten mit 33, 1% 1965, 35, 5% 1969 und 43, 5 % 1972 konstant unter ihrem Zweit-stimmen-Durchschnitt (39, 3 %; 42, 7 %; 45, 9 %). Dennoch wurde am 19. November 1972 der Wahlkreis Hoya von dem sozialdemokratischen Kandidaten direkt gewonnen. Die Erklärung für diesen Sieg liegt in der rückläufigen Bilanz abgegebener F. D. P. -Erststimmen.
Nun wird man nicht alle für die F. D. P. abgegebenen Zweitstimmen des Wahlkreises 28 als eine Wahlaussage ausschließlich liberaler Stammwähler veranschlagen wollen. Dafür liegen viel zu hohe Fluktuationswerte und zu verschiedene Motivationen vor. Doch die sich in den Zahlen der gemischten Stimmabgabe niederschlagende Wahlabsicht vom 19. November 1972 ist eindeutig und demonstriert eine Präferenz für den sozialdemokratischen Kandidaten (Tab. I).
Eine Einflußnahme der gemischten Stimmabgabe auf die personale Zusammensetzung des Parlaments zu seiner 7. Legislaturperiode ist also unverkennbar. Ob und wieweit das Splitting der sozialliberalen Regierungskoalition oder alternativ einer kleinen Koalition von Christdemokraten und Freien Demokraten auch zusätzliche Überhangmandate hätte einbringen und damit knappe Mehrheiten hätte stabilisieren können, bedarf weiterer Einzel-untersuchungen.. 2. Hochburg und Burghoheit Zunächst seien einmal jene Wahlkreise genannt, in denen das Splitting — bei noch so intensiver Werbung — per se für keine der beiden großen Parteien etwas hätte einbringen können. Das sind die sog. „Hochburgen". Sie scheiden von vornherein aus. Als Hochburg (HB) einer Partei A seien nur solche Wahlkreise bezeichnet, in denen die Partei A aufgrund der abgegebenen Erststimmen die Mehrheitspartei stellt, auch wenn sämtliche Wähler der Partei C ihre Erststimmen geschlossen dem Kandidaten der zweitgrößten Partei ß geben würden. Gleichzeitig muß der Begriff Hochburg aus der Tradition seiner Stammwählerschaft her verstanden werden. Hochburg einer Partei sollte deshalb nur jener Wahlkreis heißen, wo sich die uneinnehmbare Mehrheit mindestens dreimal hintereinander ununterbrochen wiederholte. Für eine tabellarische Übersicht der Hochburgen (Tab. II) wurden deshalb die aufeinander folgenden Wahl-jahre 1965, 1969 und 1972 berücksichtigt — und das mit gutem Grund: 1965 war ein Wahljahr mit hoher CDU-Präferenz der FDP-Wähler im Wahlkampf 1969 stand die F. D. P. als einzige Oppositionspartei der damaligen Großen Koalition von CDU/CSU und SPD . gleichermaßen'oppositionell gegenüber und 1972 durften vor allem die konkurrierenden Sozialdemokraten von den liberalen Erststimmen profitieren. Nur die während dieser wechselnden Fluktuationen stabil gebliebenen und auch durch gemischte Stimmabgabe arithmetisch nicht zu erschütternden Wahlkreise sind echte Hochburgen. Ein Vergleich zeigt die günstigere Position der CDU/CSU (73) — insbesondere der CSU (31) — gegenüber den Sozialdemokraten (53).
Neben den traditionellen Hochburgen, die sich über Jahrzehnte als solche ausweisen, gibt es aber die wahlanalytisch viel interessanteren Wahlkreise, in denen sich viel häufiger ein Wechsel von absoluten zu relativen Mehrheiten abspielt. In einer Untersuchung wurden die Begriffe „extreme Hochburg" und „empfindlicher Wahlkreis" einander gegenüber gestellt. Für die folgende Darstellung, in der es um die spezifische Bedeutung des sog.
Splittings geht, empfiehlt sich eher eine Differenzierung der 248 Wahlkreise in solche mit einer stabilen Burghoheit und solche mit einer labilen Burghoheit. Danach verfügt eine Partei A in einem Wahlkreis über eine stabile Burghoheit (stab. BH), wenn ihr die Erststimmenmehrheit nicht durch eine Erststimmenkombination der anderen beiden demokratischen Parteien B und C streitig gemacht werden kann. Dabei muß es sich nicht immer um traditionelle Hochburgen handeln; stabile Mehrheiten werden bei jeder Wahl gewonnen und können woanders verlorengehen. Eine labile Burghoheit (lab. BH) behauptet dagegen eine Partei A dann, wenn zwar ihr Direkt-kandidat die meisten Erststimmen auf sich vereinigen konnte, aber durch einen intensiv genug befolgten Aufruf zur gemischten Stimmabgabe der kombinierte Erststimmen-Sieg der anderen beiden demokratischen Parteien B und C durchaus möglich gewesen wäre Die Tabelle III liefert einen Schlüssel zu den stabilen Burghoheiten, wie sie am 19. November 1972 von beiden großen Parteien errungen wurden. Im Gegensatz zur Verhältniszahl der Hochburgen kommt hier den Sozialdemokraten die günstigere Ausgangsbasis zu. — Dazu gehört die Tabelle IV mit den labilen Burghoheiten. Hier ist das Verhältnis ausgeglichen und beläuft sich für die beiden großen Parteien auf je 20 Wahlkreise. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die CSU in Bayern an keiner labilen Burg-hoheit „krankt". Beide Gruppen gehören komplementär zusammen und bilden als Ganzes die 248 Wahlkreise im Bundesgebiet (Tab. V).
Diese terminologischen und tabellarischen Vorarbeiten lassen ein erstes Zwischenergebnis erkennen: Obwohl der Kampf um die liberalen Erststimmen im gesamten Bundesgebiet geführt wurde, hätte er — bei der sozialen und politischen Struktur der Wählerschaft vom 19. November 1972 — allein nur in zwanzig Wahlkreisen Aussicht auf Wahlerfolg eines sozialliberalen Kandidaten gehabt (Tab. IV); die gleiche Erfolgszahl (20) wäre potentiell — stets vorausgesetzt, daß die Wählerschaft einer solchen Koalitionsbekundung gefolgt wäre — durch eine CDU-FDP-Kombination möglich gewesen (Tab. IV). Die selektiven Einflußmöglichkeiten des Splittings sind also — je nach den sozialen und politischen Voraussetzungen — geringer als man weithin annehmen mag.
Weit interessanter ist nun aber die Frage nach eventuellen Uberhangmandaten, dem wichtigsten Ziel der Anhänger des Splitting-Gedankens. Wäre tatsächlich ein Mehr an sozialliberalen Sitzen am 19. November 1972 möglich gewesen? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Um dies zu beantworten, bedarf es einer gesonderten Analyse des Wahlergebnisses. 3. Überhang im Saarland Wie bereits hervorgehoben, werden nach § 6 BWG die WK-Mandate von der zustehenden Mandatszahl abgezogen, um die verbleibenden Rest-Mandate als LL-Mandate nominell zu bestimmen. Würde man nun — in einer rein theoretischen Berechnung — von den je Land verbliebenen LL-Mandaten einer Partei A die je Land durch ein liberales Stimmen-Splitting einnehmbaren labilen Burghoheiten der konkurrierenden Partei B abziehen, so ergäben sich für die Partei A überall dort zusätzliche Überhangmandate, wo ein Ausgleich nicht mehr möglich sein sollte (§ 6 Abs. 3 BWG).
Eine tabellarische Splitting-Analyse, bestehend aus der Struktur der WK-und LL-Mandate der CDU/CSU abzüglich der 20 labilen Burghoheiten der SPD, macht aber deutlich, daß eine imaginäre Koalition von Christdemokraten und Freien Demokraten unter den gegenwärtigen Voraussetzungen kein zusätzliches Überhangmandat hätte hinzugewinnen können (Tab. VI). Die Zahl der verbleibenden LL-Mandate ist beim Wahlergebnis vom 19. November 1972 für die CDU/CSU überdurchschnittlich groß.
Für die sozialliberale Koalition würde das Ergebnis der imaginären Mandatsermittlung positiver aussehen: Von den fünf saarländischen Wahlkreisen wurden drei bereits durch ein dort höheres Erststimmenergebnis von der SPD direkt gewonnen, während die übrigen zwei an die CDU fielen. Ein viertes der SPD zustehendes Mandat wurde durch die saarländische Landesliste nominell bestimmt. Da aber die beiden von der CDU gewonnenen Wahlkreise keine stabilen Burghoheiten aufweisen, sondern durch einen z. T. nur geringfügig intensiveren Gebrauch der gemischten Stimmabgabe durch liberale Wähler ebenfalls von sozialdemokratischen Kandidaten hätten gewonnen werden können, so wäre hier ein Abgeordneter infolge mangelnder Ausgleichbarkeit als Inhaber eines zusätzlichen Überhangmandats in den Bundestag eingezogen (Tab. VII). Das liegt in diesem Fall an der beachtlichen Höhe der gewonnenen Direktmandate sowie an den diesmal knappen Mehrheitsverhältnissen im Saarland. Dieses abschließende Ergebnis beweist noch deutlicher: Durch ein genügend intensiviertes Splitting ist tatsächlich eine verfassungskonforme Einflußnahme auf die neu zu wählende Zusammensetzung des Parlaments möglich. Dieses Ergebnis beweist aber auch, daß diese Möglichkeiten in keinem Verhältnis zu den Erwartungen stehen, mit denen man das Splitting als wahltaktisches Mittel in Diskussionen, in der Presse und in der politischen Werbung bedacht hat. Dennoch wird die gemischte Stimmabgabe auch künftig von Bedeutung sein. Und wenn man die Erststimmen-Verhältnisse in den beiden in Frage kommenden saarländischen Wahlkreisen überprüft (Tab. VIII), dann kann man erkennen, wie eng beieinander hier imaginäres und reales Wahlergebnis liegen. Es hätte hier nur weniger zusätzlicher „über Kreuz" gesetzter Erststimmen bedurft: Alle dargestellten Überlegungen bauen ganz bewußt auf einer pragmatischen Verfügbarkeit und Einsetzbarkeit der liberalen Erststimmen auf. Allein aus der Tatsache, daß in der gegenwärtigen Situation ausschließlich Sozialdemokraten und die Unionsparteien mit realen Erfolgsaussichten um die 248 Wahlkreise (Erststimmen) konkurrieren können, resultiert die zunehmende Diskussion um eine Neuorientierung der F. D. P. -Wähler bei der Abgabe ihrer Erststimme. Es ist deshalb wenig sinnvoll, ähnliche Überlegungen für das Wahl-verhalten bei den Wählern der beiden großen Parteien vorzunehmen; solche Überlegungen haben abstrakten Charakter und gehen an der politischen Realität, an der „Kunst des Möglichen" vorbei.
III. Aspekte künftiger liberaler Wahlpolitik
Abbildung 7
Tab. II: Hochburgen im Bundeswahlgebiet (5. — 7. Legislaturperiode)
Tab. II: Hochburgen im Bundeswahlgebiet (5. — 7. Legislaturperiode)
1. Die Rückbesinnung auf Naumann
„. .. die Logik, die Tatsachen, sie werden dahin führen, daß die neue Bewegung des wachsenden Massenvolkes, zusammengesetzt aus heutigem Liberalismus und Sozialdemokratie, im Laufe des nächsten Jahrzehntes unter dem Druck von Zentrum und Konservativen sich zusammenfindet: ihr habt den Staat nun lange genug geleitet, und wir haben" — heißt es dann — „nun lang genug darum gelitten!" Diese Worte Naumanns, vor rund 70 Jahren ausgesprochen, scheinen sich erst in der jüngsten Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland zu erfüllen. Eine sinnvolle Ergänzung von liberalen und sozialdemokratischen Kräften im Geiste Naumanns vollzog sich erst im Wagnis der 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition. Naumanns Worte bestätigen sich einmal mehr in dem Bekenntnis beider Parteiführer, erst in dieser Koalition einen fairen und toleranten Partner gefunden zu haben.
Aus der fast sensationellen Tatsache, daß die Sozialdemokraten trotz eines hohen Kapital-einsatzes ihrer Gegner im Wahlkampf aus den Reichstagswahlen von 1903 als einzige Partei mit wirklich überdurchschnittlichem Mandats-zuwachs hervorgingen bestärkte sich bei Naumann bereits damals die Auffassung, daß keine politische Kraft an den Grundforderungen der Sozialdemokratie vorbeiregieren dürfe. In diesem ersten Jahrzehnt entwickelte sich bei Naumann ein politisch-programmatisches Wunschbild, das in der Formel „von Bassermann bis Bebel" in seinen Reden und Schriften immer wiederkehrte — eine parlamentarische Konstellation, die 1912 zumindest arithmetisch möglich gewesen wäre, aber politisch nicht zustande kam
Aus kritischer Sicht des Historikers sind dem parteipolitischen Liberalismus in seiner über hundertjährigen Geschichte eine Reihe von „Fehleinschätzungen", „Fehlentscheidungen" und „Fehlentwicklungen" vorgeworfen wor-den Seitdem sich nun die Liberalen — nach dreijähriger Opposition — im Bundestagswahlkampf 1969 zum größten Teil ihrer Repräsentanten als progressive Partei dem Wähler vorzustellen versuchten — „Wir schneiden die alten Zöpfe ab!" — und mit der Vorlage der Freiburger Thesen im Oktober 1971 die Neuorientierung auch programmatisch vornahmen, kann wieder von einer Rückbesinnung auf die politischen Intentionen Naumanns gesprochen werden. Die Gefahr des Verkümmerns zu einem bloßen Wahlverein „ohne echte Zukunftsperspektive" und ohne wirklich politische Resonanz scheint durch den jüngsten Konsolidierungsprozeß gebannt zu sein. — Auch diese neu eingeleitete Entwicklung der Liberalen zurück zur wirklichen Mitte des parteipolitischen Spektrums wurde bereits von Naumann vorgezeichnet: „Der Liberalismus im ganzen wird zur Mittel-partei zwischen einer klerikalkonservativen Macht und einer radikalen sozialdemokratischen Opposition."
2. Die neue Mittel-und Mittler-Position
In einer Untersuchung aus den fünfziger Jahren rechnete K. Schütz mit einer Entwicklung zum „Zwei-Block-System", das sich gewissermaßen dem Mehrparteiensystem überlagern würde In einer späteren Analyse prägte F. Erbe den Begriff des „Zwei-Kräfte-Systems”, in dem zwar die kleinen Parteien mitwirkten, in dem jedoch jeweils eine der beiden großen Parteien die Führung inne-haben werde 47). Nach dem Konzentrationsprozeß durch die Bundestagswahlen von 1965 sprach dann D. Sternberger wenn nicht von einem Zweiparteien-, so doch von der Tendenz zu einem „zweipoligen Parteiensy-stem" 48). In diese Polarisierungsthematik gehört auch das Modell J. Raschkes, in dem sich die verschiedenartigsten Programmforderungen dualistisch gegenüberstehen und sich mit fast zeitloser Gültigkeit einer einheitlichen „Links" -oder „Rechts" -Position zuordnen lassen
Für die F. D. P. als „dritte Kraft" waren und sind diese Polarisierungstendenzen eher negativ als positiv. Die Stimmenverluste der vergangenen Jahre sind zu einem Teil im Phänomen der politischen Polarisierung zu erkennen. Neben der Gefahr eines natürlichen Stimmenverlustes ist aber die noch größere Gefahr eines künstlichen Stimmengewinnes zu nennen. Wieweit ein solcher „künstlicher" Stimmenzuwachs überhaupt vorliegt 50), werden spezielle Wahl-Analysen zu zeigen haben. Zumindest sei hier aber an die für eine souveräne Programmbehauptung kritisch gewordene Situation der liberalen Mittelparteien in der Schlußphase der Kaiserzeit erinnert
Um dem gegenwärtigen Polarisierungsgeschehen entgegenzuwirken, streben die Liberalen — heute mehr denn je — programmatisch und publizistisch zu einer Demonstration ihrer eigenständigen Substanz in der von Polarisierung bestimmten Zweidimensionalität unserer politischen Gegenwart. Ein beredtes Beispiel für diese Suche nach der dritten, der Mittel-Position zeigt sich etwa in den programmatischen Bemühungen des freidemokratischen Generalsekretärs: „Wenn wir zwischen konservativer Erstarrung und sozialistischer Utopie nicht einen dritten Weg der liberalen Gesellschaftsreform aufzeigen würden, dann müßte dieses Land in eine Periode unerträglicher politischer Polarisierung geraten mit allen unheilvollen Folgen für die Liberalität, Humanität und für den Bestand dieser Demokratie — und, was nicht alle begreifen, auch für den Bestand der Wirtschaft . . Exponierter und effektvoll verkürzt formuliert das eine im Bundestagswahlkampf 1972 eingesetzte Broschüre, die die Handschrift eines Werbetexters verrät: „Zwei Parteien sind wie ein Zweieck — im Grunde ein Unding: Der Bürger hat nur noch die Wahl zwischen Schwarz und Rot .. . Darum muß das Zweieck zu einer richtigen geometrischen Figur ausgebaut werden. In einem Dreieck, ist Platz für ausgewogene Lösungen, für vernünftige Kompromisse.''98)
Für die gegenwärtige Epoche der gesetzgeberischen Aufgaben scheint sich diese neue Mittel-und Mittler-Position der Liberalen ihren neu formulierten Freiburger Intentionen nach wirkungsvoller in einer sozial-liberalen Koalition verwirklichen zu können. Von dieser Konstellation erwarten ihre kritischen Befürworter eine „mäßige, systemimmanente Reform" und eine „Demokratisierung aller menschlichen Lebensräume" 3. Eine neue Bestimmung der Erststimmen?
Mit dem Bundestagswahlergebnis vom 19. November 1972 wurde die F. D. P. vom Wähler als dritte politische Kraft bestätigt. Die Liberalen gewannen über 3, 1 Millionen Zweitstimmen und konnten dadurch die Zahl ihrer Mandate um etwa ein Drittel vergrößern. Indem nun diese reformierte F. D. P. die Position der entideologisierten Mitte als stabilisierender Faktor für sich beansprucht und diese eigenständige Position gegenüber dem Antagonismus der beiden größeren Parteien politisch behauptet, bleibt die Frage nach einer neuen — nun aus dem neu erworbenen Spielraum echter Mitte und wirklicher Unabhängigkeit resultierenden — Bestimmung der liberalen Erststimmen von unverändert gültiger Aktualität. Denn als stabilisierender Faktor werden die Liberalen auch künftig eine „Mitte-Links" -oder eine „Mitte-Rechts" -Koalition parlamentarisch zu tragen haben. Entsprechend wird sich für den liberalen Wähler jedesmal die Möglichkeit oder — bei Erwartung knapper Mehrheitsverhältnisse, bei einem sog. . Kopf-an-Kopf-Rennen'— die Notwendigkeit ergeben, aus dieser Mittel-Position heraus den . liberalen'Partner wahlpolitisch zu stützen.
Die größten Hindernisse für eine iunktionsgerechtere Ausschöpfung dieses Stimmenpotentials liegen vor allem im Mangel an politischer, hier insbesondere wahlsystemtechnischer Aufklärung. Das betrifft aber die konsistenten Wähler anderer Parteien ebenso wie die sog. Wahlabstinenzler. Nur dieser allgemein mangelnden Informiertheit ist es an-zulasten, wenn vor zehn Jahren ein liberaler Direktkandidat — wissend um die Aussichtslosigkeit seiner Wahlkreis-Chancen — direkt kandidieren mußte (Linke Spalte des Stimmzettels: Erststimme!), um nur so mehr Zweit-stimmen (Entsprechende Spalte rechts!) für die Landesliste seiner Partei gewinnen zu können 57).
Was hier not tut, ist „angewandte Aufklärung" die die elementaren Grundlagen un-* seres Wahlsystems — „Hochburg", „empfindlicher Wahlkreis", „Landesliste", „Direktkandidatur" u. a. — von ihrer funktionellen Bedeutung her tiefer ins allgemeine Bewußtsein einbringt. Bei Würdigung der sozialen Struktur und mehrheitswahlrechtlichen Konzeption in den Bundeswahlkreisen würde eine solche Aufklärung die liberale Erststimme in ihrer gegenwärtigen Bedeutung als Ersatzvotum klar erkennen lassen
In dieser ihrer Funktion als Ersatzvotum sollte die liberale Erststimme aber nicht qualitativ unterbewertet werden. Ihr kann nämlich eine ganz neue, gewissermaßen eine Signal-Funktion zuwachsen: Bisher wurde das Splitting durch liberale Wähler besonders unter dem Aspekt der „Wahlhilfe" bedacht und in diesem Sinne von einigen liberalen Wählerinitiativen auch öffentlich motiviert 5. Ebenso kann und muß die gemischte Stimmabgabe als ein Signal für diese oder jene Koalitionsbildung nach der Wahl betrachtet werden. Denn freie Koalitionsbekenntnisse vor der Wahl oder gar feste Wahlabsprachen bedürfen der „Ratifikation" durch den Wähler im Wahlakt. Hier käme den liberalen Wählern — ohne jegliche Systemänderung, ohne eine Torpedierung „liberaler Demokratie“ durch „totalitäre Demokratie" — ein wesentliches Stück Mitbestimmung zu: Sie würden , uno actu'ihre Partei ins Parlament wählen (Zweitstimme) und den künftigen Koalitionspartner (A oder B) durch die Mehrzahl ihrer abweichenden Personalstimmen (Erstimmen) bereits maßgeblich festlegen und damit mitbestimmen können! Eine solche über die bloß arithmetische Zusammensetzung des Parlaments hinausgehende Bedeutung der Wahlen hat z. B. G. Leibholz — wenn auch aus einem etwas anderen Blickwinkel — überzeugend gefordert: „Im September 1953 haben die , Wähler'und nicht die Parteien die maßgebliche Entscheidung über die zukünftige Zusammensetzung der Regierung in der Bundesrepublik getroffen. Und ich meine, daß im Grunde genommen in einem funktionierenden demokratischen Parteienstaat auch unter dem Verhältnissystem die Wahlen zutiefst gerade diese zusätzliche Funktion zu erfüllen haben." Folgerichtig formuliert der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht: „Im demokratischen Parteienstaat sollen die Wahlen den Charakter einer Plebiszits annehmen ..." 64).
Bei einer weiteren Zunahme der Polarisierung und des allgemeinen Interesses an dem wichtigsten politischen Entscheidungsgremium (die Wahlbeteiligung am 19. November 1972 betrug 91,2%) werden die Liberalen als die dritte Kraft und in ihrer entscheidenden Position als Mittler und Vermittler auch künftig wohl zu eindeutigen Koalitionsaussagen vor der Wahl verpflichtet sein. Eine eindeutige Koalitionsaussage, wie sie von den Liberalen in dem fest verankertem Polarisierungsgefüge vor dem 19. November 1972 gemacht wurde, scheint gewissermaßen zu einer neuen parlamentarisch-demokratischen Tugend zu werden
Das Splitting als Wahlakt, seine assistierende und ratifizierende Funktion in der Erststimme, ist das wahltaktische Medium und konsequente Analogon einer solchen Politik der vorweggenommenen Koalitionsaussage. Allerdings bleibt abzuwarten, wieweit die liberalen Wähler, besonders der altliberale Stamm, sich nicht nur mit einer vorzeitigen Beantwortung der Koalitionsfrage identifizieren, sondern diese Antwort selbst handelnd mitvollziehen — durch Erststimmen-Abgabe für diesen oder jenenkünftigen Partner. Die mit jeder Legislaturperiode zunehmende Zahl der liberalen Splitting voters deutet auf zunehmende Resonanz hin. Wahlsoziologische und -motivanalytische Studien werden aber zeigen müssen, wieweit dieses Phänomen der Doppelwahl durch Be-griffe wie „Wahlverwandtschaft" oder „Wahlverbund" wertfrei beschrieben werden kann. Vorsorglich haben liberale Wähler-initiativen, die das Splitting 1972 propagierten, beruhigend hinzugefügt, „Stimmenspaltung bedeute nicht gleich Bewußtseinsspaltung" Vielleicht wird man die erste grobe Pionierarbeit zum weiteren Abbau von Vorurteilen auch hier wieder von Werbetextern erwarten dürfen — etwa in ironischer Abwandlung einer bekannten Werbeparole: „Ihr Stimmzettel hat zwei gute Seiten: Eine zum Helfen (cf. Erststimme) und eine zum Gewinnen (cf. Zweitstimme) . . ."?
4. Wähler und Gewählte in der mobilen ‘ Demokratie
Der zunehmende Gebrauch der gemischten Stimmabgabe bei Bundestagswahlen hängt — unter einem allgemeineren Aspekt betrachtet — eng zusammen mit der allmählichen Entwicklung von einem Weniger zu einem Mehr an innergesellschaftlicher Mobilität. Die Liberalen haben es verstanden, sich während ihrer Erneuerungsphase in der parlamentarischen Opposition der gesellschaftlichen Problematik in der unfertigen Demokratie geistig zuzuwenden. Paradigmatisch sei hier etwa auf eine Bundestagsrede des Vorsitzenden der damals oppositionellen Liberalen verwiesen: „Die Bundesrepublik hat seit 20 Jahren eine demokratische Verfassung. Das Grundgesetz aber ist — wer wüßte das besser als wir — noch keine gesicherte Verfassungswirklichkeit. Wir leben im Zustand einer unvollendeten Demokratie." Mit ähnlichen Worten beschrieb damals auch der Liberale Dahrendorf das neu zu gestaltende Verhältnis der Liberalen zur gesellschaftlichen Entwicklung: „Aber wir werden den Anspruch stellen und damit den Versuch unternehmen, das Gefängnis der Im-mobilität aufzubrechen" . . . „Es ist nicht so, daß die Welt in Bewegung gesetzt ist und wir ihr traurig und etwas verlegen nachblicken müssen, sondern wir wollen die Welt in Bewegung bringen und in Bewegung halten." Solche und ähnliche Ansätze sind ein Zeugnis für den Versuch, aus der Opposition heraus die bereits schon von Naumann erkannte „strukturelle Schwäche des Liberalismus" — „nämlich die mangelnde Fähigkeit, sich real-politisch einer Entwicklung anzupassen" — zu überwinden.
Wieweit das in der Diskussion immer wiederkehrende Phänomen der gemischten Stimmabgabe und die sich dahinter verbergende politische wie letztlich auch gesellschaftliche Problematik ein Gegenstand ist, den die Liberalen auch als offizielle Parteiorganisation real-politisch in den Griff bekommen sollten, ganz gleich in welchem Sinne und mit welcher Zielsetzung — das kann hier nicht weiter untersucht werden und muß der parteiinternen und allgemeinen demokratischen Entwicklung Vorbehalten bleiben.
Zum Abschluß sollten aber doch die Faktoren expliziert werden, die vielleicht einmal wahl-politisch von Bedeutung sein könnten in jenem Entwicklungs-und Wandlungsprozeß, in dem sich die Liberalen als Parteiorganisation dem Splitting als einem von liberalen Wählern bevorzugten Mittel gegenübersehen.
Da ist als erstes der Faktor . Öffentliche Meinung'zu nennen. Daß gerade sie ein bedeutsames Fundament für die gesellschaftliche Mobilität und damit für neue Verhaltensformen darstellt, liegt an ihrer über die Gegenwart hinausweisenden Struktur: Nach einer neueren Definition wurde sie bestimmt als die „Widerspiegelung des gesellschaftlich bewußten Sichverhaltens und Strebens-, (sc. sie) ist Faktor gesellschaftlicher Entscheidungen und reflektiert bereits potentielle, künftige Entwicklungen" Als für die Liberalen besonders günstig dürfte hier das ihnen oft nachgesagte positive, fast partnerschaftliche Ver-haltnis zum Phänomen der öffentlichen Meinung zur Geltung kommen
Für eine offizielle Förderung der gemischten Stimmabgabe durch die Parteiorganisation — ganz gleich, welche der beiden polarisierenden Parteien in dem einen oder anderen Wahlakt der Begünstigte sein würde — dürften aber auch Gefahren lauern. Denn: „Die Publizistik setzt öffentliche Meinung frei, die latent vorhanden ist; sie kann (sc. aber) auch das Gegenteil bewirken, indem sie ein Tabu zu früh bricht." Exemplarisch erinnert von Hentig hier an K. Jaspers, der sich seinerzeit gegenüber der offiziellen Wiedervereinigungsthese für eine Rangfolge 1. „Freiheit für die Zone" und 2. „Nationale Einheit" eingesetzt hatte 76). Zweifellos war dieser radikalliberale Gedanke Jaspers richtig, aber die Öffentlichkeit dafür noch nicht reif; sie quittierte ihn damals mit einem einstimmigen Aufschrei.
Eine andere Gefahr im Spannungsfeld der öffentlichen Meinung würde den Liberalen von selten der jeweiligen Oppositionspartei drohen, und zwar stets dann, wenn jene die Verfassungskonformität der gemischten Stimmabgabe „übersieht" und die berechtigte und legale Anwendung des Splittings in seiner assistierenden und ratifizierenden Funktion verkennt. Für eine solche Beeinflussung der öffentlichen Meinung zuungunsten der Liberalen hat der Bundestagswahlkampf 1972 zahlreiche Beispiele geliefert Der für die Liberalen dennoch positive Ausgang dieser Wahlen bestätigt aber auch wiederum die Ergebnisse der empirischen Kommunikationswissenschaft, daß kollektive Verhaltensmuster durch gezielte Kommunikationsimpulse nicht willkürlich verändert werden können 79). Den sichersten Weg für einen offiziellen Ausbau des Splittings als ein plebiszitäres Wahlverhalten in der mobilen Demokratie hat aber wohl C. J. Friedrich beschrieben. Die eventuelle Auswirkung einseitiger Bewertungen werde durch eine größere Informationsdichte vermindert: „Ich glaube, es ist möglich, darauf eine Antwort zu geben. Sie ist sehr einfach:
Das Mittel gegen Propaganda ist mehr Propaganda. Die eigentliche Gefahr der Propaganda in jedem Bereich ist, daß es ihrer nicht genug gibt, d. h. daß nicht genüg verschiedene Gesichtspunkte propagandistisch zur Geltung kommen. Das ist am schlimmsten dann, wenn nur einer, der monopolistisch verwaltet wird, übrigbleibt." 80) Bei einer gut fundierten Aufklärungsarbeit würde die gemischte Stimmabgabe danach nichts Nachteiliges im Spannungsfeld der öffentlichen Meinung zu befürchten haben. Vielmehr könnte das Splitting, bereits mit jeder erneuten Wahl ohnehin schon vermehrt praktiziert, wahltaktisch einmal zum „herrschenden" Mittel liberaler Wähler werden 81). Allerdings gehört dieses Wahlverhalten zu jenen Verhaltensweisen, deren Entwicklung nur „Schritt für Schritt" 82) vorangeht und letztlich dem Wandel des allgemeinen „Stil" -Empfindens 83) unterliegt. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Faktor, der den Liberalen als offizielle Parteiorganisation sogar Zurückhaltung auferlegen könnte, wäre rechtlicher Natur.
Zwar heißt es in § 4 BWG: „Jeder Wähler hat zwei Stimmen ..." und nach dem Kommentar zu § 19 BWG sind sogar taktische Wahlabsprachen grundsätzlich zulässig doch solange die F. D. P. für Bundestagswahlen eigene Direktkandidaten nominiert, wird man von ihren Repräsentanten kaum erwarten können, daß sie gleichzeitig — und sei es nur zur Ratifikation eines „von oben“ vorgeschlagenen Koalitionsmodells — die liberalen Erst-stimmen demonstrativ für diese oder jene Großpartei „freigeben". Denn sonst wäre ein Konflikt mit dem Parteiengesetz unvermeidbar, zumindest formal würde gegen ein Grundinteresse der eigenen Partei verstoßen wenn auch in der Substanz kein objektiver Schaden (verhinderte WK-Siege) einträte. — Auf der anderen Seite kommt den Parteien und damit auch den Liberalen als historisch ältester Gruppierung gerade durch das Parteiengesetz die positive Aufgabe zu, „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß zu nehmen, die politische Bildung anzuregen und zu vertiefen" und „die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben zu fördern" Von hier aus gesehen, würde also keine Veranlassung dazu bestehen, das Splittting aus der öffentlichen Diskussion „herauszunehmen" oder totzuschweigen.
Einen sehr essentiellen Faktor stellen die Wähler der F. D. P.selbst dar. Schließlich sind sie es, die in realistisch-pragmatischer Beurteilung der Situation ihre Erststimmen zunehmend — 25% (1961), 44 % (1965), 57 % (1969) — dem Kandidaten einer von ihnen präferierten Konkurrenzpartei geben. Hier dürfte man heute den geringsten Widerstand, die größte Resonanz erwarten können, sollte sich das Splitting jemals offiziell zu einem wahltaktischen Medium der Partei entwickeln. Dafür sprechen die Aufgeschlossenheit und die politische Bewußtheit, die in verschiedenen empirischen Untersuchungen den liberalen Stammwählern bescheinigt wurden: Eine ältere Bundesumfrage (Nov. 1961) unterstreicht ihr besonderes politisches Interesse eine jüngere Studie (Dez. 1970) hebt ihren relativ hohen Bildungsgrad hervor 89) und spricht ihnen die höchste Bereitschaft zum Parteieintritt zu 90); eine neuere Analyse bestätigt den hohen Grad ihrer politischen Bewußtheit 91). Hier dürfte, um zwei liberale Autoren zu zitieren, die gemischte Stimmabgabe als offizielles Instrument im Sinne der „partizipativen Demokratie" 92) und einer Antwort auf die „demokratische Herausforderung" 93) auf fruchtbaren Boden fallen.
Wie gezeigt werden konnte, kommen der gemischten Stimmabgabe real oder potentiell verschiedene Funktionen zu: In ihrer assistierenden Funktion ist sie zunächst ein wahltechnisches Instrument, mit dem der Wähler einerseits selektiv auf die zu Wählenden, nämlich die personelle Zusammensetzung des Parla-Sicht an ein prinzipielles Dilemma, das für die verschiedenen Stadien in der Geschichte des deutschen Liberalismus relevant war: Die Alternative des älteren Liberalismus zwischen Ideal-und Realpolitik, die bei dem (gemäßigt National-) Liberalen M. Weber eine Sublimierung in das Gegensatzpaar von , Gesinnungs-'und , Verantwortungsethik'erfuhr
In diesen grundsätzlichen Fragen wurde M. Weber zu einem Wegweiser für die Liberalen. In seinem politischen Denken sollte sich der Politiker nicht gesinnungsethisch zu seiner „gerechten" Sache bekennen und puristisch verhalten, sondern er sollte den etwas unbequemeren Weg gehen und in einem steten Kompromiß pragmatisch auch die „Lage der Dinge" abwägen, d. h. er sollte sich verantwortungsethisch über die konkreten Folgen seines Handelns — oder seiner unterlassenen Handlungen! — Rechenschaft ablegen Zuvor hatte schon der große Lehrmeister der Liberalen, F. Naumann, pragmatische und realpolitische Akzente gesetzt, als er z. B.den Weg zur politischen Macht elementar beschrieb: „Zum Willen gehört außer der Vorstellung des Zieles eine gleichzeitige Vorstellung des Weges, auf dem man das Ziel erreichen will. Eine bloße Vorstellung des Zieles ohne den Weg ist ein Wunsch, aber kein Wille." ments, direkt Einfluß nehmen und andererseits zugunsten angestrebter Koalitionen sogar zum Gewinn zusätzlicher Überhangmandate beitragen kann. Des weiteren kann die gemischte Stimmabgabe eine imperative Funktion ausüben und bestimmte Koalitionen durch das Wahlergebnis plebiszitär erzwingen. Schließlich kann ihr signalisierende Funktion zukommen, indem der Wähler durch die so oder alternativ „überkreuzte" Stimmabgabe eine vor der Wahl in Aussicht gestellte Koalition mit diesem (oder jenem) als koalitionsfähig erachteten Konkurrenten ratifizieren (oder negieren) kann. Doch die vordergründigste Motivation bei diesem Wahlverhalten dürfte — die zitierten Wahl-Anzeigen haben das bestätigt — in der Absicht liegen, die politische Macht (für zwei an sich konkurrierende Parteien) zu gewinnen.
Daß das Splitting in dieser Zielsetzung aber offensichtlich überbewertet wird, konnte anhand der Bundestagswahlergebnisse vom 19. November 1972 nachgewiesen werden. Die Aussicht auf eventuelle Überhangmandate für einen Koalitionspartner der Liberalen — bei einem zu erwartenden Patt oder knappen Mehrheitsverhältnissen politisch verständlich — ist in praxi sehr gering, weil eine ganze Reihe von bestimmten Bedingungen erfüllt sein müßte. Seit 1965 hat es keine Überhangmandate mehr bei Bundestagswahlen gegeben
Deshalb dürfte bei wahlpolitischen Überlegungen der Liberalen als offizielle Parteiorganisation stets der Gedanke der politischen Selbständigkeit, das Prinzip der parteilichen Unabhängigkeit und das programmierte Image der Dritten Kraft Vorrang haben vor dem Gedanken einer irgendwie gearteten wahl-systematischen Absicherung des jeweils passenden Koalitionspartners (A oder B), obwohl der liberale Wähler seinerseits die gemischte Stimmabgabe schon seit Jahren in zunehmendem Ausmaß „inoffiziell" praktiziert!
Dieser Dualismus von puristischer Zurückhaltung und pragmatischer Öffnung, der sich bei den Liberalen in der wahlpolitischen Perspektive herausgebildet hat, diese im Grundsatz entgegengesetzten Verhaltensweisen bei ein-und demselben Vorgang erinnern aus historischer* Unter Anwendung dieser Kategorien aus der Geschichte des politischen Liberalismus auf den eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung lassen sich die Komponenten beschreiben, die den politischen Liberalismus heute wahlpolitisch bestimmen dürften:
Es sind . gesinnungsethische'Grundsätze, wenn sich eine Partei in ihrer wahlpolitischen Einstellung auf die eigene „gerechte" Sache besinnt und zur ungemischten, „reinen" Stimmabgabe aufruft. Und es sind . verantwortungsethische'Maximen, wenn sich Bürger in sog. Initiativen zusammenfinden und sich, die „Lage der Dinge" abwägend, zur gemischten, „pragmatischen" Stimmabgabe bekennen. Die verschiedenen Gründe und Hintergründe für die offizielle Zurückhaltung, die sich die Liberalen als politische Parteiorganisation in Fragen der gemischten Stimmabgabe auferlegen, konnten angesprochen werden. Eine einmal zu schreibende Parteiengeschichte wird aber dennoch den dominierend . verantwortungsethischen'Impetus dieser Liberalen hervorheben müssen. Es ist fast wörtlich das real-politische Bekenntnis-eines M. Weber, das der Vorsitzende der Liberalen auf dem Parteitag der Freiburger Thesen 1971 abgab: „Politik ist nicht eine Sache der Gesinnung allein. Sie ist auf Durchsetzungsvermögen angewiesen ... Politik ist die Fähigkeit . . ., die richtigen Daten für die förderlichen Entscheidungen zu finden und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen zu treffen" Und es zeugt von geistiger Mobilität und pragmatischer Offenheit, wenn der Generalsekretär der Liberalen ein Jahr später, im April 1972, die sich im Lande bildenden Bürgerinitiativen und ihre Impulse — man denke an die liberalen Wählerinitiativen des Herbstes 1972 — im Grundsatz begrüßt: „Wer im Weiterwirken des politischen Liberalismus nicht nur eine sentimentale Schwärmerei sieht .. ., wird alle Verbesserungsvorschläge und Aktivierungsmöglichkeiten unterstützen, auch in der Erprobung, im Experiment . . ."
Michael Harscheidt, geboren 16. Sept. 1941 in Wuppertal-Elberfeld; seit 1964 Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Deutschen Literatur an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln; dort Doktorand mit einer Untersuchung des Politischen und Historischen im modernen deutschen Roman.
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